cover

EMMY LAYBOURNE

Monument 14

DIE RETTUNG

Aus dem Amerikanischen von Ulrich Thiele

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Das Buch

Nachdem ein Tsunami die Ostküste der USA verwüstet hat, finden sich Dean und sein kleiner Bruder Alex in einer Welt wieder, in der nichts mehr ist, wie es einmal war. Gemeinsam mit anderen Jugendlichen gelingt es ihnen, sich in ein Flüchtlingslager in Kanada zu retten. Doch Zeit zum Atemholen bleibt ihnen nicht: Noch immer ist Josies Schicksal ungewiss, die sich mit ihnen aus dem Herzen des Sturms retten konnte und dann spurlos verschwand. Und auch Astrid, Deans Freundin, schwebt in Gefahr: Da sie während des Chemieunfalls, der sich kurz nach der Naturkatastrophe ereignete, schwanger war, zeigt die Regierung nun ein beunruhigendes Interesse an ihr. Astrid fürchtet um ihr Kind und flieht aus dem Flüchtlingslager, begleitet von Dean. Doch sie ahnen nicht, was sie draußen erwartet …

Spannung pur: das packende Finale der internationalen Erfolgs-­Trilogie

Die Autorin

Emmy Laybourne arbeitete als Schauspielerin, ehe sie zum Schreiben kann. Über den großen Erfolg von MONUMENT 14, ihrem Debütroman, ist sie noch immer selbst erstaunt. Mit ihrem Mann, zwei Kindern und der australischen Echse Goldie lebt sie im Bundesstaat New York.

Lieferbare Titel

Monument 14 (1)

Monument 14: Die Flucht (2)

 

 

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Die Originalausgabe erscheint unter dem Titel
Monument 14:

Savage Drift bei Feiwel & Friends, New York

Copyright © 2013 by Emmy Laybourne

Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Redaktion: Christine Schlitt

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich

ISBN: 978-3-641-14168-4
V002

www.heyne-fliegt.de

 

Für meine Schwestern Herran und Renee

 

 

Leserbriefe

DIE MONUMENT 14

Wie meine Freunde und ich aus dem Epizentrum der Four-Corners-Katastrophe entkommen sind

Hallo,

in Ihrer Zeitung standen schon viele unglaubliche Geschichten über Überlebende des Mega­tsunamis. Bei uns im Quilchena-Flüchtlingslager in Van­couver, Kanada, werden die Briefe ab und zu nach dem Mittagessen vorgelesen. Manchmal jubeln und klatschen die Leute dann. Aber mir ist aufgefallen, dass Sie fast nur Briefe von der Ostküste abdrucken.

Vielleicht liegt es daran, dass Ihre Leser sich vor allem für die Menschen aus ihrer ­eigenen Gegend interessieren. Oder daran, dass die Post im Eimer ist und Briefe aus unserer Gegend gar nicht ankommen.

Ich schreibe Ihnen trotzdem einen Brief mit unserer Geschichte. Wenn Sie ihn abdrucken, können unsere Eltern uns vielleicht finden.

Am Morgen des 18. September 2024 saß ich im Schulbus, als ein gigantischer Hagelschauer über uns hereinbrach. Mrs. Wooly, unsere Busfahrerin, rammte den Bus durch den Eingang eines Greenway-­Superstores, um uns in Sicherheit zu bringen. Insgesamt wa­ren wir vierzehn Schüler.

Mrs. Wooly ging Hilfe holen, wir sollten im Greenway warten. Da wurden die Sicherheitstore ausgelöst und sperrten uns ein. Von dem Megatsunami erfuhren wir erst, als wir in der Elektro­nikabteilung einen altmodischen Fernseher fanden. Und am nächsten Morgen, als das Erdbeben kam und draußen das Giftgas die Luft verseuchte, dichteten wir den Eingang ab und verbarrikadierten uns im Laden.

Wir waren zwei Wochen im Greenway. Normalerweise wären wir noch länger ge­blieben und am Ende im Bom­bardement umgekommen, aber einer von uns, Brayden, wurde angeschossen.

Wir hatten den Schulbus inzwischen wieder repariert, und deshalb wollten einige von uns versuchen, sich damit zum Denver International Airport durchzuschlagen.

Ein paar von uns blieben im Greenway: mein Bruder Dean Grieder, ein schwangeres Mädchen namens Astrid Heyman und drei von den kleinen Kids, Chloe Frasier und die Zwillinge Caroline und Henry McKinley. Dean und Astrid haben beide Blutgruppe null. Sie hatten Angst, sie könnten in Kontakt mit der Außenluft kommen und uns angreifen. Das war schon mal passiert.

Als wir losfuhren, war es stockdunkel. Es war beängs­tigend. Am Steuer saß Niko Mills, unser Anführer. Wir waren zu acht und zwischen acht und 17 Jahren alt (vollstän­dige Liste siehe unten). Unterwegs sahen wir Leichen in den Straßen und viele andere schreckliche Sachen.

Wir hatten schon über die Hälfte der Strecke geschafft, als wir in einen Hinterhalt gerieten. Offiziersanwärter von der Air Force schmissen uns aus unserem Bus und klauten uns alle unsere Vorräte. Nur Niko konnte seinen Rucksack herausschmuggeln.

Etwas später verloren wir ein Mitglied unserer Gruppe. Als wir von einem geistes­gestörten Soldaten attackiert wurden, nahm Josie Miller sich absichtlich die Gasmaske ab, um sich in ein Nuller-­Mons­ter zu verwandeln. Sie hat ihr Leben geopfert, um uns zu beschützen.

Später bekamen wir Hilfe von einem Mann namens Mario Scietto. Wir waren in eine Grube gestürzt, in eine Falle, die ein Vater und sein Sohn den Flüchtlingen gestellt hatten. Sie wollten unsere Gasmasken und unser Wasser. Mario rettete uns und ließ uns in seinem Bunker übernachten.

Danach gingen wir weiter, bis wir schließlich einen DIA-­Sammelplatz erreichten. Am Flughafen begegneten wir Mrs. Wooly, die in der National Guard dient und einbe­rufen worden war. Niko und ich erzählten ihr von meinem Bruder und den anderen Kids, die noch im Greenway waren.

Dann hörten wir zufällig von der Operation Phoenix (dem Luftangriff, der das MORS-Gas und die RAVEN-­Blackout-Wolke zerstörte und dabei das Four-Corners-Gebiet dem Erdboden gleichmachte). Mrs. Wooly wollte eine Rettungsmission starten. Wir halfen ihr, einen Heli­kopterpiloten zu suchen, und als wir gerade einen Piloten anbettelten, uns nach Monument zu fliegen, kam plötzlich ein anderer angelaufen und meinte, er würde uns hinfliegen. Es war der Vater der Zwillinge, die bei Dean und Astrid im Greenway geblieben waren.

Wir rasten also in Captain McKinleys Wildcat-Helikopter zurück nach Monument. Als wir auf dem Dach landeten, fielen über NORAD schon die ersten Bomben.

Im Laden gerieten wir dann zuerst in Panik, denn Dean und die anderen waren nicht mehr da! Sie waren kurz zuvor aufgebrochen, um sich irgendwie zum DIA durchzukämpfen. Aber mein Bruder Dean sah noch den Helikopter auf dem Dach des Greenway und rannte zurück, und wir konnten sie alle retten.

