Inhalt
1 Picandou
2 Ein Häufchen Elend
3 Die Höhle in der Deichstraße
4 Ernie
5 Der heimatlose Haufen
6 Eine heiße Spur
7 Der Kampf im Kanal
8 Bertram von Backenbart
9 Das Schiff meiner Träume
10 Der verlorene Freund
11 Eine böse Überraschung
12 Nächtlicher Besuch
13 Dock 17
14 Endlich am Ziel
15 Picandou hat einen Plan
16 Margarethes Geheimnis
17 Gruyère in Not – und ein Schiff in Gefahr
18 Fleißige Möwen
19 Josephines Flucht und ein wichtiger Zettel
20 Eine letzte Überraschung und ein Großauftrag
Nachwort
Worterklärungen
Über die Autorin
Kapitel 1
Picandou
In einer dunklen, kalten Novembernacht keuchte Picandou schwerfällig die Kaimauer entlang. Sein runder Bauch war prall gefüllt und wabbelte zwischen seinen Füßchen hin und her. Immer wieder blieb der Mäuserich stehen und wischte sich die feuchte Stirn mit einer Viertel Papierserviette ab, auf der in schnörkligen Buchstaben Fröhlichs Fei stand. Zum Glück war es nicht mehr weit bis zur Deichstraße. Zu dumm auch, dass er im Müllsack eingeschlafen war!
Der Sack hatte so herrlich geduftet. Frau Fröhlich hatte nämlich am Abend zuvor lauter Köstlichkeiten darin entsorgt: Reste von Kartoffelsalat, zwei halbe gefüllte Oliven, Pastetenkrümel, ein halbes Sahnetörtchen und sogar ein angebissenes Marzipanküchlein. Selbst eine Maus mit mehr Willenskraft hätte da nicht widerstehen können.
Picandou wohnte seit vielen Jahren unter der Kellertreppe in Fröhlichs Feinkostgeschäft, allerdings wussten Herr und Frau Fröhlich nichts von ihrem Mitbewohner.
Ein schöneres Leben hätte man sich als Maus nicht wünschen können. Frau Fröhlich war eine großartige Köchin, und von den Leckereien, die sie mittags im Laden anbot, blieb immer etwas für Picandou übrig.
Herr Fröhlich wiederum war ein großer Käsefreund gewesen. Gewesen, muss man hier leider sagen, weil es Herrn Fröhlich seit Kurzem nicht mehr gab.
Picandou, der gerne heimlich gelauscht hatte, wenn Herr Fröhlich seinen Kunden die Käsesorten beschrieb, kannte inzwischen jeden Käse nicht nur nach Geschmack, sondern auch mit Namen. Sogar seinen eigenen Namen hatte er sich aus der Käsetheke zusammengestellt: Picandou Camembert Saint-Albray.
Fröhlichs Feinkostgeschäft hatte bis vor Kurzem die beste Käseauswahl in ganz Hamburg angeboten. Doch dann war das Traurige passiert. Herr Fröhlich kam plötzlich nicht mehr in den Laden und Frau Fröhlich weinte viel.
Und dann hörte Picandou, wie Margarethe zu Frau Fröhlich sagte, dass sie ganz sicher sei, dass Herr Fröhlich, auch wenn er jetzt im Himmel weilte, ganz bestimmt über sie wache.
Margarethe war die »gute Seele« im Laden. Allerdings war sie sehr abergläubisch. Sie erzählte Frau Fröhlich, dass sie morgens immer mit dem rechten Fuß aufstand, weil das Missgeschicke verhinderte. An jedem Freitag, den 13., blieb sie zu Hause. Und wenn eine schwarze Katze von links ihren Weg kreuzte oder sie ein Salzfass umstieß, rief sie gleich: »Oh, jetzt passiert ein Unglück!«
Früher hatte sie bei den Fröhlichs nur ausgeholfen, wenn es sehr viel zu tun gab, aber seit Herrn Fröhlichs Tod kam sie jeden Tag in den Laden. Frau Fröhlich, die ein steifes Knie hatte, war ihr dafür sehr dankbar.
