Foto: © Heather Weston
DIE AUTORIN
Maureen Johnson kam während eines Schneesturms in Philadelphia zur Welt. Als Einzelkind blieb ihr nichts anderes übrig, als ihre Zeit mit Lesen und Schreiben totzuschlagen, deshalb fasste sie schnell den Entschluss, Schriftstellerin zu werden. Sie studierte Theatrical Dramaturgy und Writing an der Columbia University und schrieb 2004 ihren ersten Roman für Jugendliche. Weitere folgten. Die Autorin lebt in New York, ist oft auf Lesereise in Großbritannien, verbringt aber bewiesenermaßen die meiste Zeit auf Twitter.
Maureen Johnson
Die Schatten
von London
Aus dem Englischen
von Anja Galić
Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House
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1. Auflage
Deutsche Erstausgabe Januar 2015
© 2011 by Maureen Johnson
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»The Name of the Star«
bei G.P. Putnam’s Sons, a division of Penguin Young Readers
Group, New York.
© 2015 für die deutschsprachige Ausgabe by cbt Verlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Aus dem Englischen von Anja Galić
Lektorat: Kerstin Kipker
Umschlaggestaltung: init | Kommunikationsdesign,
Bad Oeynhausen
unter Verwendung eines Motivs von
Jacket design by Elizabeth Wood. Jacket photo (man) by
Michael Frost. Jacket photo (girl) by Veronique Thomas and
Rebecca Parker
mg · Herstellung: kw
Satz: Buch-Werksatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-14803-4
V002
www.cbt-buecher.de
Für Amsler.
Danke für die Milch.
Durward Street, East London
31. August
04:17 Uhr
Londons Augen folgten Claire Jenkins durch die Nacht.
Natürlich bekam sie davon nichts mit. Niemand achtete auf die Kameras. Es wurde als gegeben hingenommen, dass London eines der umfangreichsten Überwachungssysteme der Welt besaß. Vorsichtig geschätzt befanden sich eine Million Kameras in der Stadt, die tatsächliche Anzahl war jedoch vermutlich weitaus höher und nahm stetig zu. Die Aufnahmen gingen an die Polizei, Sicherheitsfirmen, den Nachrichtendienst MI5 und an einige Tausend Privatpersonen. Auf diese Weise entstand ein engmaschiges und flächendeckendes Überwachungsnetz, das früher oder später jeden einfing.
Geräuschlos zeichneten die Kameras auf, wie Claire in die Durward Street bog. Es war vier Uhr siebzehn und sie hätte bereits um vier bei der Arbeit sein sollen. Sie hatte vergessen, den Wecker zu stellen, und jetzt musste sie ins Royal London Hospital rennen, damit sich ihre Verspätung wenigstens noch im Rahmen hielt. Dort würde man schon alle Hände voll mit den üblichen Auswirkungen einer durchzechten Nacht zu tun haben – Alkoholvergiftungen und Verletzungen durch Stürze, Prügeleien, Autounfälle und Messerstechereien. Die Opfer dieser nächtlichen Verfehlungen landeten nämlich für gewöhnlich alle in der Frühschicht.
Es musste in Strömen geregnet haben, überall lauerten tiefe Pfützen. Das einzig Gute an diesem verkorksten Morgen war, dass es mittlerweile nur noch ganz leicht nieselte und sie nicht auch noch klatschnass wurde. Sie holte ihr Handy heraus, um einer ihrer Kolleginnen zu schreiben, dass sie gleich da sein würde. Das Licht des leuchtenden Displays umgab ihre Hand wie ein kleiner Heiligenschein. Es war ziemlich schwierig, im Gehen eine SMS zu tippen, zumindest wenn man nicht über eine Bordsteinkante stolpern oder gegen einen Laternenpfahl laufen wollte. Verrate mich …
Leise vor sich hin fluchend löschte Claire das Geschriebene wieder und fing noch einmal von vorne an, aber auch beim dritten Versuch erschien statt Verspäte immer das Wort Verrate. Es ging nicht ums Verraten, sondern ums Verspäten, verdammt noch mal. Stehen bleiben und die Nachricht korrigieren wollte sie allerdings auch nicht. Dafür war jetzt wirklich keine Zeit, und die Nachricht würde bestimmt auch so verstanden werden.
… bin in 5 Minuten …
Sie stolperte. Das Handy flog ihr aus der Hand und schwebte sternschnuppengleich durch die Nacht, bis es auf dem nassen Asphalt aufschlug und sein Schein erlosch.
»Scheiße!«, schimpfte sie. »Nein, nein, nein! Bitte sei nicht kaputt …«
In ihrer Sorge um das Schicksal ihres Handys bemerkte Claire zunächst nicht, worüber sie gestolpert war. Sie hatte lediglich registriert, dass es groß und schwer war und nachgegeben hatte, als sie mit dem Fuß dagegen gestoßen war. Im dämmrigen Licht der Straßenlaternen sah es aus wie ein seltsam geformter Müllsack – ein weiteres Hindernis, das sich ihr an diesem verflixten Morgen in den Weg stellte.
Sie kniete sich hin und suchte den Boden nach ihrem Handy ab. »Na toll«, murmelte sie, als sie merkte, dass sie sich mitten in eine Pfütze gekniet hatte. Immerhin dauerte es nicht lange, bis sie es hinter einem am Straßenrand stehenden Mülleimer aufgespürt hatte, nur gab es jetzt keinerlei Lebenszeichen mehr von sich. Ohne große Hoffnung drückte sie die Starttaste, als das Handy zu ihrer freudigen Überraschung anging und abermals seinen sanften Heiligenscheinschimmer verbreitete. Erst in dem Moment bemerkte sie etwas Klebriges an ihrer Hand. Die Konsistenz kam ihr extrem vertraut vor, genauso wie der leicht metallische Geruch.