Die glühend heißen Druckwellen der Luftangriffe fegten uns beinahe um. Über uns durchlöcherten die Bomben den schwarzen Himmel, und wir waren mittendrin. Aber irgendwie kamen wir noch da raus.

Ursprünglich waren wir vierzehn Schüler. Zwölf haben überlebt, und elf davon sind hier in Quilchena. Aber nur fünf von uns haben ihre Eltern wiedergefunden oder irgendwas von ihrer Familie gehört.

Wir sind:

Alex und Dean Grieder, 13 und 16

Jake Simonsen, 18

Astrid Heyman, 17

Niko Mills, 16

Sahalia Wenner, 13

Chloe Frasier, 10

Batiste Harrison, 9

Max Skolnik, 8

Ulysses Dominguez, 8

Caroline & Henry McKinley, beide 5

und

Josie Miller, 15, vermutlich tot

Brayden Cutlass, 17, verstorben

Wenn Sie irgendetwas über unsere Eltern oder Familien wissen, melden Sie sich bitte, bitte beim Umsiedlungskoordinator des Quilchena-Flücht­lingslagers.

Mit freundlichen Grüßen

Alex Grieder

 

Erstes Kapitel – Dean

EINUNDDREISSIGSTER TAG

Nikos Augen zuckten von mir zu Alex, zu Jake und wieder ­zurück.

»Ich hol sie da raus. Wer kommt mit?«

Ich konnte es kaum glauben. Josie war noch am Leben? Sie wurde in einem Lager in Missouri festgehalten!?

Entgeistert starrten wir auf die Zeitung, die Niko hochhielt. Ja, das Mädchen auf dem Foto war Josie.

Niko hatte uns eine Frage gestellt. Aber ich stand nur mit offenem Mund da und glotzte ihn an wie ein Fisch auf dem Trockenen.

»Gib mal her. Bist du dir sicher?«, sagte Jake auf seine typische feinfühlige Art und schnappte Niko die Zeitung weg.

»Ist das echt Josie? Ganz bestimmt?«, fragte Caroline. Sie und die anderen Kinder wuselten um Jake herum.

»Ruhe! Ganz ruhig. Ich leg das Ding einfach auf den Boden, okay?« Jake drapierte die Zeitung auf dem Laken, das Mrs. McKinley als Picknickdecke ausgebreitet hatte. Wir waren draußen auf dem Rasen des Golfplatzes, um den sechsten Geburtstag der Zwillinge zu feiern.

»Ja, sie ist es! Sie ist es!«, krähte Max. »Und ich war mir so sicher, dass sie weggebombt worden ist!«

»Vorsicht, sonst zerreißt ihr noch das Papier!«, rief Niko. Die Kids schubsten einander zur Seite, um einen Blick auf die ­Zeitung zu erhaschen, während unser flauschig weißes Maskottchen Luna fröhlich kläffend in Chloes Armen saß und alle Gesichter in Reichweite abschleckte. Sie war fast noch aufgeregter als wir Menschen.

»Jetzt lies doch mal irgendwer vor!«, motzte Chloe.

»Chloe!«, ermahnte Mrs. McKinley sie. »Das geht auch höf­licher!«

»Jetzt lies doch mal irgendwer vor, BITTE!«, plärrte Chloe.

Viel Glück noch mit der Kleinen, Mrs. McKinley.

Mrs. McKinley las den Artikel vor: Er handelte von einem Internierungslager für Menschen mit Blutgruppe null, in dem katastrophale Zustände herrschten. Gefangene wurden misshandelt, und die medizinische Versorgung war miserabel, weil kaum Hilfe von außen bei den Insassen ankam. Der Autor war der Meinung, dass es nie so weit gekommen wäre, hätte Präsident Booker die Kontrolle über die Lager nicht den einzelnen Bundesstaaten überlassen.

Aber ich konzentrierte mich ganz auf Niko.

Niko wippte auf den Fußballen.

Endlich war wieder was los – und mir wurde klar, dass er genau darauf gewartet hatte.

Niko brauchte zwei Dinge im Leben: einen strukturierten Tagesablauf und eine sinnvolle Aufgabe. Hier im Quilchena ­Luxus-Golf-Resort, das man auf die Schnelle zum Flüchtlingslager umfunktioniert hatte, waren die Tage hervorragend strukturiert, aber es gab nichts zu tun, außer rund um die Uhr deprimierende Nachrichten aus allen Landesteilen zu schauen und ewig Schlange zu stehen.

Das machte Niko fertig. Trauer und Schuldgefühle fraßen ihn auf – denn auf dem Weg von Monument zum Denver International Airport, wo die Flüchtlinge evakuiert wurden, hatte er Josie verloren. Er sehnte sich danach, endlich wieder in Aktion treten zu können.

Und jetzt wollte er Josie retten.

Was natürlich eine vollkommen absurde Idee war.

Als Mrs. McKinley die letzten Zeilen vorlas, ging Niko schon rastlos auf und ab.

Die Kleinen hatten tausend Fragen: Wo ist Missouri? Warum schlägt der Mann auf dem Foto die arme Josie? Wann können wir Josie wiedersehen? Vielleicht heute noch?

Aber Nikos Stimme übertönte ihr Geplapper. Er wollte auch etwas wissen: »Denken Sie, Captain McKinley kann uns hinfliegen? Wenn er sich die Erlaubnis holt, müsste das doch kein Problem sein, oder?«

»Ich glaube, wir sollten es ganz offiziell versuchen«, antwortete Mrs. McKinley. »Dann können wir Josie sicher hierher verlegen lassen. Ich meine, ihr Kinder könnt doch nicht einfach so da runterfliegen, um sie abzuholen!«

Alex und ich sahen uns an. Da kannte sie Niko aber schlecht.

Der hatte in Gedanken doch schon den Rucksack gepackt.

Niko wandte sich an mich. »Du, ich und Alex, wir sollten gemeinsam aufbrechen. Dann haben wir die besten Chancen.«

Astrid betrachtete mich von der Seite. Ich versuchte, ihr mit einem Blick zu antworten: Keine Sorge.

»Niko«, sagte ich. »Wir müssen erst mal gründlich über alles nachdenken …«

»Was gibt’s da noch nachzudenken? Josie braucht uns! Schau dir doch das Foto an! Schau hin! Der Typ da schlägt sie! Wir müssen zu ihr, und zwar sofort! Heute noch!«

Er war nicht ganz klar im Kopf.

»Kommt, Kinder. Wir ein bisschen Fußball spielen.« Mrs. Dominguez, die einen Tick besser Englisch sprach als ihr Sohn, mischte sich vorsichtig ein. Sie marschierte voraus auf den Rasen, und ihre älteren Söhne halfen ihr, die Kleinen samt Luna zum Fußball zu zerren.

Mrs. McKinley folgte ihnen, sodass wir »Großen«, also ich, Astrid, Niko, Jake, Alex und Sahalia, allein neben der Picknickdecke und den Resten des Festmahls zur Feier des Zwillings­geburtstags standen. Es hatte eine Packung Schokodonuts und eine Tüte Käseflips gegeben, außerdem ein paar Brötchen und Äpfel aus dem »Clubhaus« – so nannten die Flüchtlinge das Hauptgebäude des Golf-Resorts, in dem der Speisesaal, die Büros und der Gemeinschaftsraum untergebracht waren.

