Natasha Mac a’Bháird
Missing Ellen
Aus dem Englischen
von Karen Gerwig
DIE AUTORIN
Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House
1. Auflage
Deutsche Erstausgabe November 2014
© 2013 by Natasha Mac a’Bháird
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»Missing Ellen« bei The O’Brien Press Ltd, Dublin, Ireland
© 2014 für die deutschsprachige Ausgabe cbt Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Übersetzung: Karen Gerwig
Lektorat: Catherine Beck
Umschlaggestaltung: init | Kommunikationsdesign, Bad Oeynhausen
unter Verwendung eines Motivs von Istockphoto/Lise Gagne
MG · Herstellung: kw
Datenkonvertierung E-Book:
hanseatenSatz-bremen, Bremen
ePub-ISBN: 978-3-641-14260-5
www.heyne.de
Für meine großartige Mutter Anne
Liebe Ellen,
du hast mir heute in der Schule gefehlt. Es ist so seltsam, ein neues Schuljahr ohne dich anzufangen. Fuddy Duddy ist immer noch eine blöde Kuh – die Sommerferien haben ihr anscheinend nicht gutgetan. Sie behauptet, ich hätte zu viele Ohrringe. Als würde gerade die irgendwas von Mode verstehen. Du hättest die hässliche braune Bluse sehen sollen, die sie heute anhatte. So eine hätte meine Oma schon vor zwanzig Jahren in die Altkleidersammlung geschmissen. Kackbraun und mit einem riesigen Rüschenkragen.
Es ist ein komisches Gefühl, dir einen Brief zu schreiben, aber ich glaube nicht, dass du deine E-Mails checkst, und ich weiß, Mum checkt meine. Ich habe in meiner untersten Schreibtischschublade einen Notizblock gefunden. Auf den ersten paar Seiten sind Zeichnungen von verschiedenen Kostümen und Outfits, also wird Mum, wenn sie es in die Finger bekommt, hoffentlich nichts merken und auch nicht weiterblättern. Ich kann also schreiben, was ich will.
Eigentlich war es Davids Idee. Er hat vorgeschlagen, dass ich darüber schreiben soll, was passiert ist, alles zu Papier bringen, so eine Art Exorzismus oder so. Du fragst dich, wer David ist, ich weiß. Das erzähle ich später. Erst muss ich zurück zum Anfang.
Hab dich lieb,
Maggie
Wenn ich ehrlich bin, weiß ich allerdings nicht, wo der Anfang ist und wie weit ich zurückgehen muss, damit das alles irgendwie Sinn ergibt. Wenn das überhaupt möglich ist. Hat alles damit angefangen, was Ellens Familie letzten Frühling passiert ist, oder sogar noch früher?
Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem ich Ellen kennenlernte, eine quietschvergnügte Fünfjährige, deren rote Zöpfe flogen, als sie von einer Seite des Kindergartenraums zum anderen rannte, weil sie alles auf einmal ausprobieren wollte – die Bücher, den Sandtisch, die Puppenecke. Ich weiß noch, wie fasziniert ich von ihr war und davon, wie vollkommen furchtlos sie wirkte. Ich klammerte mich an die Hand meiner Mutter und wollte nicht, dass sie ging, wollte nicht an diesem seltsamen Ort allein gelassen werden. Und da war dieses Mädchen, nicht größer als ich, die anscheinend überhaupt kein Problem damit hatte, hier zu sein, und sich darauf freute, unsere neue Welt zu erkunden. Ich fand das unglaublich. Und seltsamerweise schien sie mich auch zu mögen. Sie nahm mich unter ihre Fittiche, kommandierte die anderen Kinder herum und schrie einen kleinen Jungen an, der versuchte, mir mein Pausenbrot wegzunehmen. Und von diesem Moment an waren wir Freundinnen.
Ich glaube, ich wusste schon damals, dass es dort, wo Ellen ist, immer am besten und aufregendsten ist. Sie erhellt den Raum mit ihrer Energie und Lebensfreude. Wenn sie geht, fühle ich mich, als hätte man die Luft aus mir herausgelassen, als wäre alles, was passieren konnte, schon passiert, und als gäbe es keinen Grund mehr, länger da zu sein.