Blut. Ihre Hand war über und über mit Blut beschmiert. Jeder Menge Blut. Seine Beschaffenheit erinnerte ganz entfernt an Gelee, was bedeutete, dass die Gerinnung bereits eingesetzt hatte. Und dass es geronnen war, hieß, es konnte sich nicht um ihr eigenes Blut handeln. Claire drehte sich um und benutzte ihr Handy als Taschenlampe, um besser sehen zu können. Sie war über einen Menschen gestolpert. Hastig beugte sie sich über die reglose Gestalt und griff nach ihrer Hand. Sie war kühl, aber nicht kalt.
»Hallo? Können Sie mich hören?«, fragte sie. »Können Sie sprechen?«
Sie ließ den Blick über die verletzte Person wandern, die in einer ledernen Motorradkluft steckte und einen Helm aufhatte, und streckte die Hand aus, um an ihrem Hals nach dem Puls zu fühlen.
Sie griff ins Leere.
Es dauerte einen Moment, bis sie diese Erkenntnis und was sie bedeutete, verarbeitet hatte, dann tastete sie entsetzt die Umrandung des Helms ab, um herauszufinden, wie groß die Wunde war. Sie tastete und tastete, bis ihr schließlich klar wurde, dass der Kopf fast vollständig vom Körper abgetrennt war und die Pfütze, in der sie kniete, mit ziemlicher Sicherheit nicht aus Regenwasser bestand.
Den Augen entging nichts davon.
Die Rückkehr
Dann darf der Totschläger zurückkommen in seine Stadt und in sein Haus, in die Stadt, aus der er geflohen ist.
Buch Josua 20,6
1
Sobald für den Großraum New Orleans ein Hurrikan vorhergesagt wird, bricht die Hölle los. Nicht etwa unter den Anwohnern, sondern in den Medien. Sie beschwören die reinsten Weltuntergangsszenarien herauf, damit wir die Sache nur ja ernst nehmen. Meine Heimatstadt Bénouville – Ben-ah-will ausgesprochen – hat tausendsiebenhundert Einwohner und liegt im US-Bundesstaat Louisiana. Hier wappnet man sich normalerweise mit Bier und Eis (um das Bier zu kühlen, falls der Strom ausfällt) gegen Hurrikans. Unser Nachbar Billy Mack hat außerdem ein Ruderboot startklar auf seinem Verandadach festgezurrt, für den Fall, dass das Wasser steigen sollte – aber Billy hat in seiner Garage auch seine eigene Religion gegründet und hält dort Messen ab, für ihn geht es also um weit mehr als nur um seine persönliche Sicherheit.
Jedenfalls ist Bénouville ohnehin kein besonders sicherer Ort, weil es nämlich mitten in einem Sumpfgebiet errichtet wurde. Eine ziemlich blöde Idee, wie jedem hier klar ist, aber da nun mal nichts mehr daran zu ändern ist, müssen wir einfach damit leben. Ungefähr alle fünfzig Jahre fallen mit schöner Regelmäßigkeit sämtliche Gebäude entweder einer Überschwemmung oder einem Hurrikan zum Opfer. Nur das alte Hotel bleibt seltsamerweise immer verschont. Wenn der ganze Spuk dann vorbei ist, kehren die Leute – verrückt wie sie nun mal sind – zurück und bauen alles wieder neu auf. Meine Familie, die Deveaux, lebt schon seit Generationen im wunderschönen Ortskern von Bénouville, was wohl hauptsächlich daran liegt, dass man hier nirgendwo anders wohnen kann. Nicht dass mich jemand falsch versteht – ich liebe meine kleine Heimatstadt. Aber wenn man sein ganzes Leben hier verbringt und nie auch mal etwas anderes kennenlernt, wird man früher oder später unweigerlich zum Kauz.
Meine Eltern sind die Einzigen in unserer Familie, die schon einmal eine Zeit lang woanders gelebt haben. Sie waren auf dem College, studierten danach an der juristischen Fakultät und arbeiteten anschließend beide als Juraprofessoren an der Tulane University, einer privaten Universität in New Orleans. Schon damals fassten sie den Entschluss, irgendwann einmal für eine Weile aus Louisiana fortzugehen, weil sie der Meinung waren, dass es uns dreien guttun würde. Vor vier Jahren, kurz bevor ich auf die Highschool wechseln sollte, beantragten sie schließlich ein Sabbatjahr und bewarben sich an der Universität von Bristol als Dozenten für amerikanisches Recht. Jetzt war es so weit, und ich durfte mir aussuchen, wo in England ich zur Schule gehen und meinen Abschluss machen wollte. Ich entschied mich für ein Internat in London.
Bristol und London sind sehr weit voneinander entfernt – zumindest für englische Maßstäbe. Bristol liegt im Westen Englands und die Hauptstadt London tief im Süden. Was der Engländer jedoch unter »sehr weit voneinander entfernt« versteht, nämlich eine Zugfahrt von ein paar Stunden, ist für einen Amerikaner ein Witz. Aber London ist eben London, und so hatte ich mich für Wexford entschieden, ein Internat im Londoner East End. Bevor in England das Schuljahr und in Bristol die Vorlesungen an der Universität beginnen würden, wollten meine Eltern und ich gemeinsam nach London fliegen, um uns die Stadt anzusehen. Anschließend würden meine Eltern nach Bristol weiterreisen, wo ich sie in regelmäßigen Abständen an den Wochenenden besuchen wollte.
