Jo Baker
Im Hause Longbourn
Aus dem Englischen
von Anne Rademacher
Knaus
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Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel
»Longbourn« bei Doubleday.
Copyright © der Originalausgabe Jo Baker 2013
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014
beim Albrecht Knaus Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Covergestaltung: Sabine Kwauka
Covermotiv: Arcangel/Malgorzata Maj und
Julia Shepeleva/shutterstock , ian johnston/shutterstock
Die im Text verwendeten Zitate und Kapitelüberschriften aus
Jane Austens »Stolz und Vorurteil« entstammen der Übersetzung
von Andrea Ott, erschienen 2003 im Manesse Verlag.
Wir danken Verlag und Übersetzerin
für die freundliche Genehmigung.
Gesetzt aus der Adobe Caslon Pro von
Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-14309-1
V003
www.knaus-verlag.de
ERSTER BAND
1
Der Butler … Mrs Hill und die
beiden Hausmädchen …
Ohne Waschtag keine Kleidung, das verstand sich von selbst, und ohne Kleidung ging es nun einmal nicht, jedenfalls nicht in Hertfordshire, und schon gar nicht im September. Am Waschtag führte kein Weg vorbei, das war auch Sarah klar, dennoch sah sie dieser wöchentlichen Aufgabe immer äußerst widerwillig entgegen.
Früh um halb fünf begann sie zu arbeiten. Die Luft war schneidend, und obwohl Sarah Handschuhe trug, schmerzten ihre Hände vor Kälte, als sie den eisigen Schwengel betätigte, um Wasser aus dem unterirdischen Dunkel in ihren Eimer zu pumpen. Ihr stand ein langer Tag bevor, und dies war erst der Anfang.
Abgesehen vom Quietschen der Pumpe herrschte vollkommene Stille. Am Hang gegenüber zu Knäueln zusammengedrängte Schafe; in den Hecken aufgeplusterte Vögel wie Distelflaum; Laubrascheln im Wald, als ein Igel vorbeihuschte; Lichtfunken im Bach, in dem sich die Sterne spiegelten; glitzernde Steine. Hinten in der Scheune stießen die Kühe süße Atemwolken aus, und im Schweinekoben zuckte die Sau unter dem Bündel Ferkel an ihrem Bauch.
Oben in der winzigen Mansarde schliefen Mrs Hill und ihr Ehemann den traumlosen Schlaf tiefer Erschöpfung, und im zwei Stockwerke tiefer gelegenen Hauptschlafzimmer zeichneten sich Mr und Mrs Bennet wie zwei Grabhügel unter der Bettdecke ab. Auch die fünf jungen Damen lagen in ihren Betten und träumten, was junge Damen gemeinhin so träumen. Und über allem funkelten die eisigen Sterne und warfen ihr Licht auf die Schieferdächer und die Steinplatten im Hof, auf das Anstandshaus, die Gartensträucher und die kleine Wildnis jenseits des Rasens, auf Hecken, unter denen Fasanen kauerten, und auf Sarah, eines der beiden Dienstmädchen von Longbourn, die den Pumpenschwengel betätigte, einen Eimer füllte, ihn zur Seite hievte, um mit bereits wunden Händen den nächsten Eimer unter den Hahn zu stellen und ihn ebenfalls zu füllen.
Über den Hügeln im Osten verblasste der Nachthimmel bereits. Sarah blickte auf. Die Hände unter die Achselhöhlen gesteckt und kleine Atemwölkchen ausstoßend, träumte sie von den wilden Ländern jenseits des Horizonts, in denen es bereits richtig hell war. Und wenn ihr Tag vorbei war, würde die Sonne weiter auf ferne Gegenden scheinen, auf die Inseln Barbados, Antigua und Jamaica, wo dunkelhäutige Männer halb nackt arbeiteten, und auf die beiden Amerikas mit den Indianern, die fast gar keine Kleidung trugen, weshalb dort natürlich auch nur sehr wenig Wäsche anfiel. Eines Tages wollte sie dorthin ziehen und nie wieder anderer Leute Unterwäsche waschen.
Denn eigentlich, dachte sie, als sie die Eimer am Joch befestigte, sich darunter beugte und schwankend wieder aufrichtete, eigentlich sollte niemand mit der schmutzigen Wäsche anderer Menschen zu tun haben. So gern die jungen Ladies von Longbourn auch den Eindruck erwecken wollten, sie seien rein wie Engel – Sarah hatte ihren Schweiß weggeschrubbt, ihre Flecken und ihr Monatsblut. Vielleicht verschanzten sie sich deshalb hinter Stickrahmen oder Büchern, um Sarah nicht in die Augen blicken zu müssen, wenn sie ihr Anweisungen gaben.
Mit den schweren Eimern wankte Sarah über den Hof. Sie hatte es fast schon bis zur Waschküchentür geschafft, als ihr Fuß auf etwas ausglitt und sie das Gleichgewicht verlor. Die Eimer schwangen hoch, schwappten über und lösten sich vom Joch. Als sie laut scheppernd auf den Steinplatten aufschlugen, stob ein Schwarm Krähen krächzend aus den Buchen auf, und im nächsten Moment landete auch Sarah auf dem Hinterteil. Ihre Nase bestätigte, was sie bereits vermutet hatte: Sie war auf einem Haufen Schweinedreck ausgerutscht. Am Vortag war die Sau ausgebrochen, dicht gefolgt von ihren Ferkeln, und niemand hatte danach sauber gemacht, weil niemand die Zeit dazu gehabt hatte. Die Arbeit eines Tages ging fließend in die des nächsten Tages über, nie war man mit etwas fertig, nie konnte man sagen: So, das war’s, mein Tagwerk ist getan. Die Arbeit war immer da und lauerte Sarah schon früh am Morgen auf, um ihr ein Bein zu stellen.
Nach dem Frühstück saß Lydia mit angezogenen Beinen vorm Küchenfeuer, nippte an ihrer gezuckerten Milch und beklagte sich bei Mrs Hill.