Aber das geht zu weit zurück, glaube ich. Ich glaube, ich fange am besten mit einem trüben Dienstag im letzten Frühling an: Ellen und ich sitzen bei Fuddy Duddy (offiziell Mrs Duddy. Der Spitzname war irgendwie unvermeidlich, wenn sie einen solchen Nachnamen unbedingt mit der vollkommenen Abwesenheit von Modegeschmack kombinieren musste) im Erdkundeunterricht. Ellen versucht die Zeit totzuschlagen, indem sie mir Nachrichten auf ihr Hausaufgabenheft kritzelt. Inzwischen packt Ellens Vater zu Hause seine Taschen und zieht für immer auszieht.
Ihre Mutter kam nach der Schule nicht, um sie abzuholen. Das war nicht unbedingt außergewöhnlich. Mrs Barrett war noch nie die verlässlichste Mutter gewesen.
»Willst du sie anrufen?«, fragte Mum Ellen und klang dabei ein bisschen besorgt. Mum holt uns immer überpünktlich ab. Ein paar Monate vorher war sie einmal zu spät gekommen, weil unterwegs eine Baustelle war. Als sie ankam, weinte ich schon fast, und ihr ging es nicht viel besser. Hinterher fühlte ich mich dumm, weil ich so in Panik geraten war, aber es sah ihr einfach überhaupt nicht ähnlich.
Ellen zuckte die Achseln. »Das bringt nichts. Sie hat heute Morgen ihr Handy-Ladegerät nicht gefunden, und ans Festnetz geht sie nie, falls es Oma ist, die Dad sprechen will.«
Das schien Mum ziemlich zu entsetzen. Ich dachte, sie hätte inzwischen an Mrs B gewöhnt sein müssen, aber sie will wohl einfach immer nur das Beste von den Leuten glauben.
»Dann komm, ich fahre dich nach Hause«, sagte Mum.
Als wir am Haus der Barretts ankamen, waren alle Vorhänge der vorderen Fenster zugezogen, aber auch das war nicht allzu ungewöhnlich. Schon bevor Ellens Dad ging, war ihre Mum ziemlich unbeständig gewesen. An manchen Tagen war sie bei Tagesanbruch auf und ging ins Fitnessstudio, bevor sie nach Hause kam und für Ellen und Robert zum Frühstück Pfannkuchen buk. An anderen Tagen stand sie nicht einmal auf, um ihnen nachzuwinken, wenn sie zur Schule gingen. Es schien Ellen nicht zu stören. Ich glaube, sie war daran gewöhnt.
Ich glaube aber, Mum muss gespürt haben, dass irgendetwas nicht stimmte, denn sie wartete nicht einfach wie sonst im Auto, bis Ellen im Haus war. Sie stieg aus und ging mit Ellen ums Haus herum zur Hintertür. Ich folgte ihnen, weil ich nicht recht wusste, was ich sonst tun sollte.
Roberts Fahrrad lag vor der Hintertür auf der Seite. Mein Dad wäre ausgeflippt – er nervt Jamie und mich ständig, dass wir unsere Räder aufräumen sollen, damit sie nicht rosten, wenn es regnet. Mum ging einfach daran vorbei und fragte Ellen, ob sie ihren Schlüssel dabeihätte. Ellen zog ihn mit der Kette heraus, an der sie ihn um den Hals trug – sie nennt sich selbst gern Schlüsselkind –, und öffnete die Tür. Mich beschlich immer stärker ein Gefühl von drohendem Unheil – ja, so könnte man es wohl nennen. Ich will nicht melodramatisch klingen, aber ich glaube, Mums Nervosität steckte mich an. Ellen schien nichts zu bemerken. Sie summte einfach vor sich hin und drehte ihren Pferdeschwanz um die Finger.
Mrs B saß am Küchentisch, immer noch im Nachthemd, die Ellbogen zwischen dem Frühstücksgeschirr aufgestützt. Ihre Haare waren wirr und sie starrte einfach ins Nichts. Sie schien uns nicht einmal hereinkommen zu hören.
Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte, und schaute Mum an.
Ellen war schon am Tisch, zog einen Stuhl zurück und setzte sich. »Mum, was ist los?«, fragte sie, während sie eine Schüssel durchweichte Coco Pops zur Seite schob, um die Hand ihrer Mutter zu nehmen.
Jetzt bemerkte uns Mrs B endlich. Sie schaute Ellen an und lachte auf ihre unterkühlte, bittere Art. »Tja, er hat es endlich getan. Er hat uns verlassen.«
»Wovon redest du?« Ellen klang wütend, aber auch ein bisschen ängstlich. »Das kann nicht sein. Er will nur eine Show machen. Später kommt er wieder.«
»Nein, tut er nicht. Diesmal nicht«, sagte Mrs B leise. »Er hat alles mitgenommen. Geh selbst nachschauen, wenn du mir nicht glaubst.«
Als Ellen in ihrer Hast den Stuhl umwarf, krachte es laut. Sie rannte aus dem Zimmer. Mum legte den Arm um Mrs B, tätschelte sie unbeholfen und sagte »Na, na«, als wäre sie ein kleines Kind, das sich den Kopf gestoßen hatte, und keine Frau mittleren Alters, deren Mann sie gerade nach zwanzig Jahren Ehe mit zwei Kindern sitzen gelassen hatte.
Ich stand eine Weile da und wusste nicht recht, was ich mit meinen Händen anfangen sollte, dann ging ich den Teekessel aufstellen. Das tut Mum normalerweise in Krisensituationen. Tut sie das nur, damit sie etwas mit ihren Händen machen kann? Darüber hatte ich vorher noch nie nachgedacht. Ich öffnete den Küchenschrank, um Tassen herauszuholen, aber da waren keine. So leise ich konnte, öffnete ich die Geschirrspülmaschine – sie war voll mit schmutzigem Geschirr. Ich nahm vier Tassen heraus und spülte sie unterm Wasserhahn. Als ich gerade nach Teebeuteln suchte, kam Ellen in den Raum zurückgestürmt.
»Diesmal macht er wirklich das ganz große Drama. Sein Kleiderschrank ist leer, seine CDs sind weg, alles.« Sie fing an zu weinen, und ich glaube, das muss Mrs B auch aus der Fassung gebracht haben, denn sie fing ebenfalls an zu weinen, und plötzlich klammerten sich die beiden schluchzend aneinander.
Mum übernahm das Teekochen, fand Teebeutel und Milch und sogar ein paar zerbrochene Kekse ganz unten in einer Keksdose.
Ich sah ihr zu und war auf egoistische Weise froh, dass ich eine Mum hatte, die in Krisensituationen Tee kochen konnte, und einen netten, verlässlichen Dad, dessen Vorstellung von etwas wirklich Wildem darin bestand, dass er einmal versucht hatte, mit einer Männer-Haartönung seine grauen Haare zu verdecken. Ich wusste nicht, was ich zu Ellen sagen sollte. Ich war an die Streits ihrer Eltern gewöhnt, aber das war neu.
So, das ist doch irgendwie ein Anfang, oder? David kann nicht sagen, dass ich es nicht versucht habe.
Liebe Ellen,
Fuddy Duddy hatte heute schon wieder diese Bluse an. Diesmal mit einem Rüschenrock in Apfelgrün. Was um alles in der Welt hat sie sich dabei gedacht? Diesmal hatte sie nichts an meinem Aussehen auszusetzen (ich hatte die zusätzlichen Ohrringe herausgenommen und in meinem Mäppchen versteckt, bevor ich hineinging), also beschloss sie, sich stattdessen über meine Hausaufgaben zu beschweren. Angeblich war mein Aufsatz über Felsformationen »lang, ausschweifend und sinnfrei«. Dabei hätte sie zufrieden sein müssen – das klingt doch genau wie eine Beschreibung ihres Unterrichts.
