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Geheimnisvolles Knistern aus dem Zauberreich

© 2014 Jung und Jung, Salzburg und Wien

XAVER BAYER

Geheimnisvolles Knistern aus dem Zauberreich

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TU CH’ENTRI QUA PON MENTE
PARTE A PARTE
ET DIMMI POI SE TANTE
MARAVIGLIE
SIEN FATTE PER INGANNO
O PUR PER ARTE

Die Farben des Himmels am Morgen erinnern an einen aufgequollenen, in die Breite gegangenen Regenbogen, am Horizont rotorange bis gelb, ein Hauch Grün und dann das Blau, das umso blauer wird, je mehr ich meinen Kopf in den Nacken lege wie in die Waschschüssel beim Friseur. Schon als Kind fand ich diese Rundung aus Porzellan, die sich kühl ums Genick schließt, unheimlich, so als hätte einen da eine unberechenbare Apparatur im Nackengriff. Dazu kommt das betuliche Einschäumen und Waschen der Haare, während man aus dem Augenwinkel das Lehrmädchen mit einem Besen die abgeschnittenen Haare der vorherigen Kunden zusammenkehren sieht. Am Ende ist die Frisur zustandegekommen, man tritt auf die Straße, und die Himmelsfarben sind verblasst.

Fürs Erste erschließt sich mir nichts. Nichts ist da, das sich entschlüsseln ließe, entziffern. Das Relief eines Greifs, hoch oben an einer Hausfassade, und der halbmondförmige, goldene Anhänger an der herunterbaumelnden Halskette einer Frau, die sich bückt, um etwas vom Gehsteig aufzuheben. Die Taube auf der Schulter einer Statue. Die Fotos einer Verstorbenen am Tisch neben der alten Schreibmaschine, ein Denkmal für die von nun an beschlossene Abwesenheit ihrer Tippgeräusche. Daneben ein Senkblei und ein Seeigelskelett. Ein in sich verdrehtes Telefonkabel.

Das sind die Indizien, die Pretiosen, der Zierat.

Dann, an diesem Tag oder dem nächsten, starrt mich – so bilde ich es mir zumindest ein – jeder an, der mir auf der Straße begegnet, bevor er den Blick schnell wieder abwendet. Ich suche ein ausreichend spiegelndes Schaufenster, um zu prüfen, ob etwa mein Mund blutverschmiert ist oder mir ein Witzbold in der Nacht, ohne dass ich es gemerkt habe, ein Herz auf die Stirn gemalt hat. Aber die Scheiben aller Auslagen, an denen ich vorübergehe, scheinen wie just vor fünf Minuten geputzt. Man sieht sie gar nicht, es ist, als gäbe es da gar kein Glas, und jeder Passant, denke ich, wird so in Versuchung geführt, in die Auslage hineinzugreifen und Handschuhe, Glühbirnen, Bücher und Posamentierware mitzunehmen.

Erst als ich in eine stille Seitengasse biege, habe ich Glück. Ich bleibe vor den staubigen Scheiben eines alten Weinhauses stehen. Eines der Fenster hat ein Loch wie von einem Einschuss, und von innen sind Zettel angebracht worden mit der Aufschrift „Lokal zu vermieten“. Auf den Fensterbänken einige Blumentöpfe mit verdorrten Pflanzen. Niemand hat sie an sich genommen, nachdem der Betreiber des Lokals gestorben ist oder ins Krankenhaus musste. Das bedrückt mich. Vielleicht sollte man ein Museum gründen, eine Sammlung für vertrocknete Zimmerpflanzen. Man könnte hohe Eintrittspreise verlangen, aber beim Ausgang würde der Besucher als Überraschung sein Geld zurückkriegen, von Zuckerwasser triefend. Oder in Mehl gewälzt.

Ich komme wieder zu mir, als ich zurück auf der Hauptstraße bin. Ich habe verabsäumt, mein Gesicht in den staubigen Weinhausfenstern auf Auffälligkeiten abzusuchen. Jetzt trage ich es stolz und schaue aufrechten Ganges jedem, der mir entgegenkommt, mit stechendem Blick in die Augen, wohlüberlegt lächelnd.