Astrid hatte ihre Portion gegessen, meine Portion und auch noch Jakes Portion. Sie schien von Minute zu Minute schwangerer zu werden. Aber mir machte es großen Spaß, ihr beim Essen zuzusehen. Astrid konnte richtig reinhauen.

Ihr Bauch, der von Tag zu Tag größer wirkte, war schon eine wirklich eindrucksvolle Kugel. Inzwischen wölbte sich sogar schon ihr Bauchnabel nach außen. Das Ding stand ein bisschen vor, und wenn man draufdrückte und wieder losließ, sprang er lustig heraus. Manchmal erlaubte Astrid den Kleinen, abwechselnd mit ihrem Bauchnabel zu spielen. Ich hätte auch ganz gerne damit gespielt, aber bisher hatte ich mich nicht getraut, sie um Erlaubnis zu fragen.

Ich war froh, dass Mrs. Dominguez und Co. die Kinderbande weggelockt hatten. Die Kleinen mussten uns wirklich nicht beim Streiten zuschauen. Mrs. McKinley hatte sich ziemlich reingehängt, um die bescheidene Party auf die Beine zu stellen. Die Zwillinge sollten ihren Spaß haben.

Niko blinzelte hektisch. Seine braun gebrannten Wangen hatten sich rötlich gefärbt – das passierte ihm nur, wenn er wirklich wütend war. Ansonsten war Niko kein sehr farbenfroher Typ: glattes braunes Haar, braune Augen, hellbraune Haut.

»Ich fass es nicht«, sagte er. »Ist Josie euch egal, oder was? Sie ist am Leben! Sie sollte hier bei uns sein und nicht da unten in irgendeinem Drecksloch von einem Lager! Wir müssen sie da rausholen!«

»Das ist Tausende Kilometer weit weg, Niko!«, rief ich. »Und auf der anderen Seite der Grenze!«

»Was ist mit deinem Onkel?«, warf Alex ein. »Wenn wir deinen Onkel kontaktiert haben, kann er sie vielleicht selbst abholen. Im Vergleich zu Vancouver ist es von Pennsylvania gar nicht so weit bis nach Missouri.«

»Das klappt doch nicht«, erwiderte Niko. »Wir müssen sie sofort da rausholen. Sie kann da nicht bleiben!«

»Niko«, sagte Astrid. »Ist doch klar, dass du dich jetzt aufregst, aber …«

»Ihr habt doch keine Ahnung, was sie für uns getan hat!«

»Doch, Niko.« Alex legte ihm die Hand auf die Schulter. »Wäre sie nicht zum Monster geworden, wären wir jetzt tot. Das wissen wir alle. Hätte sie die Typen nicht umgebracht, wären wir tot.«

»Ganz genau«, sagte Sahalia. Sie trug einen bis zu den Knien hochgekrempelten Maleroverall mit einem roten Tuch um die Hüfte und sah damit wie immer umwerfend cool aus. »Wir werden alles tun, um sie zu retten. Egal was.«

»Wie ihr wollt.« Niko wedelte mit den Händen, als wollte er uns verscheuchen. »Dann geh ich eben alleine. Ist eh besser so.«

»Mann, wir wollen Josie doch auch alle hierherholen!«, rief Astrid. »Aber wir müssen vernünftig vorgehen!«

»Ich finde, Niko hat recht«, verkündete Jake plötzlich. »Irgendwer muss zu ihr – und wenn es auf diesem verkohlten, komplett gearschten Planeten noch einen Mann gibt, der sie da rausholen kann, dann Niko Mills!«

Ich musterte ihn: der neue Jake Simonsen. Statt Drogen schluckte er nun Antidepressiva. Er machte viel Fitnesstraining. Er wurde schon wieder ein bisschen braun. Er und sein Dad warfen ständig einen Football hin und her.

Astrid war unglaublich froh, dass er sich so gut entwickelte.

Meine Zähne knirschten. Ich hatte solche Lust, ihm eine reinzuhauen.

»Ach komm, Jake«, sagte ich stattdessen. »Was soll das? Wieso machst du Niko falsche Hoffnungen? Kein Mensch kann einfach über die Grenze gehen, nach Missouri wandern und ein Mädchen aus dem Knast holen. Das ist Wahnsinn!«

»Klar, dass du das sagst«, erwiderte Jake. »Du bist doch Mr. Vorsichtig. Mr. Bloß-kein-Risiko-eingehen.«

»Mann, hier geht’s nicht um mich und dich!«, rief ich. »Hier geht’s um Nikos Sicherheit!«

»Könnt ihr bitte mal damit aufhören?«, kreischte Sahalia.

»Hör lieber auf sie, Dean«, meinte Jake. »Sonst machst du uns hier noch den Nuller.«

Ich trat zwei schnelle Schritte vor, bis ich dicht vor ihm stand. »Sag das nie wieder. Sag nie wieder, dass ich den Nuller machen werde.« Jakes Sonnyboy-Grinsen verhärtete sich. Er hatte genauso viel Bock auf einen Fight wie ich.

»Was seid ihr nur für Idioten!« Astrid schubste uns auseinander. »Hier geht’s um Niko und Josie und nicht um euer däm­liches Machogehabe!«

»Also eigentlich war das hier die Geburtstagsparty der Zwillinge«, wandte Sahalia ein. »Und die versauen wir gerade ziemlich.«

Da sah ich, dass die Kleinen uns beobachteten. Caroline und Henry hielten sich an den Händen und betrachteten uns mit großen, ängstlichen Augen.

»Wirklich sehr erwachsen von euch«, sagte Sahalia. »Reißt euch mal zusammen, Jungs. Shit, ihr werdet bald Vater!«

Ich stampfte einfach davon.

Vielleicht fand Astrid das jetzt kindisch, aber wäre ich nicht auf der Stelle abgehauen, hätte ich Jake den Kopf abgerissen.

Die Farm von Nikos Onkel war der Tagtraum, der Niko, Alex und Sahalia die langen Stunden im Lager versüßte. Mir und Astrid auch, aber nicht ganz so sehr.

Nikos Onkel lebte in einem großen, baufälligen Haus auf ­einer riesigen, seit einiger Zeit brachliegenden Obstplantage irgendwo auf dem Land in Pennsylvania. Niko und Alex planten, das Haus herzurichten und die Obstbäume wiederzube­leben. Irgendwie hatten sie sich in den Kopf gesetzt, dass wir später alle dort leben könnten – mit unseren Familien, wenn und nicht falls wir sie finden würden.

Aber egal, es war ein schöner Traum. Außer auf der Farm wimmelte es längst von Flüchtlingen.

 

 

Zweites Kapitel – Josie

EINUNDDREISSIGSTER TAG

Ich halte mich raus.

Die Josie, die sich immer um alle gekümmert hat, gibt es nicht mehr. Dieses Mädchen ist tot.

Sie ist in einem Pappelwäldchen irgendwo in der Nähe des Highways zwischen Monument und Denver umgekommen.

Sie und ein geistesgestörter Soldat.

(Ich habe sie getötet, als ich den Soldaten getötet habe.)

Jetzt bin ich ein Mädchen, das einen schwelenden Zorn in sich trägt. Eine Wut, die jederzeit überkochen kann.

Alle Menschen in diesem Lager haben Blutgruppe null. Alle hatten Kontakt mit den Chemikalien. Und manche von uns sind durch das Gift in den Wahnsinn abgedriftet.

