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James Lee Burke

Regengötter

Thriller

Aus dem Amerikanischen

von Daniel Müller

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel RAIN GODS bei Simon & Schuster, New York
Copyright © 2009 by James Lee Burke
Copyright © 2014 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Redaktion: Thomas Brill
Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel, punchdesign, München
unter Verwendung von Motiven von Boris Mrdja/Shutterstock.com
und ImagineGolf/iStock
Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-641-14623-8
V003
www.heyne-hardcore.de
www.penguinrandomhouse.de

In Gedenken an James Brown Benbow,

Dan Benbow und Weldon Mallette

Und er rief seine zwölf Jünger zu sich und gab ihnen Macht über die unsauberen Geister, dass sie sie austrieben und heilten allerlei Seuche und allerlei Krankheit.

(…)

Diese zwölf sandte Jesus, gebot ihnen und sprach: Gehet nicht auf der Heiden Straße und ziehet nicht in der Samariter Städte, sondern gehet hin zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel. Geht aber und predigt und sprecht: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.

Matthäus, Kapitel 10, 1–7

Kapitel 1

Am Ende eines brennend heißen Julitages im Südwesten von Texas, in einer kleinen Gemeinde, deren einzige wirtschaftliche Bedeutung in einer zwanzig Jahre zuvor von der Umweltschutzbehörde EPA geschlossenen Fabrik für Schädlingsbekämpfungsmittel bestanden hatte, hielt ein junger Mann in einem Wagen ohne Frontscheibe an einer verlassenen blau-weiß gestrichenen Tankstelle, die zu Zeiten der Weltwirtschaftskrise Benzin von Pure Oil verkauft hatte und nun zahlreichen Fledermäusen und Bündeln von Steppenläufern Unterschlupf bot. Neben der Tankstelle befand sich eine Autowerkstatt, deren vertrocknete Seitenwände über einem verrosteten Pick-up mit vier platten und profillosen Reifen zusammengefallen waren. Über der Kreuzung baumelte eine Ampel von einem zwischen zwei Strommasten gespannten Kabel herab, die Lichter schon vor Ewigkeiten mit Patronen Kaliber .22 herausgeschossen.

Der junge Mann betrat eine Telefonzelle am Straßenrand und wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht. Sein Jeanshemd war steif vom Salz seines Schweißes und bis zur Brust geöffnet, seine Haare kurz geschoren wie die eines GI. Er zog eine Halbliterflasche ohne Etikett aus der Vordertasche seiner Jeans und schraubte den Verschluss ab. Die rechte Seite seines Gesichts war von einer rosafarbenen, wulstigen Narbe gezeichnet, die so hell glänzte, als wäre sie aus Plastik und ihm auf die Haut geklebt worden. In dem gelben Mezcal schwammen ein paar Raupen, die im Licht der untergehenden Sonne zu leuchten schienen, wenn er die Flasche zum Trinken ansetzte. In der Telefonzelle fühlte er plötzlich, wie sich sein Puls beschleunigte. Der Schweiß lief ihm aus den Achselhöhlen hinab und versickerte im Gummizug seiner Unterhose. Mit zitterndem Zeigefinger tippte er die Nummer auf dem Tastenfeld ein.

»Was für einen Notfall möchten Sie melden?«, fragte die Mitarbeiterin der Notrufzentrale.

Die hügelige Landschaft breitete sich in einem goldenen Braun schier unendlich vor ihm aus. Nur ab und an unterbrach ein im lauen Wind vor sich hin klapperndes Windrad die Monotonie aus Felsbrocken, Kreosotbüschen, grobkörnigem Sand und Mesquitebäumen.