Mein Bankberater trägt heute ein großkariertes Sakko. Das und seine schwarz gefärbten Haare lassen ihn wie einen ausrangierten Zirkusclown aussehen. Ich bin versucht, unter den Tisch zu blicken, ob Sägespäne an seinen Schuhen kleben. Ob die Narbe auf seiner Wange von einem Peitschenschlag des Dompteurs herrührt? Womöglich wegen der Seiltänzerin? Es ist keine leichte Arbeit, Clown zu sein, wie Zirkus insgesamt ein hartes Brot ist. Trotzdem reizt es mich, meinen Berater zu bitten, auch eine Stelle für mich in diesem Zirkus zu organisieren. Ich könnte die Manege kehren, die Kamele füttern, den Löwenkäfig entmisten. Sicher täte mir der Löwe leid. Ob der Zirkus auch einen Hungerkünstler beschäftigt? Ich könnte ihn heimlich mit Essen versorgen. Ich male mir aus, wie ich mit ausgeklügelten Methoden Leckerbissen in seinen Käfig schmuggle und ihn so, zum Erstaunen des irregeführten Publikums, monate-, gar jahrelang am Leben erhalte. Das heißt, wenn er mitspielt.

Nehmt Petersilie mit nachhause!“, ruft eine Frau hinter einem Tisch mit Gemüse in der Marktgasse, durch die ich morgens spaziere. Der Himmel über der Stadt ist gleißend orange, und der Tonfall ihrer Stimme ist der eines berufenen Propheten, der Ratschläge zur Abwendung des Weltuntergangs ins Leere deklamiert. Zwei Schulmädchen mit roter Clownsnase im Gesicht kommen mir entgegen. Ich gehe zwischen ihnen hindurch wie durch archaische Gottheiten. Im selben Augenblick fühle ich, dass ich mich verkühlt haben muss, und freue mich schon auf die Tage der Halsschmerzen, der rinnenden Nase, des Kopfwehs, weil ich weiß, dass sie vorübergehen werden, so wie ich vorübergehe an Kisten mit Kürbissen, Äpfeln, Kipflern, an Kindern mit Clownsnasen, an Polizisten und Obdachlosen.

Plötzlich höre ich den Pfiff eines Turmfalken. Ich halte inne und schaue hinauf. Mit einem Schlag ist es still um mich, und als ich meinen Kopf wieder senke, sind die Gemüsestände und die Marktschreier verschwunden, nur noch einige Waagen stehen am Straßenrand, und dazwischen eine Hinterlassenschaft von Zwiebelschalen, zerquetschten Paradeisern und Zeitungsblättern, in die Salat und Kräuter gewickelt waren. Ich bücke mich, hebe so ein Blatt auf und lese die Schlagzeile: „Die ganze Welt ist in Aufruhr!“ Aber wohin sind all die Menschen? Da sehe ich den Falken ein paar Meter vor mir auf der Straße. Er hat eine junge Taube gerissen, umkrallt den blutenden Vogel und versucht, mit seiner Beute aufzufliegen. Es gelingt ihm auch, und er verschwindet über den Dächern. Ich verspüre das nagende Gefühl, die Gelegenheit verpasst zu haben, mich bei dem Falken zu entschuldigen, und mehr aus Verlegenheit werfe ich noch einen Blick auf den Zeitungsfetzen, den ich in der Hand halte, wobei mir auffällt, dass sich die Meldungen darauf verändert haben. Die Schlagzeile von vorhin liest sich jetzt so: „Die ganze Welt ist im Aufbruch!“ Ich zerknülle das Blatt und werfe es auf eine der Waagen. Als die Papierkugel die Waage trifft, schnellt der Pfeil für die Gewichtsanzeige kurz in die Höhe, und mit einem Glockenton wie beim Hau-den-Lukas ist unversehens alles wie vorher, die Marktstraße ist wieder belebt, ich höre die Ausrufe der Verkäufer, Wind weht durch die Frisuren der Fußgänger, und von irgendwoher kommt ein Knall von einem umgestürzten Preisschild.

