Hans Günter Hess
The Motherripper
Die Rache eines Ausgestoßenen
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Vorwort
Überlebenskampf
Sehnsüchte
Das Messer
Moses auf der „Windbraut“
Mordgedanken
Äquatortaufe
Tödliche Rache
Erstes Liebesabenteuer
Erster Mord
Das hölzerne Teufelsweib
Mörderischer Neuanfang
Serienmorde
Ende des Rachefeldzuges
ANHANG
Impressum neobooks
Der Roman greift eine Begebenheit auf, die bis heute ein ungelöstes Rätsel darstellt und vermutlich auch bleibt. Schon mehrere Autoren haben versucht, eine Deutung vorzunehmen, und die von mir hinzugefügte wird wohl nicht die letzte sein. Es geht um die Frage, wer verbirgt sich hinter dem grausamen Serienmörder, den man ‚Jack The Ripper‘ nannte?
1871. Die Hafendirne Tine aus Hamburg bringt einen Bastard zur Welt, der nicht in ihr Leben passt. Von ihr verstoßen, gemeinsam mit Freiern gedemütigt und verprügelt, schlägt sich Fiedje im täglichen Kampf mit anderen ungeliebten Kreaturen am Hamburger Fischmarkt durchs Leben. Von mäßigem Verstand, wächst er zu einem geistig verarmten Jugendlichen heran, der von dem Wunsch beseelt ist, nur mit einem bestimmten Segler sein Leben zu ändern. Als seine Mutter von einem unzufriedenen Freier aufs Grausamste abgeschlachtet wird, findet er diesen Tod nur allzu gerecht für ihre unbarmherzige Zurückweisung. In seinem Ringen ums Dasein kennt er deshalb kein Mitleid, auch nicht mit Sterbenden. Im Gegenteil. Er verspürt sogar am qualvollen Hinscheiden Todgeweihter eine gewisse Befriedigung. Jenny, ein mitleidiges Animiermädchen in Oles Kneipe, versorgt ihn Hin und Wider mit dem, was dort anfällt und übrig ist. Auf diese Weise gelangt er auch in Besitz eines Messers. Mit diesem wehrhaften Gegenstand glaubt er, sich ab sofort für jegliche Art von Ungerechtigkeit rächen zu können. Er kennt nur eine Strafe, den Tod. Doch mit dem Mord an seiner Mutter wächst in ihm auch eine ganz andere normale menschliche Regung. Stärker als je zuvor sehnt er sich nach Zuneigung und mütterlicher Wärme. Sie wird regelrecht zu einer Sucht. Er versucht, diese Gier in der käuflichen Liebe zu finden. Vergebens. Zurückweisungen ahndet er so, wie er es bei der Bluttat an seiner Mutter kennen gelernt hatte. Er wird in Londons berüchtigtem Hafenviertel von East End zu einer grausam mordenden Bestie. Doch der Grund für seinen Tod am Galgen liegt ganz woanders.
Der Roman ‚The Motherripper‘ ist das Psychogramm eines ausgestoßenen Heranwachsenden, dem seine Zeit und die Mitmenschen, voran seine Mutter, kaum eine Chance ließen, ein redliches Leben zu führen.
Hinweis:
Die kursiv geschriebenen Worte aus der Seemannssprache sind im Anhang erklärt.
Günter Heß
(Autor)
Er taumelte ziellos, getrieben von Angst und Panik, durch die morastigen Gassen des Hamburger Hafenviertels, immer auf der Hut, nicht entdeckt zu werden. Er selbst, Schmutz starrend, zerlumpt und Teil des Elends dieser Stadt, war soeben Zeuge einer Tat geworden, die unerwartet mit brachialer Gewalt in sein Leben eindrang, und zwar in einer Weise, dass sich selbst seine sonst so abgestumpfte Seele aufbäumte. Diesmal wurden Regungen aktiviert, die er kaum kannte, zumindest nicht in diesem Ausmaß und mit den damit verbundenen Folgen. Sie ließen keine Einordnung zu, wüteten augenblicklich wie der Blanke Hans in seinem Kopf und wirbelten im wechselnden Chaos sein ganzes Inneres durcheinander. Freude, Schmerz, Wut, Genugtuung, Verlassenheit. Bei alle dem, was er bisher erleben und ertragen musste, gab es keinen Vorfall, der mit dieser Vehemenz sein ohnehin schon klägliches Dasein ins Wanken brachte. Je weiter er sich von dem Ort seines Schicksals - denn besser ließ er sich nicht benennen- entfernte, desto stärker brach sich eine Empfindung Bahn, die nach und nach alle anderen in den Hintergrund trieb. Einsamkeit! Die seltenen Bande von Geborgenheit und Fürsorge, die er bisher genießen durfte, hatte man dort, wo er gerade herkam, unwiederbringlich zerstört. Schmerz, Verzweiflung, also angemessene Gefühlsregungen, die eigentlich besser zu diesem die ihn gewisser Weise sogar das abgenommen, was er sich heimlich gewünscht hatte. Mit schnalzender Zunge und weniger kopflos, zwang ihn eine innere Macht dorthin, wo er glaubte, dass es noch einen Menschen gab, der ihn mochte. Jenny! Wenn es ihn wie jetzt in der Abenddämmerung zum Altonaer Ereignis gepasst hätten, verspürte er nicht mehr, wurde er doch gleichzeitig von einer Bürde befreit, die ihn unabhängig machte, Fischmarkt drängte, dann gehörte sie zu einem der Gründe, die sein Überleben sicherte. Hier, weitab von dem Kellerverschlag, einem zuhause, das keines war, der Ort seiner Geburt aber auch der gleiche, von dem er oft genug mit Drohungen, Beschimpfungen, Schlägen und Fußtritten verjagt wurde. Die anschließende Flucht zu den Bänken der Fischhändler bot ihm dann ein Versteck, wenn sie abends verlassen umherstanden, stinkend, notdürftig von den Abfällen des Tagesgeschäftes gesäubert. Meist suchte er Zuflucht unter den groben Holztischen, argwöhnisch beäugt von herumstreunenden Hunden, die sich um die Fischreste stritten oder Jagd auf eine andere Art von Kostgängern machten, die Ratten. Sie gab es im Überfluss. Doch seine Seele dürstete im Augenblick nicht nach der Gesellschaft dieser ausgestoßenen oder gehassten Kreaturen. Er sehnte sich nach einem Hauch Nähe und Wärme, wenn auch nur im übertragenen Sinne.
