Autor: Jewgeni Kowtun
Übersetzung: Birgit Dalbajewa
Direktor der deutschen
Veröffentlichung: Klaus Carl
Layout:
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ISBN: 978-1-78310-342-3
Jewgeni Kowtun
RUSSISCHE
AVANTGARDE
Inhalt
I. Die Kunst der ersten Revolutionsjahre
„Picasso ist kein neuer Weg.“
Das geistige Universum
Die Petrograder Rosta-Fenster
Die Künstlervereinigung Heute
Die VKhUTMAS
Wassili Kandinsky
Kampf gegen die Schwerkraft
Die Witebsker „Renaissance“
II. Die Schulen und Bewegungen
Das Institut für künstlerische Kultur
Das additionale Element
Jelena Guro
Das Zeichen zur Rückkehr zur Natur gegeben
Das Ende des GINChUK
Der zweite Bauernzyklus Malewitschs
Auflehnung gegen Gott
Das nationale „Timbre“ der Farbe
Filonow und die Anhänger der analytischen Kunst
Künstlervereinigungen in den 20er Jahren
Die Skulptur, die Stoffe und das Porzellan
Die Avantgarde geht unter
WICHTIGE KÜNSTLER
Assoziation der Künstler des revolutionären Russlands (ACHRR), (1928 umbenannt in Assoziation der Künstler der Revolution - ACHR), 1922-1932, Moskau - Leningrad
Künstlerkreis, 1925-1932, Leningrad
Meister der analytischen Kunst (MAI), 1925-1932, Leningrad
Makowez, 1921-1925, Moskau
Die Welt der Kunst, 1898-1904, 1910-1924, St. Petersburg – Moskau
Monolith, 1918-1922, Moskau
Neue Künstlergesellschaft (NOSH), 1921-1924, Moskau
Gesellschaft OKTOBER (hinzu kam die Gesellschaft JUNGER OKTOBER), 1930-1932, Moskau – Leningrad
Moskauer Maler, 1924-1926, Moskau
4 Künste, 1925-1932, Leningrad - Moskau
Gesellschaft Moskauer Künstler (Omch), 1927-1932, Moskau
Künstlergesellschaft Bund der Jugend, 1910-1914 und 1917-1919, St. Petersburg — Petrograd
Altman, Nathan Issajewitsch (Geboren 1889 in Winniza, gestorben 1970 in Leningrad.)
Annenkow, Juri Pawlowitsch (Geboren 1889 in Petropawlowsk-Kamtschatski (Petropawlowsk-Kasachstanski?), gestorben 1974 in Paris.)
Bulakowski, Sergej Fjodorowitsch (Geboren 1880 in Odessa, gestorben 1937 in Kratowo.)
Bakst, Leon (Geboren 1866 in Grodno, gestorben 1924 in Paris.)
Burljuk, David Davidowitsch (Geboren 1882 im Vorwerk Semirotowstschina (heute Gebiet Charkow), gestorben 1967 in Long Island, New York.)
Chagall, Mark (Geboren 1887 in Witebsk, gestorben 1985 in Saint-Paul-de-Vence.)
Schewtschenko, Alexander Wassiljewitsch (Geboren 1883 in Charkow, gestorben 1948 in Moskau.)
Stschukin, Juri Prokopjewitsch (Geboren 1904 in Woronesh, gestorben 1935 in Moskau.)
Ender, Maria Wladimirowna (Geboren 1897 in St. Petersburg, gestorben 1942 in Leningrad.)
Jermolajewa, Vera (Geboren 1893 in Petrovsk, gestorben als Opfer stalinistischer Verfolgung 1938 in der Region von Qaraghandy.)
Ewenbach, Jewgenija Konstantinowna (Geboren 1889 in Krementschug, gestorben 1981 in Leningrad.)
Exter [Grigorowitsch], Alexandra Arexandrowna (Geboren 1882 in Belostok, gestorben 1949 in Fontenay-aux-Roses.)
