2. Kapitel
Als ich ein paar Tage später von der Arbeit nach Hause kam, wirkte die Wohnung irgendwie verändert. Ich hatte sie morgens in normalem Zustand verlassen – nicht gerade als Müllhalde, aber mit benutzten Teebechern auf dem Küchentresen, einem leichten Staubfilm auf allen Oberflächen und einem Haufen Wäsche in der Waschmaschine, die ich nicht mehr geschafft hatte, zum Trocknen aufzuhängen. Was vermutlich sogar gut war, denn Rose wäre nicht glücklich gewesen, ihren neuen Mann mit nach Hause zu bringen und im Wohnzimmer meine Strümpfe und meine Höschen auf der Leine vorzufinden.
Ich hatte einen miesen Tag hinter mir und war erledigt, und deshalb hatte ich die Einladung einiger Kollegen ausgeschlagen, mit ihnen in den Pub zu gehen. Ich arbeite für eine Wohltätigkeitsorganisation, in der wir auf die Mitarbeit von Ehrenamtlichen angewiesen sind – und ich bewundere ihre Leidenschaft und ihr Engagement, ohne die wir vermutlich nicht zurechtkämen. Wenn sie sich aber als unzuverlässig oder unfähig erweisen oder einfach schlicht nicht erscheinen, machen sie meine Arbeit komplizierter, als sie ohne sie wäre.
Meine Stelle nennt sich »Leiterin der Kommunikation«, was ungemein wichtig klingt, jedoch eigentlich bedeutet, dass ich überwiegend Zeitungen nach für uns relevanten Geschichten durchforste. Dann schicke ich wie verrückt Pressemitteilungen raus, um unsere Reaktion auf die Geschichten publik zu machen, bevor sie veraltet sind und alle das Interesse an ihnen verlieren. Manchmal ruft mich ein Journalist an, bevor eine Geschichte gedruckt wird, und wir werden zitiert – das ist ein guter Tag. Jener Freitag war kein guter Tag gewesen. In der Daily Mail war eine Panik schürende Geschichte erschienen, und eine eher glücklose Ehrenamtliche und ich hatten den Tag damit verbracht, per Telefon und per E-Mail all unseren Pressekontakten unsere Stellungnahme dazu mitzuteilen. Am Nachmittag, als ich gerade dachte, der Tag sei so gut wie gelaufen, stellte ich fest, dass die Ehrenamtliche meine Pressemitteilung zu einer Geschichte der vorherigen Woche herumgeschickt hatte – zu »Archie, 12, ist Großbritanniens jüngster Vater!« anstatt zu der Geschichte jenes Tages, in der es um den Zusammenhang zwischen Kampftrinken und Genitalwarzen ging. Und so musste ich dann die Journalisten anrufen und mich entschuldigen und die Presseerklärung ein zweites Mal hinausschicken – nur dass um diese Zeit die meisten von ihnen bereits in den Pub gegangen waren. Als ich schließlich fertig war, war ich zu müde, um es ihnen gleichzutun.
Wie gesagt, ich wusste sofort, dass etwas nicht stimmte, als ich durch die Tür trat. Die Wohnung roch nach Politur und Maiglöckchen und nach einem köstlichen Essen, und das Wohnzimmer sah aus wie ein Wintermärchen: mit einem Weihnachtsbaum voller Silber- und Goldschmuck, und dazu hingen überall weiße Lichterketten. Ich persönlich mag Lametta und bunte Lichter, aber Rose hält sie für unmodern und will sie nicht in der Wohnung haben. Das muss ich wohl oder übel hinnehmen, denn schließlich ist sie, wie jeder weiß, diejenige mit Geschmack in unserem Haushalt. Das stimmt wirklich, und ich habe kein Problem damit, ihr freie Hand in Sachen Einrichtung zu lassen.
