Sexy.Hölle.Hellweg
Mord am Hellweg VII
Kriminalstorys
Weitere Hellweg-Anthologien:
Mord am Hellweg I, ISBN 978-3-89425-271-7
Mehr Morde am Hellweg, ISBN 978-3-89425-294-6
Mord am Hellweg III, ISBN 978-3-89425-325-7
Mord am Hellweg IV, ISBN 978-3-89425-352-3
Mords.Metropole.Ruhr. Mord am Hellweg V, ISBN 978-3-89425-377-6
Kalendarium des Todes, Mord am Hellweg VI, ISBN 978-3-89425-409-4
© 2014 by GRAFIT Verlag GmbH
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eBook-Produktion: CPI books GmbH, Leck
eISBN 978-3-89425-165-9
Herausgegeben von H. P. Karr, Herbert Knorr und Sigrun Krauß im Auftrag der Kreisstadt Unna, Bereich Kultur und des Westfälischen Literaturbüros in Unna e. V. für die Veranstaltergemeinschaft Mord am Hellweg, Europas größtem internationalem Krimifestival.
Mord am Hellweg VII (20. September bis 15. November 2014) ist ein Projekt der Kulturregion Hellweg mit oder in den Kreisen, Städten und Gemeinden Ahlen, Bad Sassendorf, Bergkamen, Bönen, Dortmund, Fröndenberg, Gelsenkirchen, Hagen, Hamm, Herdecke, Holzwickede, Kamen, Lüdenscheid, Lünen, Oelde, Schwerte, Soest, Unna, Unna (Kreis) und Wickede (Ruhr) in Zusammenarbeit mit der HanseTourist Unna, dem Bürger- und Kulturzentrum Rohrmeisterei Schwerte, der Evangelischen Akademie Villigst im Institut für Kirche und Gesellschaft der EKvW, MELANGE (Gesellschaft zur Förderung der Kaffeehauskultur e. V.) und dem Literaturmuseum Westfalen (Kulturgut Haus Nottbeck) unter Federführung des Westfälischen Literaturbüros in Unna e.V. (Dr. Herbert Knorr) und der Kreisstadt Unna, Bereich Kultur (Sigrun Krauß M. A.; V. i. S. d. P.)
Inhalt
Motti
Immer nur das Eine? – Willkommen in der Sexy.Hölle.Hellweg
Ingrid Noll – Der Unhold von Unna
Ralf Kramp – Immer nur das Eine – von Cappenberg nach Opherdicke
Jutta Profijt – Süße Sünde Soest
Martin Calsow – Fleisch und Lust in Oelde
Sandra Lüpkes – The Sexy-Schwerte-Heimat-Show
Marc-Oliver Bischoff – Lasterhaftes Lünen
Gabriella Wollenhaupt – Lüdenscheider Lustparade
Arno Strobel – Shades of Kamen
Beate Maxian – Liebe(s)kunst in Herdecke
Lucie Flebbe – Holzwickeder Obsessionen
Nina George – Dirty Heaven Hamm
Andreas Gruber – Hagens älteste Lustgrotte
Volker Kutscher – Gelsenkirchener Romanze
Martin Krist – Dortmunds Domina 09
Die Krimi-Cops – Heiß, heißer, Bönen
Peter Godazgar – Dirty Talk in Bergkamen
Peter Gerdes – Wild Wild Wickede
Thomas Hoeps & Jac. Toes – Spätes Glück in Bad Sassendorf
Osman Engin – Ahlener Feuchtgebiete
Sabine Trinkaus – Das Fröndenberger Kettenschmiedemassaker
Tatjana Kruse – Sexy Hölle Hellweg-Bahn
Autorinnen und Autoren
Herausgeberin & Herausgeber
»Wenn Deutschland das Bordell Europas ist, dann ist der Hellweg die Puffmutter und der Zuhälter in einem.«
»Danny, mein Lieber, es gibt nichts Ehrlicheres in dieser verlogenen Latte-macchiato-Callcenter-Welt als einen anständigen Blowjob.«
Immer nur das Eine?
Willkommen in der Sexy.Hölle.Hellweg
Eine mörderische Hölle ist der Hellweg schon immer gewesen. Kein Wunder, denn die alte Heer- und Handelsstraße zwischen Dortmund, Unna und Soest heißt nach der germanischen Göttin Hel immer schon Todes- oder Höllenweg. Spätestens seit 2002, als der erste Krimiband zum Festival Mord am Hellweg erschien, pflastern Leichen diesen Weg. Verantwortlich dafür sind über hundertvierzig Krimistars, die für die sieben Anthologien bisher geschrieben haben, darunter internationale Größen wie Jussi Adler-Olsen, Peter James, Petros Markaris, Maj Sjöwall, Taavi Soininvaara oder Helene Tursten. Und natürlich die erste Garde des deutschen Krimis: Friedrich Ani, Jacques Berndorf, Oliver Bottini, Doris Gercke, Bernhard Jaumann, Volker Kutscher oder Jan Costin Wagner. »Ich bin froh, einen Beitrag für die renommierte Mord-am-Hellweg-Anthologie beigesteuert zu haben«, sagte der deutsche Thrillerkönig Sebastian Fitzek und kein Geringerer als Jussi Adler-Olsen schrieb: »Warum New York, wenn es das auch in Lünen gab?«
Doch Mord und Totschlag, wenn auch nur fiktiv, reichen diesen kriminellen Experten nicht. In diesem Jahr mutiert die Region zur Sexy.Hölle.Hellweg. Einundzwanzig renommierte KrimiautorInnen beweisen mit ihren Storys, dass die Städte und Gemeinden entlang des Hellwegs alles sind – außer brav. Was in den Geschichten vom Strich, aus Bordellen, Ehebetten, von Hotels oder Lasterhöhlen erzählt wird, ist verrucht und mörderisch zugleich, mal zum Schreien komisch, mal todtraurig, mal hard-boiled oder höchst erotisch – die Bandbreite ist beeindruckend!
Lucie Flebbe, Nina George, Andreas Gruber, Tatjana Kruse, Volker Kutscher, die Krimi-Cops, Ingrid Noll, Arno Strobel, Gabriella Wollenhaupt und viele andere renommierte KrimiautorInnen griffen 2014 für Europas größtes Krimifestival exklusiv zur Feder. Entstanden sind Kurzkrimis wie Heiß, heißer, Bönen, Süße Sünde Soest, Wild Wild Wickede, Shades of Kamen, Gelsenkirchener Romanze, aber auch Das Fröndenberger Kettenschmiedemassaker oder die Ahlener Feuchtgebiete. Stets geht es um Immer nur das Eine, wie Ralf Kramp seine Geschichte genannt hat, mit der er seine LeserInnen auf eine sexy Bustour durch den Kreis Unna schickt.