Es kommt ganz darauf an, wie lange man das Teufelszeug eingeatmet hat.

So weit wir es uns noch zusammenreimen können, war ich über zwei Tage da draußen.

Ich behalte mich im Auge. Ich arbeite von früh bis spät an meiner Selbstbeherrschung. Ich muss mich vor meinem eigenen Blut in Acht nehmen.

Andere lassen sich gehen. Sie überlassen der Wut die Kon­trolle.

Schlägereien brechen aus. Ein unfreundlicher Blick, ein angehauener Zeh, ein Albtraum, und schon fliegen die Fäuste.

Wer richtig ausrastet, wird von den Wachen in eines der Studierzimmer im Hawthorn-Gebäude gesperrt.

Und wer so richtig, richtig ausrastet, wird fortgeschafft und kehrt teils nie wieder zurück.

Das Blöde ist, dass wir alle ein Stück kräftiger sind als früher. Stärker und zäher. Verletzungen heilen eine Spur schneller. Es fällt einem nicht sofort auf, es sind eher kleine Dinge – alte Damen, die nicht mehr am Stock gehen. Ohrlöcher, die plötzlich zuwachsen.

Mehr Energie in den Zellen. So reden die Häftlinge darüber.

Der Nuller-Vorteil. So nennen sie das.

Ansonsten haben wir nur Nachteile.

Das Nuller-Internierungslager an der Universität von Missouri ist kein Zufluchtsort, sondern ein Gefängnis.

Die Pustler (Blutgruppe A), die paranoiden Psychos (Blutgruppe AB) und die, die keine Kinder mehr kriegen können (Blutgruppe B) leben in Flüchtlingslagern, in denen die Menschen größere Freiheiten genießen. In denen sie mehr zu essen und saubere Klamotten kriegen und fernsehen dürfen.

Aber die Flüchtlinge an der Old Mizzou, wie die Einheimischen die Uni nennen, haben Blutgruppe null und waren den Chemikalien ausgesetzt. Deshalb sind die Behörden zu dem Schluss gekommen, dass jeder Einzelne von uns ein Mörder ist, womit sie wahrscheinlich richtig liegen (was mich angeht auf jeden Fall).

Also haben sie uns hier zusammengepfercht. Auch die kleinen Kinder.

»Ich weiß, Mario«, sage ich, wenn er wieder anfängt, sich über das ganze Unrecht zu beschweren. »Es ist nicht fair. Es verstößt gegen unsere Grundrechte.«

Aber dann juckt es mich wieder in den Fingern, irgendeinem Idioten den Schädel einzuschlagen, und ich denke mir: Vielleicht ist es doch besser so.

Ich weiß noch, wie Grandma mir erklärt hat, was es mit dem Fieber auf sich hat. Sie saß auf meiner Bettkante und legte mir einen kalten, nassen Waschlappen auf die Stirn.

»Gran!«, plärrte ich. »Mein Kopf tut so weh!«

Ich wollte es nicht direkt sagen, aber in Wirklichkeit wollte ich eine Schmerztablette, und das wusste Grandma.

»Natürlich könnte ich dir eine Tablette geben, meine Kleine«, meinte sie. »Aber dann würde dein Fieber runtergehen, und das Fieber soll dich doch stärker machen.«

Ich weinte. Die Tränen kamen mir siedend heiß vor.

»Das Fieber ist dazu da, den Babyspeck wegzuschmelzen. Es verbrennt alles schlechte Zeug in deinem Gewebe. Es sorgt dafür, dass sich dein Körper weiterentwickelt. Das Fieber ist gut, Liebling. Es macht dich unverwundbar.«

Und später? Fühlte ich mich hinterher stärker? Ja. Ich fühlte mich sauber und rein und abgehärtet.

Grandma gab mir das Gefühl, durch und durch gut zu sein. Als könnte ich niemals unrecht tun.

Ich bin froh, dass Grandma schon lange tot ist. Es wäre furchtbar, wenn sie mich so sehen würde. Der Nuller-Wahn packt einen wie ein Fieber – aber er verbrennt die Seele. Er macht den Körper stärker, während die Blutgier den Geist einschläfert. Davon kann man sich noch erholen. Doch sobald man einen Menschen ermordet, verzerrt sich die Seele für immer. Es ist wie bei einer Pfanne, deren Boden sich verzogen hat. Sie liegt nicht mehr flach auf. Sie kippelt und klappert auf der Herd­platte, weil nichts mehr stimmt.

Hinterher atmet man nicht mehr wie ein normaler Mensch. Jeder Atemzug ist gestohlen. Man hat ihn den Leichen geklaut, die nie begraben wurden. Sie liegen immer noch herum, wo man sie gelassen hat. Wo sie ausgeblutet sind.

Ich bin schuld, dass Mario bei uns in den »Tugenden« hockt. Die Tugenden sind vier Wohnheime rund um einen gemeinsamen Innenhof. Alle vier tragen erbauliche Namen: Vortrefflichkeit, Verantwortung, Erfindergeist und Respekt. Außerdem gibt es ­eine Mensa und zwei andere Wohnheime, und rundherum erheben sich zur Sicherheit gleich zwei Maschendrahtzäune mit rasiermesserscharfem Stacheldraht an der Oberkante.

Willkommen an der University of Missouri, Weltuntergangs-­Style.

Damals, als Mario und ich durch die Tore geschleust wurden, fragte ich mich, wovor die Zäune uns schützen sollen. Eine dumme Frage. Sie schützen die Welt vor uns.

Den verpflichtenden Bluttest bei der Untersuchung und Klassifizierung der Neuankömmlinge hatten wir friedlich über uns ergehen lassen und danach unsere Geschichte erzählt. Mario hätte in ein anderes Lager gesollt, weil er Blutgruppe AB hat, aber er wollte mich nicht allein lassen.

Ein hochgewachsener Wachmann mit hellblauen Augen und wenig Haaren auf dem Kopf zeichnete unsere Papiere ab.

Er betrachtete Marios Dokumente. »Du bist hier falsch, alter Herr.«

»Ja, aber wir bleiben lieber zusammen. Ich bin für das Mädchen verantwortlich.«

Der Typ musterte uns auf eine Art, die mir nicht gefiel, und setzte ein wissendes Lächeln auf. »So, so, ihr bleibt lieber zusammen?«, sagte er genüsslich. »Die Kleine hat sich einen Beschützer gesucht? Einen echten Gentleman?«

»Was werden Sie denn gleich unanständig?«, knurrte Mario auf seine typische Art. »Junge, das Mädchen ist erst fünfzehn. Sie ist noch ein Kind.«

Da verging dem Wachmann das Lächeln. »Aber hier drinnen ist sie kein Kind mehr. Hier drinnen ist sie eine Bedrohung. Ich gebe dir noch eine letzte Chance, alter Herr – verschwinde von hier. Du denkst vielleicht, es ist eine großartige Heldentat, kleine Mädchen zu beschützen. Aber unser Lager ist nichts für Greise. Hau einfach ab, okay?«

»Nett von Ihnen, dass Sie sich so viele Gedanken machen, aber ich bleibe lieber.«

Was für eine beschissene Situation: Ein mindestens 1,80 Meter großer Schlägertyp starrte auf den kleinen, runzeligen Mario hinab, als würde er ihn am liebsten plattmachen, und Mario starrte mit offener Verachtung zurück.

