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Hektisch wühle ich in dem Berg von Klamotten auf dem Fußboden meines Zimmers. Wenn ich das Ding nicht bald finde, komme ich zu spät zur Arbeit. »Kate!«, rufe ich verzweifelt. Wo ist das dämliche Teil bloß? Ich stürze zum Treppenabsatz und beuge mich übers Geländer. »Kate!«
Von unten höre ich das vertraute Geräusch des Schneebesens in einer Keramikschüssel. Dann taucht Kate am Fuß der Treppe auf, die roten Haare hochgesteckt zu einem Turm aus Locken. Erschöpft schaut sie zu mir hoch. So sieht sie in letzter Zeit öfter aus.
»Mein Schlüssel! Hast du meinen Autoschlüssel gesehen?«, frage ich verzweifelt.
»Der liegt auf dem Tisch unterm Spiegel, wo du ihn gestern Abend hingelegt hast.« Sie verdreht die Augen und kehrt zusammen mit dem Kuchenteig wieder an ihren Arbeitsplatz zurück.
Ich entdecke den Autoschlüssel unter einem Stapel Hochglanzmagazine. »Hab ich dich!«, murmele ich und schnappe mir schnell Gürtel, Pumps und Laptop. Dann verlasse ich die Wohnung im ersten Stock. Unten befindet sich Kates Küche, wo sie gerade den Teig in verschiedene Formen füllt.
»Du musst mal dein Zimmer aufräumen, Ava. Das ist echt ein Saustall«, meckert sie.
Allerdings, mein Organisationstalent lässt zu Hause zu wünschen übrig, besonders, wenn man bedenkt, dass ich Innenarchitektin bei Rococo Union bin und den ganzen Tag nichts anderes mache, als zu organisieren und zu koordinieren. Ich nehme mein Handy von dem wuchtigen Tisch und stecke meinen Finger in Kates Kuchenteig. »Ich kann nicht in allem super sein.«
»Raus hier!« Mit dem Löffel schlägt sie nach meiner Hand. »Warum brauchst du deinen Wagen heute überhaupt?« Sie beugt sich vor, um den Teig glatt zu streichen. Vor Konzentration schiebt sie die Zungenspitze zwischen die Lippen.
»Ich habe eine Erstberatung in den Surrey Hills – irgend so ein Herrenhaus auf dem Land.« Ich ziehe den Gürtel durch die Schlaufen meines dunkelblauen Etuikleids, schlüpfe in die Pumps und drehe mich prüfend vor dem Wandspiegel.
»Ich dachte, du wärst nur für die Stadt zuständig«, sagt Kate.
Ich zerzause meine langen dunklen Haare, werfe sie mehrmals hin und her, dann gebe ich auf und stecke sie mit ein paar Handgriffen hoch. Meine dunkelbraunen Augen wirken müde, sie funkeln nicht so wie sonst – was mit Sicherheit daran liegt, dass ich in letzter Zeit die Nacht zum Tag gemacht habe. Erst vor einem Monat bin ich nach meiner Trennung von Matt bei Kate eingezogen. Seitdem benehmen wir uns, als führten wir ein lustiges Studentenleben. Meine Leber braucht dringend eine Pause.
»Bin ich auch. Landhaus ist Patricks Spezialität. Keine Ahnung, wie ich daran gekommen bin.« Ich schwinge das Gloss wie einen Zauberstab über meine Lippen, presse sie aufeinander und gebe Kate einen Kuss auf die Wange. »Das wird hart, sage ich dir. Hab dich lieb!«
»Ich dich auch. Bis später«, erwidert Kate lachend, ohne den Kopf zu heben.
Obwohl ich spät dran bin, fahre ich mit meinem kleinen Mini so vorsichtig wie immer zum Büro, das an der Bruton Street liegt. Nachdem ich auf der Suche nach einem Parkplatz zehn Minuten lang durch die Gegend gekurvt bin, weiß ich wieder, warum ich sonst immer die U-Bahn nehme.
Ich platze ins Büro und schiele kurz auf die Uhr. Zwanzig vor neun. Gut, zehn Minuten zu spät, nicht so schlimm, wie ich befürchtet habe. Auf dem Weg zu meinem Schreibtisch stelle ich fest, dass die Plätze von Tom und Victoria leer sind. Ich setze mich und spähe zu Patrick in seinem Büro hinüber. Als ich meinen Laptop auspacke, sehe ich, dass ein Päckchen für mich abgegeben worden ist.