Doch dann gab es für New Orleans eine Hurrikan-Warnung und die Fluggesellschaft strich aus Sicherheitsgründen erst einmal sämtliche Flüge. Der Hurrikan entschied sich zwar letztlich anders und nahm einen Umweg über den Golfstrom, wo er sich in mittelschweren Regenstürmen entlud, aber die Entwarnung kam leider zu spät. Unser Flug war bereits gecancelt worden, und am Flughafen herrschte ein paar Tage lang völliges Chaos. Schlussendlich bot uns die Airline einen Flug nach London mit Zwischenstopp in New York an. Allerdings nur für eine Person. Da mein Schuljahr in Wexford früher begann als die Vorlesungen meiner Eltern in Bristol, erhielt ich das Ticket. Und so kam es, dass ich schließlich ganz allein nach London flog.
Was ich gar nicht so schlimm fand. Die Reise dauerte zwar ewig – drei Stunden bis nach New York, wo ich zwei Stunden Aufenthalt hatte, bevor mein sechsstündiger Anschlussflug nach London ging –, aber alles war so aufregend und neu, dass ich jede Minute davon genoss. Ich blieb die ganze Nacht während des Flugs wach, schaute englisches Fernsehen oder lauschte dem fremden britischen Akzent der anderen Passagiere.
Nachdem ich es in London durch den Zoll geschafft hatte, musste ich mir erst einmal einen Weg durch den Duty-Free-Bereich bahnen, wo man überall in Versuchung geführt wurde, auf den letzten Drücker noch steuerfrei Unmengen an Parfüm und Zigaretten zu kaufen. Am Ausgang wurde ich von einem Mann mit schlohweißem Schopf empfangen, der ein Polohemd mit dem Wexford-Emblem auf der Brusttasche trug. Aus seinem geöffneten Hemdkragen lugten drahtige weiße Brusthaare hervor, und als ich vor ihm stehen blieb, schlug mir eine dicke Wolke Aftershave entgegen.
Er sah mich fragend an. »Aurora?«
»Rory«, bat ich ihn lächelnd. Meine Urgroßmutter hieß Aurora und ich habe den Namen sozusagen von ihr geerbt, aber weder ich selbst noch meine Eltern haben mich je so genannt.
»Ich bin Mr Franks und bringe dich nach Wexford. Warte, ich helfe dir mit dem Gepäck.«
Ich hatte zwei fast schon absurd riesige Koffer dabei, von denen jeder allein schon mehr wog als ich und die mit großen orangefarbenen Etiketten versehen waren, auf denen Achtung Schwer stand. Neun Monate waren schließlich eine lange Zeit, die ich zudem an einem ziemlich kalten und nassen Ort verbringen würde, da kam nun mal einiges an Klamotten und persönlichen Dingen zusammen. Ich hielt meine beiden Monsterkoffer also für absolut unentbehrlich, und trotzdem widerstrebte es mir, sie von jemandem schleppen zu lassen, der aussah, als könne er mein Großvater sein. Aber Mr Franks bestand darauf.
»Du hast dir vielleicht einen Tag für deine Ankunft ausgesucht, das muss ich schon sagen«, ächzte er, während er meine Koffer hinter sich her zerrte. »Heute Morgen stand überall auf den Titelblättern, dass in der Stadt ein Irrer einen auf Jack the Ripper macht.«
Ich nahm an, dass es sich bei »einen auf Jack the Ripper machen« um eine typisch englische Redewendung handelte, die ich noch nicht kannte. Ich hatte schon einige im Internet recherchiert, um den Durchblick zu behalten, wenn zum Beispiel von »Quid« (umgangssprachliche Bezeichnung für ein englisches Pfund) oder »Jammy Dodgers« (beliebte britische Kekssorte) und solchen Dingen die Rede war. Der Jack-the-Ripper-Spruch war mir allerdings neu. Deswegen nickte ich nur höflich lächelnd, während ich mich mit ihm zu der Menschentraube gesellte, die vor den Aufzügen wartete.
Auf dem offenen Parkdeck blies uns ein kühler Wind entgegen. Die Londoner Luft war überraschend frisch und klar, auch wenn sie leicht metallisch roch. Der Himmel spannte sich wie eine dicke graue Decke über uns, und ich fand es unglaublich kalt für August. Trotzdem war alle Welt in Shorts und T-Shirt unterwegs. Ich trug zwar ebenfalls nur Jeans und T-Shirt, fror mir darin aber den Hintern ab. Am meisten verfluchte ich meine Flip-Flops, die ich nur angezogen hatte, weil es auf einer Reisewebsite empfohlen worden war – angeblich aus Gründen der Flugsicherheit. Da hatte aber nirgends gestanden, dass man in den Dingern während des Fluges Eisklötze an den Füße bekommt oder dass man in England unter »Sommer« etwas völlig anderes versteht als im Rest der Welt.
Als wir den Kleintransporter des Internats erreicht hatten, wuchtete Mr Franks keuchend mein Gepäck in den Kofferraum und lehnte dabei entschieden jede Hilfe von mir ab. Also ließ ich ihn machen, obwohl ich insgeheim befürchtete, dass er von der Anstrengung einen Herzinfarkt erleiden könnte, was jedoch zum Glück nicht eintrat.