»Sie wissen gar nicht, wie gut Sie es hier unten haben, Hill. Hier ist alles so nett und gemütlich.«
»Wenn Sie meinen, Miss Lyddie.«
»Ja, das meine ich! Sie können tun und lassen, was Sie wollen, ohne dass Ihnen ständig jemand über die Schulter blickt und an Ihnen herummeckert. Mein Gott! Wenn mir Jane noch einmal mit ihrem Du-darfst-nicht kommt! Dabei habe ich mir nur einen kleinen Spaß erlaubt …«
Nebenan in der Waschküche, die eine Stufe tiefer als die Küche lag, beugte sich Sarah über das Waschbrett und rubbelte einen schmutzigen Saum sauber. Als sie den Petticoat vom Fußboden des Mädchenschlafzimmers aufgehoben hatte, hatte er unten einen zehn Zentimeter breiten Dreckstreifen gehabt. Obwohl sie ihn schon die Nacht über in Lauge eingeweicht hatte, konnte die Seife immer noch nichts gegen die Flecken ausrichten, dafür reizte sie Sarahs ohnehin schon wunde Hände noch mehr, sodass sie schmerzhaft brannten. Wenn Elizabeth ihre Petticoats selbst waschen müsste, dachte Sarah, würde sie bestimmt sorgfältiger mit ihnen umgehen.
Im Kupferkessel kochte bereits eine Ladung Weißwäsche. Dampf stieg auf, und über das beschlagene Waschküchenfenster perlten lange Tropfenreihen. Vorsichtig trat Sarah von dem Holzrost, der vor dem Waschbecken lag, und lief über den glitschigen Steinboden zum Holzrost vor dem Kupferkessel. Sie warf den Petticoat in das grau wallende Wasser, drückte ihn mit dem Wäschestab nach unten, wobei dicke Luftblasen aufstiegen, und rührte um. Man hatte ihr gesagt – und deshalb musste sie es auch glauben –, ein Petticoat müsse richtig weiß gewaschen werden, und wenn nur, damit er beim nächsten Tragen gleich wieder schmutzig gemacht werden konnte.
Pollys Arme steckten bis zu den Ellbogen im kalten Wasser. Sie schwenkte Mr Bennets Halsbinden durchs Schieferbecken, um dann eine nach der anderen herauszuziehen und zum Stärken in die Schüssel mit kaltem Reiswasser zu tauchen.
»Was meinst du, Sarah, wie lange brauchen wir noch?«
Sarah sah sich in der Waschküche um und betrachtete die Zuber, in denen Wäsche einweichte, und die Haufen mit tropfnassen Kleidungsstücken in verschiedenen Stadien des Reinigungsprozesses. In manchen Häusern holten sie zum Waschtag eine Hilfe ins Haus, aber in Longbourn natürlich nicht. O nein, in Longbourn wuschen sie ihre schmutzige Wäsche selbst.
»Da sind noch Laken, Kissenbezüge und außerdem unsere eigenen Hemden«, überlegte Sarah. »Und dann kommen noch die Binden.«
Sie hatten die unselige Zeit des Monats hinter sich, in der die Frauen des Hauses erst noch reizbarer, ungeschickter und empfindsamer als sonst wurden und dann ihre Blutungen bekamen. Die Binden wurden als Letztes im Schmutzwasser des Kupferkessels gekocht, dann wurde er geleert.
»Ich denke, fünf Ladungen werden es schon noch sein«, sagte sie, stieß einen schweren Seufzer aus und zog an der Naht unter ihrer Achselhöhle. Ihr Kleid war bereits durchgeschwitzt, was sie nicht ausstehen konnte. Es war ein Popelinekleid, dessen Farbe Mrs Hill immer als Lindgrün bezeichnete, doch für Sarah war es Gallengrün. Das Kleid war ursprünglich für Mary genäht worden und für teigweiche Arme, Stickarbeiten und das Pianoforte gedacht, nicht für richtige Muskeln, die sich spannten und dehnten. Sarah trug es nur, weil sie ihr anderes Kleid aus mausgrauem grobem Wollleinen mit dem Schwamm bearbeitet hatte, sodass es nun große nasse Flecken aufwies und zum Lüften an der Wäscheleine hing, damit der Schweinegestank wieder herausging.
»Wirf als Nächstes die Hemden rein«, sagte Sarah an Polly gewandt. »Du rührst noch eine Weile, und ich schrubbe.«
Damit deine armen kleinen Hände geschont werden, fügte sie im Stillen hinzu. Sie trat wieder auf den Holzrost vorm Waschbecken, fischte mit der Wäschezange eine Halsbinde aus der Stärke und sah zu, wie es aus dem Stoffstück gelb in die Schüssel tropfte.
Polly wirbelte den Wäschestab durch den Kessel und zupfte mit den stumpf gekauten Fingernägeln der freien Hand an ihrer Unterlippe. Mrs Hill hatte ihr wegen des Schweinedrecks im Hof die Leviten gelesen, wovon ihr immer noch Augen und Wangen brannten. Am Morgen habe sie das Feuer schüren und anschließend Wasser holen müssen, und dann sei es auch schon mit dem Sonntagsdinner losgegangen, beklagte sie sich. Anschließend hätten sie selbst gegessen, und dann sei es dunkel geworden, und wer, bitte schön, kann denn im Mondlicht Schweinedreck wegschaufeln? Außerdem habe sie noch die Töpfe schrubben müssen, Sarah solle nur einmal ihre Fingerspitzen ansehen, ganz abgewetzt seien die schon vom vielen Sand. Und überhaupt: War es ihre Schuld? Wer hatte denn den Riegel des Schweinekobens so nachlässig zugeschoben, dass ein ordentlicher Rüsselstoß reichte, um ihn aufzubekommen? Warum musste die arme Polly den Kopf für Sarahs Sturz und das vergossene Wasser hinhalten – sie schaute vorsichtshalber über die Schulter und senkte die Stimme, damit der alte Mann sie auch wirklich nicht hörte –, wo doch Mr Hill für die Schweine verantwortlich war? Hätte nicht er hinter den Viechern sauber machen müssen? Wozu war der alte Tattergreis überhaupt noch gut? Wo steckte er, wenn er gebraucht wurde? Ein weiteres Paar Hände im Haus würde wirklich nicht schaden, sagten das nicht alle?
Sarah nickte und gab zustimmende Laute von sich, obwohl sie schon längst nicht mehr zuhörte.
