© Sam Barker
DEr Autor
Chris Ryan wurde 1961 in Newcastle, England, geboren.
Zehn Jahre lang war er für die SAS, die britische
Eliteeinsatztruppe, tätig. Er war an verschiedenen
militärischen und verdeckten Operationen beteiligt und
Leiter eines Antiterrorteams. In den letzten Jahren
verfasste er mehrere Actionthriller, die sofort Einzug in
die Bestsellerlisten hielten. AGENT 21 ist sein erster
Jugendbuch-Thriller.
Von Chris Ryan ist bei cbt bereits erschienen:
Agent 21 – Im Zeichen des Todes
Agent 21 – Reloaded (Band 2)
Chris Ryan
Agent 21
Codebreaker
Aus dem Englischen
von Tanja Ohlsen
Inhalt
Prolog
15. Juni
Zur falschen Zeit am falschen Ort
ANGRIFF –- ZURÜCK
Grünes Licht
Zimmer 7
16. Juni
Vor aller Augen verborgen
Der Rätselmeister
Die zweite Bombe
St. Oswald’s
Verluste
00:00:00
Unehrenhafte Entlassung
17. Juni
NY HERO
Flüssiger Lunch
Kippschalter
Der Erhängte
EVORGDUL
18. Junii
Die Friedhofsschicht
Der Rotmantelwürger
Chalker Mews
Blackout
Mordlust
Epilog
Agent 21: Einsatzunterlagen
Agent 21
Wahrer Name: Zak Darke
Pseudonyme: Harry Gold, Jason Cole
Alter: 15
Geburtsdatum: 27. März
Eltern: Al und Janet Darke (verstorben)
Fähigkeiten: Waffenkenntnisse, Navigation, ausgezeichnete Sprachkenntnisse, ausgezeichnete technische Fähigkeiten und Computerkenntnisse.
Bisherige Einsätze: (1) Undercover eingeschleust auf das Gelände des mexikanischen Drogenbarons Martinez Toledo. Freundete sich mit Cruz an, dem Sohn der Zielperson. Erfolgreiche Beschaffung von Beweismaterial für die illegalen Aktivitäten der Zielperson. Führte das Einsatzteam erfolgreich auf das Gelände. Zielperson eliminiert. (2) In Angola eingeschleust, um einen Sprengkörper auf einem verdächtigen Terroristenschiff, der MV Mercantile, anzubringen. Schiff zerstört, Agent 21 zurückgeholt.
Agent 17
Wahrer Name: geheim
Pseudonyme: Gabriella, Gabs
Alter: 27
Fähigkeiten: Fortgeschrittene Kenntnisse in Nahkampf und Selbstverteidigung, Überwachung, Verfolgung.
Derzeit betraut mit der weiterführenden Ausbildung von Agent 21 auf der entlegenen schottischen Insel St. Peter’s Crag.
Agent 16
Wahrer Name: geheim
Pseudonyme: Raphael, Raf
Alter: 30
Fähigkeiten: Fortgeschrittene Kenntnisse in Nahkampf und Selbstverteidigung, Tauchen, Fahrzeugsteuerung.
Derzeit betraut mit der weiterführenden Ausbildung von Agent 21 auf der entlegenen schottischen Insel St. Peter’s Crag.
Michael
Wahrer Name: geheim
Pseudonyme: Mr Bartholomew
Alter: geheim
Rekrutierte Agent 21 nach dem Tod seiner Eltern. Derzeit sein Betreuer. Hat Verbindungen zum MI5, repräsentiert jedoch eine streng geheime Regierungsbehörde.
Cruz Martinez (vermutlich tot)
Alter: 17
Besondere Informationen: Nachfolger von Cesar Martinez als Kopf des größten mexikanischen Drogenkartells. Macht Agent 21 für den Tod seines Vaters verantwortlich. Hochintelligent. Verhält sich seit seiner Machtübernahme unauffällig. Vermutlich während des Untergangs der MV Mercantile ertrunken.
Prolog
Nordirland, 18. Juni 1973
»County Armagh? Oh, da ist es absolut idyllisch!«
Das erzählte Mrs Herder ihren Söhnen, und damit hatte sie vollkommen recht. Es ist dort absolut idyllisch. Es sei denn, man gehört der britischen Armee an – dann ist es die Hölle auf Erden.