»Rein mit dir«, sagte er, nachdem er die Koffer verstaut hatte. »Die Tür ist offen.«
Gerade noch rechtzeitig fiel mir ein, auf der linken Wagenseite einzusteigen, und ich fand mich ziemlich ausgeschlafen für jemanden, der seit vierundzwanzig Stunden kein Auge zugetan hatte. Nachdem Mr Franks sich ans Steuer gesetzt hatte, verschnaufte er erst einmal, bevor er den Motor startete und ich mein Fenster ein Stück hinunterlassen konnte, um in seiner Rasierwasserwolke nicht zu ersticken.
»In den Nachrichten wird von nichts anderem mehr gesprochen«, fuhr er übergangslos und immer noch ein bisschen außer Atem fort. »Es ist in der Nähe der Whitechapel Road passiert, gleich um die Ecke des Royal Hospital – ausgerechnet! Wexford liegt mitten in den ehemaligen Jagdgründen des Rippers. Die ganze Stadt ist deswegen in Aufruhr. Na ja, zumindest die Touristen mögen den guten alten Jack.«
Er schaltete das Radio ein, und ich lauschte den Nachrichten, während er die gewundene Flughafen-Ausfahrt entlangfuhr.
»… die einunddreißigjährige Werbefilmerin Rachel Belanger, deren Studio sich auf der Whitechapel Road befindet. Den Behörden zufolge erinnert die Art, wie sie getötet wurde, an den ersten Mord von Jack the Ripper im Jahr 1888 …«
Immerhin wusste ich jetzt, was »einen auf Jack the Ripper machen« bedeutete.
»… Leiche wurde heute Morgen kurz nach vier in der Durward Street gefunden, die 1888 noch Bucks Row hieß, und zwar an derselben Stelle, in gleicher Position und mit ähnlichen Verletzungen wie damals Mary Ann Nichols, dem ersten Opfer von Jack the Ripper. Obwohl die Ähnlichkeiten zwischen diesem und dem am 31. August 1888 begangenen Mord geradezu frappierend sind, hält Detective Chief Inspector Simon Cole von Scotland Yard derartige Vergleiche jedoch für verfrüht und geht davon aus, dass es sich lediglich um zufällige Übereinstimmungen handelt. Für weitere Informationen zu diesem Fall schalten wir nun zu unserem Chefredakteur Lois Carlisle …«
Mr Franks fuhr gefährlich dicht an den Parkhauswänden vorbei, während er den Wagen die serpentinenartige Ausfahrt entlangsteuerte.
»… Jack the Ripper schlug 1888 insgesamt viermal zu. Am 31. August, am 8. September, am 30. September – wobei es sich hier um eine Art Doppelmord handelt, weil an jenem Tag zwei Morde verübt wurden, und zwar in einem Zeitraum von weniger als einer Stunde – und zuletzt am 9. November. Niemand weiß, was aus Jack the Ripper wurde oder warum er mit dem Morden aufhörte …«
»Schlimme Sache«, brummte Mr Franks, als wir das Ende der Ausfahrt erreichten. »Wexford liegt nur fünf Minuten von der Whitechapel Road entfernt und damit wie gesagt mitten im Revier des Rippers. Deswegen pilgern täglich etliche Touristen an unserem Internat vorbei, und jetzt werden es mit Sicherheit noch mehr werden.«
Mittlerweile waren wir auf einer Schnellstraße, bis wir uns nach einer Weile plötzlich in einem belebten Viertel mit langen Häuserzeilen, indischen Restaurants und Imbissbuden wiederfanden. Anscheinend hatten wir die Stadt erreicht, ohne dass ich es mitbekommen hatte. Nachdem wir ein Stück am südlichen Themseufer entlanggefahren waren, überquerten wir eine der Brücken und waren auf einmal mitten im Herzen von London.
Ich weiß nicht mehr, wie oft ich mir schon die Fotos von Wexford auf der Website des Internats angeschaut hatte, und ich wusste so ziemlich alles, was es über seine Geschichte zu wissen gab. Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gehörte das Londoner East End zu den ärmsten Vierteln der Stadt. Es ging dort ungefähr so zu, wie es in den Büchern von Charles Dickens beschrieben wird. Überall lauerten Taschendiebe und anderes Gesindel, und es gab sogar Eltern, die in ihrer Not die eigenen Kinder für ein Stück Brot verkauften. Wexford war damals mithilfe wohltätiger Spenden errichtet worden. Rund um einen hübschen, von Bäumen bestandenen Platz wurden ein Wohnheim für Frauen, eines für Männer und eine kleine Kirche im neugotischen Stil gebaut – alles, was nötig war, um bedürftigen Menschen Unterkunft, Verpflegung und geistlichen Beistand zu bieten. Das Ganze geschah allerdings nicht nur aus reiner Nächstenliebe. Wer dort wohnte – egal, ob Mann, Frau oder Kind – musste täglich fünfzehn Stunden in den Fabriken und Arbeitshäusern schuften, die man in weiser Voraussicht ebenfalls rings um den Platz errichtet hatte. Anfang der 1920er-Jahre stellte man dann fest, wie menschenunwürdig das alles war, und der gesamte Gebäudekomplex mit seinen beeindruckenden Bauwerken im gotischen und georgianischen Stil wurde verkauft und zu einer Schule umfunktioniert. In den Arbeitshäusern entstanden Unterrichtsräume und die kleine Kirche wurde in einen Speisesaal umgewandelt. Die Wohnheime –wunderschöne Sand- und Backsteinhäuser mit hohen Fenstern, spitzen Dachgiebeln und Kaminen, deren Silhouetten sich malerisch gegen den Himmel abhoben – dienten fortan als Unterkunft für die Internatszöglinge.