Ich sollte an dieser Stelle vielleicht erwähnen, wie außerordentlich glücklich Rose und ich uns schätzen können, dass wir diese Wohnung überhaupt besitzen. Unser Vater hat einen beträchtlichen Teil des Geldes beigesteuert, und so hatten wir, anders als die meisten anderen in unserem Alter, glücklich die unterste Sprosse der Hausbesitzerleiter erklommen, anstatt uns mit einer Mietwohnung herumzuschlagen. Ich bin wirklich aufrichtig dankbar für dieses Privileg. Die Wohnung an sich ist nichts Besonderes, es ist eine kleine Dreizimmerwohnung mit einer anständigen Küche und einem hübschen schicken neuen Badezimmer, das Dad uns zum Einzug renoviert hat. Sie liegt in einem Viertel von Battersea, das ziemlich heruntergekommen war, jedoch zunehmend in Mode kommt und schicker wird. Neulich hat man doch tatsächlich einen von Prinz Harrys Kumpels am Ende unserer Straße ausgeraubt. Na, wenn das kein Zeichen dafür ist, dass sich die Gegend im Aufschwung befindet, weiß ich es auch nicht.
Als wir eingezogen sind, habe ich es Rose überlassen, sich um die Inneneinrichtung zu kümmern. Um ehrlich zu sein, interessiert mich so etwas nicht die Bohne, ich hätte die gesamte Wohnungsausstattung bei einem einzigen Ikea-Besuch erworben. Rose ist da anders: Sie hat auf Märkten, in Antiquitätenläden und in niedlichen kleinen Geschäften jede Menge hübscher »Stücke« gefunden, durch die unsere Wohnung gemütlich, aber zugleich äußerst elegant wirkt. Selbst als wir zum Schluss bei Ikea kaufen mussten, weil Rose mit ihren vielen schicken oder klassischen »Stücken« unser Budget erschöpft hatte, wählten wir das besonders weiche cremefarbene Sofa, weil es genau passte. Man füge noch ein paar wirklich gute Originalzeichnungen und Ölgemälde hinzu – Rose arbeitet für das Auktionshaus Quinn’s, wo sie junge Brit-Art-Künstler bezirzt hat, uns für einen Spottpreis ein paar ihrer Arbeiten zu überlassen, die eines Tages Abermillionen Pfund wert sein werden –, und schon sah die Wohnung aus wie aus Schöner Wohnen.
Die Weihnachtsdekoration erinnerte mich zusammen mit der unnatürlichen Sauberkeit und den köstlichen Gerüchen, die aus der Küche strömten, daran, dass Rose mir gesagt hatte – jedenfalls bin ich mir ziemlich sicher, dass sie das getan hatte –, dass sie an jenem Abend eines ihrer Essen oder eine ihrer Küchenpartys geben würde. Eigentlich hatte ich vorgehabt, mich aus dem Staub zu machen, wie ich es üblicherweise bei diesen Gelegenheiten tat. Doch es war zu spät – ich hatte die Höhle des Löwen bereits betreten.
»Ellie?«, rief Rose aus der Küche. Widerstrebend schlich ich zu ihr und lehnte mich in den Türrahmen.
»Hallo, Rose. Die Dekoration sieht toll aus, und irgendetwas riecht hier sehr gut«, bemerkte ich. Rose ist neben ihren zahlreichen anderen Talenten auch eine hervorragende Köchin. Ich bin nach der Schule ein Jahr mit dem Rucksack durch Südostasien gereist; Rose hingegen hatte als Hausmädchen gearbeitet, bevor sie sich auf eine große Kunstreise durch Europa begab, und im Laufe derer hatte sie gelernt, wie man Mayonnaise herstellte und Rotwein dekantierte und all dieses Zeug. Ich für meinen Teil bin zufrieden, wenn ich mit einer Backkartoffel vor dem Fernseher sitze, und ich bin ohnehin Vegetarierin, sodass die meisten von Roses Meisterwerken an mir verschwendet sind. Ihre Freunde schwärmen jedoch von ihren Kochkünsten, und wann immer sie einlädt, gibt sie ein Vermögen für Zutaten aus und verbringt Stunden in der Küche.