»Morgen, meine Blume«, grüßt Patrick mich mit tiefer Stimme und setzt sich auf den Rand meines Schreibtischs, der wie immer quietschend gegen sein Gewicht protestiert. »Was hast du denn da?«
»Morgen! Das ist die neue Stoffpalette von Miller’s. Gefällt sie dir?« Ich streiche über das edle Material.
»Wunderschön«, sagt er voller Ironie. »Pass bloß auf, dass Irene die nicht in die Finger bekommt. Ich musste gerade fast meine gesamten Aktien verkaufen, um die neue Innendeko für unser Haus zu finanzieren.«
»Oh.« Ich sehe ihn mitfühlend an. »Wo sind denn die anderen?«
»Victoria hat heute frei, und Tom schlägt sich wieder mit den fürchterlichen Baines herum. Heute sind wir zu dritt: du, ich und Sal, Blümchen.« Er holt einen Kamm aus der Innentasche seines Sakkos und fährt damit durch seinen silbernen Haarschopf.
»Ich hab heute Mittag diesen Termin in The Manor«, erinnere ich ihn, auch wenn er das eigentlich wissen müsste. »Willst du wirklich, dass ich dahinfahre, Patrick?«
Ich arbeite jetzt seit vier Jahren für Rococo Union, und von Anfang an stand fest, dass man mich eingestellt hatte, um mit der Firma stärker auf den modernen Markt vorzustoßen. Da Patrick und Tom auf traditionelles Design spezialisiert sind, zogen sie bei Aufträgen für die überall in London aus dem Boden schießenden Luxusapartments in letzter Zeit immer öfter den Kürzeren. Für mich lief es von Anfang an super, es wurde allmählich sogar zu viel für eine Person, sodass Patrick zusätzlich Victoria einstellte.
»Die wollten ausdrücklich dich, Blümchen.« Er rutscht vom Tisch, der wieder protestierend quietscht. Patrick überhört es geflissentlich, ich hingegen zucke zusammen. Entweder nimmt er bald ein paar Kilo ab, oder er darf nicht mehr auf meinem Tisch sitzen. Viel länger macht der das nicht mit.
Ach, die wollten ausdrücklich mich? Warum? Unter meinen Referenzen findet sich nichts im traditionellen Bereich – wirklich null. Das kann doch nur eine riesige Zeitverschwendung werden. Patrick oder Tom müssten hinfahren.
»Ach ja, die Eröffnung des Lusso.« Patrick verstaut seinen Kamm. »Der Projektentwickler will mit dieser Party im Penthouse so richtig auf den Putz hauen. Das hast du wirklich klasse gemacht, Ava.« Patrick wackelt mit den Augenbrauen.
Ich erröte. »Danke.« Ich bin superstolz auf mich und meine Arbeit im Lusso, die bisher größte Leistung meiner beruflichen Laufbahn. Für ein Apartment in diesem Luxusprojekt an den St. Katharine Docks muss man Preise von drei Millionen für eine Standardversion und bis zu zehn Millionen für das Penthouse hinblättern. Damit sind wir in der Welt der Superreichen angekommen. Das Motto für das Design leitete sich aus dem Projektnamen ab: italienischer Luxus. Ich reiste selbst nach Italien, suchte vor Ort Materialien, Möbel und Kunstwerke aus und verbrachte eine angenehme Woche dort, um den Transport zu organisieren. Nächsten Freitag ist die Einweihungsparty, aber da das Penthouse und sechs weitere Apartments bereits verkauft sind, ist es eher eine Party zum Angeben.
»Ich hab mir den Tag schon freigeschaufelt, damit ich noch einen letzten Kontrollgang machen kann, sobald der Putztrupp durch ist.« Ich blättere in meinem Kalender bis zum nächsten Freitag und kritzele mir den Termin noch mal groß auf die Seite.
»Braves Mädchen! Ich habe Victoria gesagt, dass sie um fünf Uhr da sein soll. Das ist ihre erste Eröffnung, du musst sie also vorher ein bisschen instruieren. Ich komme mit Tom um sieben.«
»Gut.«
Patrick kehrt in sein Büro zurück. Ich öffne meine E-Mails, lese sie, lösche oder antworte, wenn nötig.
Um elf Uhr packe ich meinen Laptop ein und stecke noch mal den Kopf in Patricks Büro. Er sitzt mit konzentrierter Miene vor seinem Computer.
»Bin jetzt weg«, verkünde ich, aber er winkt mir nur geistesabwesend zu. Im Großraumbüro kämpft Sally mit dem Kopierer. »Bis später, Sal.«
»Bye, Ava«, erwidert sie, aber sie ist zu sehr mit dem Gerät beschäftigt, um zu mir herüberzusehen. Das Mädchen ist dermaßen ungeschickt …
Ich trete nach draußen in den Sonnenschein und gehe zu meinem Wagen. Der Verkehr am Freitagvormittag ist die Hölle, aber sobald ich die Stadt hinter mir lasse, geht es ziemlich flott voran. Ich habe das Dach geöffnet, Adele leistet mir Gesellschaft. Ein Ausflug aufs Land ist genau der richtige Abschluss für so eine Arbeitswoche.
