Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House
1. Auflage 2014
© 2014 für die deutschsprachige Ausgabe:
cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag
in der Verlagsgruppe Random House
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
© 2014 by Ann Brashares
Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »The Here and Now«
bei Delacorte, Random House Children’s Books,
in der Verlagsgruppe Random House, Inc., New York.
Published by arrangement with Random House Children’s Books,
a division of Random House, Inc.
Aus dem amerikanischen Englisch von Sylvia Spatz
Umschlaggestaltung: semper smile, München
kk · Herstellung: AJ
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-14220-9
www.cbj-verlag.de
Dem lieben Isaiah,
Kapitän von Familienreisen durch die Zeit
»Die Vergangenheit ist ein fremdes Land;
dort gelten andere Regeln.«
L. P. Hartley, The Go-Between
»Wenn Zeitreisen möglich wären, würden wir
überrannt von Touristen aus der Zukunft.«
Stephen Hawking
Prolog
23. April 2010
Haverstraw Creek
Sein Vater musste arbeiten und so ging Ethan allein zum Fischen. Normalerweise lief er auf dem Weg durch den Wald zu den engen Biegungen des kleinen Flusses einfach seinem Vater hinterher, während er sich darauf konzentrierte, sich nicht in dem Dornengestrüpp zu verheddern, das auf Höhe seiner Knöchel wucherte. Doch jetzt war er irritiert darüber, wie schlecht er die Strecke kannte, obwohl er sie bereits unzählige Male gegangen war. Nach dem heutigen Tag allerdings würde er sie kennen. So viel stand fest.
Als er endlich am Fluss ankam, war es nicht die ihm bekannte Stelle, aber wenigstens das gleiche Wasser, dachte er. Und der gleiche Fisch. Er setzte seinen Rucksack ab, spießte einen Köder auf den Haken und warf geschickt die Angelleine aus. Er war allein, und deswegen war es nicht wie sonst, denn heute warf er die Leine aus, um einen Fisch zu fangen, und nicht um seinem Vater zu demonstrieren, dass er wusste, wie man das machte.
Er lauschte dem Wasser, behielt seine Angelleine im Auge und sann darüber nach, wie still die Luft war. Nur dort drüben nicht. Weiter flussabwärts sah es so aus, als würde die Luft sich bewegen. Er kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können, dann riss er sie weit auf, schloss sie wieder und fragte sich, ob sich damit der merkwürdige Eindruck vertreiben ließ, dass sich die Luft über dem Strom wellenförmig kräuselte. Aber es sah immer noch so aus, ja der Eindruck verstärkte sich sogar – die Luft flirrte und flimmerte so stark, dass er es mit bloßem Auge erkennen konnte.
Er bewegte sich langsam flussabwärts und zog dabei seine Angelleine mit. Während er am Ufer entlangging, konnte er weit über die Flusskrümmung hinaus bis zu einer Fußgängerbrücke in der Ferne sehen. Dort regte sich weder die Luft noch das Laub der Bäume, wohingegen die Luft hier in immer schnellere Bewegung geriet und so unruhig wie aufgewühltes Wasser war. Als er langsam auf die Stelle zuging, nahm die Luft eine eigenartige Konsistenz an. Wieder kniff er die Augen zusammen und beobachtete erstaunt, dass sich das Sonnenlicht um ihn herum farbenprächtig brach. Er ging ein paar Schritte weiter und fühlte, wie die Luft schneller über seine Haut strich, fast als wäre sie eine Flüssigkeit, nur weicher. Er versuchte, sich auf einzelne Lichtkristalle zu konzentrieren, aber alles bewegte sich viel zu schnell.
Als die gewissermaßen flüssige Luft mit dem Flusswasser eins zu werden schien und er in dieses Gemisch hineingezogen wurde, entglitt ihm seine Angelrute. Er wusste nicht mehr, wo oben war und wo unten, wo sich der Himmel befand und wo die Erde, welche Luft er atmen sollte oder wo sein Körper anfing und endete. Merkwürdigerweise verspürte er keinerlei Drang, das alles herauszufinden. Es war, als würde er bei klarem Verstand träumen. Er befand sich in einer ihm völlig unbekannten Welt, doch er wusste, dass er aus diesem Traum erwachen würde.
Er hatte jedes Zeitgefühl verloren, hatte kein Gespür dafür, ob Stunden vergangen waren oder nur wenige Sekunden. Aber irgendwann entließ ihn der Kreisel aus Luft und Fluss auf festen Boden und allmählich rückte alles wieder an seinen Platz. Er hielt die Augen eine Weile geschlossen, und als er sie erneut öffnete, befand sich der Fluss fast wieder in seinem Bett, die Luft war wie eh und je unsichtbar und der Sonnenschein so strahlend wie vorher. Er setzte sich auf, fand langsam sein Orientierungsvermögen wieder, wusste, wo oben und unten war. Der Wirbelsturm hatte eine blank geputzte, funkelnde Aussicht auf die Bäume erschaffen. Und er hatte ein Mädchen hervorgebracht.
