Schwarze Katzen

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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, September 2014

Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

Umschlagabbildungen Steve Daggar Photography/Getty Images

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

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ISBN Printausgabe 978-3-499-26737-6 (1. Auflage 2016)

ISBN E-Book 978-3-644-30991-3

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-30991-3

 

Stets nahm ich dich in Schutz und bliebe

Dein Anwalt gegen eine Welt,

Du Volk Italiens, das ich liebe,

So manches mir an dir mißfällt.

 

Doch unter uns und ohne Zeugen

Nehm ich ein Blatt nicht vor den Mund

Und kann als Freund dir nicht verschweigen:

Sie tadeln dich nicht ohne Grund. […]

 

Und daß man selbst den Angestellten

Vergolden mag die hohle Hand –

Nun, dies und andres noch, nicht selten

Trifft man’s wohl auch in anderm Land.

 

Doch Schlimmres noch: Brigantenhorden

In deiner Berge wildem Schoß,

Vendetta, die, zur Pflicht geworden,

Geschlechter mordet gnadelos,

 

Der Wälder gräuliche Verwüstung,

Camorra, die das Ärgste wagt,

Und wes in sittlicher Entrüstung

Dich gutes Volk man sonst verklagt. […]

 

Paul Heyse (1830–1914)

 

Roberto Saviano

Sergio Cavallino

Kuheuter, dachte er wieder, automatisches Kuheuter. Er führte die Tasse voll heißer Milch an die Nase, roch angewidert daran und leerte sie ins Spülbecken des Bartresens. Dann zog er den Espresso zu sich heran und behielt den ersten Schluck lange im Mund, um den Milchgeruch zu vertreiben, der sich in seiner Nase festgesetzt hatte wie eine unangenehme Erinnerung. Während er die heiße, bittere Flüssigkeit von der rechten Backe in die linke laufen ließ, stützte er beide Unterarme auf die Theke, beugte sich vor und ließ den Blick durch das Restaurant wandern. Auch im Halbdunkel erschien es ihm wie ein Wunder, ein von ihm geschaffenes Wunder. Wohlig nahm Cavallino das Schimmern der bunten Lüster und Wandleuchten aus Muranoglas wahr, die großen Gemälde – Qualitätsgemälde, nicht den üblichen Kaffeehauskitsch mit Zypressen und blauem Meer –, die Blumengestecke, echte Blumen natürlich, die perfekte Anordnung der Tische und Stühle. Er strich mit der Handfläche über das glatte honigfarbene Holz des

Küchenpersonal und Kellner waren bereits gegangen, Cavallino hatte hinter dem Letzten abgeschlossen. Er liebte es, allein diesen sanft beleuchteten Raum zu genießen, der seit einem knappen Jahr sein Reich war. Der Boss hatte ihn gelobt, obwohl das sonst nicht seine Art war, hatte ihn in der Hierarchie befördert. Gewisse geschäftliche Entscheidungen durfte Sergio ab sofort selbst treffen. Nicht die ganz großen, aber immerhin. Es bedeutete einen winzigen Schritt weiter innerhalb des Unternehmens, einen Schritt für ihn selbst und für die anderen, die gemeinsam mit ihm arbeiteten.

Sergio Cavallino wandte sich um und betrachtete sich prüfend in dem verspiegelten Flaschenregal, schob eine Flasche Amaretto zur Seite, die sein Bild verstellte. Für besonders attraktiv hatte er sich noch nie gehalten, und er wäre gern größer gewesen als die mageren 168 cm, die er mit dicken Sohlen und etwas höheren Absätzen zu kompensieren versuchte. Sein Gesicht empfand er als durchschnittlich, und sein Haar begann sich zu lichten, obwohl er erst Mitte dreißig war. Es lag in der Familie, da konnte man nichts machen. Immerhin war er nicht fett geworden wie einige seiner Verwandten. Der dreieckige kleine Bartfleck, der seine Unterlippe hervorhob, sah passabel aus, und er mochte seine Augen. Sehr dunkle Augen mit langen Wimpern und kräftigen Brauen.

«Die Mädchen werden ganz verrückt nach deinen Augen sein!», hatte seine Mutter immer wieder vorausgesagt. Viel zu oft vor anderen und viel zu laut. Seine Geschwister hatten ihm deshalb den Spitznamen Belocchio gegeben, «Schönauge». Es war ihm peinlich gewesen, und das hatte

Jedenfalls längenmäßig. Die Mädchen waren anfangs nicht unbedingt verrückt nach Sergio gewesen, aber zu manchen Erfolgen hatten seine Augen sicher beigetragen. Seit er auch wagte, sie sich zunutze zu machen, klappte es noch besser. Sein Vorbild war dabei George Clooney. Einige von Clooneys Filmen hatte er sich zu Hause immer wieder angesehen und dann vor dem Spiegel geübt. Inzwischen funktionierte der Augentrick ganz gut. Allerdings setzte er ihn vor allem bei der Arbeit ein. Die weiblichen Gäste seines Restaurants wussten das zu schätzen. Er konnte ihnen das nicht verdenken. Den meisten deutschen Männern fehlte es eindeutig an erotischer Ausstrahlung, an geheimnisvoller Tiefe, an irgendwas, das er nicht benennen konnte. Peccato, das war ihr Problem.

