Arianna Huffington
Die Neuerfindung des Erfolgs
Weisheit, Staunen, Großzügigkeit –
Was uns wirklich weiterbringt
Aus dem Amerikanischen von
Dagmar Mallett und Karin Sechuler
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Thrive« bei Harmony Books, einem Imprint der Crown Publishing Group, Random House LLC, Penguin Random House Company, New York.
1. Auflage
Deutsche Erstausgabe
© 2014 der deutschsprachigen Ausgabe
Riemann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
© 2014 Christabella, LLC
Lektorat: Anne Nordmann
Umschlaggestaltung: Stephan Heering, Berlin
Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering
ISBN 978-3-641-14344-2
www.kailash-verlag.de
Inhalt
Einleitung
Wohlbefinden
Weisheit
Staunen
Großzügigkeit
Schlusswort
Anhänge
Dank
Anmerkungen
Register
Meiner Mutter Elli.
Sie war der Inbegriff von Weisheit,
Staunen und Großzügigkeit und hat die Arbeit
an diesem Buch zu einer Heimkehr gemacht.
Einleitung
A m Morgen des 6. April 2007 fand ich mich in einer Blutlache auf dem Fußboden meines Arbeitszimmers wieder. Im Fallen war ich mit dem Kopf gegen die Schreibtischkante geschlagen, hatte mich am Auge verletzt und mir das Jochbein gebrochen. Mein Kollaps war das Ergebnis von Erschöpfung und Schlafmangel. Nach ihm begann eine Odyssee von einem Arzt zum nächsten, vom MRT zum CT und Echokardiogramm, um sicherzustellen, dass hinter der Erschöpfung nicht doch ein organisches Problem steckte. Es gab keins. Doch schnell bemerkte ich, dass die Wartezimmer von Arztpraxen ein guter Ort waren, um darüber nachzudenken, was für ein Leben ich eigentlich führte.
Wir hatten die Huffington Post 2005 gegründet, und jetzt, zwei Jahre später, erlebten wir ein schwindelerregendes Wachstum. Zeitschriften brachten Titelgeschichten über mich, und das Time Magazine wählte mich unter die hundert einflussreichsten Menschen weltweit. Nach meinem Sturz aber musste ich mir die Frage stellen: Sieht so Erfolg aus? Ist das das Leben, wie ich es gewollt habe? Ich arbeitete täglich 18 Stunden, sieben Tage die Woche, um das Unternehmen aufzubauen, unsere Berichterstattung zu erweitern und neue Investoren zu gewinnen. Aber mein Leben, das wurde mir jetzt klar, war außer Kontrolle geraten. Nach den traditionellen Erfolgsmaßstäben, die auf Geld und Macht beruhen, war ich äußerst erfolgreich. Doch wenn man Erfolg vernünftig definierte, war ich alles andere als das. Ich wusste, dass sich etwas radikal verändern musste; so konnte ich nicht weitermachen.
Mein Unfall war ein klassischer Weckruf. Rückblickend fallen mir zwar noch andere Anlässe ein, zu denen ich eigentlich hätte aufwachen müssen, doch das war nicht geschehen. Diesmal aber war es so weit, und ich begann, mein Leben in vielerlei Hinsicht zu verändern. Dazu gehört auch, dass ich seitdem täglich einige Übungen praktiziere, die mir helfen, in der Spur zu bleiben und nicht wieder in Wartezimmern zu sitzen. Das Ergebnis ist ein erfüllteres Leben, das mir Luft zum Atmen gibt und mich mehr auf das wirklich Wesentliche achten lässt.
Die Idee zu diesem Buch entstand in den Wochen, als ich versuchte, alle meine Erkenntnisse über mein Leben und meine Arbeit für eine Rede, die traditionelle Commencement Speech, zusammenzufassen, die ich 2013 vor dem Abschlussjahrgang des Smith College halten sollte. Ich habe zwei Töchter auf dem College, daher nehme ich solche Ansprachen sehr ernst. Für die frisch diplomierten Abgänger ist dieser Moment etwas ganz Besonderes – eine Pause, eine Art Durchatmen zwischen den vier (oder auch fünf oder sechs) Jahren ununterbrochenen Lernens und Wachsens und dem Beginn des Erwachsenenlebens, in dem dann all dieses Wissen in die Tat umgesetzt und dem eigenen Vorankommen gewidmet wird. Es ist ein echter Wendepunkt im Leben – und genau in diesem Augenblick habe ich eine Viertelstunde lang die ungeteilte Aufmerksamkeit dieser jungen Menschen. Jetzt kommt es darauf an, auch etwas zu sagen, das dem Gewicht des Anlasses gerecht wird und den Zuhörern in diesem bedeutsamen Moment des Neubeginns etwas bringt.
»Wer eine Commencement Speech hält«, so erzählte ich der ausschließlich weiblichen Abschlussklasse, »ermuntert die Studierenden eigentlich immer, dass sie jetzt aufbrechen und die Erfolgsleiter erklimmen sollen. Doch ich möchte Sie stattdessen heute bitten, Erfolg neu zu definieren. Die Welt, in die Sie sich hinausbegeben, braucht das dringend. Und Sie sind dieser Herausforderung gewachsen. Ihre Ausbildung am Smith College hat unmissverständlich klargemacht, dass Sie das Recht haben, Ihren Platz in der Welt einzunehmen, wo immer Sie ihn sich wünschen. Sie können in jedes Fachgebiet einsteigen und dort an die Spitze gelangen. Wozu ich Sie aber auffordere, ist, nicht nur Ihren Platz an der Weltspitze zu erringen, sondern die Welt zu verändern.«
Die bewegende Reaktion auf meine Rede zeigte mir, wie verbreitet unter so vielen von uns das Verlangen nach einer Neudefinition von Erfolg und dem, was ein »gutes Leben« ausmacht, ist.