Anderntags, beim Gehen durch die verwahrlosten Gassen der Vorstadt, fällt plötzlich etwas aus der Luft vor meine Füße. Ich erschrecke, als ich feststelle, dass es sich um eine Hummerschere handelt, und zwar um eine der seltenen blauen. Ich betrachte sie, zögere aber, sie anzufassen, gar aufzuheben. Mich ekelt. Ein Blick in die Höhe bringt keinen Aufschluss, woher die Hummerschere gekommen sein mag. Die Fenster der Häuser, die in Frage kämen, sind verschlossen, ja mehr noch: Es sind alle Fenster mit Rollläden verdeckt, teilweise hat man sogar Bretter darüber genagelt. Es ist auch kein Vogel, etwa eine Möwe, zu sehen, der das Weite sucht. Ich ahne mit einem Mal, dass es sinnlos ist weiterzugehen. Und dass es sinnlos ist umzukehren. Mit unumstößlicher Gewissheit ist es mir weder möglich, meinen Weg fortzusetzen noch zurückzugehen. Ich werde nie wieder irgendwohin gelangen.

Da höre ich ein „Pst!“, ganz in meiner Nähe. Die Sonnenblenden des Parterrefensters zu meiner Linken öffnen sich einen Spalt, und eine Stimme flüstert hastig: „Hier! Hier!“ Die Fensterläden schwenken auf, und ich begreife und klettere schnell ins Innere des Hauses. Sofort wird die Jalousie wieder geschlossen, und ich befinde mich in einem stockfinsteren Raum. „Hierher!“, höre ich die Stimme wispern, von der ich nicht sagen kann, ob sie einem Mann oder einer Frau gehört, einem Kind oder einem alten Menschen. Ich spüre, wie mich eine Hand an der Schulter ergreift und mich vorsichtig durch das dunkle Zimmer bugsiert. Als ich mit meinen Knien gegen etwas Weiches stoße, werde ich im Flüsterton gebeten, auf dem Sofa Platz zu nehmen. Ich gehorche und höre, wie mein Retter in einen Nebenraum geht. Einige Minuten lang dringen Geräusche von drüben zu mir, die klingen, als würde jemand versuchen, möglichst leise in einer Kiste mit Werkzeug und Schrauben oder Nägeln nach etwas zu kramen. Dann vernehme ich ein, zwei, drei Hammerschläge und auf einmal nur noch Stille. Ich lehne mich zurück und schließe die Augen, weil ich so genauso viel sehe wie mit offenen Lidern. Ich fühle mich nicht unwohl, fast ein wenig schläfrig. Ein bisschen ist es wie früher, als ich ein Kind war und nachts, in eine warme Decke gewickelt, in der Stube meiner Großeltern lag und vor dem Einschlafen noch Bilder von Tageseindrücken meinen Geist umblitzten wie ein Wetterleuchten.

Aus dem Nebenraum nach wie vor Stille und Schweigen, doch dann spüre ich, wie jemand etwas Weiches auf meinen Schoß legt, und höre dicht neben mir die Wisperstimme sagen: „Ziehen Sie diese Sachen an und setzen Sie die Maske auf!“ Es ist mir unangenehm, aber wie zur Beruhigung fährt die Stimme fort: „Vertrauen Sie mir, es ist zu Ihrer Sicherheit.“ Also gehorche ich, entledige mich meiner Kleidung, schlüpfe ins Gewand, das mir wie angegossen passt, und ziehe mir die Maske über mein Gesicht. Die Gestalt entfernt sich wieder. Ich höre, wie sich im Nebenraum eine Tür öffnet und dann wieder schließt. Lange Zeit sitze ich in meinen neuen Kleidern auf dem Sofa und lausche, aber kein weiterer Ton, kein Geräusch dringt zu mir.

