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RICHARD J. EVANS

VERÄNDERTE

VERGANGENHEITEN

Über kontrafaktisches Erzählen
in der Geschichte

Aus dem Englischen von
Richard Barth

Deutsche Verlags-Anstalt

Die Originalausgabe erschien 2013
unter dem Titel Altered Pasts. Counterfactuals in History
bei Brandeis University Press (An imprint of University Press
of New England)

1. Auflage

Copyright © Richard J. Evans 2013

All rights reserved

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe
2014 Deutsche Verlags-Anstalt, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Typographie und Satz: Brigitte Müller/DVA

Gesetzt aus der Palatino

ISBN 978-3-641-14269-8

www.dva.de

Für Christine
Wenn wir uns nicht kennengelernt hätten …

Der Historiker […] muss gegenüber seinem Objekt einen indeterministischen Gesichtspunkt wahren. Er versetzt sich ständig in einen Augenblick der Vergangenheit, in dem die erkennbaren Faktoren noch verschiedene Ergebnisse zuzulassen schienen. Spricht er von Salamis, dann ist es noch möglich, dass die Perser siegen werden, spricht er vom Staatsstreich des Brumaire, so ist noch offen, ob Bonaparte nicht eine schmähliche Zurückweisung erfahren werde. […] [Doch] der Historiker hat das Bestreben, in der Überlieferung einer bestimmten Vergangenheit der menschlichen Gesellschaft eine Bedeutung zu erkennen. […] Der von uns aufgestellte historische Zusammenhang, eine Schöpfung unseres Geistes, hat nur Sinn, sofern wir ihm ein Ziel oder, wie wir sagen wollen, einen Weg zu einem bestimmten Ergebnis hin zusprechen. […] Deshalb ist die historische Denkweise immer zielstrebig. […] Die Frage der Geschichte lautet immer: Wozu und wohin? Sie muss als eine im höchsten Grade zielstrebig eingestellte Wissenschaft bezeichnet werden.

—JOHAN HUIZINGA1

1 Zit. n. Fritz Stern (Hg.), Geschichte und Geschichtsschreibung: Möglichkeiten – Aufgaben – Methoden. Texte von Voltaire bis zur Gegenwart, München 1966, S. 298 f.

INHALT

EINLEITUNG

KAPITEL 1
WUNSCHDENKEN

KAPITEL 2
VIRTUELLE GESCHICHTE

KAPITEL 3
ZUKUNFTSFIKTIONEN

KAPITEL 4
MÖGLICHE WELTEN

REGISTER

EINLEITUNG

Dieses Buch ist ein Essay über den Einsatz von kontrafaktischen Szenarien im Rahmen der historischen Forschung und Geschichtsschreibung. Unter kontrafaktischen Szenarien verstehe ich alternative Versionen der Vergangenheit, bei denen die Änderung eines einzelnen Ereignisses auf der Zeitachse zu einem anderen Ergebnis als dem führt, das sich tatsächlich ereignet hat. Zu den Beispielen, auf die in den folgenden Kapiteln näher eingegangen wird, gehören: Was wäre geschehen, wenn Großbritannien nicht in den Ersten Weltkrieg eingetreten, sondern neutral geblieben wäre? Welche Folgen hätte es gehabt, wenn Großbritannien 1940 oder 1941 einen Separatfrieden mit Nazideutschland geschlossen hätte? Oder: Wie hätten die Briten sich verhalten, wenn sie die Luftschlacht um England verloren hätten und Großbritannien von den Streitkräften des »Dritten Reichs« besetzt worden wäre?

Das erste Kapitel gibt einen Überblick über die Geschichte kontrafaktischer Szenarien seit den Anfängen im 19. Jahrhundert und sucht nach Erklärungen für ihre Wiederbelebung und Popularität, vor allem in Großbritannien und den Vereinigten Staaten, in den 1990er Jahren und im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends. Im zweiten Kapitel werden die Argumente für und gegen den Einsatz von kontrafaktischen Szenarien abgewogen. Das Kapitel setzt sich kritisch mit einigen der wichtigsten Beispiele für dieses Genre auseinander und fragt nach den Folgen für das, was viele seiner Vertreter als »historischen Determinismus« bezeichnen. Das dritte Kapitel untersucht verschiedene Beispiele dafür, wie Historiker und Romanautoren die Vergangenheit zu ihren eigenen Zwecken neu erfunden haben, etwa indem sie auf der Grundlage einer veränderten Vergangenheit eine »alternative« Geschichte oder eine imaginäre Zukunft entworfen haben. Im vierten und letzten Kapitel wird all das zusammengefasst und versucht, eine Antwort auf die Frage zu geben, ob und, wenn ja, inwiefern kontrafaktische Szenarien ein nützliches Werkzeug für den Historiker sind und wo sie an ihre Grenzen stoßen.