»Was ist gutes Leben?«, fragte sich die Philosophie schon in den Tagen der alten Griechen. Aber irgendwann im Lauf der Zeit haben wir diese Frage aus den Augen verloren und uns stattdessen darauf konzentriert, wie man möglichst viel Geld macht, ein möglichst großes Haus kauft und möglichst hoch auf der Karriereleiter kommt. Das sind legitime Fragen, besonders für Frauen, die immer noch um Gleichberechtigung kämpfen müssen. Aber wie ich in einem schmerzhaften Prozess lernte, sind es bei Weitem nicht die einzigen Fragen, die für ein erfolgreiches Leben wichtig sind.
Die Bedeutung des Begriffs Erfolg hat sich in unserer Gesellschaft im Laufe der Zeit auf Geld und Macht verengt. Inzwischen sind Erfolg, Geld und Macht für viele Menschen geradezu synonym.
Dieses Erfolgskonzept kann kurzfristig durchaus funktionieren, zumindest scheinbar. Langfristig allerdings sind Geld und Macht allein wie ein Hocker mit zwei Beinen – man kann eine Weile darauf balancieren, aber irgendwann kippt man um. Das passiert mittlerweile mehr und mehr Menschen, und zwar sehr erfolgreichen.
Was ich dem Abschlussjahrgang des Smith College also sagen wollte, war, dass unsere Definition von Erfolg zu kurz greift und sich nicht länger halten lässt, weder für den Einzelnen noch für die Gesellschaft als Ganzes. Um ein Leben zu führen, wie wir es wirklich wollen und verdienen, und nicht nur eines, mit dem wir uns abfinden, brauchen wir noch eine dritte Größe als Maßeinheit für Erfolg, eine, die über die zwei Größen Geld und Macht hinausreicht und selbst aus vier Säulen besteht: Wohlbefinden, Weisheit, Staunen und Großzügigkeit. Diese vier Säulen geben dem vorliegenden Buch seine Gliederung.
Zuerst zum Wohlbefinden. Wenn wir nicht neu definieren, was wir unter Erfolg verstehen, wird der Preis, den wir in Bezug auf unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden zahlen, immer weiter steigen. Als mir durch meinen Unfall die Augen geöffnet wurden, erkannte ich, dass diese neue Phase meines Lebens sehr in Übereinstimmung mit dem gegenwärtigen Zeitgeist stand. In jedem Gespräch, das ich führte, ging es irgendwann immer um dieselben Probleme, Probleme, denen wir uns alle gegenübersehen: den Stress der übermäßigen Geschäftigkeit und der Überarbeitung, den übermäßigen Gebrauch sozialer Medien und den Mangel an echter Kommunikation mit uns selbst und mit anderen. Abstand, Freiräume, Pausen, Stille – alles, wodurch wir uns regenerieren und Kräfte zurückgewinnen können –, all das war aus meinem Leben so gut wie verschwunden, und vielen meiner Bekannten erging es nicht anders.
Diejenigen, die sich mit ihrem Leben wirklich wohlfühlten, hatten es geschafft, darin Räume für Wohlbefinden, Weisheit, Staunen und Großzügigkeit zu schaffen. So entstand die Idee der »Dritten Größe« – des dritten Standbeins für den Hocker sozusagen, das für ein erfolgreiches Leben erforderlich ist. Es begann damit, dass ich meinen eigenen Lebensweg und meine eigenen Prioritäten neu definierte. Das ließ mich erkennen, dass gerade ein Aufwachen im globalen Maßstab stattfindet. Wir treten in ein neues Zeitalter ein – unser Verständnis von Erfolg verändert sich.
Und dies geschieht keinen Moment zu früh – besonders für Frauen. Immer mehr Daten zeigen nämlich, dass Frauen für die gegenwärtigen falschen Versprechungen des Erfolgs einen noch höheren Preis zahlen als Männer. Frauen in stressintensiven Berufen haben ein um fast 40 Prozent höheres Risiko für Herzerkrankungen1 und ein um 60 Prozent höheres für Diabetes.2 In den letzten 30 Jahren, in einer Zeit, in der Frauen große Fortschritte im Berufsleben gemacht haben, ist der gefühlte Stressquotient um 18 Prozent gestiegen.3
Auch diejenigen, die gerade erst ins Berufsleben starten, und sogar die, die noch gar nicht angefangen haben, spüren bereits die Auswirkungen dieser Entwicklung. Laut der American Psychological Association steht die Generation Jahrtausendwende ganz oben in ihren Stress-Statistiken, vor den Babyboomern und den »reifen« Jahrgängen (so nennt man die über 67-jährigen).4
Die westliche Unternehmenskultur – die wir in viele andere Länder exportiert haben – beruht de facto auf Stress, Schlafentzug und Burnout. Ich selbst war von Angesicht zu Angesicht – oder besser von Angesicht zu Fußboden – mit diesem Problem konfrontiert worden, als ich schließlich zusammenbrach. Die Stressbelastung untergräbt nicht nur die Gesundheit, sondern der Schlafmangel, den so viele von uns im Interesse des beruflichen Vorankommens in Kauf nehmen, beeinträchtigt auch massiv unsere Kreativität, unsere Produktivität und unser Entscheidungsvermögen. Der Untergang der Exxon Valdez, die Explosion des Space Shuttle Challenger und die Atomunfälle in den Kraftwerken von Tschernobyl und Three Mile Island bei Harrisburg sind alle zumindest zum Teil auf Schlafmangel zurückzuführen.5