Margarethe war es auch, die an diesem Morgen das Problem auf Herrn Fröhlichs Schreibtisch im Keller entdeckt hatte. Picandou, der gerade in seiner gemütlichen Höhle unter der Treppe frühstückte, hätte sich fast an einer Käseecke verschluckt, als er den Schrei hörte. Frau Fröhlich kam gleich die Treppe heruntergehumpelt, und dann hörte Picandou, wie auch sie aufschrie, allerdings leiser und viel verzweifelter als Margarethe.
»Wie konnte er das nur tun?«, schluchzte sie. »Und ich habe nichts davon gemerkt. Ich dachte, er geht zu seinem Freund Erich zum Kartenspielen.«
Margarethe schnaubte leise und ging wieder nach oben. »Auf Pferde wetten. Typisch Männer!«
Dann war es still. Picandou hörte nur das Rascheln von Papier und wie sich jemand schnäuzte. Dann sagte Frau Fröhlich leise:
»Ach, lieber Heinrich ...«, so hieß Herr Fröhlich mit Vornamen, »nie werde ich diese Schulden wieder los. Ich werde unseren schönen Laden schließen müssen.«
Picandou erstarrte. Schließen? Das bedeutete, Frau Fröhlich würde nie wieder für ihn kochen, und die herrliche Käsetheke würde es bald nicht mehr geben! Sein Zuhause würde er wahrscheinlich auch noch verlieren.
Es war ein großes schwarzes Loch, das sich da vor ihm auftat. Reglos saß er noch eine ganze Weile am Eingang seiner Höhle. Erst als die beiden Frauen wieder nach oben gegangen waren, hatte er sich mit letzter Kraft ins Bett geschleppt und sich den ganzen Tag nicht mehr gerührt. Oben im Laden hörte er die schweren Schritte von Margarethe und die leichten, humpelnden Schritte von Frau Fröhlich auf den Fliesen. Er hörte den Mixer und das Klappern von Töpfen und Geschirr. Ab und zu kamen die Frauen in den Keller, um Vorräte zu holen.
In letzter Zeit kamen sie immer zu zweit nach unten, denn Margarethe traute sich seit Herrn Fröhlichs Tod nicht mehr allein in den Keller. Picandou hatte gehört, wie sie zu Frau Fröhlich sagte, dass Herr Fröhlichs Geist im Keller spuke. Sie höre dort Geräusche und spüre, dass sich dort jemand aufhielt. Frau Fröhlich hatte geschimpft, weil sie sicher war, dass Margarethe sich die Geräusche nur einbildete.
Margarethe hatte natürlich richtig gehört. Aber sie ahnte nicht, dass der rätselhafte Gast kein Geist, sondern eine dicke, graue Maus war. Nun standen die beiden Frauen dicht vor dem Höhleneingang und Margarethe sagte:
»Aber wir können doch nicht so teures Essen für den Mittagstisch machen. Da zahlen Sie mehr, als Sie verdienen.«
Frau Fröhlich antwortete: »Gerade jetzt, Margarethe! Gerade jetzt soll es unseren Kunden ein letztes Mal richtig gut gehen. Zurückgeben kann ich die Sachen sowieso nicht.«
»Sie sind ein gütiger Mensch«, antwortete Margarethe. »Aber vielleicht nicht die beste Geschäftsfrau.«
Picandou stimmte ihr im Geiste zu. Er wusste, dass viele von Frau Fröhlichs Kunden schon sehr alt waren und wenig Geld hatten. Frau Fröhlich steckte ihnen deswegen oft auch noch etwas in die Einkaufstasche oder gab ihnen beim Mittagstisch eine extragroße Portion.
Bald zog ein herrlicher Essensduft in den Keller, und obwohl Picandou gedacht hatte, er würde in seiner Verzweiflung keinen Bissen runterkriegen, sah es am Abend schon ganz anders aus. Sein Magen meldete sich mit lautem Knurren und schließlich kletterte er nach Ladenschluss durch den Geheimgang im Waschbecken nach draußen in den Hinterhof. Dort lehnte wie üblich der Müllsack an der Hauswand. Picandou schlüpfte hinein, und was er dort fand, ließ ihm das Wasser im Mund zusammenströmen. Niemand in ganz Hamburg konnte so gut kochen wie Frau Fröhlich!