»Ich hoffe, du hast nichts dagegen, dass ich schon den Baum aufgestellt habe, obwohl wir erst den zehnten haben«, sagte Rose. Sie wirkte aufgekratzt und gut gelaunt, sie hatte wirklich Spaß an diesen Dingen. »Es gibt Kalbsrippchen mit Pfifferlingen und für dich und Simon geräucherten Ziegenkäse in Kräuterkruste, ebenfalls mit Pfifferlingen.«
»Was?«, erwiderte ich. Meine Hoffnung, Ben eine Notruf-SMS zu senden oder, wenn er keine Zeit hätte, meine beste Freundin Claire anzurufen, schwand umgehend. »Rose, es tut mir wirklich leid, aber ich hatte das völlig vergessen, und ich … äh … habe etwas vor.«
»Nein, das hast du nicht«, widersprach sie. »Ich habe dich neulich abends daran erinnert. Weißt du das nicht mehr? Du hast gesagt, du hättest Zeit.«
Mir schwante entfernt, dass sie so etwas erwähnt hatte und dass ich eine Antwort gemurmelt und dann weiter Oliver angestarrt hatte. Rose ist eine Quasselstrippe – auch wenn sie sieht, dass ich fernsehe oder lese, quasselt sie. Sie erzählt von ihrem Arbeitstag, von den neuen Schuhen, die sie sich gekauft hat, was sie abends vorhat – quassel, quassel, quassel. Eigentlich ist das sehr süß, aber ich habe mir bereits in meiner Kindheit die überlebenswichtige Fähigkeit antrainiert, ihr Gerede einfach auszublenden. Und seit wir zusammen wohnen, habe ich regelrecht eine Kunst daraus gemacht.
Ich saß ganz klar in der Falle – Rose hatte extra einen vegetarischen Hauptgang für mich und diesen Simon gemacht. Aus dieser Nummer kam ich nicht mehr raus, ohne sie zu verletzen und mir furchtbar schlecht vorzukommen.
»Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragte ich.
»Nein, ich habe alles im Griff«, erwiderte Rose. Dann warf sie mir einen ihrer Blicke zu. »Warum duschst du nicht und machst dich fertig? Wenn du einen anstrengenden Tag hattest, nimm etwas von meinem Molton-Brown-Erfrischungszeug.«
Was ich wie folgt interpretierte: »Wasch dir die Haare, und zieh dir etwas Anständiges an, damit du mich nicht vor meinen Freunden blamierst.«
»Wer kommt denn?«, erkundigte ich mich, öffnete den Kühlschrank und stibitzte eine von Roses selbst gemachten Schoko-Gin-Trüffeln.
»Nur ein paar Leute«, antwortete Rose und zählte sie an den Fingern auf. »Simon, ein Arbeitskollege, und sein Partner Khalid.« Sie versuchte also wenigstens nicht, mich mit Simon zu verkuppeln, was mich etwas erleichterte. »Und Vanessa und Tom.« Vanessa war eine von Roses eher nervigen Schulfreundinnen, deren Hochzeit mit Tom Willoughby-Archer letztes Jahr laut Rose die Seiten der Illustrierten gefüllt hatte. »Und Pip. Sie wollte eigentlich Sebastian mitbringen, aber die beiden haben sich furchtbar gestritten, deshalb wird sie wohl allein kommen. Und im letzten Moment habe ich noch Oliver eingeladen, also sind wir eine gerade Zahl.«
Ich empfand einen Anflug von Freude. »Gut, dann mache ich mich mal fertig«, erklärte ich und ging nach oben, um zu duschen.
Offen gestanden werde ich mit meiner Geschäftskleidung nie den Preis für die bestgekleidete Frau gewinnen. Ich muss im Büro Kostüme tragen, was ich zutiefst verabscheue, und ich weigere mich, auch nur einen einzigen Penny mehr als nötig dafür auszugeben. Ich erstehe im Ausverkauf irgendein Kaufhausmodell gleich in mehreren Farben und werfe diese einmal die Woche in die Waschmaschine, wodurch sie nicht annähernd so lange halten, wie sie eigentlich sollten. An jenem Tag trug ich ein besonders uninspiriertes champignonfarbenes Ensemble, das schon bessere Tage gesehen hatte, und ehrlich gesagt, waren auch die besten Tage nicht wirklich gut gewesen.