Sexy.Hölle.Hellweg – der Titel ist Programm! Beobachten Sie den speziellen Nahverkehr – sorry für den Kalauer –, den Tatjana Kruse in den Zügen der Hellweg-Bahn ausgemacht hat. Ingrid Nolls Unhold von Unna liefert den Blümchensex zum Crime, ist aber von einer dezenten Abgründigkeit, die einen schauern lässt. Martin Calsow bietet mit seiner Provinzstudie über Fleisch und Lust in Oelde einen tiefen Einblick in die verborgenen Fantasien der Westfalen. Wer es gern modern mag, kann sich an einer verspielten Version von Brad und Janets Hochzeitsnacht aus der Rocky Horror Picture Show amüsieren, die Sandra Lüpkes als bizarre Show in der Schwerter Rohrmeisterei inszeniert.
Die umfangreichen Recherchen, die zahlreichen Lokaltermine, die Arbeit an den Texten, die Gestaltung des Buches, so sehr sich da erschreckende Abgründe auftaten, sie waren eine spannende, (ja, wir wagen es zu sagen) eine erregende (!) Arbeit – alles natürlich nur zu Ihrem Vergnügen. Also treten Sie näher, wenn Sie sich trauen, erleben Sie die Sexy.Hölle.Hellweg!
H. P. Karr, Herbert Knorr und Sigrun Krauß
nach Diktat verschollen
Ingrid Noll
Der Unhold von Unna
Wenn man mir vorwirft, ein Psychopath zu sein und an einem Mangel an Empathie zu leiden, dann lächle ich nur amüsiert und sage: »Sehr witzig!«
Denn einmal im Leben habe ich ja geliebt, und genau das führte zur Katastrophe.
Im Volksmund zitiert man ja gern Klischees – Verbrecher sollen zum Beispiel häufig an den Tatort zurückkehren. Mein Verhalten zeigt eher, dass sie besser beraten sind, wenn sie das Gegenteil tun. Dass ich Dortmund verließ, hatte seine Gründe, auf die ich hier nicht näher eingehen möchte. Sagen wir, dass es mir zu eng geworden war zwischen Phoenixsee und Reinoldiplatz. Die Abschaffung des Straßenstrichs tat ein Übriges dazu, dass ich mir einen neuen Lebens- und Wirkungsort suchte.
Unna erschien mir als eine gute Wahl – nicht zu nah an meinem letzten Tatort, aber auch in ausreichender Entfernung, um nicht unmittelbar ins Visier polizeilichen Interesses zu geraten.
Mit meiner Ausbildung bekam ich leicht eine Stelle im Bereich Restmüllbehältervolumenminderung bei den Stadtbetrieben und fand eine schiefe, viel zu teure Wohnung in einem Fachwerkhaus des Nicolaiviertels. Dort lebte ich unauffällig und von meinen Nachbarn durchaus respektiert. Erst einige Jahre nach meinem Umzug habe ich zwei miteinander befreundete Flittchen liquidieren müssen, um die es nicht weiter schade war. Beide besserten sich ihr Taschengeld mit gelegentlicher Prostitution auf. Die Erste hatte sich mir gegenüber frech und aufsässig benommen, ja mich mehrfach lächerlich gemacht. Derartige Kränkungen kann ich nun einmal nicht ertragen. Die Zweite war mir kurz darauf auf die Schliche gekommen und versuchte, mich zu erpressen.
Aufgrund meiner Kenntnisse in der Restmüllbeseitigung kannte ich die Probleme bei der Entsorgung eines ausgewachsenen Menschen. Deswegen schritt ich in beiden Fällen im Freien zur Tat, im Stadtgarten am Ostring. Dem Kalender und dem Wetterbericht konnte ich entnehmen, wann Neumond war und es nasskalt sein würde. In solch ungemütlichen Nächten trieben sich nicht einmal mehr die Trinker im Stadtgarten herum, obwohl sie von der Polizei beim Fund der Leiche zuerst ins Visier genommen wurden. Ich hatte alles perfekt geplant, trug Einweghandschuhe und hinterließ zur Irreführung leere Schnapsflaschen mit fremder DNA, die ich aus einem Altglascontainer gefischt hatte. Es war nicht sonderlich schwer, die beiden Schnepfen in den finsteren Park zu locken, ich brauchte nur mit einer geheimnisvollen Offerte an ihre Geldgier zu appellieren und sie wären mir in die Hölle gefolgt. Meine Wortwahl ist durchaus kein Zufall, denn der Hellweg ist ja bekanntlich ein Weg zur Hölle. Es klappte bei beiden Damen alles wie geschmiert, ich vergaß hinterher auch nie, mein blutiges Messer in Alufolie einzuschlagen. Falls es unfreiwillige Zeugen gegeben hätte, wäre es dann eben zu einem Kollateralschaden gekommen.
Nach dem Fund der zweiten Leiche las ich in der WAZ: Der Schlächter von Unna hat wieder zugeschlagen. In anderen Zeitungen war von einem Monster, einer Bestie, einem Teufel oder Unmenschen die Rede, Begriffe, die auf mich wahrhaftig nicht zutreffen. Die Ängste der Frauen, die sich nachts nicht mehr auf die Straße trauten, wurden von einer Boulevardzeitung kräftig geschürt. Da titelte doch einer der Schreiberlinge: Er schleicht durchs Gebüsch, er ist schon ganz nah – der Unhold von Unna ist wieder da!
Die allgemeine Aufmerksamkeit schmeichelte mir durchaus, denn man hatte es mir nicht an der Wiege gesungen, dass ich einmal so berühmt würde. Die Wortwahl hingegen irritierte mich. Ich und ein Unhold! War mein dickbäuchiger, raffsüchtiger Vermieter vielleicht ein Hold? Die Zeitungsfritzen schrieben hier doch über Dinge, von denen sie so viel verstanden wie ein Kalb von der Milchstraße.
Hin und wieder fragten mich Kollegen bei den Stadtbetrieben, warum ich mit fast vierzig Jahren noch nicht verheiratet war. Den Ratschlag meines Vaters, an den ich mich gehalten hatte, zitierte ich lieber nicht: »Junge, mach nicht den gleichen Fehler wie ich! Man sollte keine Kuh kaufen, wenn man bloß ein Glas Milch trinken will!« Ich habe seinen etwas altmodischen Spruch inzwischen für mich etwas modernisiert und sage: »Wenn man eine Steckdose sucht, muss man sich nicht gleich ein Haus bauen.«
Mein Vater ist mir immer ein Vorbild gewesen. Auch wenn er mich manchmal zur Gaudi meiner gehässigen Mutter versohlte, glaube ich nach wie vor, dass es zu meinem Besten geschah. Schließlich habe ich sowohl das Abitur bestanden als auch die Ausbildung zum Verwaltungsfachangestellten in der Entsorgungswirtschaft. Man schickte mich sogar für ein halbes Jahr in Unnas Partnerstadt Palaiseau, wo ich leidlich Französisch gelernt habe.
Auf die indiskreten Fragen meiner Kollegen habe ich stets ausweichend geantwortet: Die Richtige sei mir noch nicht über den Weg gelaufen. Was ja auch stimmte, denn alle bisherigen Versuche waren Missgriffe gewesen. Die es verdient hatten, dass man sie aus dem Weg räumte.