Lee Herder hat keine Augen für die Landschaft. Er ist blind für die schmalen Kopfsteinpflasterstraßen und die winzigen Cottages des verschlafenen Dörfchens Ballycork, blind für die Schäfchenwolken am blauen Himmel. Er sieht nur die Soldaten des Fallschirmregiments, zwölf an der Zahl, mit je einem L64 Sturmgewehr, die einen Fünfzigmeter-Kordon um den Dorfplatz bilden. In der Mitte des Dorfplatzes steht ein Denkmal für die Gefallenen der beiden Weltkriege sowie ein weißer Ford Capri.
Lee sieht nach rechts. Dort steht sein älterer Bruder Richard – für seine verstorbenen Eltern Sonny, für alle anderen Dick. Die beiden Brüder sind gleich gekleidet. Druckwellensicherer Panzer über dem Standard-Tarnanzug. Helm. Ein Gürtel mit den Werkzeugen, die die beiden Brüder brauchen werden, um die Autobombe unter dem Capri zu entschärfen.
Am Rand des Kordons angekommen sieht Lee, wie sich ein Vogel auf dem Außenspiegel auf der Fahrerseite niederlässt. Schwarz-weiße Flügel, grüner Bauch. Lee identifiziert ihn als Buchfink.
»Hoffentlich hopst Tweety nicht auf die Druckplatte«, sagt Dick. »Könnte sonst laut werden.«
Lee nickt und sie betreten den Platz. Es ist ihre dritte Autobombe in ebenso vielen Tagen. Bevor sie auf ihre Nordirland-Tour gingen, waren sie ganz gute Bombenentschärfer. Jetzt gehören sie zu den allerbesten. Aber vor einem neuen Job beruhigt einen das Gefühl keineswegs, der Beste zu sein. Keine zwei Geräte sind gleich und die Bombenbastler sind stolz darauf, immer neue Fallen für Leute wie Lee und Dick zu erfinden.
Clevere Arten, sie umzubringen.
Jetzt knien sie am Auto nieder und betrachten das Hinterrad. Schweiß läuft Lee über den Hals. Wer auch immer sie angerufen hat, kann von Glück sagen, dass er die winzigen Auslöser bemerkt hat, einen vor und einen hinter dem Reifen. Sie bestehen aus winzigen Bällchen Klebegummi zwischen zwei Eisennägeln. Von jedem Nagel führt ein dünner Draht weg. Wenn sich das Auto vor- oder rückwärts bewegt, zerdrückt der Reifen einen der Auslöser, die Nägel berühren sich und der Stromkreis wird geschlossen. Wumm!
Die Entschärfung wird nicht einfach werden. Die Drähte, die zu den Nägeln führen, sind straff gespannt, was bei den Brüdern die Alarmglocken schrillen lässt.
»Bewegungssensoren?«, vermutet Lee.
»Bewegungssensoren«, bestätigt sein Bruder.
Sie legen sich auf den Bauch und Dick leuchtet mit einer Taschenlampe unter den Wagen. Und dort, fünfzig Zentimeter weiter, sehen sie Metallringe – kaum größer als Eheringe –, die um die Drähte herumführen. Lee muss an ein Spiel denken, das sein Vater für sie gebaut hat, als sie noch kleiner waren: ein wackeliger Draht, verbunden mit einer Batterie und einem Summer. Man musste eine Metallschlaufe von einem Ende des Drahtes zum anderen führen. Berührte man den Draht, ertönte der Summer und man musste von vorn anfangen. Hier ist das Prinzip das gleiche, nur dass es keinen Summer gibt und man auch nicht wieder von vorn anfangen kann. Die Ringe sind mit einem Haufen Drähte an der Unterseite des Autos befestigt und diese wiederum mit genügend leuchtend orangem Semtex, um das Auto in den Himmel zu jagen. Lächelnd fragt er sich, was sein Vater wohl sagen würde, wenn er sehen könnte, wie sie ihre Geschicklichkeit heute einsetzen. Und er wünscht sich – nicht zum ersten Mal –, dass ihnen ihre Eltern nicht auf so grausame Weise geraubt worden wären: von einem betrunkenen minderjährigen Fahrer in einer regnerischen Nacht.