Oles Kneipe, am Rande des Marktplatzes, erfüllte ihm häufig diesen bescheidenen Wunsch und manchmal auch etwas Essbares. Angekommen, schüttelte er sich, als wolle er die quälende seelische Last abwerfen. Er hatte es nie gelernt, mit Gefühlen dieser Art umzugehen. Sie erwiesen sich nur lästig im Kampf ums tägliche Überleben, obwohl sein junges Dasein schon längst mit Vorkommnissen überfrachtet war, die andere in den Wahnsinn oder Tod getrieben hätten. Ihn rührte es schon lange nicht mehr, wenn man ihn beschimpfte, schlug oder anderen psychischen Qualen aussetzte. Selbst das Sterben, gleich auf welche Art, ließ ihn kalt, es gehörte wie die Trostlosigkeit zu seinem Leben. Ausgenommen heute. Der Anblick einer Toden zerschlug diesmal den Panzer des Selbstschutzes, denn es handelte sich nicht um das Lebensende irgendeiner Person und betraf auch nicht das Sterben in der ihm bekannten Weise. Das, was er sich ansehen musste, raubte ihn fast den Verstand. Man hatte ihn nur kurz befragt. Er würgte danach bruchstückhaft seinen Namen und einige unverständliche Sätze heraus, bevor er den Ring der Gaffer durchbrach und entfloh.
Wie immer herrschte in Oles Kneipe Hochbetrieb, man zechte, aß und genoss das Leben. So stellte sich jedenfalls das Treiben dar, das man im Schein der neuzeitlichen Gaslaternen draußen wie auch innen im erhellten Gastraum wahrnehmen konnte. Fahrensmänner aller Länder gaben sich bei Brandy, Rum sowie Labskaus ein Stelldichein und mittendrin Jenny, die ständig den anzüglichen Gesten der trunkenen Meute Paroli bieten musste. Mit Knuffen auf die gieprigen Finger verzögerte sie so die allabendliche Wiederkehr einer von den Kerlen eingeforderten Darbietung. Doch zunächst sorgte sie dafür, dass reichlich Alkohol floss. Die auflodernde Stimmung heizte sie dabei mit frivolen Versprechungen auf. In ihrer Wortwahl war sie nicht gerade zimperlich, gaukelte der immer gieriger werdenden Schar vor, sich später ihrer bedienen zu dürfen. Wenn dann die Stimmung zu sieden begann, rief sie nach Ole, er möge seinem Quetschbüdel ein paar Töne entlocken. Damit gab sie auch das Startsignal für den Höhepunkt des nächtlichen Gelages. Sie sprang auf einen der Tische und tanzte unter dem Gejohle der brünstigen Runde.
„Jenny, Jenny!“, forderte jetzt das besoffene Pack in Erwartung dessen, was wohl den Höhepunkt ihrer schwingenden Hüften darstellte. Sie aber ließ sie alle zappeln, denn nicht die Lustbefriedigung der geifernden Masse feuerte sie an, sich wie erwartet zu prostituieren, einzig und allein der erhoffte Geldsegen verdrängte jede Art von Anstand und Scham.
„Ohne Penny keine Jenny!“, schrie sie mit eindeutigen Gesten und leicht angehobener Schürze zurück. Im Nu füllte sich das dunkle Tuch mit Münzen, die sie geschickt in einen seitlichen Beutel bugsierte. Entsprach die Menge ihren Vorstellungen, hob sie ihren Rock auf Kniehöhe. Erneut schwenkte sie dabei wie zufällig die Schürze, um weiteres Geld aufzufangen. Dabei achtete sie genau auf das Mienenspiel der Trunkenbolde, die endlich belohnt werden wollten. Sie durfte den Bogen aber nicht überspannen, das wusste sie nur zu genau. Auf ihr Zeichen unterbrach Ole sein Spiel und ließ einen Tusch erklingen. Das Gejohle verstummte schlagartig, ersetzt durch eine fast lüsterne Stille. Etwa fünfzig Augenpaare starrten wie hypnotisiert auf den Tisch, dorthin, wo Jenny jetzt Stück für Stück ihren Rock nach oben raffte. Ganz langsam, fast zögernd, bis in Hüfthöhe. Noch ließ sie die gierende Schar mit dem zur Schau gestellten blanken Hinterteil im Unklaren, ob sie den Erwartungen folgen sollte. Erst als einige mit Scheinen winkten und andere pfiffen, wendete sie sich ruckartig, um sich auch von vorne in schlüpfriger Pose zu präsentieren, begleitet mit anzüglichen Reden und einladenden Gesten. Jetzt flogen die Lappen, Banknoten aus aller Welt landeten vor ihren Füßen. Tumult brach aus, jeder wollte sie plötzlich besitzen, versuchte seinen Nächsten auszutricksen. Auch mit Gewalt. Die sich anbahnende Keilerei nutzend, grapschte Jenny nach dem Mammon und raffte so viel sie kriegen konnte auf, bevor sie verschwand, noch ehe einer der Kerle zum Zuge kam. Die so Geprellten stürzten sich jetzt wütend auf das restliche Bare, um sich den von ihnen erbrachten Anteil zu sichern. Keiner schenkte dabei seinem Nachbarn einen Vorteil. Man schlug rücksichtslos aufeinander ein, griff nach allem was dabei von Nutzen schien. Die Kneipe drohte in Stücke zu gehen. An dieser Stelle griff Ole ein, beendete den Spuk auf seine Weise. Mit zwei Helfern beförderte er die sich sträubenden Raufbolde an die frische Luft. Die Dunkelheit verschluckte die meisten. Einige landeten auch auf oder unter den Fischbänken. Dort schliefen sie ein, manche kotzten sich auch vorher aus. Einen sich hartnäckig wehrenden und stockbetrunkenen Matrosen versetzten sie zudem einen Tritt, so dass er stolperte und direkt neben seinem Versteck niedersank, wo der Kerl röchelnd im eigenen Erbrochenen zu ersticken drohte.