Leicht dampfend und mit einem Handtuch um den Kopf betrachtete ich mit düsterer Miene den Inhalt meines Kleiderschranks. Ich mache mir nicht viel aus Mode – es kommt mir etwas oberflächlich und sinnlos vor, so viel Geld wie Rose für Kleidung auszugeben –, aber an jenem Abend deprimierte mich meine spärliche Garderobe, und wenn ich ehrlich bin, meine Erscheinung im Allgemeinen. Ich würde an einem Tisch mit dem ehemaligen Model Vanessa sitzen, die lange Glieder und ein perfektes Gesicht besaß, das sie Generationen von dummen reichen Männern verdankte, die dumme schöne Frauen geheiratet hatten; Pip war, wenn ich mich recht erinnerte, angehende Modedesignerin sowie die Tochter eines Siebzigerjahre-Rockstars und einer bekannten Schauspielerin; das Pärchen Simon und Khalid kleidete sich mit Sicherheit äußerst modisch; und dann war da noch meine Schwester, die ohnehin immer fantastisch aussah. Und Oliver. Eigentlich dachte ich an Oliver, Roses Oliver, während ich meinen Kleiderschrank durchforstete, ein Stück nach dem anderen inspizierte und verwarf. Die türkisfarbene Seidentunika, die ich in China erstanden hatte, wäre perfekt gewesen, hatte jedoch vorn in der Mitte einen Fettfleck. Ständig vergaß ich, sie zur Reinigung zu bringen. Mein schwarzes Samtoberteil mit den Fledermausärmeln, das ich in einem Haufen von Moms alten Sachen entdeckt hatte, die Dad zu Oxfam bringen wollte, und das ich nur aus sentimentalen Gründen gerettet hatte, das jetzt jedoch ungemein angesagt war, lag zusammengeknüllt auf dem Boden des Wäschekorbs. Mein einziges Kleid, ein rotes, mit Perlen versehenes Etuikleid von Monsoon, hatte schrecklich gelitten, als ich den Hinweis »chemische Reinigung« ignoriert hatte.
Am Ende entschied ich mich natürlich für Jeans. Das mache ich immer so: Ich wühle eine halbe Stunde wie verrückt in meinem Kleiderschrank, probiere Sachen an und werfe sie auf den Boden, bis mein Zimmer wie eine von Randalierern verwüstete Boutique aussieht, und dann ziehe ich Jeans an. Ich hatte aber immerhin einen ziemlich hübschen glänzenden Schal in Roses Accessoire-Schublade gefunden. (Sie besitzt eine Accessoire-Schublade und eine Make-up-Schublade und ein Fach in ihrem Kleiderschrank, in dem sie all ihre Handtaschen in Leinenbeuteln aufbewahrt. Ich muss wohl nicht noch erwähnen, dass sie ihre Schuhe in Plastikkisten sortiert hat, auf denen vorn ein Foto des jeweiligen Schuhs klebt.) Außerdem hatte ich meine Haare mit ihrem Glätteisen frisiert und etwas von ihrem Tom-Ford-Duft aufgelegt, und als ich fertig war, fand ich, dass ich ganz okay aussah.
Jetzt fragt ihr euch vielleicht, ob ich abgesehen davon, dass ich Roses Parfüm, ihr Glätteisen und ihren Schal geliehen habe (ach, und etwas von diesem hübschen Shu-Uemara- Eyeliner – das will ich nicht verschweigen), nicht auch ein Auge auf ihren Freund geworfen hatte. Ehrlich gesagt, nein. Ich war fasziniert von Oliver. Irgendwie wollte ich, dass er gut über mich dachte. Ich wollte nicht, dass er in mir Roses fette, schlampige, ältere Schwester sah, aber ich wollte nicht ihn, wenn ihr versteht, was ich meine. Damals noch nicht. Rose und ich hatten nie auf denselben Typ Mann gestanden – ich schwärme für Männer, die meine Weltsicht teilen, die sich für wichtige Sachen wie Politik und die Umwelt interessieren und die sich nichts aus Geld und Aussehen machen. Ich kannte Oliver nicht, aber allein weil er sich für Rose interessierte, schied er als Typ für mich automatisch aus. Dennoch, als ich nach unten ging, um unter Roses strikter Aufsicht den Tisch zu decken, stellte ich fest, dass ich an einem ernsten Fall von Erwähningitis litt.
