1803
Der Tag, an dem das Kind aus dem Moor kam, war ein Tag betäubender Kälte. Unablässig wehte der Nordwind, von dem Ohren, Lunge und Knochen schmerzten. Die nackten Füße des Kindes durchbrachen bei jedem Schritt eine knisternde Eiskruste auf dem überfrorenen nassen Boden. Es kam von Westen her langsam auf das Gehöft zu, lautlos begleitet von dem angeschwollenen Fluss und der Sonne, die tief über seine Schulter spähte, unheilvoll und milchig trüb wie ein blindes Auge. Eine junge Frau trat aus dem Bauernhaus und ging über den Hof zum Hühnerstall. Sie schlang sich das Tuch fest um die Schultern und hob das Gesicht zum Himmel, um eine riesige Schar Stare zu beobachten, die sich in der Rosskastanie niederließen. So bemerkte sie das Kind zunächst gar nicht. Die Vögel zwitscherten und kreischten und wendeten im Flug wie ein einziges formloses Geschöpf, wie dichter Rauch, ehe sie alle auf einmal zwischen den kahlen Zweigen verschwanden.
Das kleine Mädchen ging einfach weiter, schnurstracks durch das Tor auf den Hof. Es zögerte kurz, als die junge Frau es schließlich bemerkte und es anrief – die Worte hörte es nicht, nur die Stimme, die es erschreckte. Schwankend blieb es stehen. Das Bauernhaus war groß, aus hellem Stein erbaut. Der Rauch aus den Schornsteinen verflog im Wind, und aus den Fenstern im Erdgeschoss fiel ein warmer gelber Lichtschein auf den matschigen Boden. Das Licht zog das Kind unwiderstehlich an, wie eine Motte. Licht versprach Wärme, Schutz, vielleicht sogar Essen. Mit steifen kleinen Schritten ging es weiter darauf zu. Der Weg vom Hof zum Haus hin stieg sanft an, und allein die Anstrengung dieser leichten Steigung ließ es taumeln und im Zickzack nach links und rechts stolpern. Es war schon so nah, dass es beinahe die Hand ausstrecken und sie in diesen goldenen Schein tauchen konnte. Doch dann fiel es hin und stand nicht wieder auf. Es hörte die junge Frau erschrocken aufschreien, dann wurde es gepackt und hochgehoben. Danach spürte es eine Weile nichts mehr.
Schmerzen in Händen und Füßen weckten es wieder. Das warme Blut pulsierte mit einem unerträglichen Kribbeln durch die Glieder. Das Kind zappelte, doch jemand hielt es fest. Es öffnete die Augen. Die junge Frau von vorhin hielt es auf dem Schoß, in eine Decke gewickelt. Neben ihnen bullerte ein großes Feuer in einem riesigen Kamin. Hitze und Licht raubten dem Kind beinahe den Atem. Über sich sah es Deckenbalken, flackernde Kerzen auf einem nahen Wandbord, und all das erschien ihm wie eine fremde Welt.
»Du willst die Kleine doch wohl nicht vor die Tür setzen – bei dieser Kälte!«, sagte die junge Frau. Ihre Stimme war sanft, aber leidenschaftlich. Das Kind blickte zu ihr auf und sah ein so bezaubernd schönes Gesicht, dass es sich fragte, ob ein Engel es auf seinem Schoß hielte. Der Engel hatte sehr helle Haare, wie frische Sahne. Ihre Augen waren riesig und tiefblau, mit langen Wimpern wie winzigen goldenen Federn. Sie hatte hohe Wangenknochen, einen etwas kantigen Kiefer und ein spitzes Kinn, gemildert von einem kleinen Grübchen.
»Sie ist eine Vagabundin, täuschen Sie sich ja nicht.« Diese Stimme war älter und klang grimmig.
»Was spielt das für eine Rolle? Sie ist ein Kind, und es wäre ihr Tod, noch eine Nacht im Freien zu verbringen, ohne etwas zu essen. Sieh her – sieh sie dir an! Nur Haut und Knochen, wie ein armes Vögelchen, das aus dem Nest gefallen ist.« Die junge Frau schaute auf das Kind herab, sah, dass es wach war, und lächelte.
»In der Nacht wird sie ihren Leuten die Tür aufschließen – das sage ich Ihnen. Sie wird sie hereinlassen, und dann werden sie uns alles rauben, was wir haben, Ihre Tugend eingeschlossen!«
»Ach, Bridget! Sei nicht immer so ängstlich! Du bist ja eine Sklavin deines eigenen Argwohns. Sie wird nichts dergleichen tun – sie ist doch noch ein Kind! Ganz ohne Arg.«
»Niemand hier ist so arglos wie Sie, Miss Alice«, brummte Bridget. »Aus mir spricht die Klugheit, nicht die Angst. Woher ist sie gekommen?«
»Ich weiß es nicht. Sie war plötzlich einfach da.« Die junge Frau zupfte mit den Fingerspitzen eine Feder aus dem Haar des Kindes. »Als hätten die Stare sie mitgebracht.«
»Welch alberne Vorstellung. Sie wimmelt gewiss von Läusen und anderem Ungeziefer – drücken Sie sie nicht auch noch an sich! Riechen Sie nicht, wie faulig sie stinkt?«
»Wie kannst du so über ein Kind sprechen, Bridget? Hast du denn gar kein Herz?« Alice zog die Kleine schützend noch enger an sich. Die drückte das Ohr an Alices Brust und hörte, wie deren Herz raste, obwohl sie so ruhig wirkte. Es rannte und zauderte und stolperte in seiner Hast. Sie spürte, wie schnell sich die Brust ihrer Retterin hob und senkte. »Sie wieder fortzuschicken käme einem Mord gleich. Kindsmord! Das tue ich nicht. Und du wirst es auch nicht tun.«
Einen Augenblick lang funkelten die beiden Frauen einander an. Dann stand Bridget von ihrem Stuhl auf und verschränkte die mageren Arme.
»Also schön, aber auf Ihre Verantwortung, Miss. Ich wasche meine Hände in Unschuld«, erklärte sie ernst.
»Gut. Danke, Bridget. Würdest du ihr bitte etwas Suppe bringen? Sie muss großen Hunger haben.« Erst als die ältere Frau den Raum verlassen hatte, legte sich Alices Anspannung ein wenig, und sie presste die freie Hand auf die Brust. Dann schaute sie auf das Kind herab und lächelte wieder. »Wenn ich mit Bridget streite, fängt mein Herz immer an zu stottern«, erklärte sie atemlos. »Wie heißt du, meine Kleine?« Doch das Kind konnte ihr nicht antworten. Seine Zunge fühlte sich an wie festgefroren, und es war übervoll von Wärme und diesem kribbelnden Gefühl. »Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Hier bist du sicher, du hast es warm, und zu essen bekommst du auch. Oh, sieh mal – noch eine!«, sagte Alice leise und zupfte eine weitere Feder aus seinem Haar. »Dann werden wir dich fürs Erste Starling nennen.« Starling starrte diesen Engel an, und in diesem Augenblick vergaß sie alles – wo sie gewesen war, zu wem sie gehörte, wie sie zuvor geheißen hatte und wie der Hunger in ihrem Bauch tobte. Sie vergaß alles und wusste nur noch, dass sie Alice liebte und immer bei ihr bleiben würde und alles tun wollte, was Alice wünschte. Dann schlief sie ein.