„Fiedje, du Hurensohn, scher‘ dich her, wenn du Hunger hast! Sonst landet der Fraß bei den Fischen.“, kreischte Jenny in das nächtliche Jammertal. Er vernahm die schon oft gehörte Aufforderung diesmal mit ungewöhnlicher Gleichgültigkeit. Eigentlich interessierte sie ihn überhaupt nicht. Seine Aufmerksamkeit galt dem sich aufbäumenden Körper vor seinen Augen, der bereits ein Stelldichein mit dem Sensenmann verabredet hatte. Der Blutfleck auf seinem Hemd übte zudem einen ungewöhnlichen nicht zu widerstehenden Reiz aus. Die Rechte umklammerte noch krampfhaft ein Messer, auch blutverschmiert. Stöhnend und zuckend versuchte der Todgeweihte dem ausgekotzten Brei zu entkommen. Vergeblich! Stattdessen wühlte er sich immer tiefer in die Luft abschnürende Pampe. Fasziniert beobachtete Fiedje das erfolglose Ringen des Fremden um seine Existenz. Irgendwann erschlafften auch die letzten Bemühungen, dem Tod zu entkommen. Ein ziemlich derber Fußtritt beförderte ihn aus seiner Entrückung in die Wirklichkeit zurück. Jenny stand neben ihm: „Verschwinde von hier, bevor der Suffkopf von der Hafenstreife gefunden wird. Komm, ich gebe dir noch was zum Futtern!“
Erst jetzt merkte Fiedje, dass er den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte. Verstört klemmte er das zugesteckte Paket unter den Arm, um sich kurz danach in einer Ecke der nahen Schanzenmauer zu verkriechen. Zusammengekauert verschlang er die Überlebensration, bevor ihn der Schlaf einfing. Die Kühle der schwindenden Nacht kroch langsam durch seine Glieder, zerstörte auch den letzten Rest seiner durch wilde Träume gepeitschten Ruhe. In der frühen Morgensonne tankte er ein wenig Wärme nach dem Verlassen des schattigen Winkels. Vor ihm lag der Hafen, der ihm nach wie vor die Hoffnung verlieh, irgendwann seinem Schicksal zu entfliehen. Bisher wurde er um diese Erwartung betrogen. Nur einmal gelang es ihm, sich auf einen Segler zu schmuggeln. Doch man entdeckte ihn noch ehe das Schiff ablegte und beförderte ihn ziemlich unsanft zurück in sein Elend. Die dabei verabreichten Fußtritte spürte er schon lange nicht mehr, sie gehörten zu seinem Alltag. Er nahm diese Demütigungen hin wie auch die anderen Erniedrigungen, die ihn täglich widerfuhren. Eine schützende Hand gab es nicht. Rache für die erlittene Schmach nahm er meist an den Ratten, mit denen er sein Leben teilen musste. Sie gab es in Überzahl, ihnen fühlte er sich gewachsen. Rattenfangen bedeutete ihm das einzige Vergnügen. Er befriedigte damit nicht nur seinen Drang nach Vergeltung, es machte ihm auch Spaß, die langschwänzigen Scheusale zu quälen, bevor er sie totschlug. Stärkeren Gegnern konnte er kein Paroli bieten, dafür reichten seine Kräfte nicht.
Das Erlebnis vom Abend zuvor hatte sein Innenleben derart aufgewühlt, das es immer noch in seinem Kopf rumorte. Eigentlich entsprach es nicht seiner Natur, sich mit bedrückenden Gedanken zu belasten, da sie sich im Kampf ums Überleben nur als störend erwiesen. Mit einer fahrigen Geste versuchte er deshalb, die Reste seiner Erinnerungen zu vertreiben, um sein Augenmerk dem vor ihn liegenden Tag zu widmen, einer Zeitspanne, die er überschauen konnte und die ihm seine Existenz sichern musste. Doch heute durchbrach der innere Spuk diese Grenze in eine zurückliegende Zeit. Wie ein Film rollte plötzlich das bisherige Leben vor seinen Augen ab. Bar jeder Chronologie spulte der Streifen von hinten beginnend und setzte sich fort mit dem, was sein Unterbewusstsein bruchstückhaft freisetzte. Die Bilder vom vergangenen Abend litten noch nicht unter diesem Mangel, sie waren noch zu frisch und einprägsam, als dass man sie je wieder vergessen könnte.
Nach einem regnerischen Tag hoffte er in einem der Kellerverschläge von den neu errichteten Häusern, die seiner Mutter und ihn eine Bleibe boten, zu übernachten. Nach dem Großen Brand von Hamburg im Jahre 1852 waren die Keller der wuchtigen Backsteinbauten begehrte Domizile für diejenigen, die von der Hand in den Mund lebten. Zu ihnen gehörten auch die Huren des Hafenviertels, die mit ihren Liebesdiensten Seeleute aus aller Herren Länder anlockten. Fiedje merkte schon von weitem, dass sich dort wo er hinwollte, eine größere Menschentraube drängte: „Jetzt kommt Tines Bastard“, riefen einige der ihm bekannten Dirnen aus der Nachbarschaft und machten freiwillig Platz. Er quetschte sich bis zum Kellereingang durch, dort packte ihn jemand ziemlich unsanft und gebot Halt. Doch er riss sich los und stürzte die drei Stufen nach unten. Was er sah, entrang ihm ein Lächeln. Er schnalzte mit der Zunge, als wollte er sagen: „Endlich hat sie ihre verdiente Strafe bekommen.“ Doch zu so einer Formulierung war er nicht fähig, er registrierte nur, was er sich am sehnlichsten gewünscht hatte. Tine, seine Mutter lag vor ihm in einer Blutlache. Tot. Auf ihrem nackten Unterleib klaffte eine tiefe Schnittwunde. Er wollte sie berühren, prüfen, ob das was er sah auch stimmte, doch er wurde mit roher Gewalt zurückgerissen.