Ganz bestimmt war sie Teil seines Traums, denn sie sah gar nicht aus wie ein gewöhnliches Mädchen. Ihre Umrisse waren unscharf. Sie war genau der Typ Mädchen, wie er ihn sich erträumte – ungefähr in seinem Alter, und abgesehen von dunklen, nassen Haarsträhnen, die über ihren Körper fielen, war sie nackt und unglaublich schön, wie eine Seejungfrau oder eine elfenhafte Prinzessin. Und weil sie ja nur in seiner Einbildung existierte, fand er, dass er sie ruhig ungeniert anstarren durfte.
Dabei dämmerte ihm langsam, dass sie ihre Arme um den Körper geschlungen hatte, als wäre ihr kalt und als genierte sie sich. Ihre Beine waren bis zu den Knien verdreckt. Er hörte, dass ihr das Atmen schwerfiel. Je länger er sie anstarrte, desto mehr Details nahm er an ihr wahr und desto schärfer wurden ihre Körperumrisse, und schließlich hatte er den Verdacht, dass sie echt war und dass er sie nicht länger so anglotzen durfte.
Er stand auf und versuchte, nach unten zu schauen. Ein paar scheue Blicke überzeugten ihn, dass sie, obgleich die Luft um sie herum merkwürdig aufgeladen blieb, keine von ihm erträumte Nymphe war, sondern ein zitterndes, dünnes Mädchen mit schmutzigen Füßen und einer merkwürdigen Prellung, die sich an der Innenseite eines Arms ausbreitete.
»Ist alles in Ordnung? Brauchst du Hilfe?«, fragte er. Es war gar nicht einfach, aus dem Traum zu erwachen. Vielleicht hatte sie der Sturm beim Schwimmen mit sich flussabwärts gezogen. Doch eigentlich war es zum Schwimmen viel zu kalt.
Sie sagte nichts. Er versuchte, seinen Blick auf ihr Gesicht zu konzentrieren. Sie hatte große Augen und hielt die Lippen fest aufeinandergepresst. Er hörte, wie von den Blättern um sie herum Wasser tropfte, plitsch, plitsch, plitsch. Und das Geräusch ihres mühsamen Atmens. Sie schüttelte den Kopf.
»Bist du sicher?«
Sie schüttelte ein weiteres Mal den Kopf. Sie sah aus, als hätte sie Angst, sich zu bewegen.
Sie war echt, aber irgendwie anders als alle anderen, und nicht nur weil sie keine Kleider anhatte. Schön war sie immer noch.
Er öffnete den Reißverschluss seines New-York-Giants-Sweatshirts und hielt es ihr hin, während er ein paar Schritte auf sie zuging. »Möchtest du das?«
Wieder schüttelte sie den Kopf, riskierte aber einen Blick auf die Jacke und dann auf ihn.
Er ging noch weiter auf sie zu. »Im Ernst. Du kannst es behalten, wenn du willst.«
Er hielt das Sweatshirt ganz nah vor sie hin, sie überlegte einen Augenblick, dann schnellte ihr Arm nach vorn und sie griff danach. Jetzt erkannte er, dass der dunkle Fleck an ihrem dürren Arm gar keine Prellung war, sondern schwarze Schrift. Es waren Zahlen, fünf mit einem Filzstift oder etwas Ähnlichem hingekritzelte Zahlen.
Er wandte sich ab, während sie sich das Sweatshirt überstreifte und den Reißverschluss bis zum Kinn hochzog. Sie wich schrittweise vor ihm zurück. Sie musste Schweres durchgemacht hatte, überlegte er.
»Ich hab ein Handy. Möchtest du das benutzen?«
Sie öffnete den Mund, aber es dauerte einen Augenblick, bis sie etwas sagte. »Nein.« Ein Atemzug, zwei Atemzüge. »Danke.«
»Brauchst du Hilfe?«, erkundigte er sich erneut. »Hast du dich verlaufen?«
Sie schaute sich voller Angst um. Wieder öffnete sie den Mund, zögerte jedoch erneut mit der Antwort. »Gibt es hier eine Brücke?«, fragte sie schließlich.
Er wies flussabwärts. »Wenn du in diese Richtung läufst, dann kannst du sie gleich nach der Biegung sehen«, gab er Auskunft. »Soll ich sie dir zeigen?«
»Nein.«
»Bist du sicher?«
»Ganz sicher.« Sie sah aus, als wäre sie sich sicher. Sie warf ihm verstohlen einen Blick zu, als wollte sie ihn damit zwingen, sich nicht zu rühren, und machte sich auf den Weg Richtung Brücke.
Er wollte sie begleiten, tat es aber nicht. Er beobachtete sie, wie sie sich in seinem blauen Giants-Sweatshirt durch die Bäume davonmachte. Inmitten der verschlungenen Äste und knotigen Wurzeln, dem Dreck und den Büschen, die nach ihr griffen, sah sie ganz hilflos aus.
Einmal sah sie ihn über die Schulter kurz an. »Alles in Ordnung«, hörte er sie leise sagen, dann verschwand sie.