Ich biege von der Hauptstraße in einen schmalen Weg ab und halte schließlich vor dem größten Portal, das ich je gesehen habe. Eine goldene Tafel an einer Säule weist das Anwesen als »The Manor« aus.
Leck mich! Ich nehme die Sonnenbrille ab und schaue durch das Tor auf die baumgesäumte Kiesauffahrt, die sich über Kilometer zu erstrecken scheint. Vor meinem inneren Auge entsteht das Bild eines biederen, Zigarre rauchenden Lords. Ich steige aus und begebe mich auf der Suche nach einer Gegensprechanlage zum Portal.
»Hinter Ihnen.« Eine tiefe Stimme aus dem Nichts durchbricht das ländliche Schweigen. Ich zucke zusammen.
»Hallo?« Suchend sehe ich mich um.
»Hier drüben.«
Ich entdecke die Gegensprechanlage weiter unten am Weg, bin einfach daran vorbeigefahren. Ich laufe hin, drücke auf den Knopf und stelle mich vor. »Ava O’Shea, Rococo Union.«
»Ich weiß.«
Ich kann erkennen, dass auf dem Tor eine Kamera installiert ist. »Und, lassen Sie mich herein?«, frage ich, und im selben Moment zerstört das quietschende Metall den Frieden der Landschaft um mich herum. Die Tore setzen sich in Bewegung. »Immer mit der Ruhe«, murmele ich, hetze zurück zum Wagen, springe hinein und rolle vorwärts. Die Tore schwingen auf, und ich zerbreche mir den Kopf, wie ich diesen arroganten Lackaffen dazu bringen soll, sein Portweinglas und seine Zigarre wegzutun, denn daran klammert er sich vermutlich fest. Minütlich schwindet meine Lust auf diesen Termin. Aufgeblasene Lords mit protzigen Herrenhäusern sind definitiv nicht mein Spezialgebiet.
Sobald das Tor weit geöffnet ist, fahre ich hindurch, und nach ungefähr einer Meile halte ich in einer perfekt runden Auffahrt. Wieder nehme ich die Sonnenbrille ab und starre auf das riesengroße Gebäude vor mir. Es ist umwerfend.
Eine schwarze Eingangstür mit auf Hochglanz polierten Goldbeschlägen wird von vier gewaltigen Erkerfenstern gerahmt, zwischen denen sich gemeißelte Säulen erheben. Die Mauern bestehen aus großen Kalksandsteinblöcken, üppig grüne Lorbeerbäume schmücken die imposante Fassade. Gekrönt wird das Ganze durch einen Brunnen in der Mitte der Auffahrt, aus dem sich illuminiertes Wasser in ein Becken ergießt. Wirklich eindrucksvoll.
Ich schalte den Motor ab und taste nervös nach dem Türgriff. Dann steige ich aus, stütze mich auf die Fahrertür und schaue zu diesem prachtvollen Bauwerk empor. Das Ganze muss ein Irrtum sein. Dieses Haus ist in einem hervorragenden Zustand.
Die Rasenflächen sind grüner als grün, die Außenmauern sehen aus, als würden sie täglich geschrubbt, und sogar der Kies in der Auffahrt scheint regelmäßig geharkt zu werden. Wenn der äußere Eindruck auch nur den kleinsten Anhaltspunkt gibt, kann ich mir nicht vorstellen, dass die Inneneinrichtung irgendwas zu wünschen übrig lässt. Ich schaue hinauf zu den zahllosen Schiebefenstern, hinter denen ich edle Vorhänge erkennen kann. Fast bin ich versucht, Patrick anzurufen und zu fragen, ob ich die richtige Adresse habe, aber draußen am Tor stand schließlich »The Manor«, und der unhöfliche Typ von der Gegensprechanlage erwartet mich offenbar.