Irgendwann beschließe ich, nun doch aufzustehen. Ich taste mich langsam durch das Zimmer, bis ich die Tür finde. Dahinter ist es auch dunkel. Es riecht nach feuchtem Verputz. Ich tappe blindlings weiter und habe das Gefühl, in einem langen Korridor zu sein. Wieder stoße ich an eine Tür. Ich öffne sie und bin vom Sonnenlicht geblendet. Ohne einen Blick zurück lasse ich die Tür hinter mir ins Schloss fallen und stelle fest, dass ich mich inmitten einer belebten Fußgängerzone befinde, eine Luxusboutique neben der anderen, Pelzgeschäfte und Juweliere, und vor jedem Eingang ein bewaffneter und uniformierter Wachmann. Als ich durch die Augenschlitze meiner Maske an mir herabblicke, sehe ich, dass ich gekleidet bin wie jemand aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert, und rundum schauend konstatiere ich, dass außer den Sicherheitsleuten vor den Nobelgeschäften und den patrouillierenden Polizeitrupps auch alle anderen Passanten gewandet sind wie für einen Kostümfilm. Ich streiche mit einer gewissen Genugtuung, die sich nicht unterdrücken lassen will, und einer seltsamen Befriedigung über meinen feinen Gehrock, während ich mich gemächlich in Bewegung setze, um wie alle anderen Kostümierten über den sonnendurchfluteten Einkaufsboulevard zu bummeln, und ein lauer Wind liebkost gar zärtlich meine Wangen.

Die Mehrzahl der kleinen Tische in diesem Kaffeehaus ist besetzt, jeweils nur von einem Gast, zum Großteil alte Männer. Hier bin ich richtig, hier kann ich den Tag vor mir ausbreiten wie eine Landkarte, kann mich im Anblick ihres Aderngeflechts verlieren – oder besser gesagt sammeln. Der Tag behält so seine Würde und wird nicht gleich von jedwedem Vorhaben zerschreddert. Das Kaffeehaus wirkt beinahe wie ein Privatsanatorium, und der livrierte Kellner ist der Pfleger.

Und dann, eines Morgens, betritt kurz nach mir eine schöne Frau das Lokal, stellt sich in die Mitte des Raumes, klatscht dreimal in die Hände und spricht die Wandlungsworte: „Das ist mein Blut, das für euch …“ Sie greift wie ein Zauberer in die Sakkotasche eines Gastes, eines älteren Herrn, holt ein verschlossenes Kuvert hervor, öffnet es vor den Augen aller und präsentiert den Zettel, der darin gesteckt ist, und darauf steht der Folgesatz: „Nehmt und trinkt alle davon …“ Die Zuschauer sind verblüfft und lachen und applaudieren, nur ich greife erschrocken in die Innentasche meines Sakkos, denn womöglich steckt auch da so ein Kuvert, und wirklich ziehe ich einen weißen Umschlag hervor, den ich vorher noch nie gesehen habe, reiße ihn auf und lese auf dem darin enthaltenen Zettel dieselben Worte. Ein fauler Trick, denke ich.

Und schon geht die unbekannte Schöne mit einem Hut herum, in den die Gäste bereitwillig Münzen fallen lassen. Als sie an meinen Tisch tritt, öffne ich mein Portemonnaie, doch alles, was ich im Kleingeldfach finde, ist ein blutiger Milchzahn. Das ist mir peinlich, und ich klappe brüsk mein Portemonnaie zusammen, zerreiße den Umschlag, den ich zuvor in meiner Sakkotasche gefunden habe, und blicke demonstrativ desinteressiert aus dem Fenster. Draußen fährt gerade eine Straßenbahn vorbei. Ich mag diese paar Sekunden, in denen man die Passagiere im Vorüberfahren mustert und sie einen zurückmustern. Im höchsten Stock des Zinshauses gegenüber steht ein Fenster offen, und der Wind hat die Vorhänge herausgezerrt, mal bauschen sie sich und mal fallen sie zurück auf das Fensterbrett und werden ins Zimmer hineingezogen. Und wie man sich sehnen kann.

Nachdem ich meine Wünsche ausgeweidet habe, bin ich meistens müde und setze mich auf einen kleinen, dreibeinigen Schemel, der wackelt, weil seine Beine schlecht verleimt sind. Ich versuche dann, wie eine dicke alte Frau auszusehen, die ein totes Federvieh rupft, und gleichzeitig möchte ich meinem behinderten Zwillingsbruder ähneln, den es nicht gibt. Ich tue dabei, als hätte ich keine Zähne mehr, und murmle und nuschle Satzfetzen wie „Die Krötenwanderung am Himmel …“ und „Der Wildwechsel meiner Worte …“ oder „Dein Schweigen für etwas Erde …“ und „Der toten Tiere wegen …“.