»Letzte Nacht hab ich hier Schüsse gehört. Ne ganze Menge sogar«, sagte er. »Ich konnte sogar die Blitze vom Mündungsfeuer sehen.«

»Wo genau war das?«

»Bei der alten Kirche. Ich glaube, da ist es passiert. Ich hatte schon ein bisschen was intus, wissen Sie? Ich hab’s aber ganz genau gesehen, ein Stück die Straße runter. Hat mir Höllenangst eingejagt.«

Eine kurze Pause stellte sich ein. »Trinken Sie jetzt im Moment, Sir?«

»Nicht wirklich. Ich meine, nicht viel. Nur ein paar Schluck von dieser mexikanischen Wurmbrühe.«

»Sagen Sie mir bitte, wo Sie sind, Sir, und ich schicke einen Streifenwagen vorbei. Warten Sie auf die Streife?«

»Ich hab nichts mit der Sache zu tun. Hier kommen viele Wetbacks durch, wissen Sie? Unten an der Grenze liegen Unmengen von Müll rum. Dreckige Windeln, vergammelte Klamotten, verdorbenes Essen, Turnschuhe ohne Schnürsenkel. Das kapier ich irgendwie nicht. Ich meine, warum sollte jemand die Schnürsenkel aus seinen Schuhen rausnehmen?«

»Geht es um illegale Einwanderer?«

»Ich habe gesagt, dass ich Schüsse gehört habe. Das ist alles. Vielleicht war’s auch nur die Heckklappe eines Autos. Könnte gut sein. Hat halt im Dunkeln gescheppert.«

»Sir, von wo aus rufen Sie uns an?«

»Von dem Ort, an dem ich die Schüsse gehört habe.«

»Sagen Sie mir bitte Ihren Namen, Sir.«

»Meinen Namen? Na ja, wie nennt man jemanden, der so dumm ist zu glauben, dass das Richtige zu tun auch wirklich das Richtige ist? Können Sie mir das sagen, Ma’am?«

Er versuchte den Hörer auf die Gabel zu knallen, verfehlte sie aber. So baumelte der Telefonhörer am Kabel vor und zurück, während der junge Mann mit der rosafarbenen Narbe im Gesicht davonfuhr und den Staub der Straße einatmete, der durch die glaslosen Fenster ins Wageninnere gesogen wurde.

Vierundzwanzig Stunden später färbte sich der Himmel bei Sonnenuntergang türkis. Hinter den schwarzen Wolkenstreifen am Horizont tauchte ein rot glänzendes Licht auf, das an das Glühen in einem Schmiedeofen erinnerte. Es war, als wollte der Tag nicht abkühlen, damit die Wärme der Sonne die ganze Nacht hindurch bis zum folgenden Morgengrauen überdauern konnte. Gegenüber der verlassenen Tankstelle einer kleinen Gemeindesiedlung parkte ein großer Mann seinen Pick-up vor den Überresten eines Gebäudes, das einmal eine spanische Mission gewesen zu sein schien. Der Mann war jenseits der siebzig, trug eine kakifarbene Hose mit Westernschnitt, handgefertigte Lederstiefel, einen altmodischen Pistolengürtel und einen taubengrauen Stetson. Das Dach der Mission war eingestürzt und lag nun teilweise auf dem Boden. Die Türen waren aus den Angeln gehoben und von Obdachlosen oder jugendlichen Vandalen im Inneren des Gebäudes als Feuerholz benutzt worden. Eine riesige Weide war der einzige Baum an der Straßenkreuzung. Sie überschattete eine Hälfte der Kirche und sorgte für ein eigenartiges Wechselspiel zwischen rotem Licht und schwarzem Dunkel auf den verputzten Mauern. Es sah aus, als würde sich ein Lauffeuer dem Gebäude nähern und es jeden Moment in Brand setzen.

Trotz ihres Äußeren war die Kirche nicht von Spaniern oder Mexikanern, sondern von einem Großindustriellen errichtet worden, der eine Zeitlang der meistgehasste Mann Amerikas gewesen war, nachdem die Sicherheitskräfte seines Unternehmens zusammen mit Mitgliedern der Nationalgarde Colorados im Jahr 1914 elf Kinder und zwei Frauen während eines Bergarbeiterstreiks massakriert hatten. Später polierte dieser Unternehmer sein Image auf und wusch den Familiennamen rein, indem er sich als Menschenfreund und humanitärer Wohltäter gerierte und im ganzen Land Kirchen erbauen ließ. Die Bergleute durften trotzdem keine Gewerkschaft gründen, und so wurde dieses spezielle Gotteshaus zu einer verkohlten Chiffre, die nur wenige mit den zwei Frauen und elf Kindern in Verbindung brachten, die in einem Erdkeller versteckt den Flammen zum Opfer fielen, als das brennende Leinenzelt über ihnen Asche und Feuer auf sie herabregnen ließ.