Als im Winter 2013 ein New Yorker Vorortzug der MetroNorth-Linie mit tödlichen Folgen entgleiste, weil William Rockefeller, der Lokführer, am Steuer eingeschlafen war, stand die Gefahr, die Schlafmangel für das gesamte Verkehrswesen bedeutet, plötzlich im Zentrum der Aufmerksamkeit.6 John Paul Wright, Zugführer bei einem der größten Güterzugunternehmen der USA, sagte dazu: »Das größte Problem, wenn man bei der Eisenbahn arbeitet, ist nicht etwa Geld. Wir werden ziemlich gut bezahlt. Aber wir opfern unseren Körper und unseren Geist, um die vielen Überstunden durchzuhalten, ganz zu schweigen von der hohen Scheidungsrate, dem Medikamentenmissbrauch und dem Stress.«7
Mehr als 30 Prozent der Einwohner in den USA8 und Großbritannien9 bekommen nicht genug Schlaf. Das geht nicht nur zu Lasten der Entscheidungsfähigkeit und der kognitiven Funktionen. Zu wenig Schlaf beeinträchtigt auch Eigenschaften, die wir mit dem Kern unserer Persönlichkeit und unseren Grundwerten verbinden. Laut einer Studie des Walter Reed Army Institute of Research senkt Schlafentzug die emotionale Intelligenz, die Selbstachtung, das Selbstbewusstsein, die persönliche Unabhängigkeit, das Mitgefühl mit anderen, die Qualität persönlicher Beziehungen, das positive Denken und die Selbstbeherrschung.10 Genau genommen ist laut der Studie das Einzige, was durch Schlafentzug gestärkt wird, das »magische Denken« und die Anfälligkeit für Aberglauben. Falls Sie sich für Wahrsagerei interessieren, arbeiten Sie also ruhig die Nacht durch. Wir anderen aber müssen dringend neu definieren, was wir wertschätzen und die Unternehmenskultur so verändern, dass es nicht mehr bewundert, sondern stigmatisiert wird, unendlich viele Überstunden zu machen und wie ein Zombie herumzulaufen.
Nach der neuen Erfolgsdefinition genügt es nicht mehr, ein finanzielles Vermögen zu schaffen und zu vergrößern, sondern wir müssen alles dafür tun, um auch unser menschliches Vermögen zu schützen und zu fördern. Meine Mutter war Expertin darin. Ich kann mich noch daran erinnern, wie wir, als ich zwölf war, einmal einen sehr erfolgreichen griechischen Geschäftsmann zu Gast hatten. Er wirkte ausgebrannt und erschöpft, aber beim Abendessen erzählte er uns stolz, wie gut alles für ihn laufe. Er freute sich riesig über den Bauauftrag für ein neues Museum, den er gerade an Land gezogen hatte. Meine Mutter beeindruckte das nicht. »Es ist mir egal, wie gut Ihre Geschäfte laufen«, sagte sie ihm klipp und klar, »solange Sie nicht auf sich selbst achten. Ihrer Firma geht es vielleicht gut, aber Sie selbst sind Ihr wichtigstes Kapital. Sie können nur einen bestimmten Betrag von Ihrem Gesundheitskonto abheben, doch Sie hören nicht auf. Sie gehen noch bankrott, wenn Sie nicht bald auch mal etwas einzahlen.« Und tatsächlich musste der Mann nicht lange danach plötzlich ins Krankenhaus, um sich einer Notoperation am Herzen zu unterziehen.
Wenn wir unser eigenes Wohlbefinden in unsere Erfolgsdefinition mit einbeziehen, verändert sich auch unser Verhältnis zur Zeit. In der Forschung gibt es mittlerweile sogar einen Begriff für unser stressgeprägtes Gefühl, nie genug Zeit für all die Dinge zu haben, die wir tun wollen – man spricht von »time famine«, also »Zeithunger«.11 Jedes Mal, wenn man auf die Uhr schaut, ist es schon später, als man gedacht hat. Ich persönlich hatte schon immer ein ziemlich angespanntes Verhältnis zur Zeit. Der Kinderbuchautor Dr. Suess hat das sehr schön zusammengefasst: »Wieso ist es so früh so spät? Der Abend kommt, dabei ist noch nicht mal Nachmittag. Der Dezember kommt, dabei ist noch nicht mal Juni. Meine Güte, wie rast die Zeit. Wieso ist es so früh so spät?«12
Kommt Ihnen das bekannt vor?
Wenn wir in einem Zustand permanenter Zeitnot leben, berauben wir uns selbst der Fähigkeit, ein weiteres Schlüsselelement der Dritten Größe zu erleben: das Staunen, das Gefühl der Freude an den Geheimnissen des Universums wie an den alltäglichen Erlebnissen und kleinen Wundern, die unser Leben erfüllen.
Ein anderes Talent meiner Mutter bestand darin, in einem ständigen Zustand des Staunens über die Welt um sie herum zu verharren. Ob sie das Geschirr spülte, am Strand die Möwen fütterte oder überarbeitete Geschäftsleute ermahnte – sie wahrte immer das Gefühl des Staunens über das Leben. Und wann immer ich mich über irgendetwas in meinem Leben beklagte oder ärgerte, hatte sie stets denselben Rat: »Liebes, schalte einfach um. Du hast die Fernbedienung in der Hand. Sieh dir den schlechten, beängstigenden Film einfach nicht mehr an.«
Wohlbefinden und Staunen. Beide sind entscheidend für die Dritte Größe. Und dann gibt es noch einen weiteren unentbehrlichen Faktor, um Erfolg neu zu definieren: Weisheit.