„Du bist Tines Sohn?“, herrschte ihn ein Uniformierter im barschen Ton an. „Jau!“, presste er heraus, denn schlagartig lähmte eine unbekannte Angst seine Zunge. „Wie heißt du?“, wollte der gestrenge Herr noch wissen. Und wieder rollte nur ein Wort über seine Lippen, diesmal schon mit hochkommender Panik gepaart: „Fiedje.“ „Und weiter, du hast doch einen Nachnamen?“ Dieser Fragerei fühlte er sich plötzlich nicht mehr gewachsen, er begann vor Angst zu schlottern. Noch nie hatte er mehrere Worte nacheinander gesprochen. Was ein Nachname war, wusste er nicht. Sich duckend blieb er die Antwort schuldig. Das half auch nicht, der Verhörende quälte ihn weiter: „Wenn du mir schon deinen Nachnamen nicht sagen willst, dann verrate mir wenigstens wie alt du bist?“ Das war zu viel, das wollte bisher noch keiner von ihm wissen. Alt, das waren die bärtigen Fischhändler, aber zu denen gehörte er nicht. Getrieben von einer unklaren Beklemmung, torkelte er seitwärts, um sich danach wieselflink durch die Schar der Gaffer zu quetschen. Schleichend entzog er sich der Sensation lüsternen Menge. Im Weglaufen hörte er noch, wie eine der Huren dem Polizisten zurief: „Ich weiß noch genau, wann der Bastard zur Welt kam. Vor dreizehn Jahren, es war lausig kalt. Tine konnte keine Freier empfangen, war bettelarm. Wollte sich schon umbringen.“
So erfuhr er das erste Mal etwas über die Umstände seiner Geburt und sein Alter. Jetzt, wo ihn die Hafenstreife nicht mehr belästigen konnte, verkroch er sich in dem nächstliegenden Versteck, eines der vielen Schlupfwinkel, die ihm bei Gefahr Schutz boten. In dem stinkenden Verließ hielt er es aber nicht lange aus. Das soeben Erlebte trieb ihn weiter, dorthin, wo er sich sicherer fühlte, zum Fischmarkt. Seine bisherige Welt hatte urplötzlich einen Riss bekommen. Der Freude über den Tod seiner verhassten Mutter wich schnell einem Strudel wirrer Regungen, die ihn jetzt am Morgen danach, in der Schanzenecke erneut zu übermannen drohten. Diesmal knüpften sie an Erlebnisse, die sein bisheriges Leben prägten. Ganz frisch und stellvertretend für ähnliche Vorkommnisse stand der vorgestrige Abend. Schon mehrere Nächte hatte ihn seine Mutter aus dem Verschlag verbannt, der ihm eigentlich als Schlafplatz diente. Sie benötigte die dürftige Unterlage aber oft genug für ihre Liebesdienste. Meist jagte sie ihn mit Worten davon, wenn es der Kunde forderte. Doch diesmal beließ sie es nicht dabei, sie verabreichte ihn grinsend ein paar Maulschellen und der Kerl an ihrer Seite trat ihn zudem lachend in den Hintern. „Verschwinde, du Hurensohn, du unnützer Fresser! Scher dich zu den Fischen!“, rief sie ihm höhnisch hinterher. Diese grundlose Demütigung durchbrach seine hartschalige Seele. Er verspürt zum ersten Mal das Verlangen, sie und ihre Liebhaber zu töten. Einzig und allein seine körperliche Unterlegenheit verhinderte die Umsetzung dieser Absicht. Jetzt wo er grübelte, kam ihm auch die Erinnerung, dass es sogar Momente gab, wo er sie abgöttisch liebte. Aber das war lange her, er hatte es längst verdrängt. Nur an ein Vorkommnis konnte er sich besinnen. Jemand hatte ihn die Kellertreppe hinab gestoßen. Weinend, mit blutigen Knien, kauerte er vor der Tür, hinter der seine Mutter ihren Geschäften nachging. Er wagte damals nicht, sie um Hilfe zu bitten. Plötzlich flog krachend der klapprige Kellereingang auf, seine Mutter schob einen schwächlichen Kerl nach draußen und servierte ihn aufgebracht und mit ziemlich derben Ausdrücken ab. Dann sah sie ihn, ihren blutverschmierten Sohn. „Fiedje, mein armes Kind, wer hat dich so zugerichtet? Der Hundesohn soll mir nur nicht zwischen die Finger kommen.“, schrie sie hysterisch und nahm ihn auf den Arm. Drinnen in einer Ecke säuberte sie die Wunden, dann streichelte sie mitleidig seinen Kopf und sprach tröstend auf ihn ein. Er bekam sogar eine Milchsuppe und durfte sich anschließend zu ihr in den Verschlag legen. Ihre Wärme, ihre Umarmung hatte er genossen wie ein Wunder. Das Anschmiegen wurde ihr allerdings schon kurze Zeit später lästig. Sie ließ ihn allein, um draußen nach einem Freier Ausschau zu halten. Er wusste, dass die Kerle ihren Lebensunterhalt sicherten und räumte deshalb freiwillig die Liegestatt. Solche Augenblicke der Zuwendung gehörten aber eher zu den seltenen Vorkommnissen. Meist schwenkte seine Mutter nach anfänglicher Fürsorge in barscher Weise um. Sie stieß in unsanft, fast rüde von sich und gab ihn mit ziemlich ordinären Worten zu verstehen, dass er nicht in ihr Leben passte. In solchen Fällen lief er schreiend davon, schlug um sich und rächte sich an allen Lebendigen, das seinen Kräften unterlag. Dazu gehörten die zahllosen Ratten, aber auch Katzen. Die wehrlosen Opfer quälte er vorher gnadenlos, bevor sie unter seinen genüsslichen Blicken jämmerlich verreckten. Danach trieb er sich tagelang herum. Bis auf Jenny in Oles Kneipe hatte kaum jemand Mitleid mit ihm, den zerlumpten Taugenichts. Beschimpft, bedroht, sogar mit den Exkrementen aus einem Nachtgeschirr besudelt, flüchtete er in eins seiner vielen Verstecke. Innerlich zerrissen bis zur Stumpfsinnigkeit kauerte er dann hungernd in dem Verlies und harrte auf einen Zeitpunkt, wo er glaubte, seiner Mutter nicht mehr lästig zu sein. Sein gegenwärtiges Gefühlsleben bäumte sich auf, wehrte sich verzweifelt gegen diese Erinnerungen. So sehr er sich auch mühte, eine blieb, zwängte sich mit konstanter Beharrlichkeit immer wieder in den Vordergrund. Sie verschaffte ihn damals, als er zum ersten Mal Zeuge wurde, eine gewisse Befriedigung. Seine Mutter musste einen grobschlächtigen Matrosen nach allen Regeln der käuflichen Liebe bedienen. Er, Fiedje, hockte draußen und vernahm das Schnaufen und Stöhnen, eine häufige Begleitmusik bei ihren Geschäften. Nur es hörte sich anders an als sonst, klang nach Schmerzen und Hilfe. Er war aufgesprungen, um ihr beizustehen. Was er erlebte, zerschlug abrupt alle Ängste. Der Kerl lag auf ihr, nackt, zwickte und biss sie, es floss bereits Blut.