»In dem Gebäude dort ist dein Zimmer.« Mr Franks deutete auf eines der Backsteinhäuser, während das Auto über Kopfsteinpflaster rumpelte. Das war also Hawthorne, das Mädchenwohnheim. Über dem Eingangsportal war das Wort »Frauen« in den Stein gemeißelt. Darunter stand – wie als lebender Beweis – eine Frau. Sie war klein, vielleicht höchstens einen Meter fünfundfünfzig, hatte dafür aber einen beeindruckenden Körperumfang, ein tiefrot leuchtendes Gesicht und bemerkenswert große Hände, bei deren Anblick man sich lebhaft vorstellen konnte, wie sie damit besonders dicke Frikadellen formte oder die Luft aus Autoreifen quetschte. Sie trug ein Kleid aus kariertem Wollstoff und ihre Haare waren zu einem so kompakten Bob geschnitten, dass er fast schon quadratisch wirkte. Irgendwie erweckte sie den Eindruck, als würde sie in ihrer Freizeit bevorzugt Steine klopfen oder mit Bären kämpfen.
Als ich aus dem Wagen stieg, schmetterte sie mir ein ohrenbetäubendes »Aurora!« entgegen. Ich war mir fast sicher, dass sie mit dieser Stimme einen kleinen Vogel tot vom Himmel stürzen lassen könnte.
»Ich bin Claudia«, dröhnte sie. »Die Hausvorsteherin von Hawthorne. Herzlich Willkommen in Wexford.«
»Vielen Dank.« Mir klingelten immer noch die Ohren von ihrem gewaltigen Stimmorgan. »Aber nennen Sie mich doch bitte Rory.«
»Rory. Natürlich. Wie war dein Flug? Hat alles geklappt?«
»Bestens, danke.« Ich beeilte mich, Mr Franks zuvorzukommen und mein Gepäck selbst aus dem Kofferraum zu holen, bevor er sich noch das Rückgrat dabei brach. Flip-Flops und Kopfsteinpflaster waren allerdings keine wirklich gute Kombination, erst recht nicht, wenn es kurz zuvor geregnet hatte und die Steine mit einem glitschigen Film überzogen waren. Wie auf Eiern tanzend schlitterte ich über das Pflaster und erreichte den Kofferraum erst, als Mr Franks bereits ächzend meine Koffer aus dem Wagen hievte.
»Mr Franks bringt deine Sachen ins Haus«, sagte Claudia. »Stellen Sie das Gepäck bitte in Zimmer siebenundzwanzig ab, Mr Franks.«
»Wird erledigt«, keuchte er.
Als Claudia mir die Eingangstür aufhielt und ich zum ersten Mal mein neues Zuhause betrat, setzte feiner Nieselregen ein.
2
Ich fand mich in einer Eingangshalle mit Mosaikfußboden und dunklen holzgetäfelten Wänden wieder. Über der Tür hing ein breites Banner mit den Worten »Herzlich willkommen in Wexford«. Gewundene Holztreppen führten hinauf zu den Zimmern – zumindest nahm ich an, dass sie dorthin führten. An einer Wand hing ein großes Schwarzes Brett mit Flyern, die über diverse Sport- und Theater-AGs informierten.
»Hier entlang«, sagte Claudia und lotste mich einen links von der Halle abgehenden Flur entlang, der zu einem Büro führte. Der Raum war in einem tiefen Weinrot gestrichen und auf dem Boden lag ein dicker Perserteppich. Die Wände und Regale waren mit Bildern, Medaillen und Pokalen bestückt, die alle etwas mit Hockey zu tun hatten. Auf einigen der Auszeichnungen standen der Name der Schule und die dazugehörigen Jahreszahlen, woraus ich ziemlich verblüfft schloss, dass Claudia offensichtlich erst Anfang dreißig war. Dabei sah sie älter aus als Granny Deveaux. Fairerweise sollte ich jedoch vielleicht hinzufügen, dass meine Großmutter extrem auf ihr Äußeres bedacht war, nie ungeschminkt das Haus verließ und Jeans in Size zero trug. Claudia hingegen war stämmig und robust, und zog es offensichtlich vor, sich bei Wind und Wetter im Freien aufzuhalten. Ich argwöhnte sogar, dass sie gern körperliche Gewalt ausübte – natürlich alles in Maßen und im Namen des Sports. Jedenfalls konnte ich mir gut vorstellen, wie sie einen Schlachtruf brüllend und mit erhobenem Hockeyschläger über einen matschigen Rasen rannte. Hoffentlich würde mich dieses Bild heute Nacht nicht bis in meine Träume verfolgen.