Er blieb noch lange am Flussufer, bevor er nach Hause ging. Er suchte nach seiner Angelrute, rechnete aber eigentlich nicht damit, sie wiederzufinden. Er wartete, weil er sehen wollte, ob das Mädchen vielleicht zurückkam, doch auch damit rechnete er nicht wirklich. Und sie kam auch nicht.
Während des Abendessens und bis spät in die Nacht dachte er über das nach, was er gesehen hatte. Schließlich verließ er das Bett, stellte sich ihren dünnen, zitternden Arm vor und schrieb aus dem Gedächtnis die Zahlen nieder: 17514. Er wusste, dass sie irgendwie wichtig waren.
Während der folgenden zweieinhalb Jahre dachte Ethan so oft an jenen Tag zurück, dass seine Erinnerungen unscharf wurden. So oft, dass er sich schon fragte, ob er sich das Ganze nicht eingebildet hatte. Bis zum ersten Tag seines ersten Highschooljahres, als genau dieses Mädchen, diesmal bekleidet, in den Vorbereitungskurs Infinitesimalrechnung hereinspaziert kam und hinter ihm Platz nahm.
18. Mai 2010
Lieber Julius,
morgens schwitzt die Erde. Ehrlich. Hier kann man fast immer nach draußen gehen, genau wie Poppy gesagt hat. Mir gefällt es, im Garten hinter dem Haus im Gras zu liegen und darauf zu warten, dass die Sonne aufgeht. Sogar wenn tagelang schönes Wetter war, ist mein T-Shirt am Rücken nass, als ob die Erde weinen würde.
Mr Robert und Ms Cynthia und ein paar andere sind für die meisten von uns Kindern verantwortlich. Sie versuchen uns beizubringen, wie wir nicht auffallen, und achten darauf, dass wir supervorsichtig sind. Kannst du dich noch an das Gerede über Fernsehen erinnern? Also, wir schauen die ganze Zeit fern, damit wir lernen, wie man sich richtig ausdrückt. Eine Sendung heißt Friends. Im Hintergrund wird die ganze Zeit gelacht, allerdings verstehe ich überhaupt nicht, warum. Mir gefällt Family Guy, aber Mr Robert meint, aus dieser Sendung würde ich nichts lernen.
Ich mache mir Sorgen, weil ich Poppy noch nicht gesehen habe. Ms Cynthia behauptet, er hätte beschlossen, nicht mitzukommen, aber das glaube ich nicht. Er wollte mitkommen, mehr als alle anderen.
Alles Liebe,
Prenna
Kapitel 1
23. April 2014
Wir alle kennen die Regeln. Wir denken täglich an sie. Wie sollten wir sie auch nicht kennen? Wir haben sie auswendig gelernt, bevor wir hierherkamen, und seitdem werden sie uns ständig eingetrichtert.
Und doch sitzen wir – wir sind fast tausend – auf Plastikbänken in einer ehemaligen Kirche der Pfingstgemeinde (sie wurde in den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts entweiht, warum, weiß ich nicht) und hören zu, wie die zwölf ehernen Regeln über knisternde Lautsprecher von nervösen Gemeindemitgliedern im Sonntagsstaat verkündet werden.
Das ist einfach so. Das machen wir jedes Jahr, um der außerordentlichen Reise zu gedenken, die wir alle vor vier Jahren unternommen haben: unsere Flucht vor Angst, Krankheit und Hunger, und die wunderbare Ankunft in diesem Land, in dem Milch und Honig fließen. Es ist eine Reise, die so gut wie sicher niemand vor uns unternommen hat, und die, wenn man sich den Zustand der Welt ansieht, die wir verlassen haben, auch niemals wieder stattfinden wird. Und damit ist der 23. April so etwas wie unser Thanksgiving, aber ohne Truthahn und Kürbiskuchen. Zufällig ist das auch der Tag, an dem Shakespeare geboren wurde und starb.
Wir machen das, weil man inmitten der Geborgenheit und der Fülle dieses Ortes leicht vergisst, dass wir hier nichts zu suchen haben und eine Gefahr für diesen Ort darstellen. Deshalb sind die Regeln so wichtig und die Folgen schwerwiegend, wenn wir sie brechen. Es ist wie bei allen streng religiösen oder politischen Systemen. Wenn das Regelwerk schwer zu befolgen ist, trichtert man es der Herde am besten immer wieder ein.
Ich stelle meine Füße fest auf den Boden, während der Projektor hinten in dem großen Saal summend seine Arbeit aufnimmt und das Dunkel mit seinem Strahl durchschneidet. Langsam beleuchtet er das erste Gesicht auf der breiten Leinwand, die hinter dem alten Altar hängt. Es vergeht ein Augenblick, bis die Schatten und Formen sich zu einer Person fügen, die ich kenne oder auch nicht. Es fällt schwer, sich das anzugucken, aber sie machen es trotzdem immer wieder: Während wir die Regeln herunterbeten, zeigen sie die Gesichter von Leuten, die wir seit der letzten Versammlung verloren haben. Es ist wie bei der »in memoriam«-Ehrung beim Academy Award oder der Grammy-Verleihung, aber es ist auch … anders. In diesem Jahr sind es sieben. Es wird nichts erklärt oder kommentiert. Sie zeigen nur immer wieder die Gesichter. Doch die meisten von uns verbinden mit jedem eine Geschichte. Wortlos begreifen wir, dass uns hier auf der Leinwand schwache, unberechenbare und eigensinnige Mitglieder unserer Gemeinde in einer Endlosschleife vorgeführt werden sollen.