Sergio streifte den Ärmel seines hellgrauen Jacketts zurück, schaute auf die kleine, goldene Rolex an seinem Handgelenk und polierte mit dem Zeigefinger sanft das Uhrenglas. Mit Bedacht hatte er eine kleine Uhr gewählt. Es war nicht gut, unnötig aufzufallen und wie ein dummer Angeber herumzulaufen. Qualität ja, aber auf dezente Weise. Sein Vater hatte ihm das eingebläut. Sein Vater, der selbst stets wie ein einfacher Bauer aussah, mit dunklen Anzügen aus dickem Stoff und weißen Hemden, die von Wäschestärke ganz starr waren. Obwohl Vater nie nach Mottenkugeln roch, hatte Sergio stets diesen Geruch in der Nase, wenn er an Vater dachte oder ihm begegnete.

Halb zwei. Er sollte ebenfalls nach Hause gehen. Am

Doch er konnte sich nicht aufraffen, hing lieber seinen Gedanken nach – in dieser wunderbaren Stille, die jeden Abend auf das Geplapper und Geklapper des Restaurantbetriebs folgte. Manchmal kamen ihm ganz neue Geschäftsideen, wenn er in aller Ruhe die Erlebnisse des Tages an sich vorbeiziehen ließ. Auch die Sache mit den Fischen war so entstanden. Und so gehörte die Firma, die den frischen Mittelmeerfisch lieferte, seit einiger Zeit ebenfalls zum Unternehmen. Sergios Bruder Michele hatte sie in Südfrankreich übernommen und versorgte mittlerweile italienische Lokale in ganz Süddeutschland mit Meeresfrüchten. Nicht ausschließlich italienische Restaurants, sondern auch ein paar deutsche und griechische. Ein kluger Schachzug, den sie gemeinsam mit Vater ausgearbeitet hatten. In Mutters Küche in Mailand.

Vater war noch einer von der alten Generation, die sich in Mailand nicht wohlfühlte und niemals einen Fuß nach München setzen würde. Seine Welt war und blieb das kleine Dorf in Kalabrien, nicht das berüchtigte, sagenumwobene, sondern ein gänzlich unbekanntes, in dem es nur zwei Familien gab, die seit Jahrzehnten in aller Stille zusammenarbeiteten. Die Aspro-Cavallini. Nahezu alle im Dorf waren miteinander verwandt oder verschwägert, was die Sache erheblich erleichterte. Sergio und seine Geschwister waren eine Mischung aus beiden Geschlechtern – Mutter war eine Aspro. Maria Beata Aspro.

Vor zwanzig Jahren hatten sie dann eine Niederlassung in Mailand gegründet. Mutter war mitgegangen, und Sergio musste eine höhere Schule besuchen, obwohl er lieber

Sergio entfernte einen Fleck vom Spiegel, rückte den Amaretto wieder an seinen Platz und ließ den Blick prüfend über die Flaschen wandern. Schließlich entschied er sich für einen Artischockenlikör, füllte ein kleines Glas und trank das dickflüssige süßlich-bittere Getränk im Wechsel mit Espresso.

Es hatte nie zur Debatte gestanden, dass er als Anwalt arbeiten könnte. Nicht einmal für ihn selbst – nein, das stimmte nicht ganz. Ein paarmal hatte er kurz darüber nachgedacht, wie es wäre, wenn er das Unternehmen verlassen und Anwalt werden würde. In Rom vielleicht oder im Ausland, in Amerika oder Australien. In einer Firma, die geschäftliche Verbindungen nach Italien hätte, als Betriebswirt mit juristischen Qualifikationen. Sogar ein paar Anzeigen im Internet hatte er sich genauer angesehen, obwohl er sich dessen schämte und sich wie ein Verräter fühlte. Einer, der gegen das Gesetz des Vertrauens und der Ehre verstieß, auch wenn kein anderer von diesem unausgesprochenen Verstoß wusste. Er erinnerte sich sogar an das Herzklopfen von damals, an die feuchte Stirn und ein Gefühl von Angst und Ekel.

Wovor hatte er sich geekelt? Vor sich selbst? Vor seinem vorgezeichneten Leben?