„Was willst du?“, keuchte sie abweisend. „Kapierst du nicht, dass mir das Spaß macht?“
Dem Liebhaber bereitete es offensichtlich Vergnügen, sie beim Liebesakt zu quälen. Verwirrt starrend lief er weg, unfähig zu begreifen, dass seine Mutter an dieser Art von Dienstleistung Freude empfand. „Du Ausgeburt der Hölle, du Sohn eines elenden Versagers, was fällt dir ein, so einfach meine Arbeit zu stören?“ Unbekleidet, ohne Scham, stand sie plötzlich vor ihm, um ihn nach Strich und Faden zu ohrfeigen. „Du hast mich um meinen Verdienst gebracht!“, kreischte sie aufgebracht, um gleich wieder zu verschwinden. Drinnen tobte sie weiter, schrie den Kerl an, er möge endlich den ausgemachten Hurenlohn entrichten und verschwinden. Der lachte nur. „Schlechter Dienst, kein Geld!“, dann ging er nach draußen. Rasend vor Wut, folgte sie dem Betrüger, riss an seinen Kleidern, wollte ihn zurückzuhalten. Doch der versetzte ihr einen Schlag ins Gesicht, trat nach ihr und ließ sie hysterisch keifend zurück. Fiedje ahnte was kommen würde und suchte das Weite. Im Wegrennen hörte er nur, dass sie ihm den Betrug anlastete. Sein Gefühl von Mitleid erlebte eine herbe Enttäuschung. Doch nur kurz. Schadenfreude brach durch, erfüllte ihn plötzlich mit Zufriedenheit und Erleichterung, bevor er zum Fischmarkt lief. Jetzt, wo sich ihm diese Begebenheit aufdrängte, schnalzte er mit der Zunge genau wie damals. Er bekundete damit seine Art innerer Befriedigung, die ihm bestätigte, dass der Nimbus seiner scheinbar übermächtigen Mutter nicht unbezwingbar war. Die Schläge und Tritte des offensichtlich unzufriedenen Kunden hielt er deshalb für mehr als verdient, ja er nahm sie sogar stellvertretend für sich in Anspruch als Bestrafung ihrer unbegründeten Schuldzuweisung. Seit diesem Tag ließ sie keinen Zweifel mehr aufkommen, dass er, der eigene Sohn, nicht zu ihrem Leben passte. Die unverhüllte Ablehnung seiner Existenz wurde allen zuteil, die es mit ihr zu tun bekamen. Seinen Alltag bestimmten fortan Beschimpfungen und Schläge in aller Öffentlichkeit, dazu gehörte auch die Verweigerung von Nahrung und Kleidung. Sie erklärte ihn zum Aussatz, ein Stigma, das allzu gern von anderen Huren und den Freiern mitgetragen wurde. Damit begann schon frühzeitig das Sterben jeglicher innerer Regungen und Gefühle. Sein Kampf ums nackte Überleben erforderte Strategien, die keine Rücksichten duldeten. Noch hatte ihm seine Mutter den Zugang zum Kellerverschlag nicht gänzlich verwehrt. So konnte er hin und wieder die Gelegenheit nutzen, sich an den liegen gelassenen Klamotten ihrer Kunden zu bedienen. Die schlotterten an ihm herum, machten ihn zu einer lebenden Vogelscheuche, die oft genug Spott und Häme in seiner Umgebung auslösten. Aber das störte ihn schon nicht mehr. Seinen Hunger stillte er dagegen bei den Fischhändlern. Abfälle gab es reichlich, manchmal sogar Übriges von den Bänken. Mit seinen Konkurrenten, den Ratten und Hunden, ging er gnadenlos um, sofern sie ihm Essbares streitig machen wollten. Und gab es dort nichts zu holen, versorgte ihn häufig Jenny. Er bettelte sie nie an, sagte auch nie danke, wenn sie ihn mit Küchenresten aus der Kneipe verköstigte. Meist blieb er auf Abstand, achtete auf ausreichende Distanz zu dem Treiben im Umfeld des Lokals wie auch zu den Verstecken unter den Bänken am Fischmarkt. So sicherte er sich einerseits eine ständige Nahrungsquelle aber auch andererseits ungehinderte Fluchtmöglichkeiten, wenn Trunkenbolde in seiner Nähe Streitereien mit Messern ausfochten. Sie hätten ihn möglicherweise zum Opfer ihrer Aggressionen gewählt und stellten somit immer eine tödliche Bedrohung dar. Gefahren, nicht durch Menschen verursacht, gab es ohnehin genug. Sie kamen vom Meer, brachen über das Hafenviertel ohne Vorwarnung ein und zerstörten alles, was sich in den Weg stellte. Schutzlose zahlten dann meist mit ihrem Leben. Er, Fiedje, konnte bisher diesen Naturgewalten ausweichen. Wenn Unwetter Wasser aus dem Hafenbecken in die engen Gassen presste, und alles, was nicht niet- und nagelfest war, durch die Luft peitschte, dann ließ ihn seine Mutter in das Kellergelass. Nicht aus Sorge um ihn, nur zitternd vor Angst um das eigene Leben. Sie forderte dann, er möge sie beschützen, denn er wäre schließlich ein Mann. Seine Ängste ignorierte sie. Auch im Winter, wenn von den schneidend kalten Nordwinden die Hafenseite mit Eis und Schnee überzogen wurde und alles Lebendige unter sich begrub, gewährte sie ihm Zutritt in die frostige Behausung. Sie erwartete, dass er Wärme spendete, sofern die Freier ausblieben. Den Ofen feuerte sie nur an, wenn sich Kunden einfanden oder er gesammeltes Holz mitbrachte. Verebbten Stürme und Eiseskälte, schmiss sie ihn raus und ging wieder ihren Geschäften nach. Weitere Erinnerungen wollte sein Unterbewusstsein nicht mehr freigeben. Er spürte, dass sein zukünftiges Leben ohne Mutter eine Veränderung bedeutete, die noch im Nebel lag.