Meine Mutter schaut mich kurz an, als Dr. Strauss sich auf dem Podium vorne erhebt und die erste Regel vorträgt, die über unbedingten Gehorsam.
Die Regeln werden niemals irgendwo gezeigt, ja man schreibt sie nicht einmal auf ein Stück Papier. Wir machen das anders. Wir sind zur mündlichen Überlieferung zurückgekehrt.
Ich versuche zu folgen. Das versuche ich immer, aber die Worte sind so oft rezitiert worden, dass sie in meinen Ohren jede Ordnung und Form verloren haben. Sie sind zu einer chaotischen Mischung aus Eindrücken und Ängsten verschmolzen.
Dr. Strauss ist einer der Anführer. Es gibt neun davon und außerdem zwölf Betreuer. Die Anführer entscheiden über Strategien, die Betreuer geben sie an uns weiter und helfen bei ihrer Umsetzung im Alltag. Jeder von uns ist einem Betreuer zugeordnet. Meiner ist Mr Robert. Er sitzt auch mit da oben.
Weiter hinten erhebt sich ein Mädchen in einem grünen Kleid und trägt die zweite Regel vor, die über die Abfolge von Zeit. Alle Köpfe wenden sich ihr höflich zu.
Eine Regel vortragen zu dürfen, ist eine Ehre. Wie eine Rolle beim Krippenspiel. Vor drei Jahren wurde ich auserwählt, es war das einzige Mal. Meine Mom gab mir ihre goldenen Ballerinas und ihren teuersten Seidenschal. Sie rieb mir sogar Rouge auf die Wangen. Ich sollte die sechste Regel aufsagen, nach der man unter keinen Umständen außerhalb der Gemeinde medizinische Hilfe in Anspruch nehmen darf.
Nachdem das Mädchen gesprochen hat, wenden wir uns alle wieder nach vorn und warten gehorsam auf Regel Nummer drei.
In Schwarz-Weiß erscheint jetzt das Gesicht von Mrs Branch auf der Leinwand. Sie war eine Bekannte meiner Mutter, und ich weiß, dass sie an Brustkrebs starb, der so gut wie nicht behandelt worden war. Das Foto stammt nicht unbedingt aus glücklicheren Zeiten. Es sieht so aus, als hätte man es an dem Tag aufgenommen, als sie ihre Diagnose erhielt. Ich schaue woanders hin. Kurz begegnet mein Blick dem meiner Freundin Katherine ein paar Reihen weiter hinten.
Wenn ich mir die Anführer anschaue, die auf dem Podium verteilt sind, fällt es mir schwer, zu sagen, wer von ihnen wirklich das Sagen hat. Das sagt einem auch keiner, aber ich glaube, ich weiß es. Ich weiß es wegen dem, was mir passiert ist, als ich dreizehn war, kurz bevor ich die sechste Regel aufsagen sollte.
Es war ungefähr neun Monate, nachdem wir hier angekommen waren. Ich war immer noch völlig durcheinander, immer noch viel zu dünn, und immer noch sah ich fern, um zu lernen, wie man sich richtig ausdrückt und benimmt. Ich hatte noch nicht mit der Schule angefangen und litt unter chronischen Atembeschwerden. Meine Mom meinte, es wäre ein unglaubliches Glück, dass jemand mit Asthma die Reise überhaupt hatte machen dürfen. Sie erwähnte meinen »überdurchschnittlichen Intelligenzquotienten«, der das mit Mühe kompensiert hätte. Wir versuchten so zu tun, als wäre alles gar nicht so schlimm.
Im Februar hatte ich eine schlimme Erkältung, die zu einer Lungenentzündung wurde. Meine Mutter wusste sofort Bescheid, sie ist Ärztin und hat ein Stethoskop in der Badezimmerschublade. Ein paar Leute vom medizinischen Team unserer Gemeinschaft schauten bei uns vorbei. Da war ich schon ziemlich am Ende. Ich atmete mithilfe eines Inhalators und sie pumpten mich mit Antibiotika, Anabolika und weiß Gott was voll. An meinem Finger hing ein Fingerpulsoximeter, und ich wusste, dass ich nicht genügend Sauerstoff im Blut hatte. Ich kämpfte. Meine Lungen nahmen nicht genügend Luft auf. Falls ihr das noch nie erlebt habt – es fühlt sich schrecklich an.