Falk, Robert Rafailowitsch (Geboren 1886 in Moskau, gestorben 1958 in Moskau.)
Filonow, Pawel Nikolajewitsch (Geboren 1883 in Moskau, gestorben 1941 in Leningrad.)
Gontscharowa, Natalija Sergejewna (Geboren 1881 in Laditschino, gestorben 1962 in Paris.)
Guro, Jelena Gearichowna (Geboren 1877 in St. Petersburg, gestorben 1913 in Uusikirkko).
Judin, Lew Alexandrowitsch (Geboren 1903 in Witebsk, gefallen 1941 an der Leningrader Front.)
Kontschalowski, Pjotr Petrowitsch (Geboren 1876 in Slawjansk, gestorben 1956 in Moskau.)
Kandinsky, Wassili (Geboren 1866 in Moskau, gestorben 1944 in Neuilly-sur-Seine.)
Kurdow, Valentin Iwanowitsch (Geboren 1905 in Michailowskoe, gestorben 1989 in Leningrad.)
Larionow, Michail Fjodorowitsch (Geboren 1881 in Tiraspol,gestorben 1964 in Fontenay-aux-Roses.)
Lebedew, Wladimir Wassiljewitsch (Geboren 1891 in St. Petersburg, gestorben 1967 in Leningrad.)
Lentulow, Aristarch Wassiljewitsch (Geboren 1882 in Worona, gestorben 1943 in Moskau.)
Lasar Lissitzky gennant als El Lissitzky, (Geboren 1890 in Potschinok, gestorben 1941 in Moskau.)
Maschkow, llja Iwanowitsch (Geboren 1881 in Michailowskaja (heute Gebiet Ourioupinsk, Volgograd), gestorben 1944 in Moskau.)
Malewitsch, Kazimir Sewerinowitsch (Geboren 1878 in Kiew, gestorben 1935 in Leningrad.)
Matjuschin, Michael (Geboren 1861 in Nischni-Nowgorod, gestorben 1934 in Leningrad.)
Petrow-Wodkin, Kusma Sergejewitsch (Geboren 1878 in Chwalynsk, gestorben 1939 in Leningrad.)
Rodtschenko, Alexander Michailowitsch (Geboren 1891 in Petersburg, gestorben 1956 in Moskau.)
Sokolow, Mikhail (Geboren 1885 in Jaroslawl, gestorben 1947 in Moskau.)
Sujetin, Nikolai Michailowitsch (Geboren 1897 in Mjatlewskaja, gestorben 1954 in Leningrad.)
Tatlin, Wladimir lewgrafowitsch (Geboren 1885 in Moskau, gestorben 1953 in Moskau.)
Bibliographie
Index
Anmerkungen
Kazimir Malewitsch, Rotes Quadrat, 1915.
Öl auf Leinwand, 53 x 53 cm.
Russisches Museum, St. Petersburg.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts befand sich die russische Kunst an der Spitze des Weltkunstprozesses. Die Jahrzehnte, die in Frankreich zur Erneuerung der Malerei notwendig waren, verkürzten sich in Russland auf etwa zehn bis fünfzehn Jahre. Die Zeit zwischen 1910 und 1920 stand im Zeichen des steigenden Einflusses des das „Antlitz“ der bildenden Kunst verändernden Kubismus. Aber bereits 1913 wurde ein Umbruch spürbar, denn es entstanden neue plastische Probleme, die dem russischen Künstler den Weg ins Ungewisse eröffneten und die Waagschale begann, sich zugunsten der russischen Avantgardisten zu senken.