Es war ein Zeichen des tiefen Respekts für Frau Fröhlichs Kochkunst, dass er auch das letzte Krümelchen verschlang. Nichts durfte auf dem Müllberg landen. Noch während er sich hingebungsvoll darum kümmerte, dass alles den Weg in seinen Magen fand, waren ihm irgendwann vor Erschöpfung die Augen zugefallen.
Zum Glück hatte ihn das Scheppern des Müllautos geweckt, als es über das Kopfsteinpflaster am Kai fuhr. Picandou hatte sich verschlafen einen Weg zwischen aufgeweichten Pappbechern und Gemüseresten gebahnt, hatte sich durch das Plastik der Tüte genagt und war dann vom Laster gesprungen, als der an einer Ecke das Tempo kurz drosselte. Picandous Fell war klebrig, und es würde bestimmt Tage dauern, bis er den Gestank des Müllautos wieder loswurde.
Ein kalter Nieselregen durchnässte ihn bis auf die Haut und ließ ihn frösteln.
In Bewegung bleiben, ans Ziel denken, an zu Hause, dachte Picandou, während er von dem Mäuerchen auf die Straße sprang.
Zwei Drittel der Strecke hatte er schon hinter sich. Jetzt war es nicht mehr weit. Er schnaufte. Bei seiner Leibesfülle bewegte er sich normalerweise nur, wenn es unbedingt sein musste. Zu spät sah er die Pfütze und platschte hinein.
»Katzenkleister«, schimpfte er leise und schüttelte das nasse Bein aus, während er weiterlief.
Die Pflastersteine glänzten im Schein der Laternen. Nebel dampfte über dem Kanal, und die alten Lagerhäuser lagen dunkel und verlassen auf der anderen Straßenseite. Hoffentlich würde er hier keiner Ratte begegnen. Sie lebten in den Lagerhäusern und hatten es manchmal auf Mäuse abgesehen. Jedenfalls dann, wenn sie sehr hungrig waren.
Ein Auto fuhr langsam die Straße entlang. Sein Scheinwerferlicht erhellte die Pflastersteine und zuckte kurz und geisterhaft durch die spärlichen Kronen der kleinen Bäume, die den Straßenrand säumten. Schnell sprang Picandou auf den Bürgersteig und trippelte in den schützenden Schatten eines Baumstammes.
Er war außer Atem und sein Herz klopfte schneller als sonst. Von seinem sicheren Versteck aus beobachtete er das Auto und den Lichtstrahl, den es vor sich hertrieb.
Plötzlich, in dem Bruchteil der Sekunde, in der das Scheinwerferlicht darauffiel, sah er das Häufchen Fell, das auf dem Bürgersteig nahe bei einem Laternenpfahl lag.
Ein Kollege?, dachte Picandou.
»Hallo?«, rief er leise.
Doch das Häufchen rührte sich nicht.
Kapitel 2
Ein Häufchen Elend
Das Auto war verschwunden, und vorsichtig näherte sich Picandou dem Tier, um es etwas näher zu betrachten. Das Fell war mit Matsch verschmiert und die Augen waren geschlossen. Entweder hatte es ein Auto, ein Reiher oder sogar eine Hafenratte erwischt.
Armer Teufel, dachte Picandou. Wahrscheinlich tot.
Vorsichtig stupste er es mit dem Fuß in die Seite. Da öffnete das Häufchen seine Äuglein und starrte ihn an.
»Würden Sie mir freundlicherweise sagen, wo ich mich befinde?«, fragte es schwach. Seine kleinen schwarzen Augen waren matt.
»Wo Sie sich befinden?«, antwortete Picandou überrascht. »Ehm, Hafencity.«
»Oh.« Das Häufchen schloss wieder die Augen.