In der zweiten Nacht hatte mein Zustand sich verschlimmert. Ich wurde ein paarmal bewusstlos, zwischendurch sah ich den Gesichtsausdruck meiner Mutter. Sie schrie. Sie wollte mich ins Krankenhaus bringen. Ein einfaches Beatmungsgerät für eine Nacht und mein Leben wäre gerettet, sagte sie. Ich nehme an, damals hatten wir noch nicht unsere gemeinschaftseigene Klinik, wir waren ja noch nicht lange hier. Doch mich in ein normales Krankenhaus zu bringen, stand für alle anderen außer Frage, und zwar wegen der Gefahr, die von uns für die normalen Leute ausgeht, die hier geboren sind und ein anderes Immunsystem haben. Und was war, wenn ein Arzt oder eine Krankenschwester anfangen würden Fragen zu stellen, während sie meine Krankengeschichte aufnahmen oder sich mein Blut unter dem Mikroskop zu gründlich ansahen?
»Sie muss nicht sterben!«, hörte ich meine Mutter im Nebenzimmer weinen. Sie flehte, versprach, bei allem dabei zu sein und niemand anders meine Pflege zu überlassen. Keine Bluttests, keine Diagnose. Sie würde einen Weg finden, um alles geheim und sicher zu halten.
Irgendwann später kam Mrs Crew dazu. Sogar mit meinem unterversorgten Gehirn nahm ich wahr, wie die Stimmung im Haus umschlug. Das Schreien und Flehen hörte auf und aus dem Nebenzimmer drang nur noch Mrs Crews beschwichtigende Stimme. Einige Augenblicke lang war ich seltsam hellhörig, seltsam bei Verstand, während ich zuhörte, wie sie ruhig und herablassend zu meiner Mutter sprach. »Nach allem, was wir aufgegeben haben, Molly. Nach allem, was wir durchgemacht haben …« Meine Mutter verließ den Raum, und ich hörte, wie stattdessen mein Betreuer, Mr Robert, mit Mrs Crew redete. Es fühlte sich an, als würde ich von einem Ort oben an der Zimmerdecke aus zuhören, als wäre ich bereits tot. Sie erklärte ihm nüchtern, was mit meinem Leichnam geschehen sollte, wie der Totenschein auszustellen wäre sowie den richtigen Umgang mit allem, was von meiner Person in den staatlichen Datenbanken verblieben war. Sie hatten dort Identitäten für uns eingerichtet und die konnten sie auch wieder löschen. Schließlich bot sie ihm eine Spritze oder Tablette oder etwas Ähnliches an. Einen »Todesengel«, wie sie es leise nannte, um mir mein Sterben zu erleichtern. Sie würde bleiben, bis es vorbei sei, versicherte sie ihm.
Aber es ging nicht vorbei. Irgendwann in den frühen Morgenstunden öffneten sich meine Lungen ein wenig. Und am Ende jenes Tages noch ein wenig mehr. Und sechs Wochen später trug ich die sechste Regel in diesem Saal vor.
Mr Botts erhebt sich zwei Reihen hinter uns, um die dritte Regel aufzusagen, in der es darum geht, unser Wissen nicht einzusetzen, um etwas zu verändern. Ich kenne ihn aus unseren Anfangstreffen, bei denen wir in allem eingewiesen wurden. Mrs Connor mit dem lichter werdenden Haar und einer merkwürdigen orangefarbenen Tunika fährt mit der vierten Regel fort, eine Erweiterung der dritten. Ich weiß nicht mehr, woher ich die Frau kenne.
Ein Typ namens Mitch, ein Star, weil er in Yale studiert, übernimmt die fünfte, die Geheimhaltungsregel. Vielleicht ist es diese Regel, an die wir am häufigsten denken. Die Anführer sind besessen von ihren Details – wir dürfen unter keinen Umständen auffallen und niemals auch nur den kleinsten Hinweis liefern, der uns verraten könnte. Doch manchmal frage ich mich allen Ernstes, ob irgendjemand tatsächlich erraten könnte, woher wir kommen, falls wir uns irgendwie verraten sollten. Und falls ja, würde man das dann überhaupt glauben?
Die sechste und siebte Regel zur medizinischen Versorgung werden von zwei Leuten vorgetragen, die ich nicht gut kenne und die diese Regeln wahrscheinlich gerade so überlebt haben, genau wie ich.
Regeln acht bis elf bekomme ich nicht mehr mit, weil von meinem Schuh eine rosa Perle abgefallen ist und ich den Boden unauffällig nach ihr absuche. Ehrlich gesagt schaue ich überall lieber hin als auf den großen Schirm dort vorne, denn fürs Finale haben sie sich das Foto von Aaron Green aufgehoben, und ich habe den Verdacht, das ist kein Zufall. Es ist das herzzerreißende Bild eines verwirrten und freundlichen Vierzehnjährigen, der so ungeschickt über seine eigenen Lügen gestolpert ist, dass sie ihm Mitte letzten Jahres verboten haben, weiter die Schule zu besuchen. Sein Lehrer kam zu ihm nach Hause, um zu sehen, wie es ihm ging, und zwei Tage später ertrank der Junge bei einem Floßunfall auf dem Housatonic River in Gegenwart seines Vaters und seines Onkels. Kein Krankenwagen, keine Notfallaufnahme. Mr Green hatte sich den vorgegebenen Anweisungen unserer Gemeinschaft gefügt und die Spezialnummer für diese Fälle angerufen.