Siobhan Brady hat auf der Rückseite ihres Hausaufgabenhefts eine Liste von Jungen angelegt, mit denen sie dieses Jahr knutschen will. Was ist mit der los? Was meinst du, sollen wir die Jungs warnen? Hereinspaziert, hereinspaziert, all ihr jungen Männer! Werdet nicht einfach eine Kerbe in jemandes Bettpfosten. Werdet stattdessen ein Häkchen auf Siobhan Bradys Liste!
Sport war heute furchtbar. Es schüttete den ganzen Tag, und Miss O’Neill fand es eine gute Idee, Camogie zu spielen. »Man nennt das nicht ohne Grund Allwetter-Sportplatz, Mädels«, trällerte sie mit ihrer albernen falschen Stimme.
Also latschten wir alle in unseren dämlichen weißen Trikots hinaus aufs Feld und rannten vierzig Minuten herum, ohne wirklich Ahnung zu haben, wo der Ball ist – es regnete so, dass wir schon einander kaum sehen konnten, ganz zu schweigen vom Ball –, und erschraken jedes Mal, wenn sie in ihre dumme Pfeife blies. Natürlich fanden die sportlichen Mädchen das alles super und versuchten die ganze Stunde über, sich gegenseitig zu übertreffen und zu schauen, wer Miss O’Neill am meisten beeindrucken kann. Wir Normalsterblichen versuchten, im Hintergrund zu bleiben und Energie dafür aufzusparen, ab und zu schnell auszuweichen, wenn es aussah, als könnte der Ball in unsere Richtung fliegen. Ich habe mich dabei ertappt, wie ich mir wünschte, ich säße an meinem Pult hinten im Matheunterricht und würde Bouncer zuschauen, wie er gleichschenkelige Dreiecke an die Tafel malt. Ja, so schlimm war es.
Letzte Woche war natürlich strahlender Sonnenschein, und statt mit uns hinauszugehen, damit wir an unserer Bräune arbeiten können, während wir so tun, als würden wir Camogie spielen, fand Miss O’Neill, es wäre eine gute Idee, in der stickigen Turnhalle endlose Runden zu laufen. In einem früheren Leben muss sie irgendein Diktator oder so gewesen sein. Oder vielleicht eine Nonne.
Siobhan hat Liams Namen auf ihre Liste gesetzt. Blöde Kuh. Als hätte er Augen für irgendwen anderes als dich.
Hab dich lieb,
Maggie
Ellens Eltern streiten schon, seit ich denken kann. Als wir sieben waren, war es besonders schlimm. In ihrem Haus lag immer Spannung in der Luft. Man konnte sie fast spüren, wenn man zur Haustür hereinkam. Ihr wisst schon, manche Häuser haben so einen warmen, tröstlichen Geruch, wie Gemüseeintopf, der auf dem Herd köchelt, und andere sind voller Krach, mit haufenweise Kindern, die herumrennen, einem Radio, das im Hintergrund dröhnt, einer Mutter, die ihre Kinder anschreit, sie sollen nicht so laut sein. In Ellens Haus fiel mir nichts so sehr auf wie die Atmosphäre von Leuten, die einander nicht mochten.
Ellen kam immer zu uns herüber, um dem zu entkommen. Sie schien nie aufgebracht darüber zu sein, wie sich ihre Eltern benahmen, sie verhielt sich nur verrückter als je zuvor. Eines Tages überredete sie mich, alle Puppen in Clowns zu verwandeln, indem wir ihnen die Gesichter anmalten, und unseren eigenen Zirkus mit drei Manegen zu gründen (mein Zimmer, der Flur und Jamies Zimmer waren die drei Manegen). Wir holten meine Farben heraus und machten uns daran, unsere kleinen Clowns zu schmücken – Orange als Grundfarbe, Lila, Rot und Blau um die Augen und Münder. Wir zogen ihnen ihre ganzen hübschen Kleider aus, steckten sie in einfarbige weiße Unterhemden von mir und bemalten auch die. Als wir mit ihnen fertig waren, sahen sie fürchterlich aus, aber wir fanden sie genial – einfach die perfekten Clowns. Jamie wachte aus seinem Mittagsschlaf auf, als wir sein Zimmer übernahmen, aber statt zu weinen, setzte er sich nur auf und schaute uns zu. Ellen war begeistert, Publikum zu haben, und fing an, ihre Clowns Überschläge machen und sich mit Wasser bespritzen zu lassen, worüber Jamie entzückt lachte.