Ich wurde unruhig. Ich ballte und lockerte die Fäuste. Kann sein, dass ich vor Anspannung von einem Fuß auf den anderen trat.

Jedenfalls packte mich der Wachmann am Kinn und zwang mich, ihm in die Augen zu sehen. »Wie lange warst du draußen?«

»Sie war nur ganz kurz draußen«, antwortete Mario.

»HABE ICH DICH GEFRAGT, ALTER?«, bellte der Wachmann.

Seine Pranke zerquetschte mir fast den Kiefer. Er rüttelte mir den Kopf durch. »Ich heiße Ezekiel Venger. Ich bin hier einer der Oberaufseher. Also noch mal – wie lange

»Kann mich nicht erinnern«, ächzte ich.

Da ließ er mich los.

»Du wirst uns noch Ärger machen, Miss Fifteen. Du bist gefährlich, das sehe ich dir an. Das sehe ich den Leuten immer an, deswegen haben sie mich befördert. Pass bloß auf. Bei mir gibt es keine Mätzchen. Bei mir wird gespurt.«

»Ja, Sir«, sagte ich.

Ich weiß, wann man sein Gegenüber »Sir« nennen sollte.

Wenn man es respektiert. Wenn es älter ist als man selbst. Wenn es Macht hat. Wenn es ein Abzeichen auf der Brust und einen Schlagstock am Gürtel hat.

Mario ist mein einziger Freund.

Er hält mich für einen guten Menschen. Da irrt er sich, aber ich widerspreche ihm nicht. Er sagt, er glaubt an mich.

Mario und ich leben mit vier anderen in einem Zimmer für zwei. Mario beschützt nicht nur mich. Er hat sich freiwillig gemeldet, die Patenschaft für vier Kids zu übernehmen. Dafür lassen sie ihn bei uns im Obergeschoss von Vortrefflichkeit wohnen. In den anderen Zimmern auf diesem Stockwerk leben bloß Frauen und Kinder.

Im Erdgeschoss wohnen nur Männer. Da weht ein anderer Wind.

Ich teile mir ein Bett mit Lori. Sie ist vierzehn Jahre alt, hat braunes Haar, weiße Haut und riesige braune Augen, mit denen sie mich manchmal so traurig anguckt, dass ich ihr nur noch die Fresse polieren will.

Lori hat mir ihre Geschichte erzählt. Sie kommt aus Denver. Ihre Familie und sie hatten sich in der Wohnung versteckt, bis ihre Lebensmittelvorräte aufgebraucht waren. Als sie dann am Flughafen ankamen, wurden die Menschen schon evakuiert. Sie waren unter den letzten Flüchtlingen am DIA, und bald ging der Krawall los. Die Leute trampelten übereinander hinweg und zerkratzten sich gegenseitig das Gesicht, während der Himmel über Colorado Springs hell aufleuchtete. Loris Mom wurde im Tumult getötet. Ihr Dad stürzte in die Lücke zwischen dem Flugzeugfinger und der Flugzeugtür, als er Lori in den Flieger schob.

Ich wollte ihre Geschichte nicht hören. Ich wollte, dass ihre Worte von meinen Ohren abperlen wie Wassertropfen von Wachspapier, aber sie versickerten in meinem Gehörgang. Wasser, Wasser, Wasser. Lori ist nichts als Wasser.

Nachts schmiegt Lori sich an mich und schluchzt und schluchzt, bis das ganze Kopfkissen nass ist.

Ich weiß, ich weiß. Ich sollte sie trösten. Wäre doch keine große Sache. Ein kleiner Klaps auf den Rücken. Eine Umarmung.

Aber mein Mitgefühl ist ausgetrocknet.

Wie gesagt, die alte Josie ist tot.

Was habe ich Lori noch zu bieten? Die Wärme meines schlafenden Körpers. Mehr kriegt sie nicht von mir. Nur Körper­wärme.

Ich sollte euch von den anderen drei Kindern erzählen. Ich sollte ihnen Namen geben. Ich sollte erzählen, wie sie so sind, wie sie aussehen, wie herzzerreißend ängstlich sie lächeln können, und dass Heather mich an Batiste erinnert, mit ihrem ovalen Gesicht, das immer so schrecklich ernst und seriös wirkt. Ein halb asiatisches Kind. Oder dass einer der Jungs dauernd Wörter verdreht: Nimolade statt Limonade. Letterschming statt Schmetterling. Stachelbart statt Stacheldraht. Süße, unschuldige, nervige, traumatisierte Kids. Putzige, anspruchsvolle, verwirrte, hellwache Kids. Ich kann nichts für sie tun. Ich will nichts mit ihnen zu tun haben.

Jeden Tag denke ich mir: Wieso musste Mario sie zu sich nehmen? Wieso?

Die Nuller-Waisen. Früher mussten sie sich allein durchschlagen, und da kamen sie natürlich unter die Räder. Es ist richtig, sich um sie zu kümmern. Das ist mir klar.

Warum haben sie die Kinder überhaupt zu den Erwachsenen ins Lager gesteckt?

Soweit ich weiß, wurden wir von der Regierung der USA hierher verfrachtet, aber der Bundesstaat Missouri leitet das Lager. Die Leute in der Gegend wollen auf keinen Fall, dass wir freikommen, aber sie haben auch keine Lust, für eine ordent­liche Versorgung der Gefangenen zu blechen. Und die Regierung der USA beeilt sich auch nicht, uns zu helfen.

Die Folgen? Zu wenig Wachen, zu wenig Lebensmittel, zu wenig Platz, zu wenig Ärzte und Medikamente. Außerdem lassen sie uns nie raus.

Als Mario und ich ankamen, waren Petitionen im Umlauf. Zum Beispiel wollten die Leute, dass die stabilen Nuller von den kriminellen getrennt werden. Aber die Wachen haben den Unterschriftensammlern das Leben schwer gemacht.

Mittlerweile warten die Gefangenen nur noch ab.

Jede Woche wehen neue Gerüchte über unsere bevorstehende Freilassung durchs Lager.

Aber ich will nicht hoffen. Wenn man Hoffnung hat, ist einem nicht mehr alles egal.

Den Männern muss ich aus dem Weg gehen. Manche können ihre Hände nicht bei sich behalten.

Sie könnten mir schlimme Dinge antun, aber das ist nicht meine Hauptsorge. Meine Hauptsorge ist, was für Dinge ich ihnen antun könnte.

Ich will keinen Ärger. Das wäre ungesund.

Vor ein paar Tagen gab es ein Gerangel am Tor. Ein paar Reporter waren auf die Idee gekommen, uns über das Lagerleben auszufragen. Sie brüllten über den Zaun.

Ich flehte Mario an, nicht hinzugehen, aber er ließ sich nicht davon abbringen. Wenn er über die Zustände im Lager redet, wird er immer ganz rot im Gesicht. Er will Gerechtigkeit, er will, dass seine Grundrechte geachtet werden. Ich will bloß hier raus.

Am Schluss bin ich mit ihm hingegangen. Ich dachte mir schon, dass es Stress geben würde, und es gab Stress.