Das wohlig zufriedene Empfinden von vorhin zerfloss, während er darüber nachdachte. Weshalb hatte er die

Er hatte diese verstohlenen Impulse auszubrechen nicht weiter verfolgt und nicht mehr wiederholt. Heute gab es keinen Grund mehr zur Scham. Seit Jahren arbeitete er als eines der zuverlässigsten Mitglieder der ’Ndrina, seiner Familie und ihrer vielfältigen Unternehmungen. Allen ging es gut – nur einen hatten sie auf ihrem Weg verloren. Den Zweitältesten der Cavallini, Gabriele, benannt nach dem Erzengel Gabriel. Sergio bekreuzigte sich und senkte kurz den Kopf, wandte sich zu dem kleinen Marienbild, das an der Wand am Ende der Bartheke hing, nickte ihm zu, bat die Madonna della Montagna um Fürsprache für seinen toten Bruder.

Gabriele war beim Aufbau der Niederlassung in Mailand ums Leben gekommen, als er in den Bezirk sizilianischer Geschäftsleute vorgedrungen war. Der Mörder wurde nie gefunden, und bis heute war Gabrieles Tod nicht vergolten worden, obwohl Vater Rache geschworen hatte. Aber Rache, deren Zeitpunkt sorgfältig gewählt werden sollte. Das war jetzt beinahe fünf Jahre her.

Manchmal, dachte Sergio, sieht es so aus, als hätten wir alle die Geschichte vergessen. Gabriele war unvorsichtig gewesen, hatte die Handelsware selbst ausprobiert und nicht zu knapp. Er hatte die große, goldene Rolex keineswegs unter seinem Jackenärmel verborgen, war im offenen Mercedes Sportwagen herumgefahren, auf Partys gegangen und hatte mit seinen vielen Weibergeschichten geprahlt – alles Dinge, die in der Familie Aspro-Cavallini keinen Platz hatten und gegen die Regeln verstießen.

Vater und Onkel Carmine hatten ihn heftig ermahnt und ihm sogar mit Rauswurf gedroht. Gabriele war eine

Wieder spürte Sergio leichten Ekel. Er schenkte sich einen zweiten Artischockenlikör ein, führte das Glas zu den Lippen, hielt inne. Draußen raste ein Krankenwagen mit Blaulicht vorüber. Die Sirene und die Reifen auf dem Kopfsteinpflaster übertönten ein Geräusch, das aus der Küche des Restaurants zu kommen schien. Kaum hörbares Klirren, wie das Vibrieren eines Fensters.

Sergio lauschte. Vermutlich hatte der Krankenwagen eine Erschütterung ausgelöst. Trotzdem stellte er sein Likörglas ab, ging zur Küchentür und schaltete die Beleuchtung ein.

Der große Herd füllte blankgeputzt die Mitte des Raums, Pfannen und Töpfe standen auf den Anrichten oder hingen an den Wänden. Die Messer steckten in ihren Holzblöcken, die Arbeitsflächen waren leer, als hätte niemand hier noch vor wenigen Stunden köstliche Gerichte zubereitet. Leise lief noch die riesige Spülmaschine. Möglicherweise war das Geräusch von ihr gekommen, seltsam, dass er vorher nichts bemerkt hatte. Sergio löschte das Licht und kehrte zu seinem Likörglas zurück.

Man könnte das Geschäft mit den Fischen und Meeresfrüchten langsam nach Norden ausweiten, dachte er. Mit gebotener Umsicht und klugen Verhandlungen. Es war gut, sich mit der Arbeit zu beschäftigen, nach vorn zu denken und nicht an die Vergangenheit. Die war vorbei. Doch dann dachte er etwas, das er eigentlich nicht denken wollte. Es hatte mit Gabrieles Tod zu tun, und es war ein Gedanke, den er schon viele Male weggedrängt hatte.

Seit fünf Jahren tauchte immer wieder eine bestimmte Szene aus seiner Erinnerung auf: das Bild seines Vaters, des

Und doch hatte Sergio noch etwas anderes als den Schmerz seines Vaters gespürt: etwas Erschreckendes, Unerhörtes. Sergio war sicher, dass er sich nicht getäuscht hatte, obwohl er sich selbst augenblicklich verbot zu denken, was er dachte: Die Gesichtszüge des alten Cavallino hatten Erleichterung verraten, als er nach langer Zeit die Hand von den Augen nahm. Wobei Erleichterung ein viel zu starkes Wort war und er sich ganz sicher geirrt hatte, schließlich war es dämmrig im Zimmer gewesen. Im Haus des Bosses waren immer die Fensterläden geschlossen. Seine Wahrnehmung verwirrte und beschämte Sergio. Und doch – irgendwann in den vergangenen Jahren hatte er noch etwas gedacht, dessen er sich schämte und das ihm wieder kalten Ekel verursachte. In einem Zug leerte er das Glas und wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen. Tief in ihm war der Verdacht gewachsen, dass Vater den Killer seines Sohnes Gabriele bestellt haben könnte. Schließlich war er der Boss und Gabriele eine echte Gefahr für das Unternehmen geworden. Von Vaters sieben Kindern funktionierten alle, sogar die Schwiegersöhne und Schwiegertöchter. Auch die Nichten und Neffen, die Tanten, Onkel, Großtanten und Großonkel. Alle