Der große Mann trug ein Holster, in dem ein blau-schwarzer Revolver mit weißem Griff steckte. Als er die Kirche betrat, nahm er unbewusst seinen Hut ab. Er musste einen Moment warten, bis sich seine Augen an die tiefen Schatten innerhalb des Gebäudes gewöhnt hatten. Das Eichenparkett war herausgerissen und weggeschafft worden. Der feste Boden darunter, durch den jahrelangen Mangel an Sonnenlicht grün und kühl, war an einigen Stellen uneben und hügelig. Er roch feucht und nach den Fäkalien von Feldmäusen. Dutzende Patronenhülsen aus Messing lagen glänzend wie Goldzähne im Inneren der Kirche verteilt.

Der große Mann ging in die Hocke. Sein Pistolengürtel knirschte, seine Kniegelenke knackten. Mit dem Ende seines Kugelschreibers hob er eine der Patronenhülsen an, Kaliber .45, wie alle anderen auch. Der Mann räusperte sich leicht und spuckte zur Seite aus. Er konnte den Geruch nicht länger ignorieren, den der Wind von draußen ins Innere der Kirche trug. Er stand auf und ging zur Hintertür hinaus. Dort sah er auf eine ebene Fläche. Der zimtfarbene Boden war offenbar vom Planierschild eines Bulldozers glatt gestrichen und festgedrückt worden, das Muster der Schaufelzähne noch klar erkennbar.

Der große Mann ging zu seinem Pick-up zurück und griff sich eine Laubharke und eine langstielige Schaufel von der Ladefläche. Hinter der Kirche setzte er einen Fuß auf die Schaufel und rammte sie mit dem Gewicht seines Körpers in den Boden. Er kam allerdings nicht weit, weil die Schaufelspitze auf Stein stieß. Ein paar Schritte weiter versuchte er es noch einmal. Als würde die Spitze des Schaufelblatts in zusammengepressten Kaffeesatz und nicht in feste Erde stechen, versenkte die Kraft seines Fußes sie dieses Mal vollständig im Boden. Kaum hatte er die Schaufel angehoben, stieg ihm ein Geruch in die Nase, der seine Speiseröhre verkrampfen ließ. Mageninhalt und Gallenflüssigkeit schossen in seinen Rachen hinauf. Er holte seine Feldflasche aus dem Pick-up, befeuchtete sein Bandana mit Wasser, bedeckte seine untere Gesichtshälfte mit dem nassen Tuch und knotete es hinter dem Kopf zusammen. Dann ging er über die eingeebnete Fläche und stieß alle paar Meter den Stiel der Laubharke in den Boden. In einer bestimmten Tiefe spürte er einen leichten Widerstand, als würde der Stiel der Harke dort vergrabene Futtersäcke mit verdorbenem Inhalt perforieren. Jedes Mal, wenn er den Stiel herauszog, rieselte die trockene Erde an der Oberfläche in das Loch hinein. Der Wind hatte mittlerweile nachgelassen. Die letzten Sonnenstrahlen färbten die Luft grün, und der Himmel war voller Vögel. Vom Boden stieg ein Gestank empor, der mit jeder Minute penetranter wurde und über seine Schuhe in seine Kleidung zu kriechen schien. Bemüht, nicht die Spitze des Stiels zu berühren, die er in das Erdreich gestoßen hatte, drehte der große Mann die Laubharke um. An einer etwas tiefer gelegenen Stelle, an der den Spuren zufolge bereits ein wildes Tier mit seinen Klauen gegraben hatte, begann er die Erde freizulegen.