Als ich Mona kennenlernte, war auf einmal alles anders. Sie war keine dumme Kuh wie meine Mutter, keine Nutte wie meine Bekanntschaften aus der Dortmunder Linienstraße, sondern eine selbstbewusste Abiturientin, die sich etwas Geld als Aushilfe im café im zib verdiente. Außer mir verbrachten dort noch einige andere aus unseren Büros ihre Mittagspause.
Natürlich interessierten sich auch meine Kollegen für die hübsche Neue, was sie umso begehrenswerter für mich machte. Mit ihr konnte ich mir zum ersten Mal eine Partnerschaft vorstellen. Ja, ich gebe es zu, ich wollte sie haben, und zwar mit Haut und Haaren.
Mona sah so aus, wie ich mir ein modernes Schneewittchen vorstellte: schwarze Locken, heller Teint, unglaublich blaue Augen. Sie betonte ihren Typ durch weißes Make-up, schwarz lackierte Fingernägel, Piercings in Nase und Mundwinkel und durch ein paar tätowierte Rosen, die sich aus dem Ausschnitt rankten. Mit dem Körperschmuck konnte ich nicht viel anfangen, aber es gefiel mir ungemein, dass sie stets hohe Lackstiefel und enge schwarze Lederhosen trug. Ein bisschen erinnerte ihr Auftritt an die Mode der Gothics, belehrte mich Frau Hartmann, eine klatschsüchtige, bestimmt auch neidische Kollegin.
Ignoranten sagen mir zwar einen Mangel an Humor nach, aber Mona fand es drollig, als ich sie mit Blanche-Neige ansprach.
»Wahnsinn! Du scheinst dich von meinen bisherigen Fans absetzen zu wollen«, sagte sie. »Denen fällt nichts anderes ein, als mich ›Mona Lisa‹ oder ›Desde-Mona‹ zu nennen!«
Endlich lernte ich eine Frau kennen, die eine Antenne für meinen hohen Bildungsgrad und meinen Charme hatte. Mehr als einmal stellte ich mir vor, wie ich Mona auf mein Sofa betten und ihr langsam die hohen Stiefel und dann alles andere ausziehen würde. Leider blieb es nur bei sexuellen Fantasien, denn es fiel mir seltsamerweise schwer, ihr meine Gefühle anzudeuten. Doch ich wusste durchaus, dass ich mich beeilen musste, denn die Konkurrenz schlief nicht.
Schnell hatte ich in Erfahrung gebracht, wann sich Mona mit Gleichgesinnten vorm zib zum Rauchen traf. Obwohl ich den Qualm verabscheute, hatte ich Zigaretten gekauft und konnte so tun, als ob ich zufällig auch eine mittägliche Pause einlegen wollte. Beim zweiten Treffen zeigte sie sich erfreut, weil ich dieselbe Marke rauchte wie sie selbst. Es war allerdings kein Zufall, dass sie ihre eigenen Sargnägel nicht in ihrem Täschchen fand.
Fünf Raucher standen qualmend – und ich hüstelnd – im Kreis herum, als einer der Kollegen Mona anzüglich beäugte und bemerkte, er habe sie schon mehrmals auf dem Westfriedhof gesichtet. Ob sie vielleicht eine Liaison mit einem Vampir habe?
»Bist du endlich auch mal aus deiner Gruft gekrochen, Dracula?«, antwortete sie schlagfertig. »Eigentlich bist du doch in deiner miefigen Kammer am besten aufgehoben!«
Diesen Typen hatte sie bereits dreimal abblitzen lassen, ich witterte meine Chance. Schon mehrmals hatte Mona betont, dass sie sich am liebsten an der frischen Luft bewegte, also verabredeten wir uns zu einem Spaziergang. Natürlich achtete ich darauf, dass keiner meiner Rivalen von unserem Rendezvous etwas mitbekam.
Am Nachmittag stahl sich Frau Hartmann, die ebenfalls zur Rauchergruppe gehörte, in mein Zimmer. Nachdem sie ausführlich über andere gelästert hatte, meinte sie: »Ich mag es nicht, wenn man den Westfriedhof in Verbindung mit Vampiren erwähnt. Ich mag diesen Ort, nirgendwo sonst kann man mitten in Unna so beschauliche Spaziergänge machen. Das hat ja wohl selbst eure kesse Mona kapiert. Im Übrigen traue ich ihr nicht über den Weg. Haben Sie schon bemerkt, dass alle Männer hinter ihr her sind? Und dieses kleine Aas lässt sich den Hof machen, als ob sie eine Prinzessin sei!«
»Das ist sie bestimmt nicht«, behauptete ich, obwohl ich vom Gegenteil überzeugt war. Dann goss ich uns ein Gläschen Hertingpörter ein und die Welt war für Frau Hartmann wieder in Ordnung.
Ich bin ein Stadtmensch und kein Naturbursche, trotzdem lief ich schon ein paar Tage vor unserem Treffen kreuz und quer über den Westfriedhof, um das Terrain zu erkunden. Leider wurde das Tor bei Anbruch der Dunkelheit abgeschlossen, sodass eine romantische Mondscheinbegegnung nicht infrage kam. Die ungewohnte Umgebung irritierte mich ein wenig. Eichhörnchen huschten durch die Bäume, Vögel zwitscherten. Zwischen Farn und Gebüsch verbargen sich verwitterte Gräber und mit Moos, Flechten und Efeu überwucherte Stelen. Überall Verfall – gestürzte Kapitelle, verrostete Geländer, Grünspan an den Lanzenbekrönungen, umgefallene Kreuze. Beim Anblick eines trauernden Engels, der einen toten Jungen in den Armen hielt, dachte ich sofort an all jene, für die ich den Engel gespielt hatte. Sicherlich war es jedes Mal die richtige Entscheidung gewesen.
Seit 1980 wurden hier keine Toten mehr begraben, laut zahlreicher Inschriften ruhten sie in Gott. Auf den Grabsteinen entdeckte ich in Stein gehauene Anker, Schlangen und sogar inmitten eines Blätterkranzes einen kleinen Schmetterling, Symbol der Auferstehung. An was für Ammenmärchen die Leute wohl immer noch glaubten!
Bei meinem Streifzug war ich nicht der Einzige auf dem Friedhof, obwohl es ein trüber Tag war. Rentner drehten ihre Runden, Hunde und Kleinkinder wurden ausgeführt und ein schrecklicher Laubbläser verursachte Lärm. Von Einsamkeit konnte nicht die Rede sein.
Als ich meinen Friedhofsbummel beendete, war mir klar: Falls unsere Beziehung leider nicht so harmonisch verlaufen würde, wie ich es erhoffte, dann sollte Mona nicht wie ihre Vorgängerinnen im Stadtgarten gefunden werden, sondern hier; einer so schönen jungen Frau war man schließlich etwas schuldig. Ich würde sie vor dem steinernen Engel ablegen, vielleicht mit einem Ilexzweig auf der Brust. Je länger ich darüber nachdachte, desto anmutiger stellte ich mir dieses Stillleben vor, viel schöner noch als Schneewittchens gläsernen Sarg. Und ich ging sogar noch weiter in meinen Gedankenspielen, sah mich schließlich selbst als Toten, aufgefangen in den Armen eines Engels – ich, der überzeugte Atheist! Eine Vorstellung, für die Kitsch noch eine Beschönigung ist, die mich aber trotzdem zutiefst rührte. Schluss jetzt, befahl ich mir, was soll das! Ich werde sie kriegen, mit Haut und Haaren.