Nach seinem Tod hatte die Familie über Gabrieles Unachtsamkeit geklagt, getrauert und gleichzeitig seinen Mut gepriesen. Mutter versuchte einen Helden aus ihm zu machen. Die anderen ließen sie gewähren. Besser ein Held in der Familie als ein Idiot und Aufschneider. Am Anfang forderte Maria Beata Aspro heftig Vergeltung, und alle stimmten ihr zu. Sie zogen die Köpfe ein, wenn sie tobte und ihre Söhne und Schwiegersöhne als Feiglinge und Memmen beschimpfte. Doch ihr Ehemann, der Boss, hatte keinen Befehl zur Vergeltung erteilt, sosehr sie sich auch aufregte.

In letzter Zeit war es ruhiger geworden. Mutter lebte seit ein paar Monaten wieder bei Vater zu Hause in Kalabrien. Sie war nicht gern aus Mailand weggegangen. Aber der Boss hatte es verfügt. Er war alt und krank, dachte sogar über einen Nachfolger nach. Seit Sergio vor ein paar Monaten befördert worden war, hegte er leise Hoffnung auf diese Nachfolge. Doch Michele war älter als er und leistete verdammt gute Arbeit mit seinem Fischhandel. Und dann war da noch die Familie Aspro. Zwei von Sergios Schwestern hatten Männer der Aspro geheiratet.

Man traf sich nur bei besonderen Familienfeiern und beim Fest der Madonna della Montagna in den Bergen des Aspromonte. Ansonsten arbeitete man professionell und in aller Stille gemeinsam am Unternehmen. Allein in Sergios Küche waren sechs Köche und Gehilfen der Familie Aspro

Sergio griff nach der Flasche und füllte sein Glas zum dritten Mal, ließ es dann aber stehen, umrundete die Theke und ging langsam bis ans Ende des Gastraums. Mit den Fingerspitzen strich er über die glatten Tischdecken aus dunkelgrünem Damast.

«Montenero», sagte er leise. Den Namen hatte er sich ebenfalls ausgedacht – ein Name, den nicht jedes italienische Lokal hatte. Die Berge des Aspromonte waren im Winter beinahe schwarz. Das Montenero war ein voller Erfolg in dieser Stadt, die ständig nach neuem Luxus gierte, und in kurzer Zeit zum neuen Lieblingsitaliener einer bestimmten Schicht aufgestiegen. Genau wie vorgesehen.

Sergio hob den Kopf, glaubte wieder, ein Geräusch gehört zu haben. Die Spülmaschine müsste eigentlich längst durchgelaufen sein. Leise kehrte er zur Bar zurück, näherte sich seitlich der Schwingtür zur Küche, schaltete diesmal kein Licht ein, sondern verharrte lauschend.

Da war etwas. Diesmal klang es wie leises Scharren, dann, als wischte etwas über den Boden. Das konnte nicht die Spülmaschine sein. Sergio wollte gerade zur Bar zurück, um seine Waffe aus dem Geheimfach zu holen, das nur er kannte. Er drehte sich um und streckte gerade den rechten Arm aus, als ihn von hinten etwas anfiel wie ein wildes Tier, ihn mit mächtigen Schlägen in die Knie zwang.

Keuchend krümmte er sich, versuchte seinen Körper vor den Angriffen zu schützen. Irgendwie schaffte er es hinter die Bar, warf eine Vase samt Blumengebinde, Flaschen, alles, was er zu fassen bekam. Der andere war trotzdem schon um die Theke herum, traf Sergios Brustkorb, seine