Als die Zeiger der großen Standuhr auf Schlag vier vorgerückt waren, servierten Mr und Mrs Hill der im Esszimmer versammelten Familie eine kalte Waschtagmahlzeit – es handelte sich um die Reste des Sonntagsessens –, während die beiden Mädchen draußen auf der Koppel die in der kühlen Nachmittagsluft dampfende Wäsche aufhängten. Eine Blase an Sarahs Hand war während des Waschens aufgeplatzt und nässte; sie hielt sich die Hand an den Mund und saugte das Blut auf, damit die Wäsche keine Flecken bekam. Einen Moment lang stand sie selbstvergessen da und spürte den unterschiedlichen Gefühlen und Geschmäckern nach – heiße Zunge auf kalter Haut, salziges Blut auf warmen Lippen –, deshalb hatte sie nicht richtig hingesehen. Sie konnte sich also auch irren, trotzdem kam es ihr so vor, als hätte sich auf dem Weg, der auf der anderen Seite der Koppel am Hang entlangführte und die alte Viehtreiberstraße nach London mit dem Dorf Longbourn und der neuen Mautstraße von Meryton verband, etwas bewegt.
»Polly, siehst du das auch?«
Polly nahm die Wäscheklammer heraus, die zwischen ihren Zähnen steckte, und befestigte das Hemd, das sie in Händen hielt, an der Leine, bevor sie sich neugierig umdrehte.
Über den von uralten Hecken gesäumten Weg wurden die Viehherden Richtung Süden getrieben. Noch bevor man die Tiere sah, hörte man sie: das dumpfe Brummen der Kühe, das gereizte Geschnatter der Gänse und das ängstliche Rufen der erstmals von den Müttern getrennten Jungtiere. Wenn die Tiere dann am Haus vorbeizogen, getrieben von fremden Männern tief aus dem Landesinneren, veränderten sie für einen Moment die Landschaft wie ein plötzliches Schneegestöber. Doch noch bevor man das alles richtig wahrgenommen hatte, waren sie schon wieder weitergezogen.
»Ich sehe nichts, Sarah.«
»Aber … da …«
Das Einzige, was sich bewegte, waren die Vögel, die an den Hecken entlanghüpften und nach Beeren pickten. Polly drehte sich wieder um und scharrte mit dem Zeh einen Stein aus dem trockenen Boden frei, während Sarah noch einen Moment lang still dastand und auf das dichte, teefarbene Laub der Hecken schaute, auf die Stechpalmen, die im Licht der Nachmittagssonne fast schwarz wirkten, und das Gerippe der kürzlich zurückgeschnittenen Haselbüsche, die in regelmäßigen Abständen die Hecke unterbrachen.
»Nichts.«
»Aber da war jemand.«
»Jetzt ist jedenfalls keiner mehr da.«
Polly hob den Stein auf und schleuderte ihn von sich, als wollte sie ihre Aussage damit bekräftigen. Er landete weit vom Weg entfernt, schien die Angelegenheit aber trotzdem zu klären.
»Na gut.«
Eine Wäscheklammer in der Hand, die andere zwischen den Zähnen, machte sich Sarah daran, das nächste Hemdkleid aufzuhängen, hielt den Blick dabei aber unverwandt auf den Weg gerichtet. Vielleicht war es ja das Licht, dachte sie, vielleicht hatte sie sich von den Dampfwolken täuschen lassen, die vor der tief stehenden Herbstsonne aufstiegen, und Polly hatte recht. Doch im nächsten Moment hielt sie inne und legte eine Hand über die Augen: Da war es wieder, jetzt huschte es etwas weiter unten auf dem Weg an einem kahlen Haselbusch vorbei. Da war er wieder, denn es handelte sich eindeutig um einen Mann. Sarah war sich ganz sicher: das kurze Aufblitzen von Grau und Schwarz, der weit ausschreitende Gang – ein Mann, und zwar einer, der weite Entfernungen gewohnt war. Sie zog die Wäscheklammer aus dem Mund und deutete aufgeregt in Richtung der Hecke.
»Da, Polly, siehst du ihn jetzt? Das muss ein Schotte sein.«
Polly schnalzte verächtlich mit der Zunge und verdrehte die Augen, blickte sich aber noch einmal um.
Der Mann war wieder hinter dicht wachsenden Büschen verschwunden. Aber da war noch etwas, Sarah konnte es fast hören: das Aufflackern eines Tones, als ob der Mann – der mutmaßliche Schotte mit seinem Kerbholz, in das er die Schulden der Kunden ritzte, und dem Ranzen voller Firlefanz und Flitterkram – vor sich hin pfeifen würde. Ein leises und fremdartiges Lied, das aus einer weit entfernten Welt zu kommen schien.
»Hörst du’s, Pol?« Sarah hielt eine Hand hoch, um das andere Mädchen zum stillen Lauschen anzuhalten.
Polly wirbelte herum. »Nenn mich nicht Pol«, fauchte sie mit funkelnden Augen. »Du weißt genau, dass ich das nicht mag.«
»Psst!«
Polly stampfte mit dem Fuß auf. »Das ist nur wegen Miss Mary, deshalb müssen mich jetzt alle Polly nennen.«
»Bitte, Polly!«
»Nur weil sie eine Miss ist und ich nicht, darf sie weiter Mary heißen, und mich haben sie zu Polly gemacht, obwohl mein Taufname auch Mary ist.«
Sarah schnalzte mit der Zunge und bedeutete Polly, still zu sein, während sie unverwandt auf den Weg schaute. Pollys Ausbrüche kannte sie nur zu gut, aber da draußen war etwas Neues: ein Mann, der mit einem Ranzen auf dem Rücken und einem Lied auf den Lippen seines Weges ging. Wenn die Ladies alle seine Waren begutachtet hatten, würde er in die Küche hinunterkommen, um ihnen den billigeren Krimskrams anzubieten. Ach, hätte sie doch nur etwas Hübscheres angezogen! Ihrem grauen Wollkleid musste sie allerdings nicht nachtrauern, das war genauso hässlich wie das gallengrüne. Aber, ach: Groschenhefte und Balladen, Bänder und Knöpfe, Kupferarmbänder, von denen der Arm nach vierzehn Tagen ganz grün wurde – all das Glück, das so ein Schotte in ihre entlegene, stille Gegend, in der nie etwas geschah, brachte!