Bei der zwölften Regel werde ich wieder aufmerksam. Mrs Crew, der Todesengel persönlich, erhebt sich, um sie vorzutragen. Sie ist nur etwa einen Meter fünfzig groß und ihr Haar sitzt auf ihrem Kopf wie ein Champignon, aber sie jagt mir immer noch Angst ein. Während sie die Regel rezitiert, schaut sie mich an, das schwöre ich.
1. Wir verpflichten uns zu Loyalität und Gehorsam gegenüber der Gemeinschaft, ihrem Überleben und ihrer Sicherheit, und akzeptieren ohne Fragen oder Diskussionen die Führerschaft durch unsere Anführer und Betreuer.
2. Wir haben die Zeit in ihrer Beschaffenheit und natürlichen Abfolge zu akzeptieren.
3. Unter keinen Umständen dürfen wir die in Postremo gesammelten Erfahrungen bewusst einsetzen, um diese Abfolge zu beeinflussen.
4. Wir dürfen in den Zeitenlauf nicht eingreifen, um Unglück oder Tod zu verhindern.
5. Wir müssen über Postremo, die Immigration und die Gemeinschaft immer und überall absolutes Stillschweigen bewahren.
6. Außerhalb der Gemeinschaft ist es uns strikt untersagt, medizinischen Rat zu suchen oder medizinische Hilfe zu beanspruchen.
7. Wir dürfen ausschließlich den Service unseres medizinischen Teams in Anspruch nehmen und haben, falls nötig, den Anweisungen für den Notfall Folge zu leisten.
8. Wir müssen verhindern, dass unsere Identität archiviert wird, sei es per Druck, durch Fotografie oder Videoaufnahmen.
9. Wir haben Orte geistlicher Zusammenkünfte zu meiden.
10. Wir haben alles daranzusetzen, uns in die Gesellschaft einzufügen und unter keinen Umständen Aufmerksamkeit auf uns als Person oder die Gemeinschaft zu lenken.
11. Wir haben jeden Kontakt mit Personen zu meiden, die uns aus Postremo bekannt sind und die nicht an der Immigration teilgenommen haben.
12. Unter keinen Umständen dürfen wir eine physisch oder emotional enge Beziehung mit einer Person außerhalb der Gemeinschaft eingehen.
Kapitel 2
Ein paar von uns besorgen sich im mexikanischen Fast-Food-Restaurant um die Ecke von der ehemaligen Kirche der Pfingstgemeinde etwas zu essen und laufen dann zum Central Park weiter. In diesem Jahr hat die Feier an einem Mittwoch stattgefunden und wir haben uns deshalb einen Tag freigenommen. Wir essen auf dem Great Lawn und schlagen die paar Stunden zwischen dem Ende der Feier und der halbjährlich stattfindenden »Zusammenkunft der Jugend« tot. Unsere Stimmung ist nach der Regelzeremonie immer so gehoben, warum also nicht gleich danach eine Party feiern?
Es klingt verrückt, aber genau das machen wir. Am Abend nach der Zeremonie versammeln sich alle im Alter zwischen fünfzehn und achtzehn und tun alles, um sich bei langweiliger Musik und fettigen Chicken-Nuggets ineinander zu verlieben. Na, dann mal los.
Denn falls wir uns verlieben oder auch nur gerne haben oder toll finden wollen, dann müssen wir das untereinander tun. Siehe Regel zwölf. Und nicht nur zu unserer eigenen Sicherheit, wie die Betreuer uns immer wieder einbläuen. Es geht auch um die Gesundheit und Sicherheit der Leute außerhalb unserer Gemeinschaft. Darüber kann man nicht mal Witze reißen. Nicht dass wir sonst viel hätten, worüber wir Witze reißen könnten.
Im Park sitzen Katherine, Jeffrey Boland, Juliet Kerr, Dexter Harvey, ich und ein paar andere aus der Schule in Rockland County zusammen. Jeffrey schläft in der Sonne ein, Dexter setzt sich seine Kopfhörer auf und Katherine und ich machen einen Spaziergang um den See.
»War gar nicht einfach, Aarons Gesicht da oben auf dem Bildschirm zu ertragen«, fange ich an und werfe Katherine von der Seite aus einen Blick zu, während wir dahinspazieren. Ich bemerke, wie ihre feine Haut errötet.
Aaron wohnte bei ihr um die Ecke. Er hatte einen kleinen Hund, eine Mopskreuzung namens Paradox, der bei jeder Gelegenheit zu Katherine nach Hause ausbüxte. Katherine machte sich Sorgen um Aaron. Für ihn war es schwerer als für die meisten von uns. Vielleicht habe auch ich mir Sorgen gemacht. Katherine hatte Aaron ihr altes Mongoose-BMX-Fahrrad gegeben und man sah ihn immer damit herumfahren.
Ich weiß, wie sensibel Katherine ist, und ich weiß auch, dass das sie immer alles verborgen hält, aber ich möchte so gerne etwas sagen, etwas Wahres.