Als wir uns dann am Samstagnachmittag beim zib – dem Zentrum für Information und Bildung am Lindenplatz – trafen, traf mich allerdings eher der Schlag. Mona trug weder Lederhosen noch Stiefel, sondern einen spießigen Jogginganzug und giftgelbe Laufschuhe. Es hatte den ganzen Tag genieselt, die Straßen waren schmutzig, ich hätte meine teuren Budapester weder polieren noch anziehen sollen. Vom zib war es nicht weit zum Friedhof, der bei diesem Schmuddelwetter allerdings ein tristes Ziel war.
»Ja, was dachtest du denn?«, sagte sie, als sie meinen enttäuschten Blick registrierte. »Wir sind doch nicht zum Windowshopping hier!« Und schon setzte sie sich in Bewegung und ich musste ihr wohl oder übel nachhetzen. Schon öfters hatte ich erwogen, mich in einem Fitnessstudio anzumelden, doch es war leider bei diesen Überlegungen geblieben – jetzt rächte es sich. Mit bedrohlichem Herzrasen und hechelnd wie ein alter Jagdhund stolperte ich keine zehn Minuten später über eine Wurzel, glitt aus und rutschte der Länge nach in den Matsch. Mein edler dunkelgrauer Tuchmantel war ruiniert.
Mona hatte meinen Klagelaut gehört, machte kehrt und sah mich wie einen gestrandeten Käfer auf dem morastigen Untergrund herumzappeln. Statt mir aber die Hand zu reichen, brach sie in ein diabolisches Lachen aus, das wie das gemeine Keckern einer Hyäne klang.
Ich geriet in grenzenlose Wut und brüllte: »Dein Glück, dass ich kein Messer dabeihabe!«
Eine alte Frau, die zufällig vorbeikam, half mir hoch und reichte mir mitfühlend eine Packung Papiertaschentücher.
Anscheinend schämte sich Mona nun doch ein wenig. Sie begleitete mich zum Auto und schien zu überlegen, wie sich ihr schadenfrohes Gelächter wiedergutmachen ließe. »Ich fahr dich nach Hause und wenn du dich umgezogen hast, könnten wir ja im Morgentor etwas essen, okay?«
Ich knurrte nur, aber es war mir recht. Bisher hatte mich noch nie eine Frau zum Essen eingeladen.
Um sieben hatte es schon wieder angefangen zu regnen, aber im gut geheizten Morgentor saß man gemütlich. Das Lammkarree mit Rosmarinkartoffeln schmeckte vorzüglich, der Rotwein ebenso. Im Schein der Kerzen sah Mona verführerisch und wunderschön aus. Zu meiner Freude hatte sie sich auch umgezogen und trug jetzt eine enge schwarze Lodenjacke mit aufgestickten Flammen.
Schade, dass der Friedhof inzwischen abgeschlossen und es keine laue Sommernacht sei, bemerkte ich und prostete ihr zu, sonst hätten wir später noch eine romantische Runde drehen können.
»Als Teenager war ich oft in Unna zu Besuch«, erzählte meine Blanche-Neige. »In den Sommerferien haben meine Cousine und ich manchmal gekifft, uns als Flattergeister verkleidet und die Patienten im Katharinen-Hospital mit unserem Eulenschrei erschreckt. Das liegt ja direkt am Westfriedhof und die guckten dann aus dem Fenster auf die alten Gräber und machten sich wegen uns bestimmt ins Nachthemd. Beim Parkplatz kann man übrigens mühelos über den Zaun klettern. Aber seit dieser Unhold hier in Unna sein Unwesen treibt, sind uns solche Streiche zu gefährlich. Meine Cousine kannte übrigens eines der Mädchen, die der Schweinehund ermordet hat.«
»Welche denn?«, fragte ich. »Annika oder Tessi?«
»Die Tessi«, sagte sie, stutzte und hakte nach: »Woher kennst du überhaupt ihre Namen?«
»Das stand doch in allen Zeitungen«, log ich und sie gab sich zufrieden.
Leider trank ich mehr, als mir guttat. Auch Mona ließ sich nicht lumpen, für ihre zierliche Erscheinung vertrug sie erstaunlich viel. Aufgekratzt erzählte sie, wie das alles mit ihrem Cousin angefangen habe, einem Schwarzfahrer. Das seien Leute, die am Wochenende gern mit einem ausrangierten Leichenwagen herumkurvten und dabei Gothic Rock hörten.
Als wir schließlich aufbrachen, hatte der Regen aufgehört und es schimmerte ein fahler Vollmond. Angeregt durch das magische Licht, wollte mir Mona unbedingt noch zeigen, wo man über den Zaun des Friedhofs steigen konnte. Darauf hätte ich mich natürlich nicht einlassen sollen, aber zu diesem Zeitpunkt wäre ich ihr auch bis in die Hölle gefolgt.
Es war spürbar kälter geworden, auf den Frontscheiben der Autos zeigte sich eine dünne Eisschicht. Um warm zu bleiben, hakte sich Mona bei mir unter und ergriff dabei ganz selbstverständlich meine linke Hand, die rechte vergrub ich in der tiefen Tasche meines uralten Dufflecoats und berührte zu meiner eigenen Verwunderung einen in Alufolie eingewickelten Gegenstand. Es war mein Messer, das ich nach dem letzten Gebrauch eingesteckt und fast vergessen hatte. Ich musste lächeln, denn ein Gefühl des Triumphs, ja, der Allmacht überwältigte mich. Trotzdem wusste ich genau, dass ich Mona niemals ein Härchen krümmen könnte.
Es fühlte sich ein wenig fremd an, ihr zutrauliches Pfötchen mit schwarzen Krallen in meiner Linken zu spüren. Mit Sex hatte das wenig zu tun. Nervös und fast zwanghaft knibbelte meine rechte Hand an der Alufolie herum, in die ich das Messer damals gewickelt hatte. Bald hatte ich die Silberfolie zerpflückt und der Stahlgriff erwärmte sich in meiner Hand.
Vom Krankenhaus gab es einen direkten Zugang zum Friedhof, um den Patienten einen Spaziergang zu ermöglichen. Auch hier wurde das Tor zum Friedhof nachts verschlossen. Doch Mona fackelte nicht lange, hielt sich am Geländer fest, schwang sich erst mit einem Bein auf den Pfosten, dann mit einer Flanke über den Zaun. Sie landete elegant auf der anderen Seite und zischte mir ein wenig schnippisch zu: »Nun bist du dran!«
Ich zögerte. Womöglich würde ich schon wieder unsanft auf die Schnauze fallen! Trotzdem machte ich einen zaghaften Versuch, brach aber auf halber Strecke wieder ab. Ich kam mir vor wie als Achtjähriger, als ich nicht vom Einmeterbrett springen mochte und die anderen Kinder mich auslachten.