Der große Mann trug viele Erinnerungen aus seinem früheren Leben mit sich herum, über die er nur selten mit anderen Menschen sprach. Die Bilder verfolgten ihn: die verschneiten Hügel südlich des Yalu, die über die Hänge verstreuten Leichen chinesischer Soldaten in Watteuniformen, die F-80-Jets, die aus den Wolken herabstießen, um die mit Granatwerfern und Automatikwaffen ausgestatteten Einheiten der Chinesen wieder außer Schussreichweite zu treiben, die Ladeflächen der Dreiachser voll gefallener US-Soldaten, deren Wunden wie im Schnee gefrorene Rosen aussahen.

In seinen Träumen hörte der große Mann immer noch die Signalhörner in den Bergen, deren Echo so kalt klang wie das Geräusch von Messing auf Stein.

Die spinnenbeinartigen Zinken der Laubharke förderten ein Büschel schwarzer Haare aus dem Erdboden ans Tageslicht. Der große Mann, der auf den Namen Hackberry Holland hörte, schaute auf die kleine Vertiefung vor ihm herab. Vorsichtig fuhr er mit der Harke an den Kanten der runden Form entlang, die er freigelegt hatte. Plötzlich kam die Erde in Bewegung, rutschte von dem Körper ab und rieselte in tiefer gelegene Hohlräume. Möglich, dass die Erde beim Einebnen an dieser Stelle nicht fest genug angedrückt worden war. Auch möglich, dass noch weitere Körper darunter lagen. Allmählich konnte man ein Gesicht samt Ohren, Hals und Schultern erahnen, und eine glänzende Stirn kam zum Vorschein, die wie eingefroren zu sein schien. Sie war nach oben gezogen, und zusammen mit dem weit aufgerissenen Auge, das groß und rund wie eine Spielmurmel ins Nichts starrte, zeugte sie von dem Grauen, das diese Person durchgemacht haben musste. Das andere Auge der Leiche war geschlossen, genau wie die Finger ihrer Hand, die einen Klumpen Erde umklammerte.

Sie war zierlich, der Körper eines Kindes, ihre schwarze Bluse wie ein Magnet für die Hitze und vollkommen ungeeignet für dieses Klima. Er schätzte, dass sie nicht viel älter als siebzehn war und noch gelebt hatte, als der Bulldozer sie begrub. Wider Erwarten hatte sie asiatische und nicht etwa hispanische Züge.

In der folgenden halben Stunde suchte er mit Harke und Schaufel das Feld ab, bis das Licht vollkommen verschwunden war. Es war offensichtlich, dass die ebene Fläche durch die Arbeit eines Bulldozers entstanden war: Erst hatte die Schaufel der Planierraupe die Erde bis tief zu den festeren Gesteinsschichten abgetragen, um sie dann später wieder über die Körper in der Grube zu schieben und anschließend festzuwalzen und zu ebnen, als würde dieses Stück Land für den Bau eines Hauses vorbereitet werden.

Er ging zurück zu seinem Pick-up, warf Schaufel und Harke auf die Ladefläche und griff nach dem Funkgerät auf dem Beifahrersitz. »Maydeen? Sheriff Holland hier«, sagte er. »Ich bin hinter der alten Kirche in Chapala Crossing und hab gerade neun Leichen gefunden, die hier begraben wurden. Alles Frauen. Benachrichtige bitte das FBI und ruf auch die Kollegen vom Brewster County und vom Terrell County an. Die sollen Unterstützung schicken.«

»Der Empfang ist schlecht, Sheriff. Hab ich das richtig verstanden: neun Leichen?«

»Ja, Massenmord. Die Opfer sind alle Asiatinnen, einige von ihnen fast noch Kinder.«

»Der Kerl mit dem Notruf hat ein zweites Mal angerufen.«

»Was hat er gesagt?«

»Ich glaube nicht, dass er nur zufällig in der Nähe der Kirche war. Auf mich wirkte der Typ eher, als würde er sich verdammt schuldig fühlen.«

»Hast du seinen Namen?«

»Er sagte, sein Name sei Pete. Kein Nachname. Warum hast du dich nicht gemeldet? Ich hätte Unterstützung schicken können. Du bist verdammt noch mal zu alt für diesen Scheiß, Hack.«