Wo immer man in der Welt hinschaut, sieht man intelligente Führungspersönlichkeiten furchtbare Fehlentscheidungen treffen – ob in der Politik, in der Wirtschaft oder in den Medien. Ihnen mangelt es nicht an IQ, sondern an Weisheit. Das ist kein Wunder; noch nie zuvor war es so schwierig, der eigenen inneren Weisheit zu lauschen, denn dazu muss man sich von den allgegenwärtigen technischen Geräten lösen, all den Gadgets und Bildschirmen, sich aus den sozialen Medien verabschieden – und wieder mit sich selbst in Verbindung treten.
Um ehrlich zu sein, fällt auch mir das nicht leicht. Das letzte Mal, als meine Mutter mich ausschimpfte, bevor sie starb, hatte sie mich dabei erwischt, wie ich gleichzeitig E-Mails beantwortete und mit meinen Kindern sprach. »Ich verachte Multitasking«, sagte sie mit einem griechischen Akzent, vor dem sich sogar meiner verstecken muss. Mit anderen Worten: Wenn wir uns oberflächlich mit der ganzen Welt verbinden, verhindert das eine tiefe Verbindung mit denjenigen, die uns nahestehen – auch mit uns selbst und damit unserer Weisheit.
Ich bin überzeugt, dass für den Menschen zwei grundlegende Sätze gelten. Erstens haben wir alle in uns einen zentrierten Ort, wo sich Weisheit, Harmonie und Stärke finden. Diese Auffassung vertreten alle Philosophien und Religionen – ob Christentum, Islam, Judentum oder Buddhismus – in der einen oder anderen Form: »Das Reich Gottes ist mitten unter euch.«13 Oder, wie es Archimedes sagte: »Gib mir einen Punkt, auf dem ich stehen kann, und ich werde dir die Welt aus den Angeln heben.«14
Zweitens verlassen wir diesen Ort immer und immer wieder. Das ist einfach so im Leben. Genau genommen laufen wir vermutlich alle öfter außer Kurs als auf Kurs.
Die Frage ist, wie schnell wir zu jenem zentralen Ort der Weisheit, Harmonie und Stärke zurückfinden können. An diesem geheiligten Platz findet die Verwandlung des Lebens aus einem Kampf zu einem harmonischen Fluss statt, und plötzlich sind wir erfüllt von Vertrauen, wie auch immer die Hindernisse, Herausforderungen und Enttäuschungen aussehen, denen wir gegenüberstehen. Steve Jobs hat es in seiner inzwischen legendären Ansprache an der Stanford University so ausgedrückt: »Man kann die Punkte nicht verbinden, wenn man sie vor sich hat. Die Verbindung ergibt sich erst im Nachhinein. Man muss also darauf vertrauen, dass sich die Punkte irgendwann einmal zusammenfügen. Man muss an etwas glauben – Intuition, Schicksal, Leben, Karma, was immer. Diese Haltung hat mich nie enttäuscht, sie hat mein Leben entscheidend geprägt.«15
Unser Leben hat einen Sinn, selbst wenn er uns manchmal verborgen bleibt, selbst wenn wir die Bedeutung der größten Wendungen und Enttäuschungen nur in der Rückschau verstehen. Wir können das Leben also genauso gut so führen, als ob – wie es der Dichter Dschalal ad-Din ar-Rumi sagt – alles zu unseren Gunsten eingerichtet wäre.16
Aber unsere Fähigkeit, immer wieder an diesen Ort der Weisheit zurückzukehren, hängt – wie so viele andere Fähigkeiten auch – davon ab, dass wir sie genügend üben und ihr in unserem Leben ausreichend Platz einräumen. Und ein Burnout macht es sehr viel schwieriger, sich der eigenen Weisheit zu bedienen. In einem Kommentar für die New York Times schrieb Erin Callan, die ehemalige CFO von Lehman Brothers – sie verließ die Bank wenige Monate vor deren Zusammenbruch –, über die Lektionen, die sie ihr Burnout gelehrt hat: »Die Arbeit kam immer zuerst und war wichtiger als Familie, Freunde und Ehe – die auch nach wenigen Jahren prompt zerbrach.«17
In der Rückschau wurde ihr klar, wie kontraproduktiv die übermäßige Arbeitsbelastung gewesen war, die sie sich zugemutet hatte: »Ich glaube inzwischen, dass ich es fast genauso weit hätte bringen können, ohne mein Privatleben komplett zu ruinieren«, schrieb sie. Schuften bis zum Burnout war übrigens nicht nur schlecht für sie, sondern, wie wir heute wissen, auch für Lehman Brothers selbst, die es heute ja bekanntlich nicht mehr gibt. Die Führungsmannschaft muss schließlich den Eisberg erkennen können, bevor die Titanic ihn rammt. Aber wenn man ausgebrannt und erschöpft ist, kann man Gefahren – oder auch Möglichkeiten – nur sehr schlecht voraussehen. Und hier müssen wir einhaken, wenn wir die Veränderung unserer Lebens- und Arbeitsweise in Gang bringen wollen.
Wohlbefinden, Weisheit und Staunen. Das letzte Element der Dritten Größe des Erfolgs ist die Bereitschaft, anderen etwas von sich selbst zu schenken, und zwar aus Empathie und Mitgefühl.
Die Gründerväter der USA hielten das Streben nach Glück für so wichtig, dass sie das Recht darauf in der Unabhängigkeitserklärung festgeschrieben haben. Aber ihre Vorstellung dieses »unveräußerbaren Rechts« war nicht die eines Rechts auf mehr Unterhaltung, sondern auf ein Glück, das aus dem guten Gefühl gespeist wird, Gutes zu tun. Sie meinten das Glück, ein produktives Mitglied der Gemeinschaft zu sein, das zum Gesamtwohl beiträgt.