Mit zitternder Hand tastete Sergio nach den Küchenmessern, zog zwei aus dem Holzblock, ließ eines fallen. Alles drehte sich um ihn. Er nahm nur wahr, dass der andere wieder hochkam. In diesem Augenblick fuhr draußen ein Wagen vorbei, und ein kurzer Lichtstrahl fiel auf die Hände des Unbekannten. Behandschuhte Hände, die jetzt ein dünnes Seil hielten. Dann war es wieder dunkel. Sergio lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Er versuchte, klar und eiskalt zu bleiben, wie man es ihm beigebracht hatte. Doch er war weit davon entfernt, klar und eiskalt zu sein. Schweiß lief in seinen Nacken, und sein Herz schlug dröhnend. Sein Mund war plötzlich so trocken, dass er kaum schlucken konnte. Trotzdem schaffte er es, reglos zu warten, bis der andere so nah war, dass er ihn riechen konnte. Als der die Arme hochriss, stach er zu. Das Seil streifte Sergios Gesicht, dann fiel der Unbekannte mit einem dumpfen Laut schwer gegen ihn. Entsetzt stieß Sergio ihn von sich, der andere sackte zu Boden, wieder rollten Töpfe, ein Deckel drehte sich unerträglich lange auf den Fliesen.

Dann war es still.

Sergio versuchte zu begreifen.

Der andere lag vor ihm, ein dunkles, regloses Etwas.

Glasscherben knackten unter seinen Schuhen, zerbrochene Flaschen und abgeknickte Blumen bedeckten den Boden. Ein paar Tische und Stühle im Gastraum waren umgefallen. Sergio hatte nicht die geringste Ahnung, was ihn heimgesucht hatte. Er wusste nur, dass er schnell handeln musste. Mit zitternden Händen zog er das Mobiltelefon für spezielle Nachrichten aus der obersten Schublade hinter der Theke. Als sich sein Cousin Eduardo mit verschlafener Stimme meldete, gab Sergio seine verschlüsselten Anweisungen. Es dauerte eine Weile, bis Eduardo begriffen hatte und sich auf den Weg machte. Danach trank Sergio mit langsamen Schlucken Artischockenlikör und wartete.

Und nun beginnt alles wieder

Laura schaute auf ihre Armbanduhr. München-Haidhausen, zehn nach elf an einem sonnigen Sonntag im Mai. Vor zwei Tagen war sie aus Siena zurückgekehrt – körperlich zumindest, geistig keineswegs. Sie kannte diesen Zustand gut und wartete auf Besserung, darauf, dass die innere Verfassung wieder auf Anfang schaltete.

Manchmal kam sie sich vor wie in diesem Film, den sie vor langer Zeit gesehen hatte. Der Hauptdarsteller musste einen bestimmten Tag so lange immer aufs Neue durchleben, bis er endlich die richtigen Entscheidungen traf. Und täglich grüßt das Murmeltier war der ziemlich blödsinnige Titel. So ähnlich lief es seit Jahren in ihrer Beziehung zu Commissario Angelo Guerrini. Sie kamen zusammen, liebten sich, trafen keine Entscheidungen und trennten sich wieder. Es fehlte nur das Murmeltier.

Sie musste über sich selbst lächeln, über ihre Versuche, sich um die Trauer herumzumogeln. Denn sie trauerte, und das seit zwei Tagen, auch wenn sie den Balkon mit Blumen bepflanzt, die Rückkehr ihrer Tochter Sofia aus London organisiert und ihren Vater angerufen hatte. Der alte Emilio Gottberg hatte es natürlich sofort gemerkt, er hatte nur ihre Stimme hören müssen. Auch das passte zu dieser Murmeltier-Geschichte. Vater, der ewige Mahner.

Erst morgen würde sie wieder zur Arbeit gehen, der Chef hatte ihr noch das freie Wochenende zugestanden – eine höchst ungewöhnliche Großzügigkeit, die von seinem schlechten Gewissen zeugte. Gemeinsam mit Commissario Guerrini hatte Laura einen Fall gelöst, den Kriminaloberrat Becker am liebsten vergessen hätte. Sie hatte sich seinen Anordnungen widersetzt und sich zuletzt noch zwei Wochen Sonderurlaub ausbedungen – unter anderem wegen mangelnder Kooperation seinerseits und daraus resultierender Gefährdung ihrer Familie. Laura bog in die Weißenburger Straße ein und blieb eine Weile vor dem Buchladen stehen, der Bildbände, Romane, CDs und Kalender günstiger verkaufte. Es war einer ihrer Lieblingsläden in Haidhausen, und wenn sie Zeit hatte, stöberte sie

Unwillig schüttelte sie den Kopf und versuchte sich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Sie war lange nicht mehr mit offenen Augen durch ihr Stadtviertel gegangen. Die Straße war sonntäglich still. Den griechischen Gemüsemarkt auf der anderen Straßenseite gab es nicht mehr, seinen Platz hatte ein seltsamer Metzgerladen in kühlem Design eingenommen. Vermutlich verkaufte man dort Designer-Würstchen, danach sah der Laden jedenfalls aus. Sie hatte ihn bisher gar nicht bemerkt, obwohl diese Veränderung sicher nicht über Nacht geschehen war.