Weil man ab einem bestimmten Alter lernt, sich selbst zu akzeptieren und zu vertrauen, und sich vom Rest der Welt löst, dachte er, sagte aber etwas anderes. »Maydeen, könntest du bitte am Funk etwas mehr auf deine Wortwahl achten?«

Pete Flores hatte nie so richtig verstanden, warum das Mädchen mit ihm zusammenlebte. Ihr kastanienbraunes Haar war kurz geschnitten und an den Enden lockig, ihre Haut rein. Ihre tiefliegenden blau-grünen Augen hatten etwas Geheimnisvolles an sich, das viele Männer neugierig machte. Oftmals starrten sie noch lange hinter ihr her, nachdem sie an ihnen vorbeigegangen war. In dem Diner, in dem sie arbeitete, kehrten größtenteils Fernfahrer auf der Durchreise ein, die die Anmut des Mädchens spürten und sie behüten wollten. Dreimal die Woche besuchte sie abends Vorlesungen am Junior College in der County-Verwaltung. Im vorherigen Semester war eine ihrer Kurzgeschichten im Literaturmagazin der Hochschule veröffentlicht worden. Ihr Name war Vikki Gaddis. Sie spielte eine J-200-Akustikgitarre von Gibson, die sie mit zwölf Jahren von ihrem Vater, einem semiprofessionellen Countrymusiker aus Medicine Lodge, Kansas, geschenkt bekommen hatte. Ihre heisere Stimme und der Akzent waren nicht antrainiert oder gar vorgetäuscht. Manchmal, wenn sie mit der Gitarre ein paar Lieder im Diner sang, erhoben sich die Gäste von ihren Stühlen und applaudierten. Hin und wieder trat sie auch im Nightclub nebenan auf. Das Publikum dort war allerdings etwas unsicher, wie es auf Songs wie »Will The Circle Be Unbroken« und »Keep On The Sunny Side Of Life« reagieren sollte.

Als Pete das ungestrichene Holzrahmenhaus betrat, in dem sie zur Miete wohnten, schlief Vikki noch. Das Gebäude stand im blauen Schatten eines Berges, gut geschützt gegen die Sonne, die sich tagtäglich heiß und drückend über den Horizont erhob und den Rest des öden Umlands in helles Licht tauchte. Petes Gesicht wirkte angespannt vom beginnenden Kater. In seinem Schädel hallte noch die Geräuschkulisse der Highway-Bar nach, in der er letzte Nacht gewesen war. Er beugte sich über die Spüle und wusch sich das Gesicht. Das kühle Nass aus dem Hahn stammte aus einem Aluminium-Wassertank, der auf ein paar Pfählen hinter dem Haus stand. Der Berg, der den Sonnenaufgang einem Gnadenakt gleich blockierte, sah aus, als wäre er aus Asche und Rost geformt. Er war überzogen von Büschen, Gestrüpp und Mesquitebäumen, deren Wurzeln kaum tief genug reichten, um ausreichend Wasser zu finden. Pete wusste, dass Vikki bald aufstehen würde. Wahrscheinlich hatte sie – wissend oder nicht wissend, wo er sich herumtrieb – lange auf ihn gewartet und war dann spät in der Nacht in einen unruhigen Schlaf gefallen. Er wollte ihr Frühstück machen, aus Reue und als Wiedergutmachung oder als eindeutiges Zeichen dafür, dass alles in Ordnung war. Er ließ Wasser in den Kaffeepott laufen. Die kühle Dunkelheit innerhalb des Metallgefäßes wirkte zumindest zeitweilig wie ein lindernder Balsam gegen die drückende Hitze in seinem Kopf.

Er gab etwas Margarine in eine Pfanne und nahm zwei Eier und eine Schinkenscheibe aus der Kühlbox, die sie als Kühlschrank benutzten. Dann schlug er die Eier auf und ließ sie in der Pfanne aus. Er legte den Schinken und eine Scheibe Brot daneben, stellte die Pfanne auf den Gasherd und schaltete ihn ein. Als der Geruch der brutzelnden Frühstückszutaten in seine Nase stieg, rannte er zur Hintertür hinaus, um sich zu übergeben.