Es gibt jede Menge eindeutiger wissenschaftlicher Belege dafür, dass Empathie und Hilfeleistung unser Wohlbefinden erhöhen. So werden die Elemente der Dritten Größe des Erfolgs Teil eines sich selbst verstärkenden Kreislaufs.
Wenn Sie Glück haben, machen Sie rechtzeitig eine Erfahrung, die bei Ihnen das Fass zum Überlaufen bringt. Bei mir war es mein erschöpfungsbedingter Zusammenbruch 2007. Für Marc Bittman, Restaurantkritiker bei der New York Times, war es das zwanghafte Checken seiner E-Mails über das im Sitz eingebaute Telefon während eines Fluges über den Atlantik. Er bekannte danach: »Mein Name ist Mark, und ich bin technologiesüchtig.«18 Für Jean-Carl Honoré, den Autor von In Praise of Slowness, war es die ernsthafte Überlegung, seinem zweijährigen Sohn »Ein-Minuten-Einschlafgeschichten« vorzulesen, um Zeit zu sparen.19 Für Mark Bertolini, den CEO von Aetna, war es ein Skiunfall mit einem gebrochenen Halswirbel, der ihn zu den verjüngenden Praktiken von Yoga und Meditation führte.20 Für Pat Christen, die Präsidentin von HopeLab, war es die alarmierende Feststellung, dass sie wegen ihrer Abhängigkeit von technischen Kommunikationsmitteln »aufgehört hatte, meinen Kindern in die Augen zu schauen«.21 Für Anna Holmes, die Gründerin der Internetseite Jezebel, war es die Erkenntnis, dass die Abmachung, die sie mit sich selbst geschlossen hatte, einen hohen Preis forderte: »Mir wurde klar, ›Okay, wenn ich 110 Prozent Leistung bringe, erziele ich gute Ergebnisse. Wenn ich noch härter arbeite, sind die Ergebnisse noch besser‹. Die Voraussetzungen meines Erfolgs aber fielen auf mich selbst zurück: Ich konnte nicht mehr abschalten … ich wurde immer gestresster … Ich postete nicht nur 12 Stunden hintereinander alle 10 Minuten, sondern fing bereits zweieinhalb Stunden davor zu arbeiten an und danach noch weiter bis tief in die Nacht, um den nächsten Tag vorzubereiten.« Schließlich entschloss sie sich, bei Jezebel aufzuhören. »Ich brauchte über ein Jahr, um wieder herunterzukommen … ein ganzes Jahr, bis ich mich wieder mehr auf mich selbst als auf das Internet konzentrieren konnte.«22
Seit meinem eigenen Erlebnis predige ich die Notwendigkeit, unser Leben der ständigen Erreichbarkeit ab und an zu unterbrechen und stattdessen wieder mit uns selbst in Kontakt zu kommen. Das bestimmt auch die redaktionelle Philosophie der 26 Lifestyle-Sektionen, die die HuffPost in Amerika hat. Wir stellen darin Wege vor, wie man sich um sich selbst kümmert und ein ausgewogenes, zentriertes Leben führt, während man gleichzeitig positiv auf die eigene Umwelt einwirkt. Seitdem sich die HuffPost auch im Ausland verbreitet, können wir diese redaktionellen Grundsätze über unsere kanadische, britische, französische, italienische, spanische, deutsche, japanische, brasilianische und südkoreanische Ausgabe auch weltweit fördern.
Ich erinnere mich daran, als ob es gestern gewesen wäre: Ich war 23 Jahre alt und auf Lesereise für mein erstes Buch The Female Woman, das unerwartet zu einem internationalen Bestseller geworden war.23 Ich saß in einem anonymen europäischen Hotelzimmer, das ein geschmackvoll arrangiertes Stillleben hätte sein können. Auf dem Schreibtisch ein Strauß gelber Rosen, Schweizer Schokolade auf dem Nachttisch, französischer Champagner im Eiskübel. Das einzige Geräusch kam vom Eis, das knisternd zerschmolz. Die Stimme in meinem Kopf war viel lauter. »Ist das jetzt schon alles?« Wie eine Schallplatte, die festhängt, wiederholte sich die berühmte Frage aus Peggy Lees Song »Is That All There Is?« (falls sich jemand noch daran erinnert) immer wieder in meinem Hirn und verdarb mir die Freude, die ich in meinem Erfolg zu finden gehofft hatte. »Ist das jetzt wirklich alles?« Wenn das »Leben« heißt, was bedeutet dann das Leben? Kann es darin wirklich nur um Geld und Anerkennung gehen? Ein Teil meiner selbst, tief drinnen – der Teil, der die Tochter meiner Mutter ist –, antwortete mit einem lauten »Nein!« Diese Antwort hat mich nach und nach dazu gebracht, lukrative Angebote abzulehnen und weiterhin Bücher und Vorträge zum Thema »die weibliche Frau« zu verfassen. Es war mein erster Schritt auf einem langen Weg.
Dieser Weg hat begonnen in dem Moment der Erkenntnis, dass ich mein Leben nicht innerhalb der kulturell definierten Kriterien für Erfolg führen wollte. Er verlief allerdings nicht gerade, sondern oft geradezu spiralförmig, mit vielen Abwärtsphasen, während derer ich mich in eben jenem Wirbelsturm wiederfand, der, wie ich wusste, nicht zu dem Leben führen würde, wie ich es wollte.