Was hatte der Arme nur?, dachte Picandou.
Unschlüssig betrachtete er das Fellbündel und überlegte gerade, ob er sich unauffällig davonstehlen könnte. Sein warmes, trockenes Zuhause wartete auf ihn – noch! Und er wollte sich bei dem Wetter keine Mandelentzündung holen.
Da öffnete das Häufchen Elend wieder die Augen.
Mit zarter Stimme piepste es: »In der Karibik?«
»Nö, Hamburg.«
»Verstehe. Und mit wem bitte habe ich das Vergnügen?«
Picandou betrachtete es überrascht. Hallo? Geht’s noch? Mit wem bitte habe ich das Vergnügen?
»Der Herr Kollege redet ganz schön geschwollen«, sagte er.
Das Häufchen Elend hob den Kopf ein wenig an.
»Ich meine, wie heißen Sie?«
»Mäuserich Picandou Camembert Saint-Albray.«
Picandou sprach alles betont langsam aus.
»Drei Namen! Sie haben großes Glück.«
Das Häufchen starrte traurig vor sich hin.
»Das Beste ist«, antwortete Picandou, »ich kann mir immer aussuchen, wie ich gerade heißen möchte. Heute, zum Bespiel, nenne ich mich Picandou.«
»Verstehe. Da haben Sie es aber sehr, sehr gut.«
Das Häufchen schloss die Augen.
»Und mit wem bitte habe ich das Vergnügen?«, fragte Picandou.
Das Häufchen schwieg so lange, dass Picandou schon fürchtete, es wäre in Ohnmacht gefallen.
»Das würde ich auch gerne wissen«, murmelte es betrübt. »Ich habe nicht mal einen einzigen Namen.«
»Nicht mal einen? Nicht mal einen ganz kurzen? Einen klitzekleinen? Jeder hat doch irgendeinen Namen!«
Dicke Tropfen begannen auf sie herabzuplatschen. Der Nieselregen verwandelte sich gerade in einen kräftigen Herbstregen.
Das Häufchen wiegte den Kopf hin und her.
»Nicht mal einen klitzekleinen. Leider.«
Picandou trat von einer Pfote auf die andere. Sein Fell war jetzt völlig durchweicht, und wenn sich das hier noch viel länger hinzog, lag er morgen mit einer saumäßigen Erkältung im Bett.
Sollte die Maus doch selbst schauen, wo sie blieb, dachte er.
Aber das ging ja dann wohl auch nicht. Seufzend sagte er:
»Verrat mir mal, wo du wohnst. Ich begleite dich nach Hause.«
»Ach, auch das ist leider unmöglich«, sagte der Fremde düster.
»Wieso?«
»Ich habe kein Zuhause.«
»Unsinn, jeder hat eine Art Zuhause.«
Der Fremde setzte sich langsam auf und stöhnte.
»Wenn es auf dieser Welt ein Zuhause für mich gibt, dann weiß ich jedenfalls nicht, wo es sich befindet.«
Er neigte den Kopf und schaute trübsinnig auf eine Pfütze, in die die Regentropfen platschten. Da sah Picandou die Beule.
»Na, das ist ja ein ganz schöner Oschi«, sagte er mitfühlend.
»Oschi?«
»Na, Brummer, eh, Beule: das da auf deinem Kopf.«
Picandou deutete auf die Beule.
Das Häufchen befühlte seinen Kopf. »Oh ja, Sie haben recht. Eine Beule! Jetzt, wo Sie’s sagen, tut sie auch weh ...«
»Wie ist denn das passiert?«
Der Mäuserich wiegte wieder den Kopf. »Wenn ich das nur wüsste! Wenn ich das nur wüsste!«
»Ja, was weißt du denn überhaupt?«, rief Picandou.
Er fühlte schon die ersten Anzeichen von Halsschmerzen. Es war höchste Zeit, dass er nach Hause kam.