Im März 1914 erklärte der in Leningrad während der Belagerung durch die deutsche Armee umgekommene russische Maler Pawel Filonow, dass sich das „… Zentrum der Schwerkraft der Kunst“ nach Russland verlagert hatte[1]. Bereits 1912 hatte er Picasso und die Kubofuturisten kritisiert, sie seien, „… von ihren mechanischen und geometrischen Grundlagen ausgehend, in eine Sackgasse geraten.“[2] Diese Aussage wurde in der Zeit des Siegeszuges der neuen Bewegung auf den russischen Ausstellungen gemacht. Die feinfühligsten russischen Denker und Künstler sahen im Kubismus und im Schaffen Picassos nicht den Beginn einer neuen Linie, sondern das Ende der alten, vom französischen Maler Jean Auguste Dominique Ingres (1780 bis 1867) verfolgten Linie. Der russische Philosoph Nikolai Berdjajew (1874 bis 1948) meinte dazu: „Picasso ist kein neuer Weg. Er ist das Ende des alten.[3]“
Michail Matjuschin, der am St. Petersburger Konservatorium studierte und es bis zum Ersten Geiger im Hoforchester brachte, bevor er das Fach wechselte und Kunst studierte, äußerte sich: „So folgt Picasso, indem er die Gegenständlichkeit durch eine neue Art der futuristischen Aufsplitterung zerlegt, der alten fotografischen Manier des Malens nach der Natur und zeigt lediglich ein Schema der Bewegung der Flächen.“[4] Der Maler Michail Le Dantu erklärte: „Es ist ein grundlegender Fehler, Picasso als einen Neubeginn zu betrachten, er bringt eher einen Abschluss, und seinen Weg kann man wohl nicht beschreiten.“[5] Und der unter Stalin (1878 bis 1953) in einem sibirischen Straflager umgekommene Nikolai Punin unterstützt ihn mit der Aussage: „Picasso kann nicht als Tag der neuen Ära verstanden werden.“[6]
Die französischen Kubisten machten vor der Grenzlinie der Gegenstandslosigkeit halt. Ihre Theoretiker schrieben im Jahre 1912: „Wir bekennen allerdings, dass eine gewisse Spur von existierenden Formen nicht ganz verdrängt werden darf, zumindest nicht zum gegenwärtigen Zeitpunkt.“[7] Diese Grenze wurde in der russischen Kunst in den Werken von Tatlin, Filonow, Kandinsky, Larionow, Malewitsch und Matjuschin ganz entschieden überschritten. Die Folgen dieses Schritts sollten in der russischen Kunst noch lange nachwirken, obwohl die nichtfigürliche Malerei die Künstler nicht lange in ihren Bann zog. Am 15. Dezember 1915 wurde im Kunstbüro von Nadeshda Dobytschina auf dem Champ-de-Mars in Paris eine Ausstellung eröffnet, auf der Kazimir Malewitsch zum ersten Mal neunundvierzig suprematistische Bilder zeigte. „Die Quellen des Suprematismus“, schrieb er, „führten mich zur Entdeckung von noch nicht Erkanntem. Diese meine neue Malerei gehört nicht ausschließlich der Erde. Die Erde wurde verlassen wie ein wurmzerfressenes Haus. Und im Menschen, in seinem Bewusstsein, ist das Streben zu Räumlichkeit, der Hang, sich von der Erde loszulösen, verwurzelt.“[8]
Ungeachtet der Entdeckungen von Galileo Galilei (1564 bis 1642), Nikolaus Kopernikus (1473 bis 1543) und Giordano Bruno (1548 bis 1600) ist das Weltall für die Künstler praktisch und emotional immer geozentrisch geblieben. Ihre in den Bildern entstehenden Phantasien und Strukturen waren durch die Erdanziehungskraft „gefesselt“: Unbestreitbare Tatsachen waren für sie die Existenz von Horizont und Perspektive, die Begriffe „oben“ und „unten“, „links“ und „rechts“. Das alles veränderte sich mit der Idee des Suprematismus. Malewitsch betrachtete die Erde gleichsam aus dem Kosmos, genauer gesagt, hat ihm das innere „geistige Universum“ diesen Blick diktiert. Zahlreiche zu Beginn des Jahrhunderts wirkende russische Künstler, Poeten und Philosophen kehrten zu den Ideen der frühchristlichen Gnostiker zurück, indem sie die geistige Welt des Menschen typologisch dem Weltall gleichstellten.
Kazimir Malewitsch schrieb: „Der Schädel des Menschen bildet die gleiche Endlosigkeit für die Bewegung von Vorstellungen, er kommt dem Weltall gleich, weil in ihm all das Platz findet, was der Mensch darin erblickt.[9]“ Der Mensch hat begonnen, sich nicht nur als Lebewesen zu begreifen, sondern auch seine Teilhaftigkeit am Weltall zu spüren. In den gegenstandslosen Bildern des auf irdische „Orientierungspunkte“ verzichtenden Malewitsch sind genau wie im Weltall alle Richtungen gleichwertig. Das bedeutet einen solchen Grad von Autonomie in der Organisation der Struktur des Werkes, dass die von der Erdanziehungskraft diktierten Verbindungen zerstört werden. Es entsteht eine eigenständige, in sich geschlossene Welt, die ein eigenes Kohäsions- und Gravitationsfeld besitzt. Das ist ein kleiner Planet, der seinen Platz in der Weltharmonie einnimmt. Malewitschs gegenstandslose Bilder brechen nicht mit den Naturgrundlagen, der Künstler definierte sie nicht zufällig als „… neuen malerischen Realismus[10]“. Aber ihre Naturverbundenheit kommt auf einem anderen, planetarisch-kosmischen Niveau zum Ausdruck.
Die Gegenstandslosigkeit - und darin besteht ihr Hauptverdienst - hat den Künstlern nicht nur ein neues Weltbild eröffnet, sondern auch die Urelemente der künstlerischen Form freigelegt, die Sprache der Malerei verschärft und bereichert. Diesen Gedanken hat der Kritiker und Schriftsteller Viktor Schklowski (1893 bis 1984) sehr genau formuliert, als er über Malewitsch und seine Nachfolger sagte: „Die Suprematisten haben in der Kunst das getan, was in der Medizin die Chemiker getan haben. Sie bestimmten den wirksamen Anteil der Mittel.“[11]
Zu Beginn des Jahres 1917 war die russische Kunst in viele widersprüchliche Richtungen und Tendenzen aufgefächert. Dazu gehören sowohl die auslaufende Bewegung der Peredwishniki, die Welt der Kunst, die ihre Führungsposition bereits eingebüßt hatte, die Vereinigung der Cézanne-Anhänger Karo-Bube als auch die einflussreicher werdenden Richtungen des Suprematismus, des Konstruktivismus und der analytischen Kunst. Wenn wir weiter unten die Avantgarde der Zeitperiode nach der russischen Revolution charakterisieren, so berichten wir nur über die Haupterscheinungen in der Kunst und über die Ereignisse des künstlerischen Lebens; dabei gehen wir weit weniger auf die konkreten Arbeiten der Künstler ein. sondern mehr auf die Prozesse, die sich in der russischen Kunst dieser Jahre vollzogen haben und auf die Probleme, die von den großen, die Kunstepoche prägenden Künstlern aufgeworfen wurden.
Iwan Puni, Stillleben mit Buchstaben.
Das Spektrum des Flüchtigen, 1919.
Öl auf Leinwand, 124 x 127 cm.
Private Sammlung.
Olga Rozanova, Gegenstandslose Komposition
(Suprematismus), 1916.
Öl auf Leinwand, 102 x 94 cm.
Museum der visuellen Künste, Jekaterinburg.
Kurze Zeit nach der Oktoberrevolution (November 1917) vereinte sich eine Gruppe von jungen Künstlern, um die Abteilung Bildende Kunst des Volkskommissariats für Bildungswesen, das von Anatoli Lunatscharski (1875 bis 1933), einem der bedeutendsten Kulturpolitiker jener Zeit, zwölf Jahre lang geleitet wurde, zu gründen. Sie fassten die Revolution als eine Erneuerung aller Lebensprinzipien, als eine Befreiung von allem Hinfälligen, Ungerechtem und Veraltetem auf, wobei ihrer Meinung nach in diesem Säuberungsprozess die Kunst eine außerordentlich wichtige Rolle spielen sollte.
„Der Donner der Kanonen des Oktobers“, schrieb in jenen Tagen Malewitsch, „half, zum Neuerer zu werden. Wir sind gekommen, um die Persönlichkeit vom akademischen Hausrat zu befreien, um aus den Hirnen den Schimmel der Vergangenheit herauszubrennen, um Raum und Zeit, Tempo und Rhythmus, um Bewegung und damit die Grundlagen unseres heutigen Tages wiedererstehen zu lassen.“[12]
Die jungen Künstler waren bestrebt, die Kunst zu demokratisieren, sie auf die Straßen und Plätze der Stadt zu bringen und eine wirkliche Kraft zur revolutionären Umgestaltung des Lebens aus ihr zu machen. „Mögen sich die Bilder (die Farben) als leuchtende Regenbögen über die Straßen und Plätze von Haus zu Haus spannen und das Auge, den Geschmack der Vorübergehenden erfreuen und veredeln“[13], schrieben damals der Dichter Wladimir Majakowski (1893 bis 1930), der Schriftsteller Wassili Kamenski (1884 bis 1961) und der später in den USA lebende Künstler David Burljuk (1882 bis 1967). Der erste Versuch, die Kunst auf die Straße zu bringen und sie den Massen zugänglich zu machen, wurde in Moskau unternommen. Am 15. März 1918 wurden aus den Fenstern eines Hauses Ecke Kusnezki-Most und Neglinny-Passage drei Bilder von David Burljuk gehängt. Diese Episode wurde damals als ein weiterer Bubenstreich der Futuristen aufgefasst, der aber schon die nicht mehr ferne Zukunft vorausahnen ließ. Der Suprematismus fand erstmalig 1918 in Form dekorativer Bildtafeln von Iwan (Jean) Pougny (1892 bis 1956) und seiner Frau Xenia Boguslawskaja (1892 bis 1972), Wladimir Lebedew (1875 bis 1946) und Wladimir Koslinski, Nathan Altman (1889 bis 1970) und Pawel Mansurow (1896 bis 1983) den Weg aus den Ateliers der Künstler auf die Straßen und Plätze Petrograds, wie St. Petersburg zu jener Zeit hieß. In einer Tafel für die Litejny-Brücke strebte Wladimir Koslinski nach Knappheit und Einfacheit der Formen sowie nach inhaltlicher Fülle des Dargestellten, das keinen zufälligen und zweitrangigen Zug aufweisen sollte. Der Künstler verstand es, das Bild auf wenigen, großzügig angelegten Farbbeziehungen aufzubauen: das tiefe Blau der Newa, die dunklen Silhouetten der Kriegsschiffe und die roten Fahnen des am Kai entlangziehenden Demonstrationszuges. Besonders starke suprematistische Einflüsse sind in den Entwürfen von Iwan Pougny, Wladimir Lebedew und Xenia Boguslawskaja zu beobachten. Aber in diesen frühen Versuchen fassten die Künstler die suprematistischen Prinzipien etwas vereinfacht und lediglich als eine neue Methode zur farblich dekorativen Organisation der Fläche auf. Der innerste Sinn der neuen Strömung, seine philosophischen Wurzeln, blieb für sie noch verschlossen.
Michail Matjuschin,
Bewegungen im Raum, 1922.
Öl auf Leinwand, 124 x 168 cm.
Russisches Museum, St. Petersburg.
In den beiden Jahren 1920 und 1921 veränderte der Suprematismus das Wesen der von Wladimir Koslinski und Wladimir Lebedew geschaffenen revolutionären Plakate. Die ersten Rosta-Fenster (Rosta ist die Abkürzung für Russische Telegrafenagentur) entstanden Ende 1919 in Moskau, an ihrer Entwicklung hat Wladimir Majakowski aktiv teilgenommen. Zu Beginn des Jahres 1920 wurde Wladimir Koslinski einem von Platon Kershenzew und Majakowski unterschriebenen Mandat zufolge zum Leiter der künstlerischen Abteilung der Petrograder Rosta-Fenster ernannt.