Der Weg verschwand hinterm Haus, sodass nichts mehr zu sehen und zu hören war. Sarah steckte das Unterkleid endlich richtig fest, schnappte sich hastig das nächste und hängte es daneben.
»Komm, Polly, beeil dich.«
Doch Polly sprang über die Wiese davon, lehnte sich über die Mauer und sprach mit den Pferden, die auf der Nachbarkoppel weideten. Während Sarah weiterarbeitete, beobachtete sie, wie Polly in ihrer Schürzentasche wühlte und anschließend Fallobst verteilte. Eine Weile lang streichelte sie noch über die Nüstern der Pferde, dann zog sie sich auf die Mauer hoch, saß mit baumelnden Beinen und gesenktem Kopf da und blinzelte in die niedrig stehende Sonne. Manchmal sieht sie wirklich aus, als würden ihr Elfen ins Ohr flüstern, dachte Sarah.
Von zärtlichen Gefühlen für Polly übermannt – der Waschtag war eine wirklich ermüdende Angelegenheit, gerade für ein heranwachsendes Mädchen, das sich noch nicht an die Mühsal des Alltags gewöhnt hatte –, beendete Sarah die Arbeit allein und ließ Polly ohne zu schimpfen gewähren. Sollte sie doch ruhig ihren eigenen kleinen Geschäften nachgehen, Zweige in den Bach werfen oder Bucheckern sammeln.
Es wurde bereits dunkel, als Sarah den letzten leeren Wäschekorb von der Wiese ins Haus trug, doch im Hof hatte immer noch niemand sauber gemacht. Sie schwappte das graue Waschwasser aus den Wannen über die Steinplatten und ließ die Laugenseife ihr Werk tun.
Mrs Hill hatte ihre Waschtaglaune. Den ganzen Tag lang war sie dem Klingeln allein ausgeliefert gewesen, und die Bennets nahmen wenig Rücksicht darauf, dass die beiden Mädchen mit der Wäsche beschäftigt waren und der Haushälterin nicht zur Hand gehen konnten.
Als Sarah mit brennenden Händen, schmerzendem Rücken und steif von der harten Arbeit aus der Waschküche, in der sie noch aufgeräumt hatte, in die Küche trat, deckte Mrs Hill gerade das Dienstbotendinner auf. Sie knallte einen Teller mit Sülze auf den Tisch und funkelte Sarah böse an. Das hast du davon, mich einfach im Stich zu lassen, schien ihr Blick zu sagen, du bist selbst schuld. Die gräulich-rosa Schweinekopfsülze war eine schnelle Mahlzeit, die es oft gab, wenn an Kochen nicht zu denken war. Sarah betrachtete sie voller Ekel.
Als Nächstes kam Mr Hill in die Küche. Durch die offene Tür hinter ihm erblickte Sarah einen Arbeiter vom Nachbarhof, der gerade sein Halstuch ins Hemd steckte und zum Abschied grüßend die Hand hob. Mr Hill nickte nur und zog die Tür hinter sich zu. Er wischte sich die Hände an der Hose ab, fuhr mit der Zunge über einen schmerzenden Zahn und setzte sich. Als Mrs Hill das Brot aufschnitt, wabbelte die Sülze auf dem Tisch.
Sarah schlüpfte in die Vorratskammer und holte das Senffass, den Steinguttopf mit eingelegten Walnüssen, Apfelbutter und Meerrettich. Zurück am Küchentisch, stellte sie die Würzbeilagen zu Salz und Butter. Ihre rauen, trockenen Hände juckten, und Sarah scheuerte sie, indem sie die beiden Handkanten gegeneinander rieb, doch Mrs Hill schüttelte mit strenger Miene den Kopf. Daraufhin setzte Sarah sich auf ihre Hände, was auch ein wenig half. Mrs Hill hatte ja recht: Kratzen machte es nur noch schlimmer, doch es war eine Folter, nicht kratzen zu dürfen.
Mit einem Stoß frischer Luft kam Polly von draußen hereingewirbelt. Ihre Wangen waren rosig und ihr Gesichtsausdruck so unschuldig, als hätte sie so schwer gearbeitet, wie ein Mensch nur arbeiten konnte. Sie setzte sich an den Tisch, nahm Messer und Löffel in die Hand und legte das Besteck gleich wieder beiseite, als Mr Hill den grauhaarigen Kopf senkte und die Hände faltete. Auch Sarah und Mrs Hill falteten die Hände und murmelten ihm das Tischgebet nach. Als er fertig war, hörte man Besteck klappern und Teller scharren. Die Sülze quietschte und zitterte unter Mrs Hills Messer.
»Und? Ist er oben?«, fragte Sarah.
»Hm?« Mrs Hill blickte nicht einmal auf.
»Der Schotte. Ist er noch oben bei den Ladies? Mittlerweile müssten sie doch fertig sein.«
Mrs Hill runzelte ungeduldig die Stirn und klatschte ihrem Mann einen Klumpen Sülze auf den Teller. »Was?«, fragte sie und servierte Sarah den nächsten Klumpen.
»Sie bildet sich ein, einen Schotten gesehen zu haben«, sagte Polly.
»Ich habe einen Schotten gesehen.«
»Haste nicht. Du wünschst dir nur, du hättest einen gesehen.«
Mr Hill blickte vom Teller auf, seine blassen Augen wanderten von einem Mädchen zum anderen. Sarah sagte nichts mehr und stocherte nur lustlos in ihrer Sülze, was Polly frech grinsend als Sieg verbuchte. Mit vorwurfsvoller Miene wandte Mr Hill sich wieder seinem Teller zu.