Der Mäuserich zuckte mit der Schwanzspitze und betrachtete sie bedrückt. Picandou überlegte. Vielleicht hatte der Arme bei einem Schlag auf den Kopf sein Gedächtnis verloren. Aber was sollte er tun? Picandou war eigentlich kein Held und auch kein Wohltäter, dazu war er viel zu bequem. Aber er konnte diese Maus, die weder einen Namen noch ein Zuhause hatte, unmöglich bei diesem Wetter den Ratten oder Möwen überlassen.
»Hör zu, Kumpel …«, sagte er schließlich und rollte die Augen genervt nach oben. Die Maus sollte ruhig merken, dass er nicht begeistert war. »Meinetwegen kannst du mit zu mir kommen. In Gottes Namen. Aber nur für diese eine Nacht! Ich will schließlich nicht dafür verantwortlich sein, wenn du von einer dieser fiesen Hafenratten um die Ecke gebracht wirst. Aber danach bist du wieder auf dich gestellt, kapiert?«
Der Mäuserich nickte und Picandou half ihm vorsichtig auf die Pfoten. Als er sich aufrichtete, fiel etwas Licht von der Laterne auf ihn. Picandou ließ ihn erschrocken los und sprang hinter den Laternenpfahl. Der Mäuserich war ziemlich groß. Viel zu groß für eine Maus. Er war nämlich gar keine Maus. Er war eine Ratte!
Picandou drückte sich an den Pfahl. Ängstlich schaute er sich um. War er etwa in einen Hinterhalt der Hafenratten geraten?
Die Ratte verlor das Gleichgewicht und torkelte zu Boden. Sie begriff nicht, warum Picandou sie losgelassen hatte und sie jetzt so merkwürdig anstarrte.
»Was ist denn?«, fragte sie.
»Du hast mich angelogen!«, zischte Picandou. »Du bist ja eine Hafenratte!«
Die Ratte sah aus, als ob sie gleich in Tränen ausbrechen würde.
»Warum beleidigen Sie mich?«
»Ich beleidige dich?«
»Sie nennen mich eine Hafenratte.«
»Weil du eine bist!«
»Ich bin eine Maus und keine Ratte, eine Hafenratte schon gar nicht.«
Die Ratte schüttelte den Kopf. Tränen blitzten jetzt in ihren Äuglein.
»Aber ich bin zu erschöpft, um mit Ihnen zu streiten.«
Mit einem langen Seufzer ließ sie sich wieder auf das nasse Pflaster sinken.
Auch das noch, dachte Picandou. Er hasste es, wenn jemand heulte.
»Wenn Sie mich lieber loswerden wollen, bitte schön!«, schniefte die Ratte. »Aber nennen Sie mich deswegen nicht eine Hafenratte.«
Was war denn das jetzt? War die Ratte durch den Schlag auf den Kopf etwas verwirrt? Sie schien tatsächlich zu glauben, dass sie eine Maus war. Und sie wusste wirklich nicht, wo sie wohnte.
Der Regen wurde immer stärker.
»Also gut«, knurrte Picandou. »Dann komm mit. Aber wehe, du machst Ärger! Und wenn ich dich schon mitnehme, dann keine Tränen mehr. Und hör gefälligst mit diesem albernen Gesieze auf.«
»Wenn Sie dafür aufhören, mich eine Ratte zu nennen«, antwortete die Ratte.
Picandou schüttelte sich den Regen aus dem Fell.
»Abgemacht«, seufzte er. »Jetzt komm schon. Ich will endlich nach Hause.«
Kapitel 3
Die Höhle in der Deichstraße
Schweigend gingen sie über eine Backsteinbrücke und überquerten eine große Straße. Beide waren inzwischen völlig durchgefroren. Sie bogen in eine kleine Gasse ein. Alte Häuser lehnten aneinander, und in einigen Schaufenstern glitzerten Uhren und Schmuck. In anderen waren alte Sofas und Tafelsilber ausgestellt.
»Das ist eine nette Ecke, in der Sie – ich meine –, du wohnst«, sagte die Ratte. Ihr Blick blieb am Schaufenster eines Reisebüros hängen. Ein kleiner Schock durchfuhr ihren schmalen Körper. Dort stand ein großer Aufsteller mit dem Foto eines weißen Schiffes, das direkt auf sie zufuhr. Die Ratte blieb stehen und bemerkte nicht, dass Picandou weiterlief.