Die Brüder sehen einander an.
»Kontrollierte Explosion?«, fragt Lee.
Dick nickt. Die Vorrichtung ist zwar ganz primitiv und einfach, aber das können mitunter die schwierigsten sein. Die leiseste Bewegung kann den Sprengstoff zünden. Sie stehen auf und gehen zum Kordon zurück.
Dort erwartet sie ein Offizier mit angespanntem Gesichtsausdruck. Ein Blick auf seine Streifen sagt den Brüdern, dass er hier das Kommando hat.
»Nun?«, fragt er.
»Alle innerhalb eines Radius von zweihundert Metern müssen evakuiert werden«, erklärt Dick. »Es ist zu riskant, das Ding zu entschärfen, und da unten klebt ein dicker oranger Kuchen. Wir müssen kontrolliert sprengen.«
Er wendet sich bereits ab, da sagt der Offizier: »Nein!«
Die beiden Brüder sehen ihn finster an.
»Was soll das heißen?«, fragt Dick.
»Ich habe meine Befehle. Wenn das Ding explodiert, bekommt die IRA fast genauso viel Aufmerksamkeit, wie wenn jemand dabei getötet wird.«
»Seien Sie doch nicht so dämlich«, entgegnet Lee. »Das Ding hat Fallen … viel zu gefährlich …«
»Na gut.« Der Offizier sieht sich um, als suche er nach jemandem. »Wenn Sie beide nicht dazu in der Lage sind, dann holen wir uns eben jemanden, der es kann.«
Lee sieht seinen Bruder an. Er weiß, dass sie beide dasselbe denken: In der ganzen britischen Armee gibt es niemanden, der auch nur halb so qualifiziert ist wie sie. Das ist keine Arroganz, einfach nur die Wahrheit. Würde man dem Vorschlag folgen und einen anderen Bombenentschärfer holen, würde das bedeuten, ihn in den Tod zu schicken.
Dick flucht leise.
»Lass die Soldaten weiter zurückweichen«, sagt er nicht an den Fallschirmjäger gewandt, sondern an Lee.
»He …«, setzt Lee an, bricht jedoch ab, denn sein Bruder ist bereits wieder auf dem Weg zurück zum Auto. Die Schutzkleidung macht seinen Gang ein wenig steif. Lee überlegt, ob er ihn zurückrufen soll, lässt es aber. Er kennt seinen Bruder zu gut. Wenn er sich einmal entschieden hat, hat er sich entschieden. Also schreit er die Fallschirmjäger an: »Los, alle Mann zurück! Zurück! Das ist eine ganz große!«
Die Soldaten rühren sich nicht. Erst nachdem ihnen der Offizier einen Befehl zugebellt hat, weichen sie zurück.
Dick ist mittlerweile bei dem Ford Capri angelangt. Er liegt auf dem Rücken und rutscht vorsichtig, wie ein Mechaniker, unter das Auto. Lee sieht nur seine Schutzstiefel darunter hervorragen und stellt fest, dass er den Atem anhält.
Eine Wolke schiebt sich vor die Sonne. Lee verspürt einen Schauer. Er ermahnt sich, ruhig zu bleiben. Dick hat ihm alles beigebracht, was er über Bombenentschärfung weiß, und das, was sein Bruder nicht weiß, ist auch nicht wichtig.
Eine Minute vergeht.
Zwei.
Plötzlich eine Bewegung. Lee zuckt zusammen. Der Buchfink ist wieder da, nur setzt er sich dieses Mal nicht auf den Außenspiegel. Er pickt an etwas auf der Straße herum, fünfzig Meter von seinem eigenen Standort entfernt, doch nur eine Handbreit von einem der Auslöser. Lee will rufen, hält sich aber zurück. Das Letzte, was sein Bruder jetzt braucht, ist, erschreckt zu werden. Stattdessen macht er einen Schritt vor, um den kleinen Vogel zu verjagen.
Er kann seinen eigenen Herzschlag hören, als er einen weiteren Schritt macht.
Und noch einen.
Der Vogel hört auf zu picken und sieht auf. Er starrt Lee mit leicht schief geneigtem Kopf an, als wolle er aufmerksam zuhören.
»Flieg weg, Vögelchen«, sagt Lee leise.