»Es ist überhaupt niemand ins Haus gekommen«, sagte Mrs Hill. »Nicht mehr, seit Mrs Long heute Morgen da war.«
»Ich dachte, ich hätte einen Mann gesehen. Einen Mann, der den Weg entlanggekommen ist.«
»Wahrscheinlich war es ein Landarbeiter.«
Mr Hill schaufelte sich die Sülze in den Mund. Sein Kiefer mahlte hin und her wie der einer Kuh, damit die wenigen verbliebenen Zähne so gut wie möglich zum Einsatz kamen. Sarah versuchte nicht hinzuschauen. Nein, wollte sie sagen, es war kein Landarbeiter, ganz sicher war es kein Landarbeiter. Schließlich hatte sie den Mann gesehen. Und sie hatte sein leises, kaum wahrnehmbares Pfeifen gehört. Einfach unvorstellbar, dass er einer von den grobschlächtigen jungen Kerlen sein sollte oder so ein altes Hinkebein, wie man sie oft am Straßenrand antraf, wo sie auf Zaunübertritten saßen und sich die Pfeifen stopften. Nein, das konnte ihr niemand weismachen!
»Nun iss, Liebes.«
Ein kurzes Lächeln huschte über Sarahs Gesicht. Sie schnitt sich ein kleines Stück Sülze ab, beschmierte es mit Senf und Meerrettich, kleckste Apfelbutter darüber und krönte alles mit einer eingelegten Walnusshälfte. Vorsichtig schob sie den Bissen in den Mund. Es schmeckte nach Schwein und Gallert. Sarah würgte den Bissen herunter und spülte schnell mit einem Schluck aus ihrem kleinen Bierkrug nach. Das einzig Gute an diesem Tag war, dass er fast vorbei war.
Nach dem Essen saß sie noch mit Polly und Mrs Hill beisammen. Stumm vor Müdigkeit ließen sie den Topf mit Gänseschmalz kreisen, aus dem Sarah einen weißlichen Klecks pulte, den sie zwischen den Fingerspitzen weich knetete. Sie verrieb das Fett auf ihren rauen Händen, dann öffnete und schloss sie mehrmals die Finger. Obwohl die Haut immer noch brannte, war sie wenigstens wieder geschmeidig und riss nicht mehr ein.
Um den Frauen einen Gefallen zu tun, spülte Mr Hill in der Waschküche mehr schlecht als recht das Geschirr. Sie hörten Wasser schwappen, Klappern und Klirren. Beim Gedanken an ihr Porzellan zuckte Mrs Hill unwillkürlich zusammen.
Später würde Mr B. die Bibliotheksglocke läuten und ein Stück Kuchen zu seinem Madeirawein verlangen. Mrs Hill würde schlecht gelaunt aufschrecken und losschlurfen, um es ihm zu servieren. Etwa eine Stunde später würde sie dann den vollgekrümelten Teller und das Glas zurückholen, während Sarah im Salon das Abendbrotgeschirr der Ladies abräumte, das sie auf einem klirrenden Tablett nach unten trug. Und dann waren sie endlich fertig. Am Waschtag musste das Abendbrotgeschirr auf das Spülwasser des nächsten Tages warten. Und weil Waschtag war, fehlte Sarah auch die Aufmerksamkeit, um noch in dem Buch zu lesen, das sie sich gerade von Mr B. geliehen hatte. Stattdessen holte sie einen ausrangierten Courier hervor und las Mrs Hill die drei Tage alten Nachrichten vor. Das Zeitungspapier war vom vielen Auf- und Zusammenfalten schon ganz weich geworden, und die Tinte hinterließ Schlieren auf Sarahs Gänsefetthänden. Leise, um die schlafende Polly, die den Kopf in Sarahs Schoß gebettet hatte, und den dösenden alten Mann nicht zu stören, las sie über die neu erwachten Hoffnungen auf einen schnellen Sieg in Spanien. Es wurde geschildert, wie sie Bonaparte eingekreist hatten, der daraufhin einen Schritt zurückgewichen sei und nun sicher bald zum Rückzug abdrehen würde. In Sarahs Ohren klang es, als sei der Krieg ein Tanz, bei dem sich die Generäle an den Händen hielten und im Kreis drehten.
Plötzlich hörte sie ein Geräusch. Sie horchte auf und ließ die Zeitung sinken. »Haben Sie das auch gehört?«
»He?« Mrs Hill, die bereits kurz vorm Einschlafen war, blinzelte. »Was denn?«
»Ich weiß nicht, ich glaube, draußen ist etwas.«
Jetzt vernahm sie leises Wiehern und ein dumpfes Scharren, als wären die Pferde im Stall unruhig geworden.
»Da draußen ist jemand.«
Sarah legte die Zeitung beiseite und hob vorsichtig den Kopf des schlafenden Mädchens von ihren Knien.
»Unsinn, da ist nichts«, sagte Mrs Hill.
Noch halb im Schlaf, setzte Polly sich auf. Mr Hill brummte etwas vor sich hin, blinzelte und schoss plötzlich hoch. »Was ist los?« Er kratzte sich am Kinn.
»Ich habe etwas gehört.«
Einen Moment lang lauschten alle.
»Vielleicht sind es Zigeuner«, sagte Sarah.
»Was sollten Zigeuner denn bei uns wollen?«, fragte Mr Hill.
»Na, die Pferde.«
»Zigeuner kennen sich mit Pferden aus, die wären schlauer.«
Sie lauschten erneut. Polly lehnte den Kopf an Sarahs Schulter. Dem Mädchen fielen schon wieder die Augen zu.
»Da ist nichts. Vielleicht hast du eine Ratte gehört«, sagte Mrs Hill. »Und um die wird die Mieze sich schon kümmern.«
Sarah nickte, lauschte aber weiter. Pollys Atem ging langsamer, und ihr Körper wurde schlaff.
»Na gut«, sagte Sarah. »Ab ins Bett.«
*
Als Sarah sich das Mieder aufschnürte, sickerte Mondlicht unter den Vorhängen durch und leuchtete matt hinter dem Stoff. Im Hemdkleid zog Sarah die Vorhänge zurück und schaute über den Hof. Der Mond stand groß, rund und gelb über den Stallungen und tauchte alles in fast taghelles Licht. Die Gebäude lagen still da, die Fenster waren dunkel, nirgends die Spur einer Bewegung. Zigeuner waren gewiss keine zu sehen, nicht einmal eine Ratte wuselte herum.