Um dem seelischen Dilemma zu entweichen, beschloss er, sich den schicksalsträchtigen Ort genauer anzusehen. Angekommen, stellte er nichts Außergewöhnliches fest. Kaum jemand warf einen Blick auf den Eingang zum Keller. Vorsichtig näherte er sich der Stelle, die so gerne sein zuhause gewesen wäre. Nichts rührte sich. Die Treppenstufen, noch blutverschmiert, wirkten plötzlich abstoßend und fremd. Ein amtliches Siegel verwehrte das Betreten des Verschlages, das bedeutete, dass es ohne polizeiliche Erlaubnis keinen Zutritt gab. Er kannte bereits solche behördlichen Sicherungsmaßnahmen. Sie gehörten zu seinem Alltag im Viertel als Folge von Mord und Todschlag, aber auch Raub und anderen kriminellen Delikten. Er selbst besaß ohnehin keine guten Karten bei den Schutzmännern, die ihn ständig etwas anhängen wollten. Bevor er sich mit einem der blau gekleideten Büttel einließ, verduftete er lieber. Es gab ohnedies nichts zu holen, was er hätte gebrauchen können. Später fiel ihm das Messer ein. Es stammte von einem Freier und hing am Türpfosten. Er beschloss, es demnächst zu stehlen. Einen Matrosen ohne Messer kannte er nicht und er hatte die Absicht, baldmöglichst auf einem Schiff anzuheuern. Der Blick auf seine Lumpen vermieste allerdings diese Hoffnung. Kein Kapitän würde ihn nehmen, so zerlumpt und verdreckt wie er aussah. Enttäuscht und teilnahmslos für alles, was um ihn herum passierte, trottete er zum Hafen. Dort gab es eine Stelle am Kai, wo er ungestört die Frachtensegler und auch die Fischerboote beobachten konnte. Am meisten interessierte ihn eine Viermastbark, die regelmäßig aufkreuzte, um große Mengen von Kisten, Ballen sowie Säcken anzulanden. Auf solch einem Schiff wäre er gerne gefahren. Doch heute konnte er es nicht entdecken. Im Brackwasser tummelten sich Enten. Sie tauchten nach Fressbaren. Oft kamen sie in Familie. Auch jetzt zog ein Muttertier mit ihren vier Gösseln vorüber. Diese Begegnung löste plötzlich eine unbekannte Regung aus. Die eigene Mutter gab es seit gestern nicht mehr. Sie, die einzige Verwandte in seinem Leben, und der er je nahe stand, hatte man ihm genommen. Er kam sich schlagartig verlassen vor. Einen Augenblick lang verspürte er Lust, hinab in das kühle Nass zu springen, sich der Gesellschaft der immer stummen Fische anzuschließen. Doch schon wenig später raffte er sich wieder auf. Fische versprachen auch Leben, wenn sie geschlachtet, auf dem nahen Markt feilgeboten wurden. Zudem kündigten der beginnende Herbst und das milde Wetter eine Zeit an, in der es sich lohnte weiterzuleben. Vielleicht tauchte dann der Segler mit der buntbemalten Galionsfigur auf. Sie wäre eine Meerjungfrau, die sich in das Schiff verliebt hätte und deshalb vorne am Bug über die Takelage wachte. Diese Geschichte hatte er mal gehört. Sie faszinierte ihn so sehr, dass er wünschte, nur mit dieser Bark hinauszufahren. Jetzt, wo ihn nichts mehr in Hamburg hielt, verstärkte sich seine Sehnsucht nach einer fernen, unbekannten Welt, von der er nur das wusste, was durch die Fenster von Oles Kneipe drang. Doch wer war er eigentlich? Fiedje, so nannte man ihn seit eh und je, wenn er nicht gerade beschimpft oder angebrüllt wurde. Andere besaßen noch einen zweiten Namen. Hansen, Petersen, Jason oder Ruppert hießen einige Kerle, die am Fischmarkt ihre Ware anboten oder ständig Jennys Reize begafften. Auch letztere verfügte über einen weiteren. Meist riefen die Suffköppe: „Mien leif Deern“ oder einfach „Jenny“, wenn sie Rum und Brandy bestellten. Sofern sie aber kein Geld mehr hatten und deshalb nichts bekamen, wurden sie frech und brüllten: „Friedrichsen, du stinkender Hiering, bring endlich nen‘ Lütten, kannst anschrieben!“ Nach solchen Beleidigungen ließ Ole das Pack meist rausschmeißen. Fiedje war häufig Zeuge dieser abendlichen Saufgelage. Jetzt fiel ihm das ein, wo er mit seinem unvollkommenen Namen haderte. Wenn man aufs Schiff wollte, brauchte man sicherlich noch eine weiteren, soviel erfasste sein begrenzter Verstand. Auch ein anderes Geheimnis machte sich auf, sein Alter. Er kannte es nicht. Gestern hörte er im Weglaufen, er sei dreizehn Jahre auf der Welt. Eine Hure wusste es wohl, als der Polizist danach fragte. Das wollte er sich wenigstens merken. Ansonsten lag es nicht in seiner Natur, sich mit überflüssigen Gedanken zu belasten.