Es gab viele neue Läden in der Weißenburger Straße, die ihr bisher nie aufgefallen waren. Das verstaubte Geschäft voll bayerischer Bierkrüge und Pokale existierte seltsamerweise immer noch, obwohl Laura sich schon vor Jahren gefragt hatte, wer dort eigentlich jemals etwas kaufte.

Ein kleiner Mann überholte sie mit schnellen Schritten. Sein langes Haar fiel weit über den Kragen seiner grauen Jacke. Seine Hosenbeine waren zu kurz, und er trug keine Socken. Unter seinem rechten Arm steckte ein ziemlich großes Buch. Jetzt verharrte er kurz und drehte sich so zu einem Schaufenster, dass Laura den Titel lesen musste: Artists at Work. Vermutlich war das sein Versuch, der Welt zu

Die Eisdiele am Pariser Platz gab es noch und auch McDonald’s. Auf einer Bank in der Mitte des Platzes saßen zwei alte Türken, auf einer anderen zwei alte Frauen. Sie fütterten Tauben und Spatzen, was eigentlich verboten war. Wieder schaute Laura auf die Uhr. Halb zwölf. Um zwölf war sie mit ihrem Kollegen Peter Baumann in dem kleinen italienischen Café in der Sedanstraße verabredet. Er würde mit einem Taxi kommen, denn sein Bein steckte noch immer in Gips. Vor vier Wochen war Kommissar Baumann schwer verletzt worden, als er eine Schlägerei in einem Schnellimbiss am Stachus verhindern wollte. Laura hatte ihn vor drei Wochen zum letzten Mal im Krankenhaus besucht, kurz vor ihrer nicht genehmigten Dienstreise nach Florenz. Damals litt Peter Baumann unter Panikanfällen und schien völlig traumatisiert. Er hatte einen Kieferbruch, zwei gebrochene Rippen und eine zerschmetterte Kniescheibe. Inzwischen war er aus dem Krankenhaus entlassen worden, und am Telefon hatte er behauptet, es ginge ihm besser.

Laura überquerte den Pariser Platz und bog in die Sedanstraße ein. Nur ein Tisch vor dem Café war noch frei, an den anderen frühstückten die typischen Haidhauser Spätaufsteher: eine Familie mit drei kleinen Mädchen und einem kleinen Hund, eine junge Frau mit Laptop und zwei kahlrasierte junge Männer in lässigen Klamotten, die in ein ernstes Gespräch vertieft schienen. Der freie Tisch war für Laura reserviert. Sie rückte den Stuhl an die Hauswand, setzte sich und überließ sich ein paar Minuten lang der Sonnenwärme, den Stimmen der anderen Gäste und dem sanften Wind, der an den Häusern entlangstrich. Auch die

 

Sergio Cavallino lag flach auf dem Rücken und starrte an die Decke seines Schlafzimmers. Seit Stunden lag er bereits so und versuchte sich an jeden winzigen Hinweis zu erinnern, den er übersehen haben könnte. Irgendetwas, das den Überfall von vorletzter Nacht erklären könnte. Höchstens eine Stunde hatte er geschlafen, dann war er schweißgebadet aufgeschreckt, hatte in die Dunkelheit gelauscht wie ein furchtsames Kind und endlich die kleine Lampe neben seinem Bett eingeschaltet.

Immer wieder rief er sich das Gesicht des Toten ins Gedächtnis, schaute es mit geschlossenen Augen an. Aber nichts in diesem Gesicht rief eine Erinnerung in ihm wach. Er hatte den Mann nie gesehen, war ihm nie begegnet. Dieser runde Schädel mit der leicht fliehenden Stirn und dem kräftigen Kinn war ihm völlig unbekannt. Der weiche Mund hatte unnatürlich rosafarben ausgesehen. Ekelhaft rosafarben.

«Der sieht aus wie ein Russe», hatte Eduardo gesagt. «Berufskiller.»

Ein Russe? Sergio kannte keine Russen, und er hatte auch keine Ahnung, wer einen Berufskiller auf ihn ansetzen sollte. Sollte er für irgendetwas bestraft werden? War es ein

Sergio stöhnte und schob die Decke von sich, lag jetzt nackt auf dem Bett. Durch die Vorhänge drang Sonnenlicht, so intensiv, dass er die Wärme zu spüren meinte. Plötzlich fühlte er sich schutzlos und ausgesetzt. Er zog die Decke wieder heran, hielt dann aber inne. Bisher hatte er sich immer wohlgefühlt nackt zwischen den weichen Laken. Haut auf seidigem Stoff fühlte sich gut an, sinnlich. Derzeit keine Freundin zu haben, machte ihm keine Schwierigkeiten. Sergio kam gut mit sich selbst klar, war gut Freund mit seinem Körper.