»Das hier ist mein Reich«, erklärte sie und fasste mit einer ausholenden Geste das Büro und eine geschlossene Tür neben der Fensterwand ein. »Falls du irgendetwas brauchst oder einfach ein bisschen plaudern willst – ich bin jeden Abend bis neun für meine Schützlinge da. In dringenden Fällen natürlich rund um die Uhr. Aber jetzt lass uns erst einmal über ein paar grundlegende Dinge sprechen. Du bist dieses Jahr die einzige Schülerin aus dem Ausland, und wie du vermutlich schon weißt, unterscheidet sich das englische Schulsystem erheblich vom amerikanischen. Hier müssen die Schüler zum Beispiel mit ungefähr sechzehn Jahren die sogenannte GCSE-Prüfung ablegen …«
Natürlich wusste ich darüber Bescheid. Schließlich hatte ich mich gewissenhaft auf meine Zeit in diesem Internat vorbereitet. Das GCSE – General Certificate of Secondary Education – gilt in England als die wichtigste Abschlussprüfung. Die Prüfungen werden in so ziemlich jedem Fach absolviert, das man jemals belegt hat – das hieß für gewöhnlich in fünf bis zehn Fächern (was vermutlich davon abhing, wie gern man Tests schrieb). Wie man beim GCSE abschneidet, entscheidet darüber, ob man anschließend eine weiterführende Schule besuchen darf und sich dort auf bestimmte Fächer spezialisieren kann, um die Qualifikation für ein Studium zu erwerben. Wexford war eine eher seltene Schulform, nämlich ein privates College nur für die Oberstufe, das für Schüler gedacht war, die sich die komplette Schulzeit auf einer teuren Eliteschule nicht leisten konnten – oder ihre bisherige Schule hassten oder unbedingt in London leben wollten. Da man Wexford nur für die Dauer von zwei Jahren besuchte, hatte man es hier nicht mit eingeschworenen Cliquen zu tun, deren Mitglieder sich alle schon seit Ewigkeiten kannten, sondern meine neuen Mitschüler würden selbst erst seit höchstens einem Jahr hier sein.
»Bei uns in Wexford«, fuhr Claudia fort, »belegen die Schüler pro Jahr vier oder fünf Fächer. Darin bereiten sie sich auf die A-Levels, also den Hochschulabschluss, vor, die sie am Ende des zweiten Jahres absolvieren. Es steht dir selbstverständlich frei, ebenfalls Kurse für die A-Levels zu belegen, aber da du diesen Abschluss in Amerika nicht benötigst, sind wir gern bereit, ein spezielles Benotungssystem für dich auszuarbeiten. Wie ich hier sehe, möchtest du fünf Kurse belegen, und zwar in Englischer Literatur, Geschichte, Französisch, Kunstgeschichte und Höherer Mathematik. Hier ist dein Stundenplan.«
Sie reichte mir ein Blatt Papier mit einer ellenlangen, unübersichtlichen Tabelle. Es war kein klar strukturierter Stundenplan mit einer Einteilung nach Tagen, wie ich es gewohnt war, sondern ein Zwei-Wochen-Programm, voll gepackt mit Doppelstunden und einigen wenigen Freistunden. Entmutigt starrte ich auf das Kurs-Wirrwarr, von dem ich mir sicher war, es mir niemals merken zu können.
»Frühstück ist um sieben«, erklärte Claudia, »der Unterricht beginnt um Viertel nach acht und Mittagspause ist um halb zwölf. Um Viertel vor drei wird sich für den Sportunterricht umgezogen, der von drei bis vier stattfindet. Anschließend wird geduscht und von Viertel nach vier bis Viertel nach fünf ist noch einmal Unterricht. Abendessen ist von sechs bis sieben, danach kann man sich diversen Arbeitsgruppen anschließen, trainieren oder die Zeit für Hausaufgaben nutzen. Apropos – hast du dich schon für eine Sportart entschieden? Wie wäre es zum Beispiel mit Hockey? Ich leite das Hockeyteam der Mädchen und könnte mir dich gut in unserer Mannschaft vorstellen.«
Das war der Moment, vor dem ich mich am meisten gefürchtet hatte. Ich bin nämlich nicht gerade das, was man eine Sportskanone nennt. Dort, wo ich herkomme, ist es viel zu heiß, um sich körperlich zu ertüchtigen, sodass auch an der Schule kein gesteigerter Wert darauf gelegt wird. Und sieht man in Bénouville mal jemanden rennen, dann ist es ratsam, ebenfalls die Beine in die Hand zu nehmen, weil er mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit gerade vor irgendeiner Katastrophe davonläuft. In Wexford dagegen gehörte Sport zum täglichen Pflichtprogramm. Zur Auswahl standen Fußball (was permanentes Rennen über riesige Rasenflächen bedeutete), Schwimmen (nie im Leben), Hockey (und zwar kein Eis-, sondern Feldhockey, was anstrengungstechnisch für mich jedoch keinen wirklichen Unterschied machte) oder Korbball. Ich verabscheue jede Art von Sport, kenne mich aber zumindest ein bisschen mit Basketball aus. Und so wie Softball die Mädchenvariante von Baseball ist, müsste Korbball sozusagen die Softballversion von Basketball sein, oder?
»Ich dachte eher an Korbball«, sagte ich.
»Korbball, verstehe. Hast du denn schon mal Hockey gespielt?«
Ich ließ den Blick über die im ganzen Raum verteilten Hockeyauszeichnungen wandern. »Nein, noch nie. Ich kenne nur Basketball, und Korbball ist ja …«
»… etwas völlig anderes«, winkte sie ab. »Bei unserem Hockeytraining hättest du die Möglichkeit, den Sport von der Pike auf zu lernen. Wieso versuchen wir’s nicht einfach, was meinst du?«
Claudia lehnte sich lächelnd über den Schreibtisch und knetete ihre fleischigen Finger.
»Klar, warum nicht.« Kaum waren die Worte draußen, hätte ich sie am liebsten wieder zurückgenommen, aber Claudia hatte bereits ihren Stift gezückt und kritzelte zufrieden murmelnd etwas auf einen Zettel. »Ausgezeichnet, ausgezeichnet. Die Hockeyausrüstung bekommst du von der Schule gestellt und … Oh, das hätte ich fast vergessen – das hier brauchst du natürlich auch noch …«
Sie schob einen Schlüssel und eine Ausweiskarte über den Tisch. Als ich mein Bild darauf sah, stöhnte ich innerlich enttäuscht auf. Ich hatte mindestens fünfzig Fotos von mir gemacht, bis endlich eines dabei gewesen war, auf dem ich halbwegs passabel aussah. Aber eingeschweißt in dem Plastik hatte mein Gesicht auf dem Ausweis einen violetten Schimmer und wirkte merkwürdig aufgedunsen und meine dunklen Haare hatten einen Grünstich.