Doch der Vogel fliegt nicht weg. Er bleibt, wo er ist, nur Zentimeter von dem Auslöser entfernt, und sieht ihn an.
Also macht Lee noch einen Schritt.
Es ist der schlimmste Fehler seines Lebens. Der Buchfink bewegt sich, aber in die falsche Richtung. Er hüpft unter die Karosserie des Autos.
Drei Dinge geschehen gleichzeitig.
Lee schreit auf. Er kann nicht anders. »NEEEIIIN!«
Der Buchfink stößt gegen den Draht am Zünder.
Und das Auto explodiert.
Der Knall der Explosion ist ohrenbetäubend. Während Lee von der Wucht der pulsierenden Detonationswelle fünf Meter nach hinten geschleudert wird, schießt ihm durch den Kopf, dass man die Bombe bestimmt noch dreißig Meilen weiter hören kann. Und als er unsanft auf dem Pflaster landet, tut es ihm merkwürdigerweise um den Buchfink leid. Doch erst als der Staub sich zu legen beginnt, trifft ihn die brutale Erkenntnis härter als jedes Schrapnell.
Sein Bruder.
Lee rappelt sich auf und stolpert durch die Staubwolke, durch die er kaum weiter als ein paar Meter sehen kann, auf das feurige Leuchten zu, das von der Stelle kommt, an der der Ford Capri gestanden hat. Je näher er kommt, desto heller wird es. Und heißer. Fünf Meter entfernt bleibt er stehen und fällt auf die Knie. Selbst unter seiner Maske verbrennt die Hitze seine Haut, doch er ignoriert es. Er betet, dass sein Bruder es auf wunderbare Weise geschafft hat, sich vor der Detonation in Sicherheit zu bringen, doch er weiß, dass er umsonst hofft. Und das liegt nicht nur daran, dass er die Explosion miterlebt hat.
Es liegt daran, dass er zwei Meter vor sich den Stumpf eines abgerissenen Beins sieht, der wie ein gut durchgetrocknetes Holzscheit in einem Kaminfeuer brennt.
Das ist alles, was von Dick »Sonny« Herder, dem besten Bombenleger in der Armee Ihrer Majestät, übrig ist …
15. Juni
Gegenwart
Zur falschen Zeit am falschen Ort
»Bist du hier, um mich zu töten?«
Die Stimme des Jungen klang nicht verängstigt, eher neugierig. Und ruhig. Bereit für alles, was kommen mochte.
Agent 21 spähte in die Dunkelheit. In seiner rechten Hand hielt er eine kurzläufige 9-mm-Pistole, und er wusste, dass seine Hand nicht zittern würde, wenn es darauf ankam.
»Denn wenn du mich töten willst, mach es bitte schnell«, fuhr der Junge fort. »Ein Kopfschuss wäre gut. Das würde ich nicht spüren.« Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: »Glaube ich zumindest.«
Agent 21 packte die Waffe etwas fester. Sie war entsichert und geladen.
Als er an diesem Morgen aufgewacht war, hatte er keine Ahnung gehabt, wie sich dieser Tag entwickeln würde.
Allerdings hatte niemand eine Ahnung gehabt, wie sich dieser Tag entwickeln würde. Am allerwenigsten Amelia Howard, als sie achtzehn Stunden zuvor ihr Haus in Brixton verlassen hatte, um den ersten Zug in die Londoner Innenstadt zu nehmen.
In den letzten neun Jahren hatte Amelia diese Fahrt jeden Tag gemacht. Häufig hatte sie bemerkt, dass die Gesichter der anderen Pendler auf dem Bahnsteig weit weniger zufrieden aussahen, zu so früher Stunde aufstehen zu müssen. Es waren immer dieselben Gesichter und sie sahen immer gleich drein: mürrisch, müde und wenig begeistert. Bei Amelia war es das Gegenteil. Sie liebte ihren Job in einem Kinderheim in Islington. Gut bezahlt wurde sie zwar nicht, aber sie hatte den Eindruck, als könne sie etwas bewirken, und darauf kam es an.