Ob es der Schotte gewesen war? Vielleicht hatte er sich ein Nachtlager auf dem Hof gesucht und würde im Morgengrauen, noch bevor ihm jemand auf die Schliche kommen konnte, schon wieder verschwinden, um seinen leeren Ranzen auf einem Markt oder in einer der großen Fabrikstädte neu aufzufüllen. Ach, so zu leben! Sarah konnte es sich vorstellen: Heute hier, morgen dort, sich nirgendwo länger aufhalten, als man wollte, sondern über schmale Landstraßen und breite Stadtalleen immer weiter und weiter zu ziehen, vielleicht sogar bis ans Meer. Wer weiß, wahrscheinlich war der Mann morgen um diese Zeit schon in Stevenage oder sogar in London.
Ihre Kerze flackerte im Luftzug. Sarah blies sie aus, ließ den Vorhang wieder zufallen und schlüpfte zu der warmen, schlafenden Polly unter die Decke. Vom Bett aus schaute sie noch einmal zum Fenster. In dieser Nacht würde sie kein Auge zutun, davon war sie überzeugt, nicht, solange der Mond so hell schien und vielleicht ein Hausierer draußen auf dem Hof war. Doch Sarah war jung, sie war seit halb fünf in der Früh auf den Beinen gewesen und hatte den ganzen Tag lang hart gearbeitet: Als die Uhr wenig später elf schlug, lag auch sie gleichmäßig atmend in tiefem Schlaf.
2
Alles, was an List erinnert,
ist verachtenswert.
Sie könnten froh sein, ihn zu bekommen, sagte Mr B., faltete seine Zeitung zusammen und legte sie beiseite. Wegen des Krieges in Spanien drängten jetzt viele tüchtige Burschen in die Marine, sodass schlichtweg Männermangel herrsche.
»Männermangel?«, wiederholte Lydia erschrocken und blickte ihre Schwestern fragend an. War das möglich? Gingen in England tatsächlich die Männer aus?
Ihr Vater verdrehte die Augen, während Sarah Mrs Hill einen verblüfften Blick zuwarf: Ein neuer Dienstbote kam ins Haus! Ein männlicher Dienstbote, ein Hausdiener! Warum hatte Mrs Hill ihr nichts davon gesagt? Die Kaffeekanne an die Brust gedrückt, stand Mrs Hill da und schaute genauso verblüfft zurück: Psst! Sie schüttelte den Kopf: Ich weiß nichts, und untersteh dich zu fragen! Sarah nickte nur knapp, presste die Lippen zusammen und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Tisch und der Platte mit kaltem Schinken zu, die sie herumreichte. Sie würde es schon früh genug erfahren, und es gehörte sich nicht, Fragen zu stellen. Es gehörte sich grundsätzlich nicht, überhaupt etwas zu sagen, es sei denn, man wurde dazu aufgefordert. Bei Tischgesprächen stellten sich Dienstboten am besten stocktaub und strohdumm, als seien sie völlig unfähig, sich eine eigene Meinung zum jeweiligen Thema zu bilden.
Miss Mary nahm die Vorlegegabel und spießte eine Schinkenscheibe auf. »Papa meint damit nicht deine Beaus, Lydia. Oder, Papa?«
Mr B. lehnte sich zur Seite, damit Mrs Hill ihm Kaffee einschenken konnte, und bestätigte, dass er tatsächlich nicht von Lydias Beaus gesprochen habe, denn der Nachschub an denen schien eindeutig nicht abzureißen. Aber richtige männliche Arbeitskräfte würden im Moment ernsthaft knapp, deshalb habe er die Sache mit dem Burschen auch schnell festgemacht, obwohl es bis zu Michaeli, dem Tag, an dem die Dienstboten normalerweise ausgezahlt, eingestellt und entlassen wurden, noch eine Weile hin sei. Er warf Mrs Hill, die um ihn herumgegangen war und gerade die Tasse seiner Frau füllte, einen entschuldigenden Blick zu.
»Ich gehe davon aus, dass Sie gegen diese überstürzte Entscheidung nichts einzuwenden haben. Oder, Mrs Hill?«
»Ganz im Gegenteil, ich freue mich, Sir, solange es ein anständiger Kerl ist.«
»Das ist er, Mrs Hill. Dessen können Sie versichert sein.«
»Wer ist es, Papa? Kommt er von einem der Bauernhöfe? Kennen wir die Familie?«
Bevor er antwortete, führte Mr B. seine Tasse zum Mund. »Er ist ein feiner, aufrechter junger Mann aus einer guten Familie. Und er hat hervorragende Referenzen.«
»Ich für meinen Teil freue mich sehr, dass wir einen netten jungen Mann bekommen, der uns in der Kutsche herumfahren kann«, sagte Lydia. »Wenn Mr Hill oben auf dem Kutschbock sitzt, sieht es immer so aus, als hätten wir einen Affen dressiert, ihn an ein paar Stellen rasiert und ihm dann einen Hut aufgesetzt.«
Mrs Hill trat vom Tisch weg und stellte die Kaffeekanne auf dem Büfett ab.
»Lydia!«, entfuhr es Jane und Elizabeth gleichzeitig.
»Was denn? Stimmt doch, das wisst ihr genau. Er sieht aus wie der Klammeraffe, den Mrs Longs Schwester aus London mitgebracht hat.«
Mrs Hill blickte auf den Teller mit dem blauen chinesischen Muster; er war leer, aber über und über mit Eiresten verkrustet. Die drei winzigen Personen im Muster gingen immer noch über ihre winzige Brücke, und das winzige Boot kroch wie ein Ohrwurm über das chinesische Meer. In der Welt des Tellers war alles in bester Ordnung, ruhig und beständig. Sie atmete tief durch. Miss Lydia meinte es nicht böse, das tat sie nie. Auch wenn sie recht unbesonnen drauflosplapperte – das Mädchen hatte recht: Der neue Hausdiener war eine zu begrüßende Veränderung im Haushalt. Mr Hill war im vergangenen Jahr überraschend schnell gealtert. Im Winter hatte er ihr richtig Sorgen gemacht: Die weiten Fahrten und langen Nächte auf dem Kutschbock hatten ihm zugesetzt. Während die Damen tanzten oder Karten spielten, war er draußen bis auf die Knochen durchgefroren und hatte nach seiner Rückkehr mit rasselndem Atem stundenlang vorm Feuer gesessen und gezittert. Die Bälle und Einladungen des bevorstehenden Winters wären vermutlich sein Ende gewesen. Ein netter junger Mann, der die Kutsche fahren und auch im Haus aushelfen konnte, war tatsächlich ein Gewinn.