Nur jetzt nicht mehr. Der Angriff des «Russen» klang in jeder seiner Zellen nach. Die ganze Nacht über hatte ihn die Vorstellung verfolgt, dass einer aus der Dunkelheit brechen würde und über ihn herfiele, um ihn totzuschlagen. Ein schwarzes, gesichtsloses, wortloses Etwas mit Armen, so hart wie Eisenstangen.

Wieder fühlte Sergio Schweiß auf seiner Haut, obwohl ihm kalt war. Er stützte sich auf einen Ellbogen und schaute auf die Uhr. Beinahe Mittag. Es hatte keinen Sinn, hier zu liegen und auf Schlaf zu hoffen oder dummes Zeug zu denken, das zu nichts führte. Im Montenero warteten sie vermutlich ungeduldig auf ihn. Es kam selten vor, dass er später als zehn zur Arbeit erschien. Sergio setzte sich auf den Bettrand und betastete die Prellungen auf seinen Oberarmen, der Brust und seiner rechten Hüfte. Große lila Hämatome breiteten sich auf seinem Körper aus. Zum Glück hatte er im Gesicht nichts abbekommen. Langsam stand er auf, ging ins Badezimmer und betrachtete sich im Spiegel. Wenn er ehrlich zu sich war, und er versuchte

Aber so durfte er nicht aussehen. Er musste aussehen wie einer, der mit dieser Angelegenheit umgehen konnte. Professionell. Das Vorkommnis war bedauerlich, aber damit musste man rechnen. Es war Teil des geschäftlichen Risikos. Jetzt ging es darum, Schaden abzuwenden, nicht aufzufallen.

Sergio duschte lange und heiß, doch das Wasser konnte die Starre seiner Muskeln nicht lösen, verstärkte die Schmerzen seiner Prellungen noch.

Er rasierte sich, das leichte Zittern seiner Hände verachtend. Nachdem er sich in der Küche einen Caffè gemacht hatte, zog er die Vorhänge im Schlafzimmer auf. Die blendende Helligkeit ließ ihn die Augen zusammenkneifen und das Gesicht abwenden. Ich werde mich jetzt anziehen und ins Restaurant gehen, dachte er, setzte sich dann aber wieder auf sein Bett und trank den Caffè, ohne ihn wirklich zu schmecken.

 

«Buon giorno, Signora. Attenzione!» Der Kellner war ein fröhlicher junger Italiener, der für seine deutschen Gäste perfekt den fröhlichen, temperamentvollen, jungen Italiener spielte und mit dem Sonnenschirm eine kleine akrobatische Nummer aufführte, ehe er ihn über Laura aufspannte. Seine Jeans hatte er mit einem breiten Gürtel aufgepeppt, der mit falschen Edelsteinen besetzt war, und sein hellblaues Hemd trug ebenfalls ein paar blitzende Stickereien. Sein Haar war ganz kurz, und ein schmaler Bart betonte die Konturen seiner Wangen und seines Kinns.

«Ah, Signora!», rief er. «Sie waren lange nicht mehr bei

«Wie ist das Leben?», fragte Laura.

Mit verschränkten Armen blieb er vor ihr stehen und schaute plötzlich sehr ernst auf sie herab. «La vita è la vita, Signora. Einfach das Leben, wie es eben ist. Man muss es nehmen, wie es kommt. Einen Tag nach dem anderen. Geht es Ihnen gut?»

«Nein, eigentlich nicht, deshalb brauche ich jetzt dringend einen Cappuccino und ein Glas Wasser.»

«Nichts zu essen?» Er musterte sie besorgt, schien zu überlegen, ob er nachfragen sollte, doch dann schweifte sein Blick schon wieder zu den anderen Gästen, die Straße entlang, zum Himmel hinauf und endlich wieder zu Laura.

«Ich warte noch, bis mein Kollege kommt.»

«Natürlich, ich eile. Der Caffè kommt sofort!»

Er ging, nicht besonders eilig, zog eines der kleinen Mädchen vom Nachbartisch am Pferdeschwanz und lachte laut, als es spielerisch nach ihm schlug und ihm nachlief.

Haidhauser Idylle, dachte Laura, und ihr war zugleich behaglich und unbehaglich zumute. Bevor sie dieses Gefühlsgemisch jedoch näher betrachten konnte, bog ein Taxi in die Sedanstraße ein und hielt am Randstein genau vor ihrem Tisch. Langsam stand Laura auf und wartete neben der Beifahrertür, bis Kommissar Baumann bezahlt hatte.