»Er war kein besonders guter Schwimmer, sein ganzes Leben lang nicht«, füge ich hinzu. Es ist eine ziemlich morbide Bemerkung, das ist mir klar, aber Katherine wirkt erleichtert. Auf meine Art habe ich sie wissen lassen, dass ich nicht versuche, ehrlich zu sein. Ich fordere niemanden heraus. Ich akzeptiere, wie wir alle, die Geschichte von Aarons Tod, obwohl wir wissen, dass sie absoluter Unsinn ist.
Sie lächelt dünn und ich sehe Tränen in ihren Augen aufsteigen. Ich beobachte, wie sie nach oben in die blühenden Kirschbaumzweige sieht, die sich wie eine Markise über den Reitweg wölben. Ich erkenne, wie sehr sie sich bemüht, nicht zu weinen.
Kurzentschlossen ergreife ich ihre Hand, halte sie einen Augenblick lang und lasse sie dann wieder los. Sie ist der einzige Mensch, bei dem ich das machen kann.
»Sie haben seinem Hund einen anderen Namen gegeben«, sagt sie so leise, dass ich sie fast nicht höre.
»Wie bitte?«
»Aarons Vater hat den Hund jetzt Abe getauft. Aber er hört nicht drauf.«
Wir treffen uns alle wieder am Great Lawn und laufen zwanzig Häuserblocks stadteinwärts, dort ist der große Partyraum oben im Big Sister’s Diner für uns gemietet. Unsere Treffen finden normalerweise in New York City statt, denn wir leben alle im Umkreis von dreißig Meilen, und es gibt viele öffentliche Verkehrsmittel, vor allem aber ist die Stadt so riesig und chaotisch, dass sie jeden einfach schluckt. Wir bleiben lieber unerkannt.
Heute Abend ist der zweite Stock im Big Sister’s mit Girlanden geschmückt, wie bei einem Buffet sind große Alutabletts mit verschiedenen Speisen angerichtet, und man hat Kaffeetische über den Raum verteilt. Ganz vorne erkenne ich ein paar Aufseher von anderen Treffen wieder.
»Prenna, stimmt’s?« Eine Frau im Alter meiner Mutter mit grau meliertem Haar kommt auf mich zu, während ich meine Jacke ausziehe.
»Genau … Mrs …« Ich sollte ihren Namen eigentlich kennen.
»Sylvia Teller. Aus, mmmh … wir wohnen in Dobbs Ferry«, stellt sie sich vor. Sie wirkt betreten. Ich überlege hektisch, warum, aber dann fällt mir ein, dass es der übliche Grund sein muss. Sie war mit meinem Vater befreundet. Sie waren zusammen auf dem College oder der Graduate School. Sie zerbricht sich den Kopf, ob ihr vielleicht noch eine aktuelle Verbindung zwischen uns einfällt, denn nur über die dürfen wir uns unterhalten. Aber offensichtlich gibt es da nichts.
Ich sehe meinem Vater ähnlich, das weiß ich. Er war sehr auffallend und kannte so gut wie jeden. Mir ist klar, dass die Leute, sobald sie mich sehen, sofort an ihn denken. Ich bin so groß wie er und habe genauso dunkles Haar und breite asiatische Wangenknochen. Meiner Mutter sehe ich, mit Ausnahme der silberglänzenden Augen, überhaupt nicht ähnlich. Sie ist klein und blond. Niemand bringt mich bei diesen Treffen je mit ihr in Zusammenhang, sondern nur, peinlicherweise, mit jemandem, über den man nicht sprechen darf.
Ich möchte mich nicht traurig fühlen. Also gehe ich zur Toilette, um mir das Gesicht zu waschen und Lipgloss aufzutragen. Ich rumpele fast in Cora Carter hinein, die gerade aus der Toilette kommt, und wir treten beide einen Schritt zurück.
»Hallo, Prenna.« Sie lächelt.
»Cora! Wie geht’s?«
Wir küssen uns nicht auf die Wangen und umarmen uns auch nicht, oder Ähnliches. Die Mitglieder unserer Gemeinschaft kommen sich sehr selten nah.
»Gut.« Sie mustert mich. »Du siehst klasse aus. Dein Gürtel gefällt mir.«
Ich schaue an mir hinunter. »Danke. Du siehst auch toll aus.«
»Hast du die Fliege von Morgan Lowry gesehen?« Sie macht ein belustigtes Gesicht.
»Nein, ich bin gerade erst gekommen.« Morgan Lowrys Fliegen sind in unseren Augen absolut unmöglich. »Ich halte die Augen offen.«
»Okay, wir sehen uns dann drinnen.«
»Okay«, antworte ich.
Ich merke, dass ich ihr einen Augenblick zu lange in die Augen gesehen habe, und das ist ihr peinlich.
Ich kenne Cora von vorher. Alle in unserer Gemeinschaft kommen aus ungefähr der gleichen Gegend und viele von uns haben sich in Postremo gekannt. Wir alle haben die Pest überlebt, doch keiner hat sie ohne Schaden überstanden. Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem Coras Mutter starb. Ich erinnere mich an Coras halbverhungerte, halbverrückte Augen, als ihre Tante sie und ihren Bruder bei uns ablieferte, bis man sich um die Leiche gekümmert hatte. Ich erinnere mich auch daran, dass ein paar Monate später ihr Bruder starb. Ich erinnere mich in diesem Augenblick nur ungern an das alles, aber es ist einfach so. Ich habe bei mindestens einem Dutzend der Jugendlichen hier solche Erinnerungen und tief in ihnen ruhen ähnliche Erinnerungen über mich. Seit unserer Ankunft ist das tiefschürfendste Gespräch, das ich mit Cora geführt habe, das über meinen Gürtel.