Mrs Bennet wirkte äußerst erfreut. In den besten Häusern, erklärte sie ihrem Mann und den Töchtern, werde der Familie und den Gästen überhaupt nur von männlichen Dienstboten aufgewartet. Schließlich wisse ein jeder, dass Männer einen höheren Lohn bekämen und deshalb teurer seien. Noch dazu müsse man mehr Steuern für sie zahlen, weil alle kräftigen und gesunden Männer eigentlich auf den Feldern und im Krieg gebraucht wurden. Wenn sich erst herumspräche, dass jetzt auch die Bennets einen adretten jungen Mann im Haus hätten, der bei Tisch bediente und die Türen öffnete, würde man das in der Nachbarschaft sicher mit Staunen und Bewunderung zur Kenntnis nehmen.
»Ihre Töchter werden Ihnen unendlich dankbar sein, dass Sie uns in ein so vorteilhaftes Licht rücken, Mr Bennet. Sie sind die Güte in Person. Nun sagen Sie uns doch bitte noch, wie der Name des jungen Mannes lautet.«
»Sein Vorname lautet James«, antwortete Mr Bennet. »Der Nachname ist sehr gewöhnlich, er heißt Smith.«
»James Smith?«
Die Frage kam von Mrs Hill. Auch wenn sie es nur gehaucht hatte, die Worte waren heraus. Jane führte die Tasse zum Mund und nippte daran; Elizabeth hob die Augenbrauen, starrte aber auf ihren Teller, nur Mrs B. blickte ihre Haushälterin direkt an. Sarah bemerkte, wie sich rote Flecken auf dem Hals von Mrs Hill ausbreiteten. Es war alles so neu und außergewöhnlich, dass selbst Mrs Hill sich einen Moment lang vergessen hatte. Dann schluckte Mr B. und brach mit einem Räuspern das Schweigen.
»Wie ich schon sagte, ein recht gewöhnlicher Name. Ich musste schnell handeln, um ihn uns zu sichern, aus diesem Grund konnte ich Sie nicht früher informieren, Mrs Hill. Natürlich hätte ich es bevorzugt, Sie erst zurate zu ziehen.«
Die Haushälterin nahm dies mit einem Kopfnicken zur Kenntnis. Ihre Wangen waren rosa angelaufen.
»Da das Dienstbotengeschoss unterm Dach von Ihrer werten Person, Ihrem Gatten und den Hausmädchen bewohnt wird, habe ich dem jungen Mann gesagt, er könne über den Ställen schlafen. Die anderen häuslichen Einzelheiten überlasse ich nun Ihnen, Mrs Hill. Er weiß, dass er sich in allem Ihren Anweisungen zu fügen hat.«
»Danke, Sir«, murmelte sie.
»So, das wäre es.« Mr B. schüttelte seine Zeitung wieder auf und verschwand dahinter. »Ich bin froh, dass die Sache geregelt ist.«
»Ja, mein Lieber«, sagte Mrs B. »Haben Sie nicht schon immer gesagt: ›Hill, Sie brauchen dringend noch Hilfe im Haus‹? Der neue Mann wird bestimmt eine Entlastung für Sie sein, Hill. Er wird eine Entlastung für alle sein.«
Mit einem Winken ihrer plumpen Hand bezog die Herrin von Longbourn Sarah mit ein und weitete die Geste auf die hinteren Bereiche des Hauses und die übrigen Dienstboten aus: Mr Hill, der unten in der Küche hockte und nachdenklich ins Feuer starrte, und Polly, die in diesem Augenblick mit finsterer Miene und einem Stapel nasser Frottiertücher unterm Arm die Hintertreppe hinunterstapfte.
»Ich meine, Sie alle sollten Mr Bennet für seine Zuvorkommenheit sehr, sehr dankbar sein.«
»Danke, Sir«, sagte Sarah.
Sie sprach leise, doch bei ihren Worten sah Mrs Hill auf und schaute zu ihr hinüber. Einen Moment lang trafen sich ihre Blicke.
»Danke, Sir«, sagte Mrs Hill.
Mrs Bennet tupfte noch einen Löffel Marmelade auf ihren letzten Bissen Butterbrötchen, steckte ihn in den Mund und kaute zweimal. »Das wäre alles, Hill«, sagte sie schließlich mit vollem Mund.
Mr B. blickte von seiner Zeitung auf und sah erst seine Frau an und dann die Haushälterin.
»Ja, vielen Dank, Mrs Hill«, sagte er. »Das wäre alles.«
3
Nach seiner Heirat
hatte Mr Bennet es für völlig unnötig gehalten,
sparsam zu wirtschaften …
Sarah trug den Nachttopf aus dem Schlafzimmer der Bennets. Langsam und vorsichtig ging sie mit zur Seite gedrehtem Kopf über den Flur zur engen Hintertreppe. Zum Glück enthielt der Topf heute nur Nachtwasser.
Draußen regnete es in Strömen, sodass die jungen Damen im Haus bleiben mussten. Ihr Lärm durchdrang alle Räume. Im ersten Stock übte Mary Klavier. Für Sarahs ungeschulte Ohren klang es wie Musik: perlende Tonkaskaden, in denen die meisten Töne anscheinend richtig getroffen wurden. Irgendwo lachte Lydia laut auf, gefolgt von stampfenden Schritten und einem wütenden Ausbruch der armen Kitty: »Dieses Haus ist zu voll! Hier wohnen zu viele Menschen! Viel zu viele!« Elizabeths Vermittlungsversuche, ausgleichende Worte von Jane und dann endlich Ruhe – zumindest fürs Erste. Jane war die Sanftmut in Person, ein Friedensengel, der alle Wogen glättete.
Sarah stieg die Treppe ins Erdgeschoss hinunter und kam an der offenen Tür zur Eingangshalle vorbei. Aus der Bibliothek drang leise das Gemurmel von Mr Bennet. Er redete oft mit sich selbst oder seinen Büchern, die einzige Möglichkeit, wie er immer behauptete, in diesem Haus ein vernünftiges Gespräch zu führen.