Er musste sich um etwas Essbares kümmern, das trieb ihn zum Fischmarkt. Lag er sonst auf der Lauer, um einen verwertbaren Happen zu erwischen, so lastete heute eine unbekannte Bürde auf seinen Schultern. Unkonzentriert musste er die besten Stücke seinen Konkurrenten, den Ratten, überlassen. Als er zufällig einen der gefräßigen Nager am Schwanz erwischte, schleuderte er die quiekende Kreatur solange gegen einen Stein, bis sie jämmerlich verendete. Diesmal warf man ihm zum Dank einen geräucherten Hering zu, denn die Händler sahen in ihm das kleinere Übel unter dem schmarotzenden Ungeziefer.
Die nächsten Tage verliefen trostlos. Unruhig, wie ein gehetztes Tier, stahl er sich durch die Gassen von Versteck zu Versteck. Die Last der Einsamkeit nahm besonders zu, wenn er in der Nähe des Kellerverschlages vorbei schlich. Neuerdings streifte dort ein uniformierter Wächter, mit ihm wollte er nichts zu tun haben. Am liebsten blieb er im Hafen, hier herrschte reges Treiben. Schiffe kamen mit der auflaufenden Flut und fuhren mit der ablaufenden hinaus aufs Meer. Wenn einer der vielen Windjammer auslief, packte ihn das Fernweh. Dann schwand auch die bedrückende Einsamkeit. Weit nach draußen, hinter den Horizont, wanderte dann seine Sehnsucht. Dort, von einem fremden Land, das er nicht kannte, erwartete er ein besseres Leben. Seit einiger Zeit tauchten Segler mit riesigen Schornsteinen auf. Steuer- und backbordseitig schaufelten große Räder das Wasser nach achtern und trieben diese Schiffe auch ohne Wind vorwärts. Der ausgestoßene Qualm zog bei jeder auflandigen Brise in das Hafenviertel und verpestete die Luft. Fiedje hustete, wenn ihn eine Rauchwolke einhüllte. Er mochte diese neuartigen Pötte nicht, die man auch Dampfer nannte. Noch ahnte er nicht, dass ausgerechnet auf so einem aus Eisen bestehenden und fauchenden Monstrum sein Schicksal besiegelt werden sollte. Nach einiger Zeit, es mochten wohl zwei Wochen her sein, winkte ihn Jenny heran. „Heff tauhürt, dien Moder is doot.“„Mm.“ „Un wat maakt?“ „Will up Schipp, heff keen tohus.” „Weit schon, wecker se koltmaaken hadd?“ „Woll en Hurenbuck.“ Fiedje begann erst jetzt zu ahnen, dass der Mord an seiner Mutter bereits überall in der Umgebung einen heftig diskutierten Gesprächsstoff bereitstellte und sogar den Zeitungen Schlagzeilen lieferte. Wie sollte er auch sonst auf die Gespräche und Meldungen in den Gazetten aufmerksam werden, wenn er sich ständig verstecken musste. Lesen konnte er ohnehin nicht. Jenny zupfte ihn mit viel sagender Miene an seinem schlappernden Ärmel, bevor sie in das vornehmere Hamburger Deutsch umschwenkte: „Kannst dich noch an den Suffkopf erinnern, der unter den Fischbänken an seinem Ausgekotzten erstickt ist?“ „Jau!“ „Brauchst keine Angst zu haben wegen der Hilfe.“ Fiedje verstand nicht. Ihm war unbewusst, dass er seinerzeit von ihr beobachtet, dem stockbesoffenen Matrosen keinen Beistand leistete. „Hadd jämmerlich krüchelt un wer bläudig.“ „Siehst‘!“, unterbrach ihn Jenny, „Der hat’s verdient, hat nämlich deine Mutter umbracht.“ „Is gaut, de wer ümmer bös tau mi.“ „War aber deine Mutter!“ „Hadd mi nur anblafft un slaan. War nur mit Kierls gaut, wenn se betahlen. Bastard hadd se mi heiten, wullt mi nich hebb.“ „Und jetzt?“ “Will up Schiff, up See, wech von Hamborg.” Jenny bat ihn, eine Weile zu warten. Zurückgekommen, überreichte sie ihm einen vollen Seesack und etwas Essbares. „Hier sind Lumpen drin. Nimm was dir passt, den Rest bringst wieder!“ Dann verschwand sie wie meistens. Fiedje erkannte sofort die Gefahr, die in dem unverhofften Besitz steckte. Opfer anderer Habenichtse wollte er nicht werden, deshalb spähte er sofort nach einem sicheren Versteck in der Umgebung. Die Verwandlung in einen ordentlich gewaschenen und gekleideten jungen Kerl beabsichtigte er am andern Morgen zu vollziehen. Fest an den Sack geklemmt, fantasierte er während der ganzen Nacht in der abseits gelegenen Schanzenecke von einem Leben als zukünftiger Pfeffersack. Doch zunächst musste er raus in die Welt, von der er sich auch Reichtum erträumte. Das ging nur als Seemann. Die riechen nach Meer, sagte sein naiver Verstand.