Diesmal mache ich es allerdings anders. Ich ignoriere meine Müdigkeit und warte, bis die Geisterstunde vorbei ist. Das hat den Vorteil, dass die Geisterjäger wieder mit sich selbst beschäftigt sind, zuhause sitzen und ihre Fotoalben mit den Bildern von toten Tauben und lebenden Regenwürmern durchblättern. Dann lege ich mich auf die Straße vor meinem Haus. Nicht wie ein Verunglückter oder ein Betrunkener, sondern wie einer, der sich ausruhen möchte. Und es dauert nicht lange, bis mich ein Fußgänger anspricht, warum ich daliege wie ein Sandler, obwohl ich doch gar nicht wie ein Sandler aussehe. Statt zu antworten, hebe ich die Hand wie ein Sportstar, dem aufgrund einer richterlichen Fehlentscheidung ein Weltrekord bei den Olympischen Spielen aberkannt wurde und dem bei seiner Rückkehr am heimatlichen Flughafen eine Sympathiewelle von solidarischen Bewunderern entgegenbrandet. Dann schließe ich die Augen, um zu hören, wie sich der Fußgänger wieder entfernt. Dieses Mal habe ich den Kürzeren gezogen. Ich wollte zu raffiniert sein. Jetzt muss ich mich gedulden, bis sich neben mir ein Regenwurm aus den Ritzen zwischen dem Kopfsteinpflaster bohrt oder eine verendende Taube meine Nähe sucht, um ihr Leben auszuhauchen.