Bei seiner Ankunft schob der Zug einen Luftschwall vor sich her aus dem Tunnel, der Amelias Haare durcheinanderbrachte. Doch das machte ihr nichts aus. Sie war zwar hübsch, gehörte aber nicht zu den Leuten, die sich viel um ihr Aussehen kümmerten. Hielten sich andere Frauen in der U-Bahn winzige Make-up-Spiegel vor das Gesicht und trugen Lippenstift auf, so steckte Amelia ihre Nase lieber in ein Buch. So verging die Fahrt schneller.
Der Zug donnerte in die Station und die Türen öffneten sich zischend. Amelia betrat einen der mittleren Wagen und setzte sich. Rechts von ihr saß ein Mann in einem Anzug, links von ihr eine ältere Frau. Amelia nahm ihr Buch aus der Tasche, stellte die Tasche zu ihren Füßen ab und begann zu lesen.
Gewohnheitsmäßig sah sie auf, wenn der Zug abbremste. So bekam sie jede Station mit und wusste immer, wo sie war. Aus Brixton wurde Stockwell, wo sie sich erneut in ihr Buch vertiefte, dann wurde Stockwell zu Vauxhall, eine Minute später sah sie erneut auf, als der Zug vor Pimlico langsamer wurde.
Sie wusste nicht, dass sie Pimlico bereits zum letzten Mal gesehen hatte.
Eine ungeheure Explosion erschütterte den Zug. Und sie erschütterte Amelia in zweierlei Hinsicht. Zunächst war da der Lärm. Es waren mehrere Detonationen in schneller Folge, die sich anhörten, als werde direkt neben ihrem Ohr ein Feuerwerk gezündet. Dann folgte die Bewegung. Sie spürte, wie der Zug aus den Schienen sprang, und ihr Magen protestierte, als sich das vordere Ende des Wagens zwei Meter hoch in die Luft hob.
Die Lichter gingen aus. Nur im Schein der Funken, die draußen aufstoben, während der Zug an der Tunnelwand entlangschrammte, konnte Amelia etwas sehen. Im fahlgelben Licht erkannte sie die entsetzten Gesichter ihrer Mitreisenden, die sich an den Armlehnen festkrallten.
Die Wände des Waggons gaben nach und gleichzeitig begannen die Menschen zu schreien. Was zuvor so stabil und hart gewirkt hatte, zerknitterte wie Alufolie und brannte wie Papier. Die Glasfenster knackten und barsten. Noch nie hatte Amelia jemanden sterben sehen – jetzt sah sie im schwachen Licht der Funken, wie sich ein verdrehtes Stück Metall in die Brust der Frau neben ihr bohrte, und Blut spritzte ihr ins Gesicht. Amelia ließ sich auf den Boden fallen.
Die ganze Zeit hatte sich der Zug bewegt, doch jetzt kam er zum Stillstand. Einen Moment lang herrschte düstere Stille – die Passagiere hatten aufgehört zu schreien – und es war stockdunkel. Mit zitternden Händen tastete Amelia nach ihrer Handtasche. Als sie sie gefunden hatte, nahm sie ihr Handy und schaltete es ein. Der Bildschirm ging an und beleuchtete den grausigen Anblick der toten Frau, die ebenfalls auf den Boden gefallen war und sie aus leeren Augen anstarrte.
Amelia war nicht die Einzige, die ihr Handy aufleuchten ließ. Überall im Wagen erschienen Bildschirme wie kleine Leuchtfeuer. Sie beleuchteten eine Szene der totalen Verwüstung – und Amelias Sitznachbarin war nicht die einzige Tote. Ringsherum sah sie die grauen Silhouetten von Leichen.
Sie betrachtete ihren Handrücken. Ein Glassplitter von einem der Fenster hatte ihn aufgerissen und Blut tropfte auf den Ärmel ihrer leichten Jacke.
Langsam erfüllte leises Weinen den Zug. Amelia bemühte sich aufzustehen, was wegen der Neigung des Zugbodens nicht einfach war.
»Wir … wir sollten versuchen, weiter nach vorn zu kommen«, schlug sie unsicher vor.
Niemand hörte sie, denn im gleichen Moment ertönte über ihr ein ungeheures Ächzen. Kalte Angst durchzuckte sie. So ein Geräusch hatte sie noch nie gehört, und etwas sagte ihr, dass das Ende nah war.
Am ganzen Körper zitternd hob sie ihr Handy und sah nach oben. Das Dach des Waggons senkte sich. Es würde einstürzen.