»Angsthase, Pfeffernase! Wadenbeißer, Hosenscheißer!«, sang Mona. Mich packte eiskalte Wut. Beim nächsten vergeblichen Ansatz hörte ich wieder das Keckern der Hyäne, das mich an meine verhasste Mutter erinnerte und fast rasend machte. Mit dem Mut der Verzweiflung zog ich mich endlich über den Zaun und landete zum zweiten Mal an diesem Tag im Dreck. Das infame Keckern schwoll zu voller Lautstärke an.
Als ich aufstehen wollte, versagte mein linkes Bein. Überdies spürte ich einen stechenden Schmerz, presste die Hand gegen den Leib und ertastete eine warme Quelle. Nach einer Schrecksekunde begriff ich, dass ich in mein eigenes Messer gestürzt war.
Es dauerte eine Weile, bis auch Mona den Ernst der Lage erfasste und per Handy den Notruf wählte. Da sie sich noch gut an die Maßnahmen der Ersten Hilfe erinnerte, gelang es ihr sogar, die Blutung zu stoppen. Damit hat sie mir damals zwar das Leben gerettet, es mir aber auch für viele Jahre versaut. Als der Krankenwagen eintraf, vergingen noch weitere Minuten, bis man das Friedhofstor geöffnet hatte und die Sanitäter mich endlich stabilisieren, verfrachten und versorgen konnten. Damals wollte ich am liebsten sterben, denn ich ahnte das Ende meines freien Lebens und den Beginn der Hölle.
Durch das Messer wurde ich überführt. Obwohl ich es ja jedes Mal abgewischt hatte, fanden sich trotzdem noch DNA-Spuren. Mona sagte im Prozess gegen mich aus; sie war wohl der festen Meinung, dass ich nur ihretwegen eine Waffe eingesteckt hatte. Schließlich ergab ich mich in mein Schicksal und gestand beide Taten, um endlich zur Ruhe zu kommen. Nur über das Schicksal des schwarzen Bastards in Dortmund habe ich bis heute geschwiegen.
Lebenslänglich wegen besonderer Schwere der Schuld, so lautete das ungerechte Urteil.
Jetzt sitze ich in der Justizvollzugsanstalt Schwerte und muss an sinnlosen Therapien für Gewalt- und Sexualstraftäter teilnehmen. Manchmal besucht mich auch der Gefängnispfaffe, redet von Sünde, labert mich voll und will mich bekehren, aber da beißt er auf Granit. Aus der Anstaltsbibliothek schleppte er doch tatsächlich noch Schuld und Sühne von Dostojewski herbei und bildete sich ein, ich würde diesen Schinken lesen. Von den Begriffen Sünde oder Schuld halte ich ja sowieso nichts, vom Sinn der Sühne erst recht nicht.
In meiner Freizeit nehme ich zähneknirschend an einem Töpferkurs teil und habe schon zwei hässliche Katzen modelliert. Und wenn ich wieder einmal einsam und allein in meiner Zelle liege und nicht einschlafen kann, beschäftige ich mich auch damit, Limericks über das verfluchte Unna auszutüfteln.
Es geschah vor Jahren in Unna,
und ist traurig, aber nicht unwahr.
Ein Unhold liebte Schneewittchen,
doch das war leider ein Flittchen
und trieb es mit Typen aus Poona.
Ralf Kramp
Immer nur das Eine – von Cappenberg nach Opherdicke
Es sind immerhin vier Beamte, die ihn zu den Einsatzfahrzeugen zerren. Er wehrt sich mit Händen und Füßen und brüllt wie am Spieß. »Papierschiffchen! Zahngold! Mottenkugeln! Ich kann an tausend verschiedene Sachen denken, hört ihr!«
Sie versuchen, ihn in einen Wagen zu verfrachten. Immer wieder reckt er den Kopf in die Höhe und schreit unentwegt. »Eine Million Dinge! Ich habe Milliarden von Gedanken in meinem Kopf, wirklich! Ich kann an binomische Formeln denken und an Daktari! An braunen, süßen, klebrigen Hustensirup! Hundekuchen! An runde, mit Loch, und an die kleinen, eckigen Bröckchen! An den Tag, an dem Papst Johannes XXIII gestorben ist! Es geht! Es geht wirklich!«
Schließlich wird die Tür zugeschlagen und das Motorengeräusch überlagert den letzten Rest seiner Stimme.
»Du denkst immer nur an das Eine«, sagte Kirsten und meinte es auch so. Was für andere Menschen eine dahingeworfene Floskel, eine leere Worthülse war, stellte für sie tatsächlich eine ernst gemeinte, unumstößliche Wahrheit dar. Sie glaubte wirklich, er sei sexuell überstimuliert, er stehe ständig unter Strom, weil seine Gedanken angeblich immer nur um ein und dasselbe Thema kreisten. Dass ihr das möglicherweise nur so vorkam, weil sie selbst ständig mit anderen Dingen beschäftigt war und während ihrer bis jetzt achtmonatigen Beziehung bislang noch nie die sexuelle Initiative ergriffen hatte, weil Erotik bei ihr stets auf dem letzten Tabellenplatz rangierte, daran dachte Kirsten wohl kaum. Weil Fleischeslust nun mal einfach nicht ihr Thema war.
Karsten vermutete, dass Kirsten so etwas war wie frigide, aber das gestand er sich nicht ein. Er liebte seine Freundin so, wie sie war. Kirsten und Karsten, sie waren ein Traumpaar, sie würden in drei Wochen heiraten und dieses Glück wollte er nicht durch unnötige Diskussionen aufs Spiel setzen. Oder durch schmutzige Gedanken. Es konnte ja nicht so schwer sein, einfach mal ein paar Tage nicht an Sex zu denken.
Dachte er.
Und Kirsten dachte das auch: »Es kann ja wohl nicht so schwer sein, mal einfach ein paar Tage nicht an Sex zu denken!«, hatte sie verächtlich gesagt.
Aus dieser Erwägung heraus war ein Versprechen entstanden. Karsten würde bis zu ihrer Hochzeit nicht mehr an Sex denken. In den Zeiten, in denen er im Materiallager einer Rohrleitungsbaufirma arbeitete, war er nicht gefährdet, da war er beschäftigt und keinerlei weiblichen Reizen ausgesetzt. Frau Köndgen aus der Registratur verfügte jedenfalls nicht darüber. Nein, die Freizeit war es, die sich als bisher vermintes Gelände herausgestellt hatte, durch das Kirsten ihn mit weiblicher Sensibilität zu leiten versprochen hatte.
Nicht dass sie sich extra zu diesem Zweck besonders hochgeschlossen und unzugänglich gekleidet hätte, das tat sie ohnehin immer. Vielmehr hatte Kirsten ein Programm für ihn aufgestellt, das es in sich hatte. Natur, Kultur, Sport lautete das Motto. Also erkundeten sie an den Sonntagen Gebiete rund um Unna, die ihnen völlig fremd waren. Sie absolvierten Tagesmärsche mit an sich unnötigem, aber durchaus zweckmäßigem Gepäck. Und sie lernten eine Konzertlandschaft und einen musealen Reichtum der Region am Hellweg kennen, die dem Rohrleitungsbauer Karsten vermutlich für immer verborgen geblieben wären. Theater, Ausdruckstanz, Blockflötenkonzert, Autorenlesung, Bergwerksbesichtigung … Karsten stand die Kultur, wenn er ehrlich war, bis zur Oberkante Unterlippe.