So stark ist die Anziehungskraft der ersten beiden Größen, selbst für jemanden wie mich, die ich mit einer Mutter gesegnet war, die bereits nach der Dritten Größe lebte, bevor ich überhaupt wusste, was die Dritte Größe ist. Deshalb ist dieses Buch auch eine Art Heimkehr für mich.
Als ich damals in den 1980er Jahren in New York lebte, fand ich mich bei Mittag- und Abendessen mit Leuten wieder, die die ersten beiden Größen des Erfolgs – Geld und Macht – erreicht hatten, die aber immer noch auf der Suche waren. In Amerika fehlt uns ein Königshaus, also haben wir die Reichen und politisch Mächtigen in den Rang von Fürsten erhoben. Und weil man den Thron heute nicht mehr durch Geburtsrecht besteigt, sondern durch sichtbare Statussymbole, träumen wir davon, diese Symbole zu besitzen, um ebenfalls eine Krone zu tragen. Vielleicht liegt es auch an der allgegenwärtigen Erwartungshaltung, die uns schon von Kindheit an eingebläut wird, dass jeder, so bescheiden auch seine soziale Herkunft sein mag, für sich den amerikanischen Traum verwirklichen kann. Und dieser amerikanische Traum, den wir in die ganze Welt exportiert haben, definiert sich heute über den Erwerb von Dingen: Häuser, Autos, Yachten, Privatjets und andere Spielzeuge für Erwachsene.
Ich glaube allerdings, dass das zweite Jahrzehnt des neuen Jahrtausends in dieser Hinsicht schon sehr anders ist. Es gibt natürlich immer noch viele Millionen Menschen, die Erfolg mit Geld und Macht gleichsetzen und wild entschlossen sind, in der Tretmühle weiterzumachen, ohne Rücksicht auf Verluste im Hinblick auf Gesundheit, Beziehungen und Glück. Es gibt immer noch Millionen, die verzweifelt auf die nächste Beförderung warten, auf die nächste millionenschwere Bonuszahlung, die ihnen, so hoffen sie, endlich innere Ausgeglichenheit bringen und die eigene Unzufriedenheit stillen wird. Aber sowohl im Westen wie in den Schwellenländern finden sich jeden Tag mehr Menschen, die erkannt haben, dass das alles Sackgassen sind und dass sie Trugbildern nachjagen. Sie haben verstanden, dass wir die Erfüllung unseres Verlangens nicht allein im Erfolg finden können, wie er gegenwärtig definiert wird, denn dort gibt es – wie Gertrude Stein einmal über Oakland schrieb – kein Dort.24
Immer mehr wissenschaftliche Studien und medizinische Statistiken zeigen, dass unsere bisherige Lebensweise – unsere Prioritäten und Werte – nicht funktionieren. Und immer mehr Frauen – und Männer – weigern sich, zum Opfer dieser Lebensweise zu werden. Stattdessen unterziehen sie ihr Leben einer kritischen Prüfung, um sich wirklich weiterzuentwickeln, statt nur nach den gängigen Kriterien Erfolg zu haben.
Neueste wissenschaftliche Daten beweisen, dass die Zunahme von Stress und Burnoutsymptomen beträchtliche Folgen sowohl für die Gesundheit des Einzelnen als auch für unser Gesundheitssystem als Ganzes hat. Forscher der Carnegie Mellon University fanden heraus, dass es zwischen 1983 und 2009 in allen sozialen Schichten zu einer Zunahme des Stressempfindens um 10 bis 30 Prozent gekommen ist.25 Mehr Stress führt auch zu mehr Diabetes,26 Herzerkrankungen27 und Fettleibigkeit28. Laut der US-Gesundheitsbehörde CDC werden drei Viertel des Gesundheitsbudgets für die Behandlung solcher chronischen Leiden aufgewandt.29 Das Benson-Henry Institute for Mind Body Medicine am Massachusetts General Hospital schätzt, dass 60 bis 90 Prozent aller Arztbesuche auf stressbedingte Beschwerden zurückzuführen sind.30 Auch in Großbritannien hat sich Stress in den letzten Jahren landesweit als wichtigste Krankheitsursache etabliert.31 Tim Straughan, Leiter der britischen Gesundheitsbehörde Health and Social Care Information Centre, erklärte: »Man könnte vermuten, dass Stress und Angststörungen den Patienten eher zum Hausarzt als in die Klinik bringen. Unsere Zahlen legen jedoch nahe, dass es in England jedes Jahr auch Tausende Fälle gibt, die einen Klinikaufenthalt nötig machen.«32 Und in Deutschland ist Stress heute die wichtigste Ursache für Frühverrentungen.33 Der Stress, dem wir ausgesetzt sind, trifft auch unsere Kinder. Die Auswirkungen von Stress auf Kinder – sogar bereits auf ungeborene – wurden kürzlich in der Zeitschrift der amerikanischen Kinderarztvereinigung American Academy of Pediatrics betont.34 Nicholas Kristof schrieb in der New York Times: »Die Symptome einer feindseligen oder gleichgültigen Umgebung überschwemmen Kleinkinder und bereits Föten derart mit Stresshormonen wie Cortisol, dass es zu Störungen im Stoffwechsel oder in der Entwicklung des Gehirns kommen kann. Die Kinder tragen teilweise bleibende Schäden davon. Selbst viele Jahre später als Erwachsene haben die Betroffenen ein erhöhtes Risiko für Herzerkrankungen, Fettleibigkeit, Diabetes und andere physische Störungen. Außerdem besteht eine größere Wahrscheinlichkeit, dass sie in der Schule zurückbleiben, jähzornig sind und in Konflikt mit dem Gesetz geraten.«35
Ein Grund dafür, warum sich der Stress in unserem Leben so anhäuft, ist, dass wir uns nicht genügend um uns selbst kümmern. Wir sind einfach zu beschäftigt damit, dem Phantom des Erfolgs nachzujagen. Der Unterschied zwischen dieser Art Erfolg und wirklichem persönlichen »Gedeihen« ist in der Gegenwart, im Alltag, nicht immer sehr deutlich, umso mehr aber im Rückblick. Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass die Reden bei einer Beerdigung ganz andere Ereignisse und Eigenschaften hervorheben als das, was die Gesellschaft als erfolgreich definiert?