»Oooh, du siehst toll aus!«, rief Rose, als ich in die Küche kam. »Der Schal steht dir hervorragend. Du solltest ihn öfter tragen.« Das ist noch so eine Eigenschaft von Rose: Sie ist unglaublich großzügig. Sie hat überhaupt nichts dagegen, wenn ich mir ungefragt Sachen von ihr leihe – die Kehrseite der Medaille ist allerdings, dass sie keinerlei Skrupel hat, sich etwas von mir zu leihen. Nicht dass das wichtig wäre, denn ich besitze nichts, was für sie interessant wäre. Aber deshalb bedient sie sich von meinem fettfreien Joghurt, wenn sie keinen mehr hat, was etwas nervig ist. Schließlich kann man den nicht einfach zurücklegen – wie einen Schal.
»Danke«, sagte ich. »Ich dachte, ich gebe mir etwas Mühe, nicht wie die hässliche Schwester auszusehen. Also, erzähl mir mehr von diesem Oliver.« Als ich seinen Namen aussprach, spürte ich, dass ich rot wurde – albern, oder?
»Ist er nicht reizend?«, fragte Rose mit einem glücklichen Seufzen, während sie ein Bataillon goldener Kerzen unterschiedlicher Höhe auf dem Esstisch drapierte. »Ich habe ihn bei der Arbeit kennengelernt. Er war vor ein paar Wochen bei der Vorschau auf die Auktion zeitgenössischer Kunst. Und dann habe ich in seinem Auftrag auf ein paar Werke von Marcus Brand geboten und sie bekommen. Daraufhin hat er mich zum Dank auf einen Drink eingeladen.«
»Wow, Marcus Brand.« Ich stellte Weingläser auf den Tisch und beobachtete, wie Rose sie auf der anderen Seite der Teller platzierte. Marcus Brand wird unter den Young British Artists, die Rose betreut, am höchsten gehandelt. Vor ein paar Jahren war er für den Turner-Preis nominiert, und seine Gemälde (um den Begriff locker zu gebrauchen) sind meist Ungeheuer aus »Objets Trouvés, die die urbane Umwelt verkörpern«. So stand es in der Broschüre, die Rose mir mal gezeigt hat, und das bedeutete: leere Pappkaffeebecher, Big-Mac-Kartons, Hühnerknochen und in einem Fall – und ich denke mir das nicht aus – einen benutzten Tampon. Seine Werke sind irre gefragt und werden für geradezu lächerliche Summen verkauft. Das sagte mir, dass Oliver a) ziemlich viel Geld besaß und b) nicht viel Geschmack. »Er muss Geld wie Heu haben.«
»Er investiert gern in Kunst«, meinte Rose etwas affektiert. »Und ich schätze, dass er es sich leisten kann; er ist Partner bei Longfellow Reeves.«
Typisch meine Schwester. Meine Freunde hatten interessante, aber nicht gerade lukrative Berufe gehabt – Wallace arbeitete in der Verwaltung von Amnesty International, Sean war Journalist, und Chris befand sich in der Ausbildung zum Allgemeinmediziner. Er änderte dann allerdings seine Meinung und beschloss ungefähr zum selben Zeitpunkt, Schönheitschirurg zu werden, als er mich mit einer blonden Krankenschwester betrogen hatte. Stellt euch das vor. Und auch wenn er natürlich nicht mein Freund ist: Ben arbeitet als parlamentarischer Berater für eine Abgeordnete – Lucille Field, die als Ministerin zum Schattenkabinett gehörte, bevor sie … ja, genau die. Aber Rose geht mit niemandem aus, der nicht über ein Vermögen mit einer Menge Nullen verfügt. Nicht, dass sie oberflächlich wäre, sie ist nur … na ja, vielleicht doch ein bisschen. Irgendwie.