Er hielt sich an der Seite einer Pferdetränke fest und entleerte seinen Magen. Sein Rücken zitterte, er fühlte einen starken Druck in seinem Schädel, sein Atem war die Antithese zur Frische der Morgenluft. Er glaubte Dinge zu hören: das Dröhnen von landenden Kampfhubschraubern, das Scheppern und Quietschen eines gepanzerten Militärfahrzeugs, das sich eine sandige Anhöhe hinaufquält, den Bloodhound-Gang-Refrain »Burn, Motherfucker, Burn« in voller Lautstärke über die Sprechanlage im Panzer. Er starrte in die sich vor ihm ausbreitende Ödnis, konnte aber nichts Lebendes entdecken außer ein paar Geiern, die hoch oben in einem Windstrom segelten und langsam ihre Kreise zogen, während sich die Erde des Umlands erwärmte und der Geruch von Tod und Verderben in den Himmel stieg.

Er ging wieder ins Haus und spülte sich den Mund aus. Dann schaufelte er Vikkis Frühstück auf einen Teller. Die Eier waren an den Rändern verbrannt, das Eigelb zerlaufen, hart und von schwarzen Ölflecken überzogen. Er setzte sich auf einen Stuhl und ließ den Kopf zwischen die Knie sinken, während die Küche nicht aufhören wollte, sich um ihn zu drehen. Durch die leicht geöffnete Schlafzimmertür, durch das blaue Licht und den Staub, der im sanften Luftzug waberte, konnte er ihren Kopf auf dem Kissen sehen. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Lippen durch die Atemzüge leicht geöffnet. Die heruntergekommene Einrichtung und die erbärmliche Umgebung, in die er sie gebracht hatte, beschämten ihn. Die Risse im Linoleum waren voller Dreck, das nicht zueinander passende Mobiliar in Gebrauchtwarenläden wie Goodwill zusammengekauft und die Wände in einem widerlichen Grün getüncht. Alles, was er anfasste, verdarb und war auf gewisse Weise eine Fortführung seines eigenen Versagens. Alles außer Vikki Gaddis.

Sie öffnete die Augen. Pete setzte sich im Stuhl aufrecht hin und versuchte zu lächeln, sein Gesicht steif und unnatürlich von der Anstrengung.

»Ich wollte dir Frühstück machen, hab’s aber versaut«, sagte er.

»Wo bist du gewesen, Liebling?«

»Du weißt schon, da unten«, antwortete er und zeigte in Richtung Highway. Er wartete darauf, dass sie etwas sagen würde, aber sie schwieg. »Warum werfen die Leute ihre Turnschuhe weg und nehmen die Schnürsenkel mit?«, fragte er.

»Wovon redest du?«

»Da, wo die Wetbacks durchkommen, liegt überall Müll rum. Die werfen ihre alten Schuhe weg, nehmen die Schnürsenkel aber mit. Warum tun die das?«

Sie stand auf und zog sich ihre Jeans an. Mit einem Blick nach unten, zu den Fingern unter ihrem flachen Bauch, knöpfte sie die Hose zu.

»Vermutlich, weil sie sonst nicht sonderlich viel haben«, beantwortete er seine eigene Frage. »Diese armen Teufel besitzen nichts außer dem Wort des Kojoten, der sie über die Grenze bringt. Ein elendes Schicksal, findest du nicht auch?«

»Wo bist du da nur reingeraten, Pete?«

Er verknotete seine Finger zwischen den Oberschenkeln und presste sie so heftig aneinander, dass er fühlte, wie der Blutfluss in seinen Venen zum Erliegen kam. »Da war ein Typ, der mir dreihundert Dollar dafür geben wollte, dass ich einen Truck nach Dallas fahre. Er meinte, ich soll mich nicht drum kümmern, was hinten drin ist. Hundert hab ich als Anzahlung bekommen. Der Kerl sagte, es wären nur ein paar Leute, die zu ihren Verwandten nach San Antonio wollten. Ich hab mich über den Kerl erkundigt. Er ist kein Muli. Mulis benutzen keine Trucks, um Dope zu schmuggeln.«

»Du hast dich über ihn erkundigt? Bei wem?«, fragte sie ihn mit zur Seite geneigtem Kopf und hörte auf, an ihren Klamotten herumzufummeln.