Sarah war gerade an der offenen Tür vorbei, als sie unvermittelt stehen blieb: Da war noch eine andere Stimme! Antworteten die Bücher, mit denen ihr Herr sprach, etwa neuerdings? Es war eine Frauenstimme, doch sie sprach so gedämpft, dass Sarah die einzelnen Worte nicht verstehen konnte. Nur, wem die Stimme gehörte, erkannte Sarah sofort: Mrs Hill.
Sie trat einen Schritt zurück und blickte in die Eingangshalle. Die Tür zur Bibliothek war geschlossen. Das glänzende Holz, der blank polierte Türknauf, alles sah aus wie immer und wie es sein sollte. Und doch wirkte die Tür irgendwie anders, so demonstrativ verschlossen.
Der Topf in Sarahs Händen wurde schwerer. Sie hörte den prasselnden Regen draußen, die tropfenden Dachrinnen, und sie hörte Mrs Hill, die immer noch redete. Die Haushälterin sprach leise, aber mit Nachdruck und irgendwie entschlossen, nur verstand Sarah leider kein einziges Wort. Lauschen gehörte zu den Todsünden. Mrs Hill hatte es den beiden Dienstmädchen während ihrer Ausbildung immer wieder eingeschärft, doch in diesem Moment konnte Sarah einfach nicht widerstehen. Sie stellte den Topf auf den blanken Dielenboden und schlich mit angehaltenem Atem aus dem Dienstbotenflur in die Eingangshalle.
Die eine Hand und das Ohr aufs kühle Holz der Bibliothekstür gelegt, lauschte sie. Sie konnte die Worte immer noch nicht verstehen; galt das, was sie tat, dann trotzdem als Lauschen? Sicher nicht. Mrs Hill redete und redete, und je länger sie redete, umso seltsamer kam es Sarah vor. Mr B. lieh seinen Dienstboten gern ein Buch aus, doch was sie von der Lektüre hielten, interessierte ihn nicht. Er bedankte sich für jede Gefälligkeit, blickte einem dabei aber nie in die Augen. Wie kam es, dass Mrs Hill ihm so viel zu sagen hatte? Und warum nur – und das war das eigentlich Rätselhafte an der ganzen Sache – ließ er sie gewähren?
Dann passierte etwas. Drei unverständliche Worte von Mr Bennet fielen schwer wie Steine: Sie können gehen, vermutete Sarah. Auf Zehenspitzen huschte sie zurück durch die Eingangshalle und durch die offene Tür in den Dienstbotenflur. Mit klopfendem Herzen bückte sie sich, um den Nachttopf hochzuheben, und blickte dabei noch einmal über die Schulter in die Eingangshalle. Von Mrs Hill war nichts zu sehen, doch die Atmosphäre hatte sich verändert. Es erinnerte Sarah an eine Flasche Ingwerlimonade, die schlecht geworden war: Der Deckel platzte auf, und der Inhalt schäumte heraus, bis nichts mehr da war, das herausschäumen konnte. Eine Schimpftirade von Mrs Hill! Sarahs Augen weiteten sich. Warum nur war die Haushälterin so wütend? Und wie konnte sie es überhaupt wagen?
Plötzlich erhob Mr Bennet die Stimme, und Sarah ließ vor Schreck beinahe den Nachttopf fallen und musste schnell nach ihm greifen, um ihn wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Mr Bennet übertönte nun seine Gesprächspartnerin, die Stimmen schraubten sich hoch und höher, wurden lauter, verstummten dann plötzlich, um im nächsten Moment noch einmal wütend zu zischen und mit einem Schnappen ganz abzureißen, als hätte jemand einen Faden durchgeschnitten. Schritte, ein Tasten innen an der Tür, dann drehte sich der Knauf. Sarah war jedoch schon durch die Seitentür nach draußen verschwunden. Sie sah nicht, wie Mrs Hill aus der Bibliothek kam, die Tür hinter sich zuzog und mit bebendem Busen im engen Mieder einen Moment lang stehen blieb, um sich zu beruhigen.
Sarah entfernte sich vom Haus, während Mary immer noch auf dem Klavier hämmerte und zwischen Kitty und Lydia ein neuer Streit entflammte, in den sich Jane und Lizzy sicher gleich wieder einmischen würden. Draußen prasselte der dicht strömende Regen auf Sarah. Sie ging über den Kies, stemmte die Tür des Anstandshauses auf und beugte sich in die kalte stinkende Kammer vor, um den Inhalt des Nachttopfs durch eines der Löcher in die Faulgrube darunter zu leeren. Alles war wie immer, und doch war alles anders.
Die siebenjährige Sarah hatte wie ein Häufchen Elend vor Mrs Hill gestanden. Sie war mutterseelenallein auf der Welt, und die stattliche Person mit der sauberen Schürze und der schneeweißen Haube, zu der sie hochblinzelte, hatte vertrauenerweckend auf sie gewirkt. Mrs Hill hatte den Gemeindeaufseher durch die Tür nach draußen geschoben und sie hinter ihm ins Schloss geworfen. Mit dem Kerl hätten sie den Bock zum Gärtner gemacht, hatte sie geschimpft. Sie hatte einen Stuhl für Sarah an den Tisch gezogen und ihr eine hübsche Porzellanschüssel mit blauem Rand vorgesetzt; über das in Milch eingeweichte Brot hatte sie sogar noch Zucker gestreut und dann neben Sarah Platz genommen, um ihr beim Essen zuzusehen. Da hatte Sarah alle Schüchternheit vergessen und die Schüssel im Handumdrehen geleert. Kopfschüttelnd und mit einem empörten »T-t-t« hatte ihr Mrs Hill die leere Schüssel abgenommen. Es sei wirklich ein Verbrechen, wie man die armen Kinder hungern lasse, hatte die Haushälterin vor sich hin geschimpft und die Schüssel erneut mit Brot und der süßen, sahnigen Milch gefüllt, sie vor Sarah gestellt und noch einmal Zucker darübergestreut.
Wegen dieser zweiten Schüssel Milchbrot mit Zucker und wegen all der unzählbaren Freundlichkeiten, die sie ihr und Polly, die später dazugekommen war, seither erwiesen hatte, verdiente Mrs Hill etwas Besseres. Sünde oder nicht, Sarah wollte nie wieder lauschen. Es kam nichts Gutes dabei heraus.