Anfangs ist da nur ein bläulich-sanftes Flämmchen, das auf der Spitze meiner rechten großen Zehe emporzüngelt, an einigen Stellen ins Grünlichgelbe hinüberspielend, und erst nach einer Weile gesellt sich ein Rot hinzu, und es erinnert mich ganz und gar an das Tischfeuerwerk von den Silvesterfeiern meiner Kindheit – da gab es solche bunt flammenden Scheiben, die hießen Pfauenherzen, wenn ich mich nicht täusche. Nun, jedenfalls liege ich da, leicht an die Wand gelehnt, und beobachte, wie meine Zehe allmählich so richtig zu brennen beginnt. Es kommt mir vor, als wäre sie weiter weg als sonst, vielleicht bin auch ich einfach nur weiter weg. Jetzt steht sie schon ganz in Flammen, das Fleisch verschmort und färbt sich dunkel, und das Feuer hat auch auf die Nachbarzehen übergegriffen. Ein beeindruckendes Schauspiel, und doch bin ich irgendwie teilnahmslos. Es ist, als würde ich ein Kaminfeuer betrachten, vom Element zwar gebannt, aber doch nicht so ganz bei der Sache. Nun brennt mein ganzer Fuß. Eigenartig, wie kühl mir dabei ist. Mir ist, als würde ich einen Stein anstarren oder einen zerknüllten Stofflumpen, der Feuer gefangen hat, warum auch immer, es geht mich nichts an. Schon hat der Brand mein Bein erfasst. Während sich bei meinen Zehen bereits die Knochen im verkohlten Fleisch zeigen, nähren sich die Flammen gierig an Fett und Muskelmasse meines Unterbeins. Und ich liege da und lasse das Spektakel auf mich wirken, obwohl ich es genau genommen gar nicht als Spektakel auffasse, und nach wie vor habe ich keinen blassen Schimmer, was ich von der ganzen Sache halten soll. Im Grunde interessiert es mich nicht so wirklich, es ist mir eher egal, ich sehe nur, dass mein Bein brennt und die Flammen am Bein hinaufwandern, und ich blicke nur darauf, weil es im Moment das Naheliegendste ist, auf das ich blicken kann. Würde ich meinen Blick durch das Zimmer schweifen lassen, würde ich bloß sehen, was ich ohnedies bis zum Überdruss kenne: die vermodernde Kommode mit den aufgestellten Rahmen, in denen Fotos von mir unbekannten Menschen stecken; die Vitrine mit den zerschlagenen Scheiben, darin allerhand Kleinkram wie Miniaturfiguren, Mineralien, Reiseandenken; die Bücherwand, deren auffällige Eigenart es ist, dass die Bücher mit dem Rücken zur Regalinnenwand eingereiht stehen, sodass man die Titel nicht lesen kann; an der Wand gegenüber ein zerfledderter und schief hängender Kalender, auf dem weder Monat noch Jahreszahl zu erkennen sind; in der einen Ecke der verrostete Ofen, in der anderen ein Haufen verstaubter Holzscheite, und sonst bloß Taubendreck. Nichts erzeugt auch nur annähernd Neugier bei mir, es genauer in Augenschein zu nehmen, allein mein brennendes Bein ist es, dem ich meine Aufmerksamkeit widme, aber auch das nur, weil es eben so naheliegend ist. Der Geruch nach verbranntem Fleisch löst kein Hungergefühl bei mir aus, obwohl ich schon seit einigen Tagen nichts gegessen habe. Siehe da, die Matratze unter mir hat auch Feuer gefangen. Einigermaßen rasant schließen die Flammen mein linkes Bein und meinen Unterleib ein, hoch lodern sie, hinauf bis zum Plafond, von dem schon seit längerem der wegen mehrerer undichter Stellen im Dach feuchte Jahrhundertwendestuck herunterzubröckeln begonnen hat. Als das Feuer meinen Bauch und die Brust emporklettert, rutsche ich ein wenig nach vorne, um mich ganz flach auf den Rücken legen zu können. Zwar sehe ich so das Flammenschauspiel nicht, aber darauf kommt es mir letztlich nicht an. Ich ahne nur, wie meine Lippen zu schmoren beginnen und sich meine Nase entzündet, und weiter steigt das Feuer über meine Augenlider und die Stirn bis zu den Haaren, die, weil ich sie schon länger nicht gewaschen habe, einen sicherlich noch besseren Brennstoff abgeben. Und so ist es vollbracht: Ich brenne lichterloh. Erstaunlich! Ich fühle mich nun auch etwas erschöpft, doch einmal hebe ich noch den Kopf und registriere mit leichter Verblüffung die Blicke mehrerer Personen, die um mich herum in diesem Zimmer liegen. Sind sie mir vorher nur nicht aufgefallen, oder haben sie sich erst in der letzten Minute eingefunden, als Schaulustige der Feuershow? Oder kann es sein, dass sie mich gar nicht sehen, denn, wie mir auffällt, stehen auch ihre Zehen und Füße und teilweise schon ihre Unterleiber in Flammen, und ihre Blicke richten sich allem Anschein nach nicht auf mich, sondern auf ihre brennenden Extremitäten. Doch als ich weiter darüber sinniere, kommt mir zu Bewusstsein, dass mich das alles, wie gesagt, a) prinzipiell nichts angeht, b) eigentlich überhaupt nicht interessiert und c) in letzter Konsequenz vollkommen kalt lässt, und mit diesen klaren und – wie ich finde – positiven Gedanken im Kopf drehe ich mich zur Wand, um endlich Schlaf, Ruhe und ein bisschen Frieden zu finden.

Immer noch habe ich leichtes Fieber, doch spüre ich schon eine Besserung. Um ihr entgegenzuwirken, zwinge ich mich zu schwerer körperlicher Arbeit, bis mir der Schweiß vom Scheitel bis in die Schuhe rinnt, und setze mich dann in eine zugige Ecke. Am nächsten Morgen stelle ich fest, dass ich erfolgreich war. Meine Temperatur ist wieder erhöht, und ich bin souverän und gelassen wie der Missionar von Amazonasindianern, der die Entscheidung getroffen hat, für immer seinen anerzogenen Glauben abzulegen und stattdessen die Lebensweise des Stammes anzunehmen. Jede Bewegung strengt an. Alle Muskeln schmerzen. Kaum gelingt Schlaf, und wenn, dann platzt er aus allen Nähten vor verwirrenden Träumen.