«Halt! Ich muss erst meine Beine rausstellen. Das geht nicht so schnell!»

Es dauerte ein paar Minuten, ehe Baumann aufrecht stand und Laura endlich, auf eine Krücke gestützt, begrüßte.

«Danke, dass du nicht auch noch an mir gezogen hast!», sagte er. «Gut, dich zu sehen.»

«Gut, dich außerhalb des Krankenhauses zu sehen. Du hast dich sehr zu deinem Vorteil verändert. Letztes Mal warst du blau und lila im Gesicht und hattest Schlitzaugen.»

Baumann verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln, ohne etwas zu erwidern.

«Komm. Setz dich. Mit dem Rücken an der Wand kannst du dein Gipsbein hochlegen.» Er sieht immer noch elend aus, dachte Laura. Blass und schmal. Sein Gesichtsausdruck ist anders, fremd. Er wirkt wie ein Fremder. Dabei war er mir vor ein paar Wochen noch so vertraut. Sie rückte einen Stuhl heran, Baumann legte vorsichtig sein eingegipstes Bein hoch und lehnte die Krücke neben sich an die Hauswand. Der Kellner Calogero brachte Lauras Cappuccino und fragte, ob er noch Polster unter Baumanns Bein legen solle und ob es beim Sport passiert sei.

«Bei einer Art Sport», murmelte Baumann, bestellte ebenfalls einen Caffè und studierte angestrengt die Frühstückskarte. Calogero warf Laura einen fragenden Blick zu, doch auch von ihr bekam er keine genauere Antwort.

Vielleicht will Peter gar nicht mit mir reden, dachte sie. Vielleicht ist er nur gekommen, weil er höflich sein wollte.

Sie bestellten Croissants und Joghurt mit Früchten.

«Du warst ja ziemlich erfolgreich in letzter Zeit», sagte Baumann endlich. «Gratuliere.»

Was redet er denn, dachte Laura. Wir treffen uns doch nicht, um über die verdammte Arbeit zu sprechen.

«Danke», erwiderte sie, «es war einer dieser Fälle, bei denen ich dich dringend gebraucht hätte. Reines Glück, dass es so glimpflich ausgegangen ist.»

Was rede ich denn, dachte sie. Der Fall um den ermordeten Banker hat sich so schnell und unvorhergesehen entwickelt, dass ich Peter eben nicht gebraucht habe.

Calogero brachte Cappuccino und Croissants.

«Sitzen Sie bequem? Soll ich nicht doch ein Kissen bringen? Nein? Va bene …» Calogero sah Laura ratlos an und verschwand.

«Er ist aufdringlich.» Baumann zog die Tasse zu sich heran.

«Nein, er ist besorgt und ziemlich nett.»

«Wenn du meinst.»

«Wie lange musst du den Gips noch behalten?»

«Noch zwei Wochen.»

«Und dann?»

«Dann komme ich in die Reha. Ich wollte nicht, aber der Arzt besteht darauf. Also bleibt mir nichts anderes übrig.»

«Warum wolltest du nicht?» Laura trank einen Schluck Kaffee und beobachtete ihren Kollegen von der Seite. Er schien es nicht zu bemerken, drehte den Kaffeelöffel in seinen Händen.

«Weil es eine Reha mit Physiotherapie und Psychotherapie ist.» Er betonte das Wörtchen und.

Baumann legte den Löffel neben die Kaffeetasse und drehte sich dann ruckartig zu ihr, wobei er stöhnend zusammenzuckte. «Verdammt, die Rippen tun immer noch höllisch weh, wenn ich eine falsche Bewegung mache. Dauert ewig, bis Rippen wieder zusammenwachsen.» Er hatte Mühe zu atmen und war noch blasser geworden.

«Der Arzt will mich in diese Psycho-Reha schicken, weil ich schlecht träume und manchmal unter unklarer Angst leide. Dabei ist alles schon viel besser geworden. Ich hab keine Macke. Ich schaff das allein.»

«Das hast du damals im Krankenhaus auch gesagt.»

Er presste die Lippen zusammen und räusperte sich ein paarmal. «Wenn sich unter den Kollegen rumspricht, dass ich in eine Reha mit Psychoabteilung gehe, dann nehmen die mich nicht mehr ernst. Du kennst die doch!»

«Auch das hast du damals gesagt.»

«Du hörst aber verdammt genau zu.»

«Erinnerst du dich auch noch daran, was ich gesagt habe?»

Der Kellner stellte Schalen voll Joghurt und bunten Beeren vor sie hin.

«Stimmt alles? Tutto bene?»

Laura nickte ihm zu. Er zog seinen glitzernden Gürtel ein wenig hoch, drehte sich um und bewunderte lautstark die Kreidebilder der Mädