Autorin: Nathalia Broskaïa

Redaktion in Deutschland: Klaus H. Carl

Übersetzung: Jelena Hagemeister

 

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ISBN: 978-1-78310-340-9

 

Nathalia Broskaïa

 

 

 

 

 

Naive Kunst

 

 

 

 

 

 

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Inhalt

 

 

I. Die Geburt der Naiven Kunst

Wann wurde sie geboren?

Die moderne Kunst auf der Suche nach neuen Horizonten

Ein zentrales Element - Das Bankett zu Ehren Rousseaus

II. Zurück zum Ursprung - von den Primitiven zur Modernen Kunst

Primitive und moderne Kunst am Beispiel von Joan Miró

Von der mittelalterlichen zur Naiven Kunst - eine ähnliche Annäherung?

Die Ursprünge der Naiven Kunst - von volkstümlicher Tradition zur Photographie

Naive Künstler und Volkskunst

Die Naiven Künstler und die Photographie

III. Eine Reihe von Entdeckungen

Niko Pirosmani

Die Naive Malerei in Rumänien

Schlussbetrachtung - Ist die Naive Kunst wirklich naiv?

Wichtige Künstler

Frankreich Der Henri Rousseau, genannt Der Zöllner Rousseau (Laval, 1844 – Paris, 1910)

Louis Vivin (Hadol, 1861 – Paris, 1936)

Jean Eve (Somain, 1900 – Louveciennes, 1968)

Séraphine Louis, genannt Séraphine de Senlis (Arsy, 1864 – Clermont, 1942)

Dominique Peyronnet (1872 – 1943)

André Bauchant (Château-Renault, 1873 – Montoire, 1958)

René Martin Rimbert (1896 – 1991)

Camille Bombois (Vénaray-lès-Laumes, 1883 – Paris, 1970)

Aristide Caillaud (Moulins, 1902 – Jaunay-Clan, 1990)

Spanien Joan Miró (Joan Miró i Ferra) (Barcelona, 1893 – Palma de Mallorca, 1983)

Miguel Garcia Vivancos (Mazarrón, 1895 – Cordorba, 1972)

Italien Orneore Metelli (Terni, 1872 – Terni, 1938)

Guido Vedovato (Vicenza, 1961 – )

USA Edward Hicks (Langhorne, 1780 – Newtown, 1849)

Morris Hirshfield (1872 – 1945)

Anna Mary Robertson, genannt Grandma Moses (Greenwich, 1860 – Hoosick Falls, 1961)

Georgien Niko Pirosmani (Pirosmanashvili) (Kakheti, 1862 – Tiflis, 1918)

Polen Nikifor Krylov (Krynica, 1895 – 1968)

Kroatien Ivan Generalić (Hlebine, 1914 – Koprivnica, 1992)

Serbien Milan Rašić (Donje Stiplje, 1931 – )

Israel Shalom Moscovitz, genannt Shalom von Safed (Safed, 1887 – 1980)

Index

Bibliografische Anmerkungen

 

 

Henri Rousseau,
genannt Der Zöllner Rousseau,
Der Zauber, 1909.

Öl auf Leinwand, 45,5 x 37,5 cm.

Museum Charlotte Zander, Bönnigheim.

 

I. Die Geburt der Naiven Kunst

 

 

Wann wurde sie geboren?

 

Um das Alter der Naiven Kunst zu bestimmen, muss man vermutlich zwei Zeitrechnungen zugrunde legen. Dabei kann man entweder vom Zeitpunkt ihrer Anerkennung als gleichberechtigtes Phänomen in der Kunstwelt ausgehen - dann beginnt man mit dem Anfang des 20. Jahrhunderts zu rechnen - oder man wählt den Zeitpunkt ihrer eigentlichen Entstehung. Denn wenn man vom absoluten Alter der Naiven Kunst spricht, muss man entweder Jahrtausende zurückgehen und es etwa mit dem Alter der ersten Felsmalereien oder mit den ersten in Höhlen gefundenen Bärenplastiken gleichsetzen.

Wer war er nun eigentlich, der erste Naive Maler? Vor sehr langer Zeit, vor vielen Tausenden von Jahren lebte ein Jäger, der eines Tages in einen flachen Stein die Konturen eines fliehenden Hirsches oder eines Bockes einritzte. Eine karge Linienführung erwies sich als ausreichend, um die Eleganz eines schlanken Tieres und das Ungestüm seiner Bewegungen wiederzugeben. Dieser Jäger verfügte zwar über keine künstlerische Erfahrung, dafür aber über die eines Menschen, der ein Leben lang sein „Modell” beobachtet hatte. Es ist kaum zu erklären, warum er diese Zeichnung anfertigte. Es könnte ein Versuch gewesen sein, seinen Stammesgenossen eine Botschaft zukommen zu lassen; es könnte aber auch für eine Gottheit bestimmt oder eine Beschwörungsformel für eine erfolgreiche Jagd gewesen sein. Der Kunsthistoriker sieht in diesem künstlerischen Versuch, abgesehen von dem Ziel, das damit verfolgt wurde, das Erwachen einer individuellen Kreativität, das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung, das sich im Umgang mit der Natur und der Umwelt herauskristallisierte. Natürlich gab es ihn, diesen allerersten Maler der Welt, es muss ihn ja gegeben haben; und er war wahrhaftig ein naiver Maler, denn es gab damals schlicht und einfach noch kein System der bildenden Kunst, das sich erst noch Schritt für Schritt entwickeln und vervollkommnen musste. Dabei ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass die Höhlenmalereien in Altamira oder Lascaux von einer ungeschickten Jägerhand ausgeführt wurden. Die Exaktheit bei der Wiedergabe charakteristischer Merkmale eines Bisons, dessen Plastizität, das Licht-Schatten-Spiel und letzten Endes die Schönheit der Malerei mit den feinen Farbnuancen - dies alles deutet auf einen professionellen Maler von höchstem Rang hin. Es ist sogar sehr wahrscheinlich, dass dieser „naive” Maler, jener Jäger, der kein professioneller Künstler wurde, seine Versuche fortsetzte und dabei jedes Material verwandte, das er zur Hand hatte. Es ist anzunehmen, dass die Gesellschaft diesem Laienmaler keine Beachtung schenkte, weil sie ihn nicht als Künstler akzeptierte.

Das Entstehen jedes Kunstsystems und jeder Kunstschule führte zwangsläufig zur „Aussiebung” derer, die sich mit ihrem Malen, Zeichnen oder Modellieren außerhalb der vom System auferlegten Grenzen und Direktiven bewegten. Die europäische Welt hütet sorgfältig die Meisterwerke der antiken Kunst und hält die Namen ihrer Maler, Architekten und Bildhauer in Ehren. Doch da uns nur einige wenige Beispiele der antiken Wandmalereien erhalten geblieben sind und die Zeit nicht einmal die Tafelbilder jener großen Meister bewahren konnte, über die man Legenden schrieb und deren Namen in überlieferten Quellen festgehalten sind, wie sollen wir dann von einem unbekannten Athener Bürger aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. wissen, der einmal versuchte, Bilder zu malen? Die Persönlichkeit eines antiken Henri Rousseau, den es doch gegeben haben muss, löste sich in Nichts auf. Gleichzeitig konnten der Goldene Schnitt und der Polykletische Kanon für das Modellieren eines menschlichen Körpers und überhaupt die ganze auf Mathematik beruhende Harmonie der Kunst nur von einer kleinen, von zahlreichen unzivilisierten Völkern umgebenen antiken Zivilisation in Anspruch genommen werden. Mit dieser anderen Welt wurden die Griechen auf Schritt und Tritt konfrontiert. Die steinernen Götzenbilder im nördlichen Schwarzmeergebiet waren für sie ein Beispiel der „wilden”, der „primitiven” Kunst und ihre Schöpfer waren für sie „Naive”, weil ihnen die Gesetze der Harmonie fremd waren.

Schon im 3. Jahrhundert n. Chr. machten sich die Einflüsse der Barbaren in der die griechischen Meister geradezu anbetenden römischen Kunst bemerkbar. Im Vergleich zu den Römern, die sich für das einzige zivilisierte Volk auf der Welt hielten, waren die Barbaren unkultiviert, denn ihre primitive Kunst konnte mit der klassischen römischen Kunst nicht konkurrieren. Dennoch griffen römische Bildhauer zu einer überaus einfachen, fast primitiven „barbarischen” Behandlung der Form und verwendeten raue, ziemlich flüchtig bearbeitete Steinoberflächen. Die „unechte” Kunst der Barbaren verfügte über eine Ausdruckskraft, die der „echten” klassischen Kunst fehlte. Mit anderen Worten: die professionellen Künstler schlugen bereits im 3. Jahrhundert n. Chr. den gleichen Weg ein, den am Anfang des 20. Jahrhunderts Joan Miró, Pablo Picasso, Max Ernst und viele andere beschritten.

Nach dem Ende der römischen Vorherrschaft im europäischen Raum verloren die Barbaren unter anderem auch das klassische Kunstsystem. Der Polykletische Kanon schien nie existiert zu haben. Von nun an konnte die Kunst durch ihre Expressivität ängstigen, Schrecken einjagen, erzittern lassen. In den Kapitellen der mittelalterlichen romanischen Dome nisteten sich seltsame Wesen mit kurzen Beinen, winzigen Körpern und riesigen Köpfen ein. Wer waren deren namenlose Schöpfer? Sie waren zweifelsohne gute Handwerker, virtuose Steinmetze und gleichzeitig auch große Künstler, denn sonst hätten ihre Schöpfungen nicht solch eine faszinierende Wirkung. Diese Künstler kamen in die Kunst aus dieser parallel existierenden Welt, die schon immer bestand und später von den Europäern „primitive” Kunst genannt wurde.

Die „naiven Maler” wurden in Europa am Anfang des 20. Jahrhunderts bekannt. Woher kamen sie und wer waren sie eigentlich? Die Antwort muss man in der Vergangenheit suchen. Dabei ist aber oft genug das Interesse an den Menschen, die naive Maler entdeckt haben, größer als das Interesse an den Künstlern selbst. Und das ist durchaus natürlich, denn hätte sich die junge Avantgarde der europäischen Kultur, die mittlerweile ein Bestandteil der Kunstgeschichte ist, diesem Phänomen nicht zugewandt, wäre es der Welt wohl auch für immer verborgen geblieben. Diese Avantgarde bestand aus Künstlern, deren Schaffen bereits am Ende des 20. Jahrhunderts als Kunstgeschichte galt. Es ist kaum möglich, André Bauchant, Henri Rousseau, Louis Vivin, Niko Pirosmani oder Ivan Generalić losgelöst von Max Ernst, Joan Miró, Pablo Picasso, Henri Matisse oder Michail Larionow zu betrachten.

 

 

Anonym,
Elands mit Menschen.

Region von Kamberg, Afrika.

 

 

Aristide Caillaud, Der Verrückte, 1942.

81 x 43 cm.

Musée dArt moderne de la Ville de Paris, Paris.

 

 

Anonym, Männliches Idol,
3000-2000 v. Chr.Holz, H: 9,3 cm.

Musée dArchéologie nationale,

Château de Saint-Germain-en-Laye,

Saint-Germain-en-Laye.

 

Die Werke der Naiven haben eine Unmenge von Problemen ausgelöst, deren Bewältigung die Forscher noch lange in Anspruch nehmen wird, weil in erster Linie die Quellen ihrer Kunst und die Beziehungen der Naiven zur offiziellen, akademischen Kunst herauszufinden sind. Aber möglicherweise gibt es auf diese Fragen nicht nur eine Antwort oder Meinung. Die Forschung wird zudem dadurch erschwert, dass immer noch neue Künstler entdeckt werden, deren Werke die Vorstellung von der Naiven Malerei zwar nicht verändern, sie jedoch sicherlich erweitern.

Deswegen ist es uns zum einen auch absolut unmöglich, ein einigermaßen genaues oder gar ausführliches Bild der Naiven Kunst zu entwerfen, und nur deswegen müssen wir uns zum anderen damit begnügen, verschiedenartige, besonders herausragende Gemälde zu präsentieren, die in ihrer Gesamtheit eine gewisse Vorstellung von dieser so wenig bekannten Kunstströmung geben. Und womöglich ist dies vorerst nur eine Skizze des Bildes, dessen Vollendung künftigen Generationen vorbehalten bleibt.

Es ist schwierig, ja fast unmöglich, einen direkten Einfluss der Malerei von Henri Rousseau, Niko Pirosmani oder Ivan Generalić auf die professionelle Kunst zu erkennen. Der Grund dafür liegt auf der Hand: diese Maler hatten keine gemeinsame Schule und keiner von ihnen hat sich im Grunde genommen für ein eindeutiges, nur ihm eigenes System entschieden. Deshalb wird die Kunst der Naiven auch von vielen Kunsthistorikern nicht untersucht. Denn das, was es erlauben würde, ihre Kunst als eine Erscheinung mit klaren Umrissen zu sehen, ist äußerst schwer zu finden.

Die Probleme beginnen bereits mit der Benennung dieser Kunst. Es gibt keinen Terminus, der ihr Wesen erschöpfend beschreiben könnte. Bei der Frage nach dem Namen greifen die Kunsthistoriker gewöhnlich nach Definitionswörterbüchern, in denen der auf die Kunst angewandte Terminus „primitiv” erklärt wird mit: „Maler und Bildhauer, die den Künstlern der Renaissance vorangingen”. Diese Definition, die im 19. Jahrhundert entstand, ist veraltet, denn in den Begriff „primitive” Kunst gingen im 20. Jahrhundert sowohl die Kunst der außereuropäischen Zivilisationen als auch die Kunst der Naiven Maler ein; dieser Begriff war derart breit angelegt, dass er diese so unterschiedlichen Kunsterscheinungen in sich vereinen konnte. Somit ist der Terminus „primitiv”, um die Kunst der Autodidakten zu kennzeichnen, nicht konkret genug. Das Wort „naiv”, das - emotional gesehen - über solche Synonyme wie: arglos, natürlich, zutraulich, unerfahren, ungekünstelt und vertrauensselig verfügt, entspricht durchaus dem Geiste dieser Maler. Aber mit den Worten von Louis Aragon kann man sagen, „... dass es naiv wäre, diese Malerei für naiv zu halten.”[1]