Jetzt waren es noch zwei Tage!
Wirklich nur noch zwei lächerliche Tage und die wären schneller vorbei, als er sich’s versah, so prall, wie sie mit keuscher Aktivität und sittsamer Aktion gefüllt waren.
Am Morgen, als er wach geworden war, hatte er sich erst einen Moment lang besinnen müssen, was heute auf dem Keuschheitskalender stand.
»Volkshochschule. Die Ausstellungstour«, hatte Kirsten gesagt und mit den Augen gerollt. »Hatten wir doch so geplant.«
Ja, hatte sie.
»Natürlich, natürlich.« Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es höchste Zeit war. Er hegte den Verdacht, dass sie ihn in den letzten Tagen extra lange schlafen ließ, damit er ihr morgens nicht mehr im Badezimmer begegnete. Irgendwie war es wirklich rührend, wie ernsthaft und überlegt sie ihn vor jeder Versuchung zu bewahren versuchte.
Wie etwa mit der Ausstellungstour, einer Busfahrt nach Schloss Cappenberg und Haus Opherdicke, organisiert von der VHS Unna-Holzwickede-Fröndenberg. Alles in allem eine Unternehmung, bei der nicht die allergeringste Gefahr bestand, dass seine Gedanken dabei auf sündige Seitenwege geraten könnten.
Auf dem Parkplatz vor dem in moderner Schlichtheit erstrahlenden Kreishaus hatte sich eine kleine, kulturinteressierte Gruppe versammelt, deren Zusammensetzung ebenfalls eine hundertprozentige Garantie für die völlige Abwesenheit etwaiger erotischer Irritationen und hormoneller Herausforderungen darstellte. Zwei Drittel Rentner, der Rest bestand aus drei pickligen Studenten und zwei jungen Müttern mit quengeligen Babys. Das sah gut aus.
Undeutlich nahm er am Rande des Parkplatzes eine Plakatwand wahr und im selben Bruchteil der Sekunde, in der er etwas Hautfarbenes darauf zu erkennen glaubte, drehte sich sein Kopf auch schon ganz automatisch um hundertachtzig Grad zur Seite. Zack! Nackte Haut in der Werbung bedeutete Gefahr. Das hatte er längst im Griff. Da war er mittlerweile hervorragend konditioniert. Auch wenn möglicherweise nur Putenschenkel, extra fleischig, offeriert wurden.
Schnell an was anderes denken: Räucherstäbchen, Ohrenkneifer, gebrannte Mandeln, Tintenkiller …
Die Frau von der Volkshochschule war eine Hosenanzugträgerin unbestimmten Alters, mit kleinen, graublonden Löckchen, einer Nickelbrille und einem Hauch von Damenbart. Sie trug einen langen Doppelnamen, den sich Karsten nicht einmal hätte merken können, wenn er es gewollt hätte.
Der Busfahrer war ein kleiner, rundlicher Kerl mit grauem Schnurrbart, der sich launig mit »Hereinspaziert, ich bin der Gisbert« vorstellte. Beim Einsteigen half Karsten zuerst den Müttern mit ihren Kinderwagen und dann einem einbeinigen Rentner mit seiner Gehhilfe. Fahrer Gisbert schwenkte derweil den letzten Schluck Kaffee im Becher seiner Thermoskanne und schüttete ihn aus dem Seitenfenster. Dann ließ er die Finger knacken und startete den Bus.
»Viel Spaß, Schatz«, sagte Kirsten und drückte ihrem künftigen Ehemann einen Kuss auf die Wange.
Der einbeinige Opa rechts von ihm beobachtete das, reckte aufmunternd den Daumen nach oben und grinste verschwörerisch.
Kirsten hatte darauf bestanden, ganz vorne zu sitzen, um die Fahrt in ihrer ganzen Schönheit genießen zu können. Mit einem Ruck setzte sich der Bus in Bewegung und rollte durch Königsborn stadtauswärts. Gisbert drehte WDR4 an und zu den Klängen von Hallo, NRW! gaben die beiden Babys auf den Sitzen hinter Karsten gut gelaunte Quieklaute von sich. Die Mütter schnatterten über das Fernsehprogramm vom vergangenen Abend. Von rechts kamen der rasselnde Atem des Opas und das Pochen seiner Gehhilfe, mit der er den Takt zu Helene Fischer klopfte: »Atemlos durch die Nacht …« Die Sonne ließ die weißen Frisuren der beiden Omas auf den Sitzen vor Karsten und Kirsten aufleuchten. Es versprach ein entspannter Tag zu werden.
Die Hosenanzugfrau verteilte Prospekte und erklärte den Tagesablauf. Erst Schloss Cappenberg, dann Haus Opherdicke, wo es einen kleinen Imbiss geben würde. Zwei völlig gegensätzliche Ausstellungen, der totale Kulturgenuss in einer Tour.
»Wir verstehen hier hinten nichts«, quakte einer der Studenten von der letzten Bank. Die Doppelnamen-Dame bekam von Gisbert ein Mikrofon gereicht und wiederholte alles noch einmal. Als sie fertig war, ließ sie sich erschöpft in ihren Sitz neben dem Einstieg fallen.
Aus den Lautsprechern plärrte jetzt Semino Rossi »Meine Sonne bist du« und in Karsten gewann die ungewisse Furcht Gestalt, dass sich irgendwann aus diesen Lautsprechern auch der Wendler über sie ergießen würde.
Der Verkehr hielt sich in Grenzen, es ging zügig in Richtung Kamen.
»Fahren Se mal rechts ran«, rief plötzlich der Opa ganz aufgekratzt, als sie auf der Kamener Straße fuhren. Ein roter Backsteinbau mit der Werbetafel Club Bad Königsborn.
Ein Bordell!
Hundertachtzig Grad – zack! Karsten riss den Kopf nach links.
… Frühstücksbrettchen, Kaffeetassen, Butterdose …
Der Busfahrer lachte dröhnend. »Auf der Rückfahrt vielleicht«, blökte er zurück.
… Kirschmarmelade, Erdbeermarmelade, Quittengelee …
»Woran denkst du?« Kirsten runzelte die Stirn.
»An Quark, Frischkäse, Wurst … nein, nicht an Wurst … Schinken roh, Schinken gekocht …«
Sie wandte sich irritiert ab und blickte aus dem Fenster. Lag da etwa schon Skepsis in ihrem Gesicht?
»Gehört das Ding nicht dem Puffkönig, der mal Bürgermeister werden wollte?«, fragte eine Oma.
»So weit kommt es noch«, empörte sich die andere. »Nee, nee, nee!«
»Wenn ich es dir doch sage! Dem wäre es aber langweilig geworden, da im Rathaus. Keine nackten Weiber mehr.«
Karsten begann, leise und mit zusammengebissenen Zähnen, die Namen der vorbeihuschenden Firmen vor sich hin zu murmeln.