Danach taten mir meine Puppen so leid, mit ihren traurigen kleinen bemalten Gesichtern, die nie wieder ganz so aussahen wie vorher, obwohl ich sie schrubbte und schrubbte. Jetzt liegen sie in einer Schachtel auf dem Speicher. Die armen kleinen Dinger – die meisten von ihnen haben immer noch einen deutlichen orangefarbenen Schimmer.
Mum war nicht einmal sauer auf uns, ich glaube, sie wusste, was bei Ellen zu Hause los war. Sie fragte sie, ob sie zum Abendessen bleiben wolle, und rief sogar Ellens Mum an, um zu fragen, ob sie über Nacht bleiben dürfe. Es war unsere erste richtige Übernachtung, und wir feierten sie mit einem Mitternachts-Festmahl (Schokoladenkekse, Kartoffelchips und Brötchen, die wir nach oben geschmuggelt und in meinem Puppenwagen versteckt hatten). Wir hatten gerade die Dolly-Bücher entdeckt und fanden, wir wären genau wie die Mädchen darin, auch wenn es ein Jammer war, dass wir keinen Pool hatten, um unser Festmahl am Beckenrand abzuhalten, oder eine verrückte Französischlehrerin, vor der wir uns verstecken mussten.
Wir warteten und warteten, bis es endlich Mitternacht war – es wäre kein richtiges Mitternachts-Festmahl gewesen, wenn wir früher angefangen hätten –, und ich schlief ständig ein, aber jedes Mal weckte mich Ellen auf, indem sie einen Teddy nach mir warf, bis all ihre Teddys weg waren.
Endlich hörten wir die Uhr im Flur Mitternacht schlagen und krochen aus dem Bett, um den Puppenwagen zu plündern. Wir hatten vergessen, etwas zu trinken mitzubringen, also schlich ich hinaus ins Bad und füllte zwei Zahnputzbecher mit Wasser. Da fiel Ellen ein, wir könnten das Gelübde ablegen. Sie schlang ihren Arm um meinen, wie die Leute es mit Sektgläsern tun. Ich verschüttete ein bisschen Wasser auf meinen Schlafanzug, sagte aber nichts – ich wollte nicht, dass sie mich für eine Spielverderberin hielt.
»Sprich mir nach«, sagte Ellen feierlich. »Ich schwöre, dass ich, Maggie, jetzt und bis zum Ende aller Zeiten Ellens beste Freundin sein werde und dass nichts zwischen uns kommen soll.« Ich glaube, sie hatte den Barbie-Hochzeitsfilm mit einem Gute-Nacht-Gebet gemischt. Ich wiederholte es genauso ernst und wir tranken das leicht nach Minze schmeckende Wasser aus unseren Zahnputzbechern.
Liebe Ellen,
meine Mum weiß in letzter Zeit nicht, was sie mit mir anfangen soll. Sie macht ein riesiges Getue um mich, fährt mich herum, schaut tausend Mal nach, wann ich nach Hause komme, und ich habe einfach langsam keine Geduld mehr mit ihr.
Sie war natürlich schon immer eine Kämpfernatur, aber seit es passiert ist, übertreibt sie ihr Gluckenmutter-Ding komplett. Man könnte fast meinen, sie fühlt sich darin bestätigt, dass sie all die Jahre so paranoid war.
Ich habe so die Nase voll davon, ihr zuzuhören. Ich gehe ja sowieso nirgends hin – nur zur Schule, um Himmels willen. Was soll ich ohne dich auch irgendwo anders? Also schnauze ich sie irgendwann immer an, und dann schaut sie mich an, als würde sie mich überhaupt nicht kennen. Denn ich habe ja nie Ärger gemacht. Ich bin so brav, das ist schon peinlich. Ich hatte nie Hausarrest oder so was, und sogar in den letzten Monaten, als du mich von einem Drama ins nächste gezerrt hast, habe ich es irgendwie geschafft, nicht erwischt zu werden. Und Mum und ich sind immer gut miteinander ausgekommen. Früher hat sie immer gesagt, auf eine Tochter wie mich wäre jede Mutter stolz.