Am inneren Tor standen etwa zwanzig Häftlinge. Vor dem äußeren Tor stand ein gutes Dutzend Reporter und schrie Fragen:

»Finden Sie, dass Ihre Rechte missachtet werden?«

»Gibt es im Lager wirklich gewalttätige Gangs?«

»Sind Sie in Gefahr?«

Ein paar Gefangene schrien Antworten zurück. Andere kreisch­ten: »Holt uns hier raus!« oder »Ruft meinen Onkel Soundso an! Der gibt euch eine Belohnung!« oder »Um Himmels willen, helft uns doch!«

Ein paar Minuten später kamen die Wachen in ihren Army-­Geländewagen und trieben die Reporter auseinander. Zwei Typen mit halbautomatischen Betäubungsgewehren stiegen aus.

Einer davon war Venger.

Auf Vengers Gesicht blitzte ein triumphierendes Lächeln auf, als er Mario und mich entdeckte. Die Wachen trampelten durch die Gefangenen, pflückten die Leute vom Zaun und schubsten sie Richtung Wohnheime.

»Wusste ich’s doch!«, rief Venger. »Wusste ich’s doch, dass ihr mir noch Ärger macht! Kein Mensch bleibt lieber im Lager, wenn er nicht muss!«

Venger pflügte durch die Menge und packte Mario an seinem dürren Arm.

Und WRAAAHHHHH! – meine Wut drehte auf. Wie ein Auto, das auf den Highway auffährt und maximal beschleunigt.

»Fass ihn nicht an!«, fauchte ich.

Venger verpasste mir einen heftigen Stoß mit dem Schlag­stock. Mitten auf den Brustkorb.

Ich hielt den Schlagstock einfach fest.

»Du kleine schwarze Drecksschlampe!«, brüllte er.

Und auf einmal riss er den Schlagstock hoch, um Mario zu verdreschen. Nicht mich, sondern Mario.

Ich reagierte schnell. Ich fing den Schlag mit dem Unterarm ab.

Dann schob ich mich zwischen Mario und Venger. Vengers warmer, großer, kräftiger Körper presste sich gegen mich.

Und ich sah Vengers Augen.

Ich sah die Euphorie in seinen Augen. Es machte ihm Spaß, seinen Körper als Waffe zu gebrauchen. Bloß mit dem Arm zucken zu müssen, um irgendwem den Schädel zu brechen.

Keine Ahnung, ob Venger ein Nuller ist oder nicht. Aber er hat Freude am Töten.

Natürlich war es ein schwerer Fehler, mich gegen ihn zu stellen.

Ich weiß nicht, was Venger am meisten stört. Dass ich jung bin? Dass ich ein Mädchen bin? Dass ich schwarz bin?

Immerhin konnte ich ihn davon abhalten, den Schädel eines Achtzigjährigen zu spalten.

Dafür bin ich jetzt sein neues Lieblingsopfer.

 

 

Drittes Kapitel – Dean

EINUNDDREISSIGSTER TAG

Ich stapfte zu den Flüchtlingszelten.

Zu dieser Jahreszeit fielen die letzten Blätter der Bäume am Rand des Golfplatzes. Rot, Gold und viele Brauntöne, von Ocker bis Schokolade.

Es war nicht leicht, meinen Zorn im Angesicht von so viel prächtiger, beinahe angeberischer Naturschönheit aufrechtzuerhalten.

Aber ich bekam es hin.

»Dean!«, rief Alex. »Jetzt warte doch mal!«

Ich drehte mich um und sah zu, wie er den Hang hinaufrannte.

»Das war ziemlich heftig von Jake, was?«, sagte er. »Ich hab das Gefühl, ihr versteht euch immer schlechter.«

»Jake ist ein Idiot!«, rief ich. »Er führt sich auf, als wäre er Astrids Freund. Der hat sie doch nicht mehr alle!«

»Stimmt«, meinte Alex. Er musste fast joggen, um mit meinen großen Schritten mitzuhalten.

»Ich meine, was soll das?«, fuhr ich fort. »Er tut, als hätte er ein Recht auf sie – und ich nicht.«

»Aber sie steht doch auf dich, oder?«

Ich nickte.

Mein Bruder redete nie lange drum herum.

»Denke schon«, sagte ich. »Ja, klar, ich bin ihr Freund, nicht er. Das ist mal sicher. Aber trotzdem, sie – sie hält mich auf Abstand. Verstehst du, was ich meine?«

»Ja, aber so ist Astrid halt. Sie lässt ihre Gefühle nicht so raushängen.«

»Sie lässt ihre Gefühle null raushängen«, erwiderte ich, und es klang genauso jämmerlich, wie ich mich fühlte.

»Jake verarscht dich bloß«, sagte Alex. »Das sieht doch jeder. Er merkt, dass du wegen Astrid unsicher bist, und deswegen stichelt er rum.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich hab mitbekommen, wie Jake ihr erzählt hat, dass er und sein Dad bald zurück nach Texas gehen. Und sie soll mitkommen!«

»Uff«, sagte Alex.

Wir gingen weiter.

»Hör mal«, meinte er irgendwann. »Weißt du noch, was Mom immer gesagt hat? Dass man seine Wünsche nur ganz fest in seinen Gedanken verankern muss, und sie werden wahr?«

Als ich Alex ansah, fiel mir auf, wie stark sich sein Gesicht verändert hatte. Es wirkte magerer. Erwachsener.

»Ja«, antwortete ich.

»Okay. Dann denk mal drüber nach, was du mit deinen ganzen Zweifeln und Streitereien so in deinen Gedanken veran­kerst.«

»Du meinst – wenn ich mir dauernd Sorgen mache, dass ­Astrid wieder mit Jake zusammenkommt, passiert es irgendwann wirklich?«

»Ich meine, wenn man sich dauernd vor etwas fürchtet, ist man am Ende selber schuld, wenn es genau so kommt.«

Das musste ich mir erst mal durch den Kopf gehen lassen.

»Oder denkst du, Astrid will mit einem Typen zusammen sein, der die ganze Zeit Angst hat?«

»Hast recht.« Ich seufzte. »Du hast absolut recht.«

»Außerdem habe ich so ein Gefühl, dass ein paar schöne Überraschungen auf dich zukommen könnten.« Ein verstohlenes Lächeln ließ Alex’ Mundwinkel zucken. Als hätte er sich einen sehr gelungenen Streich ausgedacht.

»Schöne Überraschungen?«, sagte ich. »Das wäre mal eine Abwechslung.«

Es war sehr angenehm, eine Weile allein auf meinem Bett in Zelt J zu liegen. Das heißt, allein war ich nur in unserer Fünfbettkabine. Durch das riesige Zelt führte ein langer Mittelgang, vorbei an niedrigen Trennwänden, die die einzelnen »Zimmer« bildeten. Rechts und links an den Wänden stand jeweils ein Stockbett, und unter dem Plastikfenster befand sich das einzige Einzelbett.

Das war Astrids Bett. Darauf hatten wir uns gleich geeinigt.

In den anderen Zimmern alberten andere Teeniewaisen her­um, aber unsere Kabine hatte ich ganz für mich allein. Viel einsamer wurde es im Flüchtlingslager nie.

Ich schrieb Tagebuch. Das half immer.

Etwa eine halbe Stunde später kam Astrid rein. Jake dackelte hinterher.

Sie schienen sich zu streiten. Gut so.

»Ich will mich einfach nur hinlegen«, sagte Astrid zu ihm und hielt sich den Kugelbauch, das Gesicht zu einer gequälten Grimasse verzogen.