Grabreden sind im Grunde sehr auf die Dritte Größe ausgerichtet. Doch obgleich es eigentlich nicht schwierig ist, ein Leben zu führen, in dem man die Dritte Größe im Blick behält, ist es noch leichter, sie außer Acht zu lassen. Es ist ganz einfach, sich von der Arbeit auffressen zu lassen. Es ist ganz einfach, sich von beruflichen Verpflichtungen vereinnahmen zu lassen und die Menschen und Dinge zu vergessen, die einem wirklich etwas bedeuten. Es ist ganz einfach, sich von der Technik in eine Falle der ständigen ruhelosen Erreichbarkeit locken zu lassen. Es ist also ganz leicht, am Leben vorbeizuleben, bis es dann irgendwann zu spät ist und wir tot sind. Eine Grabrede ist oft die erste ausdrückliche Aufzählung dessen, worum es uns im Leben gegangen ist – das Gründungsdokument unseres Vermächtnisses. So wird sich die Nachwelt an uns erinnern, so werden wir in den Herzen der anderen weiterleben. Und es ist sehr bezeichnend, was dann aufgezählt wird. Zum Beispiel hört man fast nie:
»Die Krönung seines Lebens war die Beförderung zum Hauptabteilungsleiter.«
Oder:
»Er steigerte im Laufe seiner Karriere den Marktanteil des Unternehmens um ein Vielfaches.«
Oder:
»Sie arbeitete ununterbrochen. Sie aß am Schreibtisch. Jeden Tag.«
Oder:
»Er schaffte es nie zu den Baseballspielen seiner Kinder, weil er immer noch mal die Zahlen durchgehen musste.«
Oder:
»Sie hatte zwar keine richtigen Freunde, aber dafür 600 Facebook-Freunde und beantwortete jeden Abend sämtliche E-Mails.«
Oder:
»Seine PowerPoint-Präsentationen waren immer aufs Sorgfältigste vorbereitet.«
In Grabreden geht es um ganz andere Dinge: Was wir anderen gegeben haben, wie wir mit anderen umgegangen sind, was wir unserer Familie und den Freunden bedeutet haben; kleine Akte der Freundlichkeit, lebenslange Leidenschaften, was uns zum Lachen brachte.
Warum also verwenden wir so viel von unserer begrenzten Lebenszeit auf all die Dinge, die in unserer Grabrede bestimmt nicht vorkommen werden?
»Eine Grabrede ist kein Bewerbungsschreiben«, schreibt David Brooks. »In ihr geht es um das Mitgefühl, die Weisheit, Wahrhaftigkeit und den Mut eines Menschen. Sie zählt die eine Million kleiner moralischer Entscheidungen auf, die aus jener Region tief im Inneren kommen.«36
Und doch sind uns die Positionen im tabellarischen Lebenslauf so viel Zeit, Mühe und Kraft wert – Einträge, die alle Bedeutung verlieren, sowie unser Herz stehenbleibt. Auch wer mit einem bewundernswerten Wikipedia-Eintrag stirbt, wessen Leben für Leistung und Erfolg steht, wird in seiner Grabrede fast nur für das gelobt, was er getan hat, wenn er nicht gerade auf Leistung und Erfolg fixiert war. Eine Grabrede unterliegt nicht den Zwängen unserer gegenwärtigen, verzerrten Erfolgsdefinition. Denken Sie nur an Steve Jobs, einen Mann, dessen Leben sich, zumindest im Bild der Öffentlichkeit, ganz um die Erfindung von Gegenständen drehte – zugegebenermaßen bahnbrechender und erstaunlicher Gegenstände. Als aber seine Schwester Mona Simpson bei seiner Beerdigung ans Rednerpult trat, sprach sie über etwas ganz anderes.
Natürlich erwähnte sie auch seine Arbeit und seine Arbeitsmoral, aber hauptsächlich als Ausdruck seiner Leidenschaften. »Steve arbeitete an dem, was er liebte«, sagte sie. Was ihn wirklich antrieb, war Liebe. »Liebe war seine beherrschende Tugend«, sagte sie, »sein höchstes Ideal.
Als [sein Sohn] Reed auf die Welt kam, fing er an zu schwärmen und hörte nicht mehr auf. Er war ein sehr körperlicher Vater, für alle seine Kinder. Er machte sich Sorgen wegen Lisas Freunden und Erins Reisen und der Länge ihrer Röcke und um Eves Sicherheit, wenn sie reiten ging.«
Und dann fügte sie noch ein berührendes Bild hinzu: »Keiner von uns, der bei Reeds Abschlussball dabei war, wird je vergessen, wie Reed und Steve miteinander einen Schieber tanzten.«37
In ihrer Grabrede machte Steves Schwester deutlich, dass er viel mehr war als der Typ, der zufällig das iPhone erfunden hat. Er war Bruder und Ehemann und Vater, und er kannte den wahren Wert dessen, wovon uns die Technik nur zu leicht ablenkt. Selbst wenn man ein bahnbrechendes Produkt erschafft, eines, das die Nachwelt prägt, lebt in den Köpfen und Herzen der Menschen, die einem etwas bedeuten, eher die Erinnerung an einen als Menschen weiter.