… Burger King, ATU, Kentucky Fried Chicken …
Huch! Hatte er da gerade Ficken gesagt?
Wenn ja, hatte Kirsten es nicht gehört. Sie guckte weiter aus dem Fenster. Ficken, das fehlte gerade noch. Dann wäre der Ofen aber ganz schnell aus.
Er fummelte die Prospekte der Kulturtour aus der Tasche und begann, darin zu blättern, um sich ein bisschen abzulenken. Eine Otmar-Alt-Ausstellung auf Schloss Cappenberg. Knallbunte Kringel, Punkte, Striche, lustige Fantasiefiguren. Und in Haus Opherdicke? Hans Trimborn, depressiver Künstler aus dem letzten Jahrhundert. Frauen mit züchtig geschlossenen Blusen, finstere Selbstporträts, einsame Landschaften. Super, da lauerte ja überhaupt keine Gefahr. Karsten atmete auf. Hätten unter Umständen auch Aktgemälde …
… Hustensaft, eine Büchse Erbsen und Möhren …
… mit Brüsten und üppigen Hinterteilen …
… Dackel, Zylinderkopfdichtung und … und … Inge Meysel
Kirstens Kopf ruckte zu ihm herum. Hörte sie seine Gedanken?
Da sah er das, was sie am Straßenrand entdeckt hatte, gerade noch im Augenwinkel. Ein riesiges Werbebanner mit der Aufschrift Erotikmesse Hamm!
Hundertachtzig Grad – zack! Sie versuchte, in seinem Gesicht zu lesen. Er blickte starr zum rechten Fahrbahnrand.
… Kirgisien, Eichhörnchen, Lego, Verbandskasten …
Ein Schweißtropfen kullerte ihm die Schläfe hinunter. Kirstens Blicke glühten, schienen seine Haut zu verbrennen. Sein Kopf war garantiert rot wie ein Feuermelder.
Der Busfahrer musste plötzlich scharf bremsen, weil ein Fahrradfahrer vor ihnen einen riskanter Schlenker hinlegte. Alle Insassen zogen die Luft ein. Es zischte, wie Überdruck, der durch ein Ventil entweicht. Karstens Situation normalisierte sich wieder. Er könnte doch einfach ein paar Minuten die Augen schließen, ein bisschen ruhen.
»Wenn ich ein bisschen döse?«, fragte er unschuldig.
»Mach mal ruhig.« Sie klang schon wieder ganz normal.
Von da an hört er nur noch, was um ihn herum geschah. Das war perfekt. Er konnte nicht mehr unbewusst reagieren. Kirstens Hand legte sich auf sein Knie. So ging es. Die ganze Welt konnte ihn mal. Übermorgen würde er heiraten, dann war der ganze Spuk vorbei. Dann würden er und seine Kirsten endlich mal so richtig … Dörrpflaumen, Zahnseide, Traubenkernöl …
Die Frauen hinter ihm waren inzwischen bei einem kulturkritischen Vergleich von Sex in the City mit Danni Lowinski angekommen, der Opa sang leise mit Andrea Berg »… bis dich der Wein zu müde macht … für eine schöne Liebesnacht.«
… ausgetrocknete Eddingstifte, Düsenjägerkondensstreifen, Scharlach …
Die beiden alten Frauen tuschelten aufgeregt: »Da vorne auf dem Pendlerparkplatz an der Autobahn, da haben die sich jede Woche getroffen und gesagt, sie hätten langen Donnerstag gehabt. Da war ein richtiger Pendelverkehr in dem Auto, das kannste mir aber glauben!«
»Nee!«
»Wenn ich es dir sage!«
… grobkörniges Schleifpapier, Dick und Doof, Mönch, Eiger und Jungfrau im Abendrot …
Jungfrau? Karsten kniff die Augen fester zusammen und hatte das Gefühl, dass Kirstens Hand sich verkrampfte. Er gab ein paar Schnarcher von sich und sabberte ein wenig, um zu signalisieren, dass er fest schlief.
»Der hat es ja mit jeder getrieben. Nicht nur im Auto!«
»Nein!«
»Doch, wenn ich es dir sage!«
»Spürst Du das leise Beben, dieses Zittern meiner Hände …«
»Und auch die Szene in Desperate Housewives, in der Bree ihren ersten Orgasmus hat …«
… Kunstrasen, Honig in Krankenhausportionsdöschen, Halma …
Sie erreichten Lünen.
»Da links ist dieses Schlaflabor«, sagte eine der Omas. »Würde mich nicht wundern, wenn er da auch sein Unwesen getrieben hätte, der Wüstling. Der hat das überall gemacht.«
»Nee.«
»Wenn ich es dir doch sage!«
Karsten hob ein Augenlid und las Bären-Apotheke.
Er stöhnt leise.
Bären!
… Radkappen, Gummistiefel, Peter Scholl-Latour, parboiled Reis …
Irgendwann waren sie an ihrem Etappenziel angekommen: Schloss Cappenberg. Das kannte er immerhin schon. Sehr ruhig, sehr gediegen, gefahrlos. Das war nicht gerade ein Lustschloss, das Freiherr vom Stein sich als Altersruhesitz auserkoren hatte. Und Otmar Alt? Kannte man ja. Von überall her. Von Plakaten, Bussen, Bahnen und so. Bunt und lebensfroh … Ein großformatiges Bild ließ Karsten stutzen.
Was war das? Beziehungsweise: Was sollte das denn sein?
Konzentrische Kreise, in der Mitte Punkte. Er legte den Kopf schief. Waren das etwa zwei … zwei von diesen … undenkbaren … unaussprechlichen … DINGERN?
Er floh mit großen Schritten aus dem Raum und rief Kirsten im Vorüberlaufen zu: »Bin mal auf dem Klo!«
Dort blieb er fast eine halbe Stunde. Als er zurückkehrte, fragte sie mit zusammengekniffenen Augen: »Was hast du denn die ganze Zeit gemacht, da drinnen?«
»Was soll ich denn schon gemacht haben?« Das war zu laut. Er musste sich zusammenreißen. Wenn er sie zu grob anfuhr, dann wurde sie immer gleich sauer. Dann war das hier gelaufen.
Er hatte da in der Abgeschiedenheit der Herrentoilette gesessen und versucht, alle Vogelarten aufzuzählen, von denen er je gehört hatte. Dann hatte er gemerkt, dass ›Vögel‹ viel zu sehr nach ›vögeln‹ klang und hatte sich auf Katzen konzentriert. Muschis – Es war wie verhext! Er hatte auf die Klopapierrolle gebissen und an Polartiere gedacht. Pinguine, Robben …
In seinem Inneren tobte ein Sturm. Er hatte das Gefühl, gleich von einem Orkan mitgerissen zu werden. Kirsten durfte immer wütend werden, er nie!
Als sie wieder in den Bus einstiegen, ballte er die Fäuste in den Jackentaschen und überließ es Gisbert, die Kinderwagen hineinzuheben. Auch dem Opa half er diesmal nicht.