»Was ist los?«, fragte ich und richtete mich so hastig auf, dass mein Kopf von unten gegen Alex’ Bett knallte. Jake verdrehte die Augen.

»Schmerzen«, sagte Astrid. »Unten drin. Fühlt sich nach Krämpfen an. Ich muss mich mal hinlegen.«

»Ich hab ihr gesagt, dass sie schnell zur Krankenstation soll«, schaltete Jake sich ein. »Die haben da sicher eine Pille für genau solchen Scheiß.«

»Und ich hab dir gesagt, dass ich da nicht hingehe!«, rief Astrid. »Die bringen die schwangeren Frauen irgendwo hin. Da bin ich mir sicher.«

»Astrid«, erwiderte Jake. »Ich weiß, das darf man einer ­sensiblen Schwangeren nicht sagen, aber Mann, Baby, du benimmst dich echt wie eine Wahnsinnige!«

Ich hielt die Hände hoch, um die beiden irgendwie zu besänftigen. »Ich glaube, sie will sich einfach nur kurz hinlegen, Jake.«

Aber Astrid starrte Jake zornig an. »Und wie willst du das mit Lisa erklären?«

Nach unserer Ankunft hatte Astrid ein paar andere Schwangere kennengelernt. Sie hatten sich zusammengetan, um sich über geschwollene Beine, Schwangerschaftsstreifen und was weiß ich noch alles auszutauschen. Aber in den letzten Wochen hatten zwei von ihnen urplötzlich das Lager verlassen. Beide waren zu Hause den Chemikalien ausgesetzt gewesen – und unter den schwangeren Frauen machte das Gerücht die Runde, sie wären von der Regierung entführt worden, um als Versuchskaninchen bei irgendwelchen Tests herzuhalten.

Im Lager war fast alles knapp, aber Verschwörungstheorien gab es mehr als genug.

»Wahrscheinlich hat sie ihre Familie wiedergefunden und ist abgehauen!«, rief Jake. »Hier verlässt doch dauernd irgendwer das Lager!«

»Lisa war eine gute Freundin. Sie hätte sich von mir verabschiedet«, entgegnete Astrid. »Das denkt Dean übrigens auch.«

»Am wichtigsten ist doch, wie du dich fühlst«, meinte ich. Ich wollte dem Thema möglichst aus dem Weg gehen.

»Ganz genau.« Jake nickte. »Und du hast Krämpfe, und deswegen müssen wir zur Krankenstation!«

»Ich geh da nicht hin, Jake. Ich muss mich nur kurz hin­legen.« Astrid ließ sich auf ihr Bett fallen.

»Aber wenn die Army wirklich alle Schwangeren verschleppt, die das Gas abbekommen haben, warum haben sie dich dann nicht schon lange geholt?«, fragte Jake.

»Lass es, Jake …«, murmelte ich.

»Vielleicht weil wir hier mit zweitausend anderen Leuten angekommen sind, und in dem Trubel haben sie meine Akte verschlampt? Oder meine Akte liegt ganz unten im Stapel? Ich will sie nicht auf mich aufmerksam machen.«

»Also gehst du hier nie wieder zum Arzt? Na toll. Und wie stellst du dir das vor? Soll Dean das Baby drüben beim achtzehnten Loch auf die Welt holen?«

Jake hatte recht. Und dafür hasste ich ihn noch mehr.

»Das Kleine kommt doch erst in drei Monaten«, meinte ­Astrid. »Dann sind wir schon sonst wo.«

An unserem ersten Tag im Lager war Astrid zum Ultraschall gegangen. Dort hatten sie Astrid erklärt, dass das Baby absolut gesund aussehe – und schon sehr groß für seine viereinhalb Monate. Es sei so weit entwickelt, dass die Leute von der Beratungsstelle wahrscheinlich deutlich danebengelegen hatten, als sie das Zeugungsdatum berechnet hatten. Astrid sei eher im siebten Monat. Das Baby würde vermutlich schon im Januar kommen. Wir hatten mit März gerechnet.

Jake sah mich an. »Erklär du’s ihr, Dean. Erklär ihr, dass sie zum Arzt gehen muss. Ich meine, du glaubst doch auch nicht an diesen ganzen Die-Army-entführt-Menschen-Schwachsinn, oder? Oder?«

Astrid musterte mich, den Mund zu einem dünnen Strich verkniffen.

»Na ja …«, sagte ich. »Ich kannte Lisa. Hat einen netten Eindruck gemacht. Ist schon seltsam, dass sie sich überhaupt nicht verabschiedet hat. Dabei hat sie immer wieder gesagt, dass sie Astrid noch ein paar Umstandskleider schenken will …«

Jake rollte mit den Augen, um mir klarzumachen, dass er mich für einen erbärmlichen Schlappschwanz hielt.

»Außerdem ist es Astrids Körper, nicht meiner«, fügte ich hinzu. »Wenn sie nicht hingehen will, werde ich sie nicht unter Druck setzen.«

»Sag mal, Geraldine, hast du eigentlich auch so was wie eine eigene Meinung?«

»Alles klar. Jetzt bin ich der Warmduscher, nur weil ich Rücksicht auf Astrids Gefühle nehme.«

»Ach, haut doch ab«, knurrte Astrid. »Manchmal denke ich, es wäre besser, wenn ihr beide für immer verschwindet!«

»Ganz wie du willst. Dann bis später.« Jake ging.

Astrid drehte sich auf die Seite und stopfte sich ein Kissen unter den Bauch, um die schwere Kugel abzustützen.

Mir war wohl anzusehen, wie verletzt ich war, denn Astrid entspannte sich gleich wieder. Ein bisschen.

»War nicht so gemeint«, sagte sie. »Ich … ich brauch einfach ein bisschen Ruhe.«

»Okay.« Ich drehte mich zum Eingang.

»Hey«, meinte sie. »Erstens: Bitte sei jetzt nicht böse, okay? Und zweitens: Kannst du mir später ein Sandwich vom Abendessen mitbringen?« Astrid lächelte.

Ich lächelte zurück.

»Erstens: Okay. Und zweitens: Na klar!«, antwortete ich, beugte mich zu ihr und küsste sie auf die Haare.

Vor dem Clubhaus begegnete ich Alex und Niko, die sich gerade eine Strategie ausdachten. Ich machte mit. Wie es aussah, wollte Niko es doch erst mal auf diplomatischem Wege probieren, und dabei sollte man ihn unbedingt unterstützen.

In Quilchena gab es ein ganzes Bürogebäude voller zweisprachiger Hinweisschilder und milde lächelnder kanadischer Sozialarbeiter, die den lieben langen Tag Anrufe tätigten und entgegennahmen und auch sonst nichts unversucht ließen, um den Flüchtlingen zu helfen, ihre Familien außerhalb des Lagers zu kontaktieren.

Irgendwer hatte mir einen Witz erzählt: Wie kriegt man hundert Kanadier aus einem Swimmingpool? Man stellt sich an den Rand und sagt: Wären Sie so freundlich, den Pool zu verlassen?

Der Witz funktioniert, weil es die reine Wahrheit ist. Ich hatte noch keinen einzigen Kanadier gesehen, der irgendwie die Beherrschung verloren hätte.

Aber Niko stellte die Dame am Schalter auf eine harte Probe. Sie hieß Helene, eine Frau mit käsiger Haut und kurzem Haar, das an den Schläfen schon ergraute.