Das Schiff! Etwas war mit diesem Schiff. Ihr Mund war plötzlich ganz trocken. Picandou, der schon durch einen Türspalt verschwunden war, tauchte jetzt wieder auf.
»Wo steckst du denn?«, rief er ungeduldig. »Komm schon.«
Zögernd wandte sich die Ratte um und folgte ihm durch den Spalt.
Hinter der Tür lag eine Toreinfahrt, die in einen gepflasterten Innenhof führte. Zielsicher huschte Picandou auf zwei große Blumenkübel zu. Dazwischen lag ein rundes Sieb. Picandou stutzte.
Das Sieb lag schief über dem Abfluss, dabei hatte er es doch vorhin wieder ordentlich an seinen Platz gerutscht. Oder hatte er das in seiner Aufregung vergessen?
Vorsichtig schob er das Sieb beiseite und deutete auf das enge, schwarze Loch darunter.
»Da müssen wir durch«, flüsterte er der Ratte zu. »Du zuerst.«
Die Ratte zögerte.
»Komm schon!«, sagte Picandou ungeduldig.
Die Ratte zwängte sich in das enge Rohr. Picandou folgte und zog das Sieb über seinem Kopf wieder an die richtige Stelle. Dann rutschten und liefen sie einen engen, feuchten Tunnel entlang, der steil abwärtsführte.
»Lass mich vorgehen«, sagte Picandou, als sich das Rohr vor ihnen teilte. Er deutete auf das Rohr, das nach rechts abging.
Die Ratte zwängte sich in die Abzweigung und wartete, bis Picandou an ihr vorbeigeschlüpft war, dann folgte sie ihm.
»Jetzt müssen wir hier hoch!«, rief Picandou.
Durch eine Öffnung direkt über ihnen schimmerte etwas Licht. Ächzend hangelte er sich als erster hinauf. Er musste dabei den Bauch einziehen.
Ab morgen Diät, dachte er. Sonst kann ich diesen Ausgang vergessen.
Er stutzte – auch hier lag das Sieb nicht über dem Abfluss. Mit aller Kraft wand er sich hinauf ins Waschbecken.
Als er sich über den Rand des Abflusses hievte, sah er, dass das Sieb ganz beiseitegeschoben war. Misstrauisch schaute er sich um. Doch alles war so wie immer.
Im Halbdunkel hinter dem weißen Beckenrand erkannte er das niedrige Kellerbüro. Nicht weit vom Waschbecken stand Herr Fröhlichs Schreibtisch. An der Wand neben dem Waschbecken stapelten sich Kisten und Fässer mit Lebensmitteln. An der Wand gegenüber standen Regale, die vollgestellt waren mit Herrn Fröhlichs Aktenordnern. Nichts rührte sich, außer seinem Atem, der noch immer etwas heftig ging. Hinter ihm schälte sich nun langsam auch die Ratte aus dem Ausguss und betrachtete angeekelt den grauen Schleim auf ihrem Fell.
Picandou schob das Sieb wieder über den Abfluss und legte warnend die Pfote auf sein Schnäuzchen.
Zwar waren die Menschen um diese Zeit normalerweise nicht mehr im Laden, aber man konnte nie wissen. Irgendwer musste die Siebe verschoben haben. Ein, zwei Mal war Frau Fröhlich zu später Stunde ganz plötzlich erschienen. Da hatte sie nachts noch leere Servierplatten von einem Fest zurückgebracht.
Vorsichtig kletterten die beiden aus dem Becken, hüpften die Kisten und Kübel hinab und gingen auf eine schmale Treppe zu. Picandou lauschte, doch nichts rührte sich im Laden. Erleichtert stieß er die Luft zwischen den Zähnen aus. Sie waren allein.
»Mein bescheidenes Heim«, flüsterte er und stupste mit der Nase die Kellertür auf.