»Bis später.« Sie winkt ungeschickt und verschwindet.
Ich versuche, mich für einen Abend mit Unterhaltungen dieser Art zu wappnen. Denn solche Gespräche finden im Augenblick überall in diesem Saal statt. Niemand spricht darüber, was uns wirklich miteinander verbindet. Die Kluft zwischen dem, was wir sagen, und dem, was wir empfinden, ist so weit und tief, dass ich manchmal denke, ich falle in sie hinein und höre nicht mehr auf zu fallen.
Wenigstens fühlen wir sie, denke ich bei mir. Ich jedenfalls. Und die anderen? Ich habe keine Ahnung und ich werde es auch niemals erfahren. Wir folgen unserem Text wie Schauspieler in einer sehr umfangreichen, sehr lange dauernden Produktion. Und sogar ohne Publikum lässt niemand von uns durchblicken, dass das Ganze nicht die Realität ist.
Manchmal höre ich nur, was wir nicht aussprechen. Ich habe nur Gedanken, die ich nicht denken darf, und erinnere mich an das, was ich vergessen sollte. Ich höre Geisterstimmen in diesem Raum, von all den Menschen, die wir in unserem alten Leben verloren haben und die laut jammern, dass sie nicht vergessen werden wollen. Aber wir gedenken ihrer nie. Das Wispern von Gefühlen, die wir nicht aussprechen – auch das höre ich.
Jeffrey schiebt ein paar von den kleinen Tischen zusammen und ein paar Leute versammeln sich darum, sie reden und flirten. Er zieht für mich einen Stuhl heran und ich setze mich darauf. Ich sehe die Leute an, die in diesem Kreis versammelt sind. Es sind meine Freunde. Ich habe sie gerne. Das hier ist mein Leben. Sie unterhalten sich über ihre Gürtel, ihre Schuhe, das Auto, das sie kaufen möchten, und die Show, die sie sich angesehen haben, und ich kann sie nicht hören, weil die Geisterstimmen sie übertönen.
Gegen neun Uhr helfen die Aufseher dabei, die Tische an die Wände zu rücken, um Platz zum Tanzen zu schaffen.
Jeffrey winkt mir zu und wir tanzen zusammen zu einem schnulzigen Popsong. Andere tanzen ebenfalls. Ich sehe, dass Katherine mit Avery Stone tanzt, ein Junge, der den Mädchen mit seiner Anmache ziemlich auf die Nerven geht.
Bei aufmerksamer Betrachtung sieht man, wie ungeschickt alles aussieht, wie vorsichtig, ängstlich und anscheinend zufällig wir uns berühren. Wir können nicht anders. In unserer Kindheit waren wir von der Pest umgeben. Ich beobachte, wie die anderen Jugendlichen an unserer Highschool sich ständig gegenseitig anfassen und umarmen. Wir nicht. Wir kennen keinen Weg zwischen körperlicher Isolation und Zusammensein. Entweder das eine oder das andere, und ich glaube, wegen dem einen ist das andere ziemlich unpersönlich und unharmonisch.
Adrian fragt mich, ob ich mit ihm tanzen will. Er hält mich an der Taille umschlungen. Er ist groß und gut aussehend, und mit ihm verbinden sich keine Erinnerungen, die mich verfolgen. Der Song wird langsamer und Adrian kommt näher. Sein warmer Atem streift mein Ohr.
Ich möchte etwas fühlen. Ganz ehrlich. Aber ich fühle nur ein Loch, da ist nur Wünschen und Sehnen und sonst nichts. Ich bin einsam.
Ich lehne meine Wange an Adrians Schulter. Die Lichter über dem Buffet verschwimmen und ich schließe die Augen. Ich mache etwas, was ich niemals, wirklich niemals, tun sollte. Ich lasse Gedanken an jemand anders zu – an einen Menschen, an den ich in einem Augenblick wie diesem niemals denken sollte.
Für einen Moment lasse ich mich treiben. Ich stelle mir vor, dass ich seine Wange an meinem Haar spüre. Ich stelle mir vor, dass seine Hände an meiner Taille liegen. Ich stelle mir vor, dass er mich wie jemand hält, der genau weiß, wie man das macht. Ich stelle mir vor, dass ich aufschaue und in seine Augen sehe, und sie wissen, wie man einen anderen Menschen ansieht, und er betrachtet mich mit seinem aufmerksamen Blick und fordert mich auf, Geschichten zu erzählen, die ich ihm niemals erzählen werde, aber er versteht mich trotzdem.
Es ist nicht richtig, ich weiß, und dennoch stelle ich mir vor, mit ihm zu tanzen, herrlich langsam. Ich male es mir in meinen Gedanken aus, denn woanders wird es niemals stattfinden.