Während ich überlege, wie es nun weitergeht, öffnet sich die Tür des Hauses, und der größte Mann, den ich je gesehen habe, schlendert nach draußen auf den Treppenabsatz. Ich ziehe regelrecht den Kopf ein und trete unwillkürlich einen Schritt zurück. Der Riese trägt einen schwarzen Anzug – mit Sicherheit eine Sonderanfertigung, denn in der Größe gibt’s nichts von der Stange –, schwarzes Hemd und schwarze Krawatte. Seine Haut hat einen satten Ebenholzton, der rasierte Schädel ist auf Hochglanz poliert, seine Augen werden von einer Wraparound-Sonnenbrille verdeckt. Hätte ich mir vorher ausgemalt, wen ich in diesem Haus zu sehen bekomme, wäre das ganz bestimmt nicht dieser Typ gewesen. Er ist ein Koloss, dem »Bodyguard« förmlich auf die Stirn geschrieben steht. Auf einmal habe ich Bedenken, möglicherweise bei einem Mafiaboss gelandet zu sein. Nervös versuche ich, mich zu erinnern, ob ich meinen Panikalarm in die neue Handtasche gesteckt habe.
»Miss O’Shea?«, fragt er gedehnt.
Angesichts seiner massiven Präsenz mache ich mich klein und winke nervös. »Hi«, bringe ich hervor.
»Hier entlang«, brummt er, weist mit dem Kopf in Richtung Haus und verschwindet darin.
Ich überlege, ob ich einfach kehrtmachen und abhauen soll, aber Pflichtgefühl und Neugier sind größer. Außerdem bin ich gespannt zu sehen, was sich hinter diesen Türen verbirgt. Ich nehme meine Handtasche, schlage die Autotür zu und steige die Treppe hinauf. Hinter der Türschwelle öffnet sich eine weitläufige Eingangshalle. Am beeindruckendsten ist die prächtig geschwungene Treppe, die hinauf in den ersten Stock führt.
Die Inneneinrichtung ist edel und luxuriös, sie schüchtert regelrecht ein. Dunkle Blautöne, Taupe mit goldenen Akzenten, antikes Holz, dazu ein Parkettboden in sattem Mahagonirot – alles sehr stimmig und extravagant. Es sieht genau so aus, wie ich erwartet habe, ist aber nicht annähernd mein Stil. Wenn ich mich so umschaue, wird mir immer unverständlicher, warum sie überhaupt einen Innendesigner bestellt haben. Patrick sagte, man habe nach mir persönlich verlangt, weshalb ich vermutet hatte, dass hier modernisiert werden soll. Die Einrichtung passt aber perfekt zu diesem historischen Gebäude. Alles ist in einwandfreiem Zustand. Was soll ich hier?
Der riesige Kerl führt mich in den hinteren Teil des Hauses, biegt nach rechts ab, ich eile ihm nach. Meine rehbraunen Pumps klappern über das Parkett.
Ich höre gedämpfte Gespräche von rechts und werfe einen kurzen Blick hinüber. Da sitzen mehrere Personen an verschiedenen Tischen, essen, trinken, plaudern. Kellner servieren Essen und Getränke, im Hintergrund schnurren die unverkennbaren Stimmen des Rat Pack. Erst runzele ich die Stirn, dann kapiere ich es endlich. Das hier ist ein Hotel – ein vornehmes Landhotel.
Langsam ergibt das Ganze vielleicht doch einen Sinn. Ich will etwas zu dem Riesen sagen, der mich Gott weiß wohin führt, aber er hat sich nicht mal umgedreht, um zu prüfen, ob ich noch hinter ihm bin. Andererseits verraten ihm das wahrscheinlich meine klappernden Absätze. Er scheint nicht besonders gesprächig zu sein, daher vermute ich, dass er sowieso nicht antworten würde.
Wir gehen an zwei weiteren verschlossenen Türen vorbei, dann führt er mich in ein Sonnenzimmer – ein enorm großer, lichtdurchfluteter, üppig gestalteter Raum, der durch Sitzgruppen aus Sofas, großen Sesseln und Tischen unterteilt wird. Zimmerhohe Glastüren bilden die Rückfront, führen auf eine Terrasse aus gelbem York-Sandstein und einen weitläufigen Rasen. Der Eindruck ist wirklich überwältigend. Staunend entdecke ich ein Glashaus im Garten, in dem ein Swimmingpool untergebracht ist. Wahnsinn. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie viel hier eine Übernachtung kostet. Das Hotel muss mindestens fünf Sterne haben, wenn nicht mehr.
Wir durchqueren das Sonnenzimmer, dann führt mich der Riese durch einen Gang und bleibt vor einer holzvertäfelten Tür stehen. »Mr Wards Büro«, brummt er und klopft erstaunlich leise an.
»Der Manager?«, frage ich.
»Der Inhaber«, erwidert er, öffnet die Tür und tritt ein. »Kommen Sie!«
Zögernd bleibe ich auf der Schwelle stehen. Schließlich setze ich mich doch in Bewegung und bestaune das ebenfalls edel eingerichtete Büro von Mr Ward.