In Marguerite Yourcenars Roman Ich zähmte die Wölfin denkt der römische Kaiser Hadrian über seinen Tod nach: »So scheint es mir jetzt, wo ich schreibe, kaum noch von Belang zu sein, dass ich Kaiser bin.«38 Thomas Jefferson wird in seiner Grabinschrift als »Verfasser der Unabhängigkeitserklärung der USA … und Gründervater der University of Virginia« gepriesen. Dass er Präsident war, wird nicht erwähnt.39
Die alte Weisheit, man solle jeden Tag so leben, als wäre er der letzte, wird meist so verstanden, dass man nicht warten sollte, die wirklich wichtigen Dinge auch wichtig zu nehmen. Jeder, der ein Smartphone und ein überquellendes E-Mail-Postfach hat, weiß, wie leicht es ist, sich so einspannen zu lassen, dass man das Leben gar nicht mehr wahrnimmt.
Ein Lebensstil, in dem die Dritte Größe genug Beachtung findet, kann vor dem Urteil der Grabrede bestehen. »Ich bin bei Grabreden immer froh, wenn ich mir sagen kann, dass ich einer der Zuhörer bin«, witzelt George Carlin.40 Unsere eigene werden wir zwar nicht hören können, aber wir schreiben an ihr die ganze Zeit, jeden einzelnen Tag. Die Frage ist, wie viel Material wir dem Grabredner liefern.
Im Sommer 2013 verbreitete sich im Internet mit rasender Schnelligkeit der Nachruf auf eine Frau aus Seattle namens Jane Lotter, die an Krebs gestorben war. Autor das Nachrufs war Jane Lotter selbst.
»Einer der wenigen Vorteile, wenn man an Gebärmutterkrebs stirbt – Stufe 3, Stadium IIIC, rekursiv und mit Metastasenbildung in Leber und Bauchhöhle – «, so schrieb sie, »ist, dass man immerhin Zeit hat, seinen eigenen Nachruf zu verfassen.« Nach einer liebenswerten und lebendigen Schilderung ihres Lebens zeigte sie, dass sie die Definition wirklichen Erfolgs beherzigt hatte. »Meine geliebter Bob, meine geliebte Tessa, meine geliebte Riley«, schrieb sie, »meine geliebten Freunde und Angehörigen. Wie kostbar ihr alle für mich gewesen seid! Euch alle zu kennen und zu lieben, das war die Erfolgsgeschichte meines Lebens.«41
Ob man (so wie ich) an ein Leben nach dem Tod glaubt oder nicht – indem man darauf achtet, in seinem eigenen Leben und dem derjenigen, die einem etwas bedeuten, völlig gegenwärtig zu sein, schreibt man nicht nur an seiner eigenen Grabrede, sondern man schafft sich bereits zu Lebzeiten sein Vermächtnis. Das zu berücksichtigen ist eine Übung von unschätzbarem Wert – eine, die umso glaubwürdiger wird, solange man noch das Glück hat, gesund zu sein und über die Energie und Freiheit zu verfügen, ein sinnvolles und bedeutungsvolles Leben zu führen. Die gute Nachricht ist, dass jeder Einzelne von uns noch immer Zeit hat, der bestmöglichen Grabrede gerecht zu werden, die man sich nur vorstellen kann.
Dieses Buch soll eine Hilfe dabei sein, das Wissen, was richtig ist, in die Tat umzusetzen. Wie ich selbst nur zu gut weiß, ist das keine einfache Angelegenheit. Eingefahrene Gewohnheiten zu ändern, ist besonders schwierig. Und wenn viele dieser Gewohnheiten das Ergebnis tief verinnerlichter kultureller Normen sind, wird es noch schwieriger. Das ist die Herausforderung, der wir uns gegenübersehen, wenn wir Erfolg neu definieren und die Prinzipien der Dritten Größe in unser Leben einführen wollen. Im vorliegenden Buch geht es um die Lektionen, die ich gelernt habe, und um meine Bemühungen, die Prinzipien der Dritten Größe zu verkörpern – ein Prozess, der vermutlich mein ganzes weiteres Leben andauern wird. Es versammelt außerdem die neuesten Daten, wissenschaftlichen Studien und Forschungsergebnisse (manche davon in Endnoten versteckt), die hoffentlich auch den skeptischsten Leser überzeugen werden, dass unser gegenwärtiger Lebensstil nicht funktioniert und es nachweislich bessere Wege gibt, sein Leben zu führen – Wege, die einen unmittelbaren und messbaren Effekt auf Gesundheit und Glück haben. Und schließlich habe ich, weil mein Ansatz so praktisch wie möglich sein soll, auch noch viele alltagstaugliche und leicht zu befolgende Übungen, Mittel und Methoden eingefügt. Diese drei Fäden werden von einem einzigen, alles umspannenden Ziel zusammengehalten: dass wir uns wieder mit uns selber, den Menschen, die uns etwas bedeuten, und unserer Gemeinschaft verbinden – mit einem Wort, dass es uns wieder rundherum gut geht.
Wohlbefinden
Ich hatte sehr lange geglaubt, jetzt werde das Leben gleich beginnen – das wirkliche Leben. Aber irgendwie fand sich immer ein Hindernis, etwas, das zuerst überwunden oder erledigt werden musste, irgendeine Schuld, die noch abzuzahlen war. Dann aber würde das Leben beginnen. Endlich dämmerte mir, dass diese Hindernisse mein Leben waren.42 Alfred D’Souza |