Ich gehe im Schlamm einen steilen Weg hinauf. Die Erde saugt mich an sich. Die Sonne scheint mich in ihren Brutkasten zu ziehen, der Mond gießt Quecksilber von den Zinnen. Doch mein Körper arbeitet gegen mich. Nach einigen Tagen verweigert er die erhöhte Temperatur und findet ein Versteck, das ich bei bestem Willen nicht ausfindig machen kann. Ich suche an den Orten, wo ich selber etwas verstecken würde, aber es ist, als wäre mein Körper in einem blinden Fleck oder als würde er sein Versteck ständig ändern: Hebe ich den einen Stein hoch, verbirgt er sich schon unter dem anderen. Ich finde ihn weder im Zuckerstreuer noch im Spülkasten, nicht im Fahrradrahmen, nicht im Batteriefach und nicht in dem altmodischen Wecker, den man noch aufziehen muss.

Da hege ich den Verdacht, dass ich selbst meinem Körper sein Versteck bereitstelle, so wie manche Schmuggler ihre Konterbande verschlucken. So wird es sein. Ich zwinge mich zu erbrechen, aber außer der letzten Mahlzeit kommt nichts zum Vorschein. Wahrscheinlich krallt sich mein Körper mit aller Kraft in mir fest und lacht sich scheckig über meine Anstrengungen, ihn ans Tageslicht zu bringen. Also, ich gebe auf. Ich gehe ins Badezimmer, um mir den Mund auszuspülen, und da steht er, mein Körper, und er blickt mich an, verschmitzt und zugleich schuldbewusst grinsend wie jemand, den man einer kleinen Gaunerei überführt hat, dem man aber nicht böse sein kann, weil man ihn lieb hat, und das weiß er auch.

Eines Tages werde ich es ihm heimzahlen. Ich werde mir eine Werwolfmaske kaufen, ihm im dunklen Badezimmer auflauern und ihn zu Tode erschrecken, wenn er morgens, weich und verwischt vom Schlaf, das Licht anschaltet, um sich das Gesicht mit kaltem Wasser zu erfrischen. Vielleicht aber braucht es den ganzen Zinnober mit der Werwolfromantik nicht. Ich könnte mich auch einfach nur erinnern an einen Schwarm von Staren, der dicht über einem noch grünen Feld wogt und immer wieder darin eintaucht wie eine Hand in eine große Schale mit getrockneten Linsen, und die Genugtuung wird dieselbe sein.

Später, gegen Abend, sitze ich, kurz vor der Sperrstunde, in einer alten, verlotterten Konditorei. Ein Mann fragt, ob er sich dazusetzen darf, obwohl noch genügend Tische im Lokal frei sind. Er sieht grau und einsam aus, hustet und liest Zeitung. Erst jetzt kann ich mich konzentrieren, und ich rauche, aus Sympathie zu ihm, wie er meine Zigarette bis zum Filter. Ich weiß plötzlich, dass alles an mir liegt, die Welt, die Menschen, ihr Befinden. Gebe ich auf, geht die Welt flöten. Bin ich erhaben genug, erheben sich auch die Menschen. An einem Tisch gegenüber sitzt ein Mädchen, dem der Rauch seiner Zigarette in die Augen zieht, während es auf sein Handy blickt.

Ein Lied, man fängt es an zu singen und kommt nicht über die ersten Zeilen hinaus. Immer schaut die Kellnerin in eine andere Richtung, wenn man zahlen will. Eine Viertelstunde lang sieht man immer wieder einen Wagen, der einem den dringlich benötigten Parkplatz wegschnappt. Und ist man dann zuhause, trennt man sich von seiner Liebe, auch das zu spät. Nicht einzuholen die Erdbeben, die Kastanienbäume, die Mauern vom Schloss Apropos.

Meine Gedanken haben heute einen unverbindlichen Plauderton. Sie folgen mir wie eine Schar Schulkinder, denen ein Ausflug in den Vergnügungspark versprochen worden ist. Ich liebe es, wie sie, manche Hand in Hand, mit ihren bunten Jacken und Jausenbeuteln, sich tummeln und zur Geduld ermahnt werden müssen. Eines von ihnen hat diese Brillen, bei denen das eine Glas zugeklebt ist. Ein anderes Kind hat ein verdrehtes Bein und humpelt. Das Haar eines Mädchens ist kurzgeschoren, weil es Schuppenflechte hat. Ein anderes trägt ein Hörgerät und wirkt immer ein bisschen verloren. Zusammen durchschwärmen wir die Stadt, und die Blicke der Liebenden fliegen uns zu wie zahme Jungvögel, die gestreichelt werden wollen.