»O mein Gott«, flüsterte sie. Sie sah nach links und rechts, doch die Decke senkte sich auf der ganzen Länge des Waggons.
Wieder erklang das Ächzen, dieses Mal noch lauter. Das Dach gab weiter nach.
Amelia Howard war nicht religiös. Seit ihrer Kindheit war sie nicht mehr zur Kirche gegangen. Aber jetzt fiel sie auf die Knie, senkte den Kopf und betete. Da sie wusste, dass sie sterben würde, betete sie nicht um ihr Leben, sondern einfach nur darum, dass ihr Tod nicht allzu schmerzhaft werden würde.
Sie betete immer noch, als das Dach einstürzte, doch ihr Gebet wurde nicht erhört. Unzählige Tonnen Schutt stürzten auf sie herab. Sie spürte den ungeheuren Schmerz, als die Knochen entlang ihrer Wirbelsäule brachen und ihre Arme und Beine wie trockene Zweige knickten. Ihr Kopf wurde auf den Boden gepresst. Sie schrie vor Schmerz, aber ihre Schreie wurden von ihrem Sarg aus Erde gedämpft. Sie versuchte zu atmen, doch statt Luft füllte nur Staub ihre Lungen. Ihr Mund füllte sich mit Blut und ihr Blick trübte sich.
Als das Ende endlich kam, war es eine Erlösung. Nicht nur für Amelia Howard, sondern für alle in ihrem Waggon, die einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen waren.
Die Rettungskräfte arbeiteten schnell und effizient, aber sie konnten nicht viel tun.
Innerhalb weniger Minuten nach der Explosion war das gesamte U-Bahnnetz evakuiert und um die Station Pimlico eine Sperrzone errichtet worden. Krankenwagen, Polizei und Feuerwehr verstopften die Zufahrtsstraßen und immer noch gellten die Sirenen der Wagen, die dazukamen. Rettungskräfte mit Helmen und Gasmasken stiegen mutig die Stufen der Unterführung hinunter, die zur Station führten. Andere kamen heraus, ihre Kleidung und Haut mit Schmutz bedeckt und mit völlig entsetzten Gesichtern. Keiner von ihnen hatte so etwas je zuvor gesehen.
Es trafen noch andere Autos ein. Dunkle Geländewagen, aus denen Angehörige der Antiterroreinheit in Zivilkleidung und mit grimmigen Gesichtern stiegen. Am Himmel kreisten Helikopter. Ein Nachrichtenteam war bereits vor Ort und drängte sich durch die Zuschauer, die an der Absperrung standen und von fünfzig Polizisten angebrüllt wurden, zurückzubleiben. Doch ein Mann mit schulterlangem grauem Haar, grünen Augen und umweht von einem Geruch nach Kirschtabak hob das Absperrband über seinen Kopf und näherte sich dem Unglücksort. Sofort rannte ein Polizist auf ihn zu. Er wollte ihn gerade anschreien, hinter die Absperrung zurückzugehen, als der Mann ihm einen Ausweis unter die Nase hielt.
Der Polizist riss die Augen auf und hätte fast Haltung angenommen. »In Ordnung, Sir. Bitte gehen Sie weiter.«
Der grauhaarige Mann nickte dem Beamten vage zu und näherte sich dann dem Stationseingang. Fünf Meter davon entfernt blieb er stehen und schien fast gedankenverloren die Rettungsarbeiten zu beobachten. Als klar war, dass die Rettungskräfte auf ihren Tragen keine Lebenden herausbrachten, sondern nur Tote bargen, senkte er den Kopf, seufzte und kehrte zurück zur Absperrung.
»Kann ich Ihnen behilflich sein, Mr Bartholomew?«, fragte der Beamte, der zuvor versucht hatte, ihn aufzuhalten.
Mr Bartholomew schenkte ihm ein schwaches Lächeln. »Nein«, sagte er. »Gehen Sie zurück auf Ihren Posten.«
Als er weiterging und den Kragen seines Mantels zum Schutz gegen die Morgenkälte hochschlug, dachte er bei sich: Für die armen Teufel da unten kann niemand mehr etwas tun. Es sind die Lebenden, die jetzt unsere Hilfe brauchen.