»Vergiss seinen Kontostand«, sagte ich. »Aber er ist doch am Dienstag über Nacht geblieben – wie war er?«
»Gott, Ellie, du bist so neugierig!« Rose lehnte über dem Tisch und zündete die Kerzen an – aber vermutlich rührte der Schimmer auf ihren Wangen nicht nur von den Flammen. »Wenn du es unbedingt wissen willst, ich habe schon ein paar Tage vorher bei ihm übernachtet. Bei unserer vierten Verabredung.«
»Und?«, bohrte ich. Es macht einen Heidenspaß, Rose auszufragen, wenn sie nicht ausgefragt werden will – sie wird dann überaus nervös.
Diesmal allerdings nicht, sie lehnte sich zurück und betrachtete den Tisch prüfend aus allen Blickwinkeln, dann sagte sie ziemlich ernst: »Die Käufer bestimmen nicht den Markt dort draußen, Ellie.«
Ich wollte sie gerade fragen, was um alles in der Welt Kunstauktionen damit zu tun hatten, wie Oliver im Bett war, als sie auf ihre Armbanduhr schaute und meinte: »Gott! Ich sollte mich mal lieber umziehen« und nach oben flüchtete. Ich schenkte mir einen kräftigen Gin Tonic ein, setzte mich und wartete darauf, dass Roses Freunde eintrafen.
»Und was machst du so, Ellie?«, fragte Simon, oder vielleicht war es auch Khalid, als wir beim Hauptgang angelangt waren. Um ehrlich zu sein, konnte ich das strahlende Paar nicht auseinanderhalten, denn zu jenem Zeitpunkt nahm ich alles bereits etwas nebelhaft wahr. Ich hatte einen Gin Tonic getrunken, dann noch einen und dann ein paar Gläser von dem Champagner, den Rose zu den Kanapees gereicht hatte (ehrlich, Kanapees), und anschließend zum Essen jede Menge Wein.
Ich fing über den Tisch Roses Blick auf und sah, was sie dachte: »Sprich nicht vom Muschi-Bus!« Das ist so mit meiner Arbeit – es kann schnell passieren, dass sie die gesamte Unterhaltung bestimmt. Muschi-Bus ist natürlich nicht die offizielle Bezeichnung. Die Wohltätigkeitsorganisation heißt SEJS, was für Stärkung und Erziehung Jugendlicher zu Sexualhygiene steht. Abgesehen von dem Medien- und Kampagnenkram, um den ich mich kümmere, haben wir ein Spitzenteam aus Ärzten, Krankenschwestern und Pädagogen. Sie fahren durch die Gegend (»landauf und landab«, wie es in unseren Broschüren heißt), besuchen Schulen und Jugendgruppen, führen Gespräche, bieten Beratung zu Verhütung an sowie die Pille danach. Sie machen Abstriche, geben Hinweise zum Umgang mit Geschlechtskrankheiten und beraten bei einer möglichen Abtreibung – und all das in ihrem mobilen Beratungsraum. Dem Muschi-Bus, wie ich ihn nenne. Ich finde, dass es eine fantastische Organisation ist, die hervorragende Arbeit leistet. Manche Leute allerdings – vielmehr ziemlich engstirnige Idioten – sehen unsere Arbeit zwiespältig, hauptsächlich weil wir offen mit der Tatsache umgehen, dass Teenager biologisch darauf programmiert sind, Sex zu haben. Wir sind der Ansicht, dass sie es ohnehin tun, ob uns das nun passt oder nicht. Deshalb halten wir es für das Beste, sie mit Wissen und Material zu versorgen, damit sie sicheren Sex haben. Wie man sich vorstellen kann, werden wir von der rechten Presse ziemlich hart attackiert, und Rose weiß aus bitterer Erfahrung: Wenn ich einmal anfange, darüber zu reden, ist es schwer, mich wieder zu stoppen.
All das erzählte ich Khalid – oder Simon –, und sie machten zustimmende Geräusche, weil sie wie die meisten schwulen Männer Verständnis für diese Dinge hatten.