Die Sonne schickte ihre ersten Strahlen in den ruhelosen Hafen, doch an Land herrschte noch morgendliche Stille. Fiedje griff nach seiner ungewohnten Habe und stahl sich unter Nutzung aller möglichen Schutzmöglichkeiten Elbe abwärts, dorthin wo es keinen Hafen gab und im Hinterland nur wenige Häuser standen. Die Flut trieb gerade frisches Meerwasser heran. Er kannte eine seichte Stelle, die sich jetzt füllte. Hastig, ohne sein Umfeld außer Acht zu lassen, streifte er die Lumpen vom Körper und sprang er in die kühle Flut. Er fror nicht, diese Empfindung verspürte er meist nur im Winter, wenn die eisigen Nordwinde übers Land fegten. Nur sein von Schlägen gezeichneter Körper brannte dort, wo es noch Wunden gab. Im Sitzen rieb er den Schmutz von Armen und Beinen, ließ sich danach weiter vom Wasser umspülen, bis er meinte, dass er jetzt ausreichend nach Meer riechen würde. Sein wildes, zotteliges Haar hatte außer Regen noch nie eine Wäsche erfahren. Der muffige, unangenehme Geruch löste plötzlich eine abstoßende Regung aus. Kurz entschlossen, tauchte er erneut unter Wasser, zerwühlte die verfilzte Mähne mit den Fingern, um sie etwas aufzulockern. Erst danach interessierte ihn Jennys Spende. Das, was er aus dem Sack herausfischte, erwies als ein Sammelsurium zurückgelassener Kleidungsstücke aus Oles Kneipe oder von Jennys Freiern. Einiges passte halbwegs und verschaffte ihm erstmals ein passables Aussehen. Er fand sogar ein Paar Pantinen. Beim weiteren Wühlen stieß er auf einen länglichen Gegenstand. Mit schnalzender Zunge förderte er aus einer zerfetzten Hose ein Klappmesser zutage. Als er auf einen Knopf drückte, sprang klackend die Klinge aus dem Griff. Fasziniert, starrte er minutenlang auf den für ihn so wertvollen Fund. Sein Selbstwertgefühl schwappte plötzlich ins Uferlose, vermittelte ihm schlagartig vorher nie gekannte Kräfte. Ab sofort gedachte er sich nicht mehr zu verstecken. Doch seine Erscheinung wies nach wie vor einen Makel auf, der ihm den Stempel einer Vogelscheuche aufdrückte. Sein Haarschopf. Obwohl vom Elbwasser durchspült, hingen die zerzausten Strähnen tropfend in seinem Gesicht und ließen keinen Zweifel an seiner Verwahrlosung. Wenngleich Nachdenken nicht zu seinen Stärken zählte, peitschte ihn plötzlich eine Idee zu einer Überlegung, die er sofort umzusetzen gedachte. Das Messer machte es möglich. Stück für Stück schnitt er die lästigen Haarbüschel ab. Nur am Hinterkopf ließ einen Strang stehen, den wollte er später zu einem Zopf flechten.
Jenny empfing ihn lachend. Die Kneipe öffnete erst mittags, so dass sie ihm etwas Zeit widmen konnte. Diesmal trat ihr Fiedje mutig gegenüber. Er hatte sich bereits offen durch die Fischbänke gezwängt und sogar einen Händler zur Seite gestoßen. „Bist aber schneidig, siehst auch ganz anders aus.“ Er warf ihr den Sack mit den restlichen Sachen vor die Füße. „Kannst mi’n Zopp maaken?“ Sie lachte erneut. Seine ungewöhnliche Aufmachung, sein fast haarloser Schopf, verliehen ihm zwar ein gepflegteres Aussehen, wirkten aber außerordentlich komisch. „Komm!“, forderte sie. Er durfte zum ersten Mal mit in ihr Zimmer. Bewundernd und staunend musterte er die Einrichtung. Dass es so etwas gab, konnte er nicht fassen. Vor dem großen Spiegel sah er sein Abbild, eine für ihn schwer begreifbare Tatsache, sich in voller Größe und noch dazu in dem neuen Gewand zu erkennen. Jetzt begriff er, warum sie lachte. „Siehst man schon komisch aus. Erst Vogelscheuche, dann Witzfigur.“ , lästerte sie. „Maakst nu en Zopp oder nich?“, fuhr er sie an, „Süss geh ik.“ „Setz dich! Will erst dein Birn begucken.“„Mm!“, sagte sie nach einer Weile, „Hast die Krätz. Muss alles mit Schweinsfett einreiben.“
Zunächst schnitt sie die struppigen Reste weg, bevor sie seinen Schädel mit einem muffigen Balsam behandelte. Den Zopf wollte sie später flechten. Er beharrte auf seinem Wunsch, den sie aber überhörte und stattdessen verschwand. Wütend über ihr vermeintlich kränkendes Verhalten, ließ er die Klinge aufspringen. Sie sollte merken, dass es auch anders ging. Mitleid war ihm fremd, jetzt wo er ein Messer besaß, fühlte er sich überlegen, falls man seinem Willen nicht nachkam. Als Maß seiner Genugtuung kam nur der Tod infrage, er würde ihr dann erbarmungslos die Kehle aufschlitzen. Wenige Minuten danach erschien sie wieder und hielt etwas hinter dem Rücken. „Maakst nu den Zopp?“, knurrte er gereizt. Sie lachte entwaffnend, das Unsichtbare schwenkend. „Komm, ich habe eine bessere Idee!“ Er blieb misstrauisch. Abwartend beobachtete er das Spiel ihrer Bewegungen. Dann trat sie auf ihn zu und zwängte einen Dreimaster auf seinen Kopf. Überrascht und mit weniger Wut im Bauch schrie er sie an: „Dat is keen Zopp!“ Sie lachte wieder. „Siehst aus wie ein Jung vom Pfeffersack. Deine Sachen bräuchten mehr Fleisch. Bist zu spillerig.“, und schob ihn wieder vor den Spiegel. Tatsächlich wirkte sein Äußeres eher einem Bürgersöhnchen als dem eines verwahrlosten Tagediebes.
„Bist nun zufrieden?“ „Jau“. Seine Laune schlug um. In diesem Aufzug konnte er sich jetzt unbehelligt überall hin trauen. „Jetzt kannst anheuern.“ Diese Botschaft löste plötzlich ein unbekanntes Glücksgefühl aus. Erfreut drückte er Jenny, eine Berührung mit Folgen. Stolz über seine Aufmachung, wehrhaft durch den Besitz eines Messers und dazu einen Beutel mit Essensresten, das erzeugte unerwartet ein Selbstvertrauen, mit dem er sich ungeniert in die sonst gemiedene Öffentlichkeit wagen durfte. Sein erster Gang führte ihn nach Sankt Pauli, dem Stadtteil, der Vergnügen versprach, wo es Läden geben sollte, die jeden Wunsch erfüllten. Man beachtete ihn kaum, als er sich unter die Leute mischte. Noch nie war er den Auslagen in den Schaufenstern so nahe. Staunend nahm er all die schönen unbekannten Dinge in Augenschein, schnalzte bei jeder neuen Entdeckung wie üblich mit der Zunge. Selbst die nahe Stadtwache nahm keine Notiz von ihm. Er spürte erstmals das Hochgefühl von grenzenloser Freiheit, eine der ungewöüÄßäüäüöüüüKlüverbaumLeichternäüßäääüäüGigöüüSchaluppeüöö