»Ich dachte, sie ist tot!«, redete Niko auf sie ein. »Sie hat Blutgruppe null, und sie ist im Wald verschwunden, und ich hatte gehofft, dass unser Freund Mario sie irgendwie in seinen Bunker gekriegt hat, aber eigentlich hatte ich die Hoffnung schon aufgegeben.« Er legte die Zeitung auf die Theke und deutete auf das Bild mit Josie. »Aber schauen Sie sich das Foto an! Sie lebt! Sie ist in einem dieser Konzentrationslager!«

»Na, na, na«, erwiderte Helene. »Konzentrationslager? So kann man das nun nicht sagen …«

»Die haben alle kontaminierten Nuller eingesammelt und in Lager abgeschoben. Wie Kriminelle! Hier in Quilchena haben wir auch kontaminierte Nuller, aber die werden nicht isoliert und weggesperrt.«

»Das stimmt natürlich.«

Ja, klar. Andererseits mussten die Kanadier einige Nuller fortschaffen. Nuller, die schon wegen harmlosen Beleidigungen ausgeflippt waren, die ständig in Schlägereien geraten oder nicht mit den vielen Menschen, den langen Schlangen und der ständigen Warterei zurechtgekommen waren.

»Zum Beispiel mein Kumpel Dean!« Niko deutete auf mich. »Der hat auch Blutgruppe null, der hat das Zeug auch einge­atmet, und ihm geht’s gut.«

Ich wurde nervös. Musste das sein? Nicht dass ich etwas zu verbergen hatte, aber wozu unnötige Aufmerksamkeit erregen?

Helene lächelte mich unsicher an und nickte leicht. Und dachte kurz nach. »Da hast du natürlich recht. Solche Lager widersprechen unseren Grundprinzipien. Aber ich kann den Fall nur der Prüfungskommission vorlegen. In Ordnung? Ich werde mich persönlich für eine Verlegung deiner Freundin einsetzen.«

»Hey, das ist doch super!«, rief ich und klopfte Niko auf die Schulter.

»Du müsstest nur noch ein paar Formulare ausfüllen. Und ich muss einen Termin für den Antrag vor der Kommission festlegen. Im Moment gibt es da eine kleine Warteliste …«

»Wie lange?«, fragte Niko.

»Eine Woche, vielleicht auch zwei.«

»Und danach?«

»Wie, danach?«

»Wie lange dauert es danach, bis sie hierher verlegt wird?«, fragte Niko leise. Nach außen hin war er plötzlich ganz ruhig.

»Na ja, die Bearbeitung der Verlegung eines Flüchtlings dauert zwischen einer Woche und zehn Tagen.«

»Gut, danke«, sagte Niko mit kalter, roboterhafter Stimme.

»Freut mich«, meinte Helene. »Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, das könnte dir nicht schnell genug sein.«

Niko antwortete mit einem halben Nicken. »Wenn es nicht schneller geht …«

»Leider nicht. Außer wir setzen uns ins Auto, fahren da runter und holen sie selber raus!«, rief Helene.

Das sollte ein Scherz sein. Alex und ich sahen uns an.

»Moment, ich gehe schnell die Formulare holen.« Helene eilte davon.

Niko blickte uns an und sagte: »Captain McKinley.«

Wir hatten Glück – der Shuttlebus zur Air-Force-Basis hatte schon Feierabend gemacht.

»Schlaf doch erst mal drüber, Niko«, riet Alex ihm, als wir zum Speisesaal gingen. »Das sagst du mir doch auch immer. Du brauchst einen exakten Plan. Du darfst nichts überstürzen.«

»Aber sie lebt, Alex! Ich dachte die ganze Zeit, sie ist tot, und jetzt will ich sie einfach nur wiedersehen und ihr sagen, dass ich …« Nikos Stimme brach weg, und er wechselte schnell das Thema – zurück zu unserem aktuellen Problem. »Außerdem habe ich schon einen Plan. Ich fahre zu Captain McKinley und lasse ihn nicht mehr in Ruhe, bis er mich über die Grenze fliegt. Und wenn ich erst mal in den Staaten bin, geht’s per Anhalter weiter.«

Das mit dem Trampen war noch der beste Teil des Plans. Trampen war nicht mehr halb so problematisch wie früher – wegen der Benzinknappheit musste jeder Autofahrer mindestens zwei Passagiere dabeihaben. Das war Gesetz.

Im Alltag brachte uns das natürlich wenig, weil wir das Lager nur im Shuttlebus verlassen durften, aber in der Zeitung standen ziemlich verrückte Storys über Autotouren quer durch die USA.

»Ich brauche eine Gasmaske«, sagte Niko nachdenklich. »Kennt ihr irgendwen, der eine hat? Zum Tauschen?«

»Wieso? Wegen der Gaswehen?« Alex war schockiert. »Glaubst du etwa daran? Ich dachte, das sind nur Gerüchte.«

Die Gaswehen waren das Thema im Lager. Über nichts anderes gab es so viel Klatsch und Tratsch.

Aus dem geheimen Hochsicherheitsbunker irgendwo in den Weiten der Vereinigten Staaten, wo die US-Regierung ihre Arbeit fortsetzte, wurde jede Woche eine Radioansprache gesendet. Präsident Booker versicherte uns immer wieder, dass die Gaswehen seines Wissens reine Gerüchte seien. Das Militär habe ihm bestätigt, dass alle Rückstände der Chemikalien beseitigt worden seien. Das Four-Corners-Gebiet sei wieder sicher (zu einer verkohlten Wüste zerbombt und verbrannt, aber sicher). Und sollte sich später doch noch herausstellen, dass ­irgendwelche Unregelmäßigkeiten vertuscht wurden, werde er sofort handeln.

Aber dann redete Booker wieder über die immensen Anstrengungen, die unternommen wurden, um die sieben Mil­lionen Obdachlosen an der vom Megatsunami zerstörten Ostküste mit Lebensmitteln, Kleidung und einem Dach über dem Kopf zu versorgen, und ich hatte das Gefühl, es wäre ihm am liebsten, das Four-Corners-Gebiet würde sich einfach in Luft auflösen.

»Ich kann es nicht drauf ankommen lassen«, erklärte Niko meinem Bruder. »Ich weiß nicht, welche Route ich nehmen werde. Vielleicht gerate ich in die Nähe der Gefahrenzone.«

»Aber warum?«, erwiderte ich. »Am besten machst du einen großen Bogen um die Four Corners. Du bleibst im Norden, an der Grenze zu Kanada, und fährst dann senkrecht runter nach Missouri. Deswegen haben sie die Lager doch in irgendwelchen Städten im Mittleren Westen eingerichtet – weil die Four Corners weit weg sind. Es gibt keinen Grund, überhaupt in die Nähe …«

»Aber wenn die Gaswehen doch kein Gerücht sind, könnte ich einer über den Weg laufen, und dann wäre ich ein toter Mann«, sagte Niko. »Ich brauche eine Gasmaske, das gehört zu meinem Plan. Ihr wolltet doch, dass ich einen exakten Plan mache.« Niko warf Alex einen bedeutungsschwangeren Blick zu und ging.

»Er hat sich verändert«, sagte Alex. »Früher war er nicht so, so … sarkastisch.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Viele von uns haben sich verändert. Eigentlich alle.«