Dann schaltete sich Vanessa ein: »Aber ermuntert ihr die Mädchen nicht geradezu, leichtfertig zu sein? Ist es nicht besser, man bringt ihnen bei, Nein zu sagen?«
Ich schenkte mir noch mehr Wein ein. »Es ist doch so«, erklärte ich. »Stell dir vor, du bist ein vierzehnjähriges Mädchen, und dein Freund sagt, dass er mit dir Schluss macht, wenn du nicht mit ihm schläfst. Und all deine Freundinnen sagen, sie haben mit ihren Freunden geschlafen, und keine gibt dir einen vernünftigen Tipp zur Verhütung, weil sie immer noch diesen Mist glauben, dass man beim ersten Mal nicht schwanger wird oder wenn man es im Stehen macht.« Ich sah, dass Rose zusammenzuckte. »Oder wenn man eine leere Chipstüte als Kondom benutzt. Ein Nein wird dein Freund nicht akzeptieren, und dann weißt du nicht, wie du schnell an ein Verhütungsmittel kommst oder wo du einen vernünftigen Rat bekommst. Und dann wundert ihr euch noch, warum bei uns mehr Teenager schwanger werden als in jedem anderen europäischen Land.« An dieser Stelle wurde ich vermutlich etwas laut, aber in Bezug auf meine Arbeit bin ich ziemlich leidenschaftlich.
Bevor Rose die Unterhaltung taktvoll auf unverfänglichere Themen lenken konnte, meldete sich erneut Vanessa zu Wort: »Aber wie kann ein vierzehnjähriges Mädchen die Entscheidung treffen, eine Schwangerschaft abzubrechen?« Und dann habe ich etwas zu weit ausgeholt und bin in meinen üblichen Sermon darüber verfallen, dass eine Abtreibung sicherer sei als eine Geburt. Und dass, wenn man Frauen nicht die volle Kontrolle über ihre Fortpflanzung überlasse, wir nur noch Brutkästen für die Gesellschaft seien. Als ich fertig war, war das freundliche Geplauder am Tisch verstummt, und Vanessa wirkte schockiert und peinlich berührt.
»Nun, natürlich hast du ein Recht auf deine Meinung, Ellie«, meinte sie, und ich sagte, es sei nicht eine Meinung, es sei eine Tatsache, und sie dürfe auch Meinungen haben, aber nur, wenn sie bereit sei zu akzeptieren, dass diese schlichtweg falsch seien. Vermutlich mag Rose es deshalb nicht, wenn ich bei ihren Abendessen über den Muschi-Bus spreche, aber ich kann schließlich nichts dafür, dass manche ihrer Freunde so lächerliche, vorsintflutliche Ansichten haben, oder?
»Möchte jemand Pudding?«, fragte Rose etwas angespannt, stand auf und räumte die Teller ab. Vanessa half ihr, und ich wusste, dass sich Rose in der Küche für mein Verhalten entschuldigen und dass Vanessa behaupten würde, dass sie damit kein Problem habe und überhaupt nicht beleidigt sei. Dann kamen sie mit einer Schüssel zurück, in der sich, wie Rose verkündete, Maronen-Pannacotta mit Mincemeat befand, und die Unterhaltung am Tisch kam wieder in Gang. Ich beschloss, lieber ein bisschen den Mund zu halten, und versuchte, keinen weiteren Aufruhr zu verursachen. So konzentrierte ich mich darauf, meinen Pudding zu essen – der himmlisch schmeckte –, und hörte Oliver zu, der mit Tom über seine Kunstsammlung sprach und über einen Typen namens Jamie Cunningham, der offenbar die nächste große Nummer auf dem Kunstmarkt sein würde. Rose warf ein, dass er sie gefragt hatte, ob sie ihm Modell sitzen würde, und alle zeigten sich angemessen beeindruckt.
Als alle fertig gegessen hatten, räumte ich den Tisch ab – Rose hat mich gut ausgebildet –, und Oliver stand auf, um mir zu helfen. Wir trugen die Teller und Schüsseln hinaus in die Küche, und während ich die Spülmaschine einräumte, meinte Oliver: »Das war beeindruckend vorhin, Ellie. Du hast absolut recht, solche Ansichten müssen sich ändern.« Ich schaute zu ihm hoch, und er lächelte, und ich spürte, wie sich mein Magen verkrampfte, was nichts damit zu tun hatte, dass ich zu viel Pannacotta gegessen hatte.