Erstmals geweckt wurde mein Interesse an kontrafaktischen Szenarien, als ich 1998 in der Sendung »Robin Day’s Book Talk« auf BBC News 24 an einer Fernsehdiskussion mit Antonia Fraser und Niall Ferguson teilnahm. Letzterer hatte soeben sein wegweisendes Buch Virtuelle Geschichte veröffentlicht. Von mir war gerade Fakten und Fiktionen erschienen, und das Konzept der kontrafaktischen Geschichte ließ die fundamentalen Fragen zu den Grenzen zwischen Fakten und Fiktionen, mit denen jenes Buch sich beschäftigt hatte, in einem neuen Licht erscheinen. Die Einladung, im Oktober 2002 die Butterfield Lecture an der Queen’s University in Belfast zu halten, war eine gute Gelegenheit, eine eingehendere Auseinandersetzung mit jenen Fragen zu unternehmen. Eine überarbeitete Fassung dieser Vorlesung erschien unter dem Titel »Telling It Like It Wasn’t« im BBC History Magazine (Nr. 3, 2002, S. 2–4) und wurde später in der amerikanischen Zeitschrift Historically Speaking abgedruckt (Ausgabe 5/4, März 2004), wo sie zum Gegenstand mehrerer engagierter und umfangreicher Artikel wurde; eine Antwort darauf erschien in derselben Ausgabe (S. 28–31). Der gesamte Gedankenaustausch ist abgedruckt in: Donald A. Yerxa, Recent Themes in Historical Thinking: Historians in Conversation, Columbia 2008, S. 120–130.

An der Reaktion von Geoffrey Parker und Philip Tetlock in Historically Speaking, sowie an den ausgefeilteren Argumenten, die sie in Einleitung und Schluss ihres zwei Jahre später erschienenen Sammelbandes mit kontrafaktischen Szenarien, Unmaking the West, vorbrachten, wurde deutlich, dass der Anspruch der Anhänger kontrafaktischer Geschichte noch einmal überdacht werden sollte. Außerdem gibt es mittlerweile mehrere theoretische, nachdenkliche Auseinandersetzungen mit den von kontrafaktischer Geschichte aufgeworfenen Problemen, deren Spektrum von heftiger Kritik bis umsichtiger Rechtfertigung reicht. Dadurch wurde die Debatte auf eine neue Ebene gehoben. Als mir daher von der Historical Society of Israel, einer unabhängigen Organisation, deren Geschichte weit in die 1930er Jahre zurückgeht, die Einladung zukam, 2013 die Menahem Stern Jerusalem Lectures zu einem Thema von historischem Interesse mit besonderem Schwerpunkt auf dessen methodische und theoretische Aspekte abzuhalten, war das ein willkommener Anlass, die Auseinandersetzung mit der kontrafaktischen Geschichte erneut zu intensivieren. Das Ergebnis ist das vorliegende Buch.

Den ersten Dank schulde ich der Historical Society of Israel, ihrem Vorsitzenden, Professor Israel Bartel, ihrem Geschäftsführer, Herrn Zvi Yekutiel, und ihrem Vorstand, für die große Ehre, die sie mir mit der Einladung nach Jerusalem erwiesen haben. In die Fußstapfen von Historikern wie Carlo Ginzburg, Anthony Grafton, Emmanuel Le Roy Ladurie, Fergus Millar, Natalie Zemon Davis, Anthony Smith, Peter Brown, Jürgen Kocka, Keith Thomas, Heinz Schilling, Hans-Ulrich Wehler und Patrick Geary zu treten ist eine ehrenvolle Aufgabe; erleichtert wurde sie mir von Maayan Avineri-Rebhun, der wissenschaftlichen Sekretärin der Historical Society, die mit mustergültiger Liebenswürdigkeit und Effizienz alles arrangiert hat. Die Unterstützung durch Tovi Weiss war unbezahlbar, und die Mitarbeiter des Gästehauses und Kulturzentrums Mishkenot Sha’ananim, das von seinem erhöhten Standort einen Blick auf die Mauern der Jerusalemer Altstadt gewährt, waren ausnahmslos sehr zuvorkommend. Die geduldigen Zuhörer haben mit ihren Fragen zur Verbesserung der Argumente in diesem Buch beigetragen. Otto Dov Kulka hat mich nicht nur auf die Gedanken von Johan Huizinga zu diesem Thema aufmerksam gemacht, sondern erwies sich auf unseren Ausflügen in und um Jerusalem auch als herzlicher und stimulierender Gastgeber, und Ya’ad Biran hat uns kenntnisreich die faszinierenden Sehenswürdigkeiten innerhalb der Stadtmauern erläutert. Professor Yosef Kaplan, Herausgeber der Buchreihe zu den Stern Lectures, hat die Publikation meiner Vorlesungen vorangetrieben. Mein Agent Andrew Wylie und seine Mitarbeiter, allen voran James Pullen vom Londoner Büro der Agentur, haben viel geleistet, damit das Buch unter Bedingungen erscheinen konnte, die ihm hoffentlich eine breite Leserschaft sichern werden. Die Mitarbeiter der Brandeis University Press arbeiteten ebenso gründlich wie professionell; besonders dankbar bin ich Richard Pult und Susan Abel, die den Produktionsprozess überwacht haben, Cannon Labrie für das hervorragende Lektorat, sowie Tim Whiting von Little, Brown, für seine Arbeit an der Ausgabe für Großbritannien und den Commonwealth. Simon Blackburn, Christian Goeschel, Rachel Hoffman, David Motadel, Pernille Røge und Astrid Swenson haben innerhalb kürzester Zeit das Manuskript gelesen und viele Verbesserungen vorgeschlagen. Christine L. Corton hat mit geschultem Auge die Fahnen korrekturgelesen. Ihnen allen bin ich zu Dank verpflichtet; die Verantwortung für das Folgende liegt jedoch einzig bei mir.

Richard J. Evans
Cambridge, Juli 2013