Und jetzt? Na ja, es ist nicht ganz normal, oder? Ich meine, ich bezweifle, dass sie ihren Freundinnen beim Kaffeeklatsch erzählt, dass ich zu David gehe oder so. Jetzt muss sie mit einer ganz neuen Situation klarkommen. Oder eben anscheinend nicht.
Hab dich lieb,
Maggie
Lange Zeit weigerte sich Ellen zu akzeptieren, dass ihr Vater nicht zurückkommen würde. Robert bekam Trotzanfälle, knallte Türen, schmollte und weinte. Ellen tat nichts dergleichen. Sie verhielt sich einfach, als mache ihr Vater eine kleine Midlife-Crisis durch und würde bald wieder zur Vernunft kommen.
Dass er bei seiner Sekretärin eingezogen war, war für Ellen ohne Bedeutung.
»Er gehört nicht zu dieser Schlampe«, behauptete sie. »Er gehört nach Hause, zu Mum, Robert und mir, und früher oder später wird ihm das klar werden.«
Ich sagte nichts. Für mich war ziemlich eindeutig, dass Mr B seine Wahl getroffen hatte. Sogar Mrs B schien keine Anstalten zu machen, ihn überzeugen zu wollen, nach Hause zurückzukommen. Ewigkeiten lang stand sie erst auf, wenn Ellen und Robert zur Schule gegangen waren. Ellen machte sowohl für Robert als auch für sich am Morgen die Pausenbrote und meckerte ihn an, damit er sich rechtzeitig anzog und aus dem Haus ging.
In der Schule waren die Lehrer besonders nett zu Ellen. Sie riefen sie nicht auf und sagten auch nichts, wenn sie aus dem Fenster starrte. Sogar Fuddy Duddy hielt sich mit Kommentaren zurück, wenn Ellen sagte, sie hätte ihre Hausaufgaben nicht gemacht.
Ein paar von den anderen Kindern waren aber nicht so nett. Mädchen können solche Zicken sein.
Liebe Ellen,
in der Mensa gab es heute Curry-Pommes. Dein Lieblingsessen. Ich habe an dich gedacht, als Nuala eine ordentliche Portion davon auf meinen Teller lud.
Nicht dass ich einen Grund bräuchte, um an dich zu denken.
Ich esse meistens allein zu Mittag. Wenn ich kann, sitze ich am Fenster. Ich weiß, das hätte dich nie interessiert, aber ich schaue gern hinaus in den Schulgarten. Nuala streut den Vögeln vom Küchenfenster aus Brotkrumen hin. Wenn nicht zu viele Fünftklässler schreiend herumrennen oder Lehrer mit ihren Autos her- oder wegfahren, kommen manchmal ziemlich viele Vögel vors Fenster. Heute habe ich sieben gezählt – ein Rotkehlchen und sechs kleine Braune, vielleicht waren es Stare, da bin ich mir nicht ganz sicher. Das Rotkehlchen war mutiger, es kam direkt angeflogen, um die besten Krumen abzubekommen. Die kleinen braunen Vögel hielten sich ein bisschen zurück, warteten, bis sie dran waren, und kamen vorsichtig angehüpft, wenn es aussah, als wäre die Luft rein. Ich habe mir vorgestellt, dass sie die Gegebenheiten abwogen – die leckeren Brotkrumen, die Entfernung von den sicheren Büschen aus, die Wahrscheinlichkeit, dass plötzlich größere Vögel dazukamen, den Aufenthaltsort der Katze des Hausmeisters.
Ich habe nicht bemerkt, wie lange ich sie beobachtet habe, bis ich eine Gabel Pommes nahm und merkte, dass sie kalt waren.
Hab dich lieb,
Maggie