»Bei ein paar Typen, die ich kenne. Typen, die in der Bar rumhängen.«

Sie ging zum Herd und goss sich eine Tasse Kaffee ein. Ihr Gesicht war immer noch zerknittert und faltig vom Kissen. Auf dem verdreckten Linoleum wirkte die Haut ihrer nackten Füße fast weiß. Er ging ins Schlafzimmer und holte ihre Hausschuhe unter dem Bett hervor. Zurück in der Küche stellte er sie neben ihren Füßen auf den Boden und wartete darauf, dass sie sie anzog.

»Gestern Abend waren ein paar Männer hier«, sagte sie.

»Was?« Das Blut wich aus seinen Wangen und ließ ihn noch jünger aussehen, als er es mit seinen zwanzig Jahren ohnehin schon war.

»Zwei sind zur Tür gekommen, der dritte ist im Auto sitzen geblieben und hat die ganze Zeit den Motor laufen lassen. Es hat nur einer von denen geredet, ein Kerl mit seltsamen Augen. Sah so aus, als würden die gar nicht zusammengehören. Wer war das, Pete?«

»Was hat er gesagt?«

Pete hatte ihre Frage zwar ignoriert, aber ihr Herz raste jetzt so sehr vor Aufregung, dass sie ihm trotzdem antwortete. »Dass es ein Missverständnis zwischen euch gegeben hat. Dass du im Dunkeln verschwunden bist oder so ähnlich. Dass er dir noch Geld schuldet. Der Kerl hat die ganze Zeit über gegrinst. Dann hab ich seine Hand geschüttelt. Er hat sie mir hingehalten, und ich hab sie genommen und geschüttelt.«

»Sieht sein Kopf so aus, als hätte er einen Haufen Platten im Schädel?«

»Genau.«

»Und eins seiner Augen glitzert?«

»Das ist er. Wer ist dieser Kerl?«

»Sein Name ist Hugo. Er saß mit mir vorne im Truck. Er hatte eine Thompson dabei, in einer Stofftasche. Das Magazin war am Klappern, also hat er die Thompson rausgenommen, nachgeschaut und sie dann wieder in die Tasche gesteckt. Er meinte: ›Dieses Schmuckstück von einem Ballermann hier gehört dem gefährlichsten Mann in ganz Texas.‹«

»Was für ein Ding hatte er da in der Tasche?«

»Eine Thompson, eine Maschinenpistole aus dem Zweiten Weltkrieg. Als es dunkel war, haben wir angehalten, und Hugo sprach mit einem Kerl am Funkgerät. Der andere sagte so was wie: ›Bring die Sache zu Ende. Tabula rasa.‹ Ich hab gesagt, ich müsse mal pinkeln. Dann bin ich in einen Bewässerungsgraben am Straßenrand gesprungen und abgehauen.«

»Der Kerl hat beim Händeschütteln verdammt fest zugedrückt. Warte mal. Du bist weggelaufen? Wovor bist du weggelaufen?«

»Hugo hat dir wehgetan?«

»Hast du mir nicht zugehört? Sind diese Leute Drogenschmuggler?«

»Nein, viel schlimmer. Ich bin da in was wirklich Ernstes reingeschlittert, Vikki«, antwortete er. »Ich habe Schüsse gehört, und dann fingen Frauen an zu schreien, vielleicht sogar Mädchen.«

Als sie darauf nichts sagte und ihr Gesicht so ausdruckslos wurde, als würde sie eine fremde Person anschauen, nahm er ihre Hand, um sie sich näher anzusehen. Sie aber wandte ihm den Rücken zu und trat an das Küchenfenster mit dem Fliegengitter. Mit verschränkten Armen und einer tiefen Traurigkeit in den Augen starrte sie auf die Landschaft hinaus, die vom grellen Licht der Sonne überflutet wurde.