Kirsten schwieg. Ja klar, er hatte schon zu viel gesagt. Gut, konnte sie haben. Er zog den Kopf zwischen die Schultern und betrachtete seine gefalteten Hände.
Wäre beten eine Option?
Wohl kaum.
Der Hosenanzug erzählte etwas über ihr nächstes Ziel, Haus Opherdicke. Den Studenten war es wieder zu leise und natürlich wurde alles über die Lautsprecheranlage wiederholt.
Sie umrundeten Werne und fuhren weiter südwärts, auf Bergkamen zu.
Als der Hosenanzug nach der Ansage versuchte, das Mikrofon wieder auszuschalten, piepste es schrill, und Gisbert nahm es dem Hosenanzug aus der Hand und schien es plötzlich für eine glänzende Idee zu halten, für ein bisschen Stimmung zu sorgen. Also polterte es gleich darauf fröhlich aus dem Lautsprecher: »Jetzt mal aufgepasst, hab ich dieser Tage an der Tanke gehört. Kann man ja mal erzählen: Nach der allerersten Liebesnacht seines Lebens sieht der junge Knecht die nackte Magd morgens am Waschtrog, wie sie die Arme nach oben reckt und sich die behaarten Achseln wäscht, und da ruft er aus: Wie, was, ist das wahr? Noch zwei davon?«
Das Gelächter fiel nicht einmal so dürftig aus, wie Karsten sich das in seinem ersten Schrecken erhofft hatte. Das war doch eine Kulturfahrt! Was fuhr denn hier für ein Pack mit? Selbst die pickligen Studenten schienen diesmal alles verstanden zu haben.
Kirsten räusperte sich vernehmlich. Ihr Blick sagte: Du denkst dran, du denkst dran, du denkst dran!
Er starrte sie an und dachte: Streuselkuchen, Überweisungsträger der Commerzbank, Zahnbelag …
Es war ein Kampf. Ja, das war es. Nichts anderes als ein erbitterter, gnadenloser Kampf, den sie hier ausfochten. Es ging ihr nicht mehr um die Sache, es ging ihr nur noch ums Prinzip!
Ortsausgang Bergkamen: Erotic Fachmarkt!
Hundertachtzig Grad – zack! Es ging doch! Er konnte es! Wieso akzeptierte sie das nicht? Warum quälte sie ihn denn nur so?
… eingewachsene Zehennägel, Strauchbohnen, die Brille von Nana Mouskouri …
Gisbert legte jetzt nach: »Beim Kreuzworträtsel: weibliches Geschlechtsorgan? Na?«
Eine der Omas fragte kichernd: »Senkrecht oder waagerecht?«
»Waagerecht!«
»Waagerecht? Mund!«
Jetzt hatte das Lachen alle angesteckt.
Alle außer Kirsten.
Und Karsten.
Die anderen lachten jetzt sogar, als an der Kamener Straße ein Matratzen-Outlet-Center auftauchte.
»Sollen wir anhalten?«, krähte der Einbeinige fröhlich. Eine Lachsalve!
Gisbert schien zur Höchstform aufzulaufen: »Warum onanieren Taubstumme mit der linken Hand?« Kurze Pause. »Weil sie mit der rechten stöhnen müssen!« Brüllendes Gelächter!
… Sandalen, Salatgurken … Nein, Salatgurken nicht!
… Rudi Carrell, Rasierschaum … Nein, Rasierschaum war auch ganz schlecht!
Der Bus schwankte nun regelrecht übers Land. Amüsiert und aphrodisiert. Gisbert trat tüchtig aufs Gas. Karsten traute sich nicht, nach links zu sehen. Er wusste, was ihn dort erwarten würde. Zuckende Mundwinkel, mahlende Kiefer, Augen, die sich mit Tränen der Wut füllten.
Er kannte das.
Er kannte das nur zu gut.
Er hatte das nicht verdient!
Sein Blick wanderte gehetzt umher und fiel in den Spiegel über der Frontscheibe. In dem gewölbten Glas sah er den breit grinsenden Gisbert. Er sah auch sein eigenes, blasses Gesicht mit den vor Schreck geweiteten Augen, und er sah die beiden Mütter auf dem Sitz hinter sich, die exakt in diesem Augenblick etwas Ungeheuerliches taten: Die eine knöpfte ihre blassgelbe Bluse auf und die andere hob den Saum ihres gepunkteten T-Shirts. Beide entblößten im nächsten Augenblick ihre großen, prallen Brüste, an deren breiten, rosigen Spitzen die Münder ihrer Säuglinge simultan andockten, zärtlich geleitet durch die sanften Hände ihrer Mütter. Jetzt ertönte direkt hinter seinem Kopf zufriedenes Schmatzen und muntere Sauggeräusche.
… Milchtüten, Quarkbeutel, Wackelpudding …
Er biss sich auf die Zungenspitze und seine Fingernägel gruben sich in den geballten Fäusten tief in die Haut. Vielleicht lenkte ihn der Schmerz ab.
Der Bus geriet plötzlich vor Holzwickede aus irgendeinem Grund mit den rechten Rädern auf die Bankette und Gisbert riss das Steuer nach links. Er ließ mit schwungvollen Armbewegungen das Lenkrad kreisen, um wieder in die Spur zu kommen, als sei er der Kapitän des Fliegenden Holländers. Eine Klappe im unteren Teil des Armaturenbretts sprang jetzt auf und etliche Papiere glitten hinaus und fächerten sich auf dem Boden auseinander. Straßenkarten, Sanifair-Gutscheine, Pornohefte!
Hundertachtzig Grad – ging nicht! Da hätte Karsten nach hinten gucken müssen, zu den beiden Brüsten, oder nach links, geradewegs in das feindselige Gesicht seiner Verlobten.
Drei abgegriffene Hefte, deren knallbunte Titelbilder nichts vom saftigen Inhalt der Druckerzeugnisse zu verheimlichen versuchten.
Die Omas kicherten verschämt, der Hosenanzug blätterte plötzlich demonstrativ in seinen Unterlagen. Einzig der einbeinige Opa pfiff durch eine Zahnlücke, streckte seine Gehhilfe lang aus und zog eins der Hefte zu sich hinüber. Karsten erkannte gestochen scharfe Details. Sein Atem ging schwerer.
»Du Schwein«, zischte Kirsten. »Sag ich doch. Nichts als Sauereien im Kopf, von morgens bis abends. Du bist nichts weiter als ein erbärmlicher, notgeiler Waschlappen, der keine Gelegenheit auslässt, seinen dreckigen Fantasien nachzuhängen.«
Es war ihm, als platze in seinem Schädel ein riesiger Ballon voller Wasser. Er hatte das Gefühl, es schösse ihm aus den Ohren heraus, durch die Nasenlöcher. Ein Schrei wie von einem wilden Tier bahnte sich einen Weg durch seinen Mund. Dröhnend, rau, kehlig. Alle Insassen des Busses schraken zusammen und starrten ihn an, die Babys stellten das Schmatzen ein und Gisbert, der Busfahrer, starrte in den Spiegel anstatt auf die Fahrbahn.