»Den Ausweis brauchst du für die Eingangstür. Halte ihn einfach an das Lesegerät. Ach ja, und du darfst ihn unter keinen Umständen an jemand anders weitergeben, in Ordnung? Okay, dann machen wir jetzt noch einen kleinen Rundgang durchs Haus.«
Claudia führte mich zurück in die Eingangshalle und zeigte im Vorbeigehen auf eine Wand mit Postfächern und dem großen Schwarzen Brett, das ich schon bei meiner Ankunft gesehen hatte, und das jetzt schon Unmengen von Informationen und Änderungen zu sämtlichen Kursen enthielt, obwohl das Schuljahr noch nicht einmal begonnen hatte. Außerdem hingen überall Zettel mit Ermahnungen, sich rechtzeitig um eine Oyster-Card – die elektronische Fahrkarte für die Londoner U-Bahn – zu kümmern, und mit Hinweisen, welche Bücher benötigt wurden und wie man sich in der Bibliothek zurechtfand.
Claudia blieb vor einer großen Flügeltür stehen und öffnete sie. »Der Gemeinschaftsraum«, erklärte sie. »Hier wirst du wahrscheinlich eine Menge Zeit verbringen.«
In dem riesigen Raum standen mehrere Sofas und Tische mit Stühlen, es gab einen Flachbildfernseher und sogar einen Kamin, vor dem gemütliche Sitzkissen auf dem Boden verstreut lagen. An den Gemeinschaftsraum grenzten unterschiedlich eingerichtete Arbeitszimmer, die sich je nach Größe für ganze Lerngruppen eigneten oder gerade genug Platz für eine Einzelperson boten.
Von dort ging es weiter in den zweiten Stock, den wir über einen gewundenen Treppenaufgang mit knarzenden Holzstufen erklommen und auf dem sich mein Zimmer befand. Es hatte die Nummer siebenundzwanzig und war mit seiner hohen Decke und den viel Licht hereinlassenden Bogenfenstern größer, als ich erwartet hätte. Auf dem Dielenboden lag ein dünner hellbrauner Teppich und von der Decke hing ein riesiger, siebenarmiger Leuchter mit dicken Silberkugeln. Doch das Beste von allem war der kleine Kamin. Er machte zwar nicht den Eindruck, als würde er noch funktionieren, sah aber mit dem schmiedeeisernen Gitter, den dunkelblauen Kacheln und dem breiten Kaminsims, über dem ein Spiegel hing, einfach wunderschön aus.
Was mich allerdings ein bisschen verwunderte, war die Tatsache, dass in dem Zimmer alles dreimal vorhanden war – drei Betten, drei Schreibtische, drei Schränke und drei Bücherregale.
»Das ist ein Dreibettzimmer«, sprach ich meine Beobachtung laut aus. »In dem Infoschreiben stand aber nur etwas von einer Mitbewohnerin.«
»Ganz richtig. Du teilst dir das Zimmer mit Julianne Benton. Sie ist Schwimmerin.«
In ihrem letzten Satz schwang ein Hauch von Verachtung mit, womit noch einmal deutlich wurde, was die Hockey-Trainerin von anderen Sportarten hielt. Sie führte mich zu einer winzigen Küche am Ende des Gangs, in der ein Wasserspender mit einer Heißwasserfunktion (»ihr benötigt also keinen Wasserkocher in euren Zimmern«), ein kleiner Geschirrspüler und ein Mini-Kühlschrank standen.
»Der Kühlschrank wird täglich mit frischer Milch und Sojamilch aufgefüllt«, erklärte Claudia. »Er ist ausschließlich für Getränke vorgesehen. Am besten beschriftest du deine Sachen. Dafür sind die zweihundert Aufkleber auf der Schulbedarfsliste gedacht. Außerdem stehen hier immer frisches Obst und Müsli bereit, falls jemand zwischendurch Hunger bekommt.«
Anschließend zeigte sie mir das Badezimmer – ein imposanter Saal im viktorianischen Stil mit schwarzweißen Bodenfliesen, Marmorwänden, einer langen Spiegelfläche über aneinandergereihten Waschbecken und Holzfächern für Handtücher und Waschutensilien. Mir wurde ein bisschen mulmig zumute, als ich mir vorstellte, wie ich hier mit meinen zukünftigen Mitschülerinnen plaudernd unter der Dusche stehen würde oder wir uns gemeinschaftlich die Zähne putzten. Wir würden einander nackt oder nur in Handtücher gewickelt sehen und uns jeden Morgen ungeschminkt über den Weg laufen. Darüber hatte ich bisher noch gar nicht nachgedacht. Manchmal muss man offensichtlich erst einen Blick ins Bad werfen, um sich der erbarmungslosen Realität klar zu werden.
Auf dem Weg zurück in mein Zimmer rasselte Claudia weitere gefühlte hundert Regeln herunter, und ich versuchte, mir zumindest die wichtigsten zu merken: Das Licht musste um dreiundzwanzig Uhr gelöscht werden, aber wir durften danach noch unsere Computer benutzen oder im Schein unsere Nachttischlampen lesen, vorausgesetzt unsere Zimmergenossinnen fühlten sich dadurch nicht gestört. Es war uns gestattet, Bilder an die Wand zu hängen, aber nur, wenn wir dazu etwas benutzten, das »Blu-Tack« hieß (und ebenfalls auf der Schulbedarfsliste stand). Während der Unterrichtsstunden, zu offiziellen Versammlungen und beim Abendessen mussten wir die Schuluniform tragen, zum Frühstück und zum Mittagessen durften wir in unserer eigenen Kleidung erscheinen.
»Heute findet das Abendessen ausnahmsweise schon um drei statt, weil im Moment nur du und die Aufsichtsschüler anwesend sind. Charlotte wird dich abholen und in den Speisesaal begleiten. Sie ist die Schulsprecherin der Mädchen.«
Eine Aufsichtsschülerin also. Ich hatte schon davon gelesen. Sie gehörten der Schülermitverwaltung an und besaßen gewisse Sonderrechte. Zum Beispiel, dass ihren Anweisungen Folge zu leisten war. Und die Schulsprecher waren sozusagen die Anführer der Aufsichtsschüler.
Nachdem Claudia das Zimmer verlassen und dabei schwungvoll die Tür hinter sich zugeschlagen hatte, schaute ich mich ein bisschen verloren in meinem neuen Zuhause um. Ich war allein. Allein in dem großen Zimmer. Allein in London.
Mein Blick fiel auf acht am Boden stehende Kartons, auf denen mein Name prangte. Ich öffnete sie und fand darin meine komplette Schulgarderobe: zehn weiße Hemdblusen, drei dunkelgraue Röcke, ein grauweiß gestreifter Blazer, eine bordeauxrote Krawatte, ein grauer Pullover mit aufgesticktem Schulwappen und zwölf Paar graue Kniestrümpfe. Außerdem zwei dunkelgraue Trainingshosen mit weißen Streifen an der Seite, drei kurze Sporthosen derselben Machart, fünf hellgraue T-Shirts mit dem Wexford-Schriftzug quer über der Brust, eine bordeauxrote Fleece-Trainingsjacke mit dem Schulwappen, zehn Paar weiße Sportsocken und ein Paar Schuhe – dicke, klobige Dinger, die aussahen, als wären sie für Frankensteins Monster designt worden.
Da vermutlich von mir erwartet wurde, dass ich nachher in Schuluniform zum Essen erschien, machte ich mich ans Auspacken. Die Sachen waren vom langen Liegen im Karton ganz steif und knittrig. Ich zog die Nadeln aus den Blusenkragen, entfernte die Etiketten von den Röcken und dem Blazer und begann mich umzuziehen. Als ich fertig war – auf Kniestrümpfe und Schuhe hatte ich vorerst verzichtet –, steckte ich mir die Kopfhörer meines MP3-Players ins Ohr. Ich finde nämlich, dass man sich mit vertrauter Musik auch an einem fremden Ort gleich ein bisschen wie zu Hause fühlt.
Der einzige Spiegel im Zimmer war der über dem Kamin. Darin konnte ich mich aber bloß zur Hälfte anschauen und ich wollte mich in meinem neuen Outfit unbedingt ganz sehen. Ich stellte mich auf das Fußende des mittleren Bettes, das aber zu weit vom Spiegel entfernt war. Also zog ich es in die Mitte des Raums und versuchte es erneut. Diesmal klappte es und ich konnte mein Spiegelbild von Kopf bis Fuß betrachten. Der Gesamteindruck war viel weniger grau, als ich befürchtet hatte. Meine Haare, die eigentlich dunkelbraun sind, wirkten im Kontrast zum Blazer fast schwarz. Das gefiel mir. Was mir an meiner Uniform jedoch mit Abstand am besten gefiel, war die Krawatte. Ich hatte schon immer ein Faible für Krawatten, aber weil man damit als Mädchen extrem auffiel – vor allem, wenn man aus Louisiana kam –, hatte ich mich nie getraut, eine zu tragen. Hier dagegen gehörte sie quasi zum guten Ton.
Ich war ganz darin versunken, sämtliche Spielarten meines neuen Lieblingsaccessoires auszuprobieren – locker sitzender Knoten, zur Seite gezogen, um den Kopf gewickelt –, als plötzlich die Tür aufging. Mir entfuhr ein erschrockener Schrei und ich riss mir die Hörer aus den Ohren, sodass die Musik leise durchs Zimmer schallte. Ein hochgewachsenes schlankes Mädchen stand in der Tür. Sie hatte kastanienrote Haare, die kunstvoll nachlässig hochgesteckt waren und ihren Porzellanteint betonten, der mit kleinen goldbraunen Sommersprossen gesprenkelt war. Am bemerkenswertesten war jedoch ihre Haltung. Das perfekt geschnittene Kinn anmutig erhoben schien sie zu den Mädchen zu gehören, für die ein stolzer aufrechter Gang das Normalste auf der Welt war. Außerdem fiel mir auf, dass sie keine Uniform anhatte, sondern ein dünnes graues Shirt über einem blau-rosa gestreiften Rock trug und sich einen hellrosafarbenen Baumwollschal lose um den Hals geschlungen hatte.
»Bist du Aurora?«, fragte sie und fügte ohne meine Antwort abzuwarten hinzu: »Ich bin Charlotte. Ich wollte dich zum Essen abholen.«
»Soll ich mich vielleicht lieber …«, ich zupfte unsicher an meiner Uniform herum, »… umziehen?«
»Ach was, nicht nötig«, winkte sie ab. »Wir sind sowieso nur eine Handvoll Leute.«
Sie schaute mir zu, wie ich umständlich vom Bett kletterte, nach meinem Ausweis und dem Schlüssel griff und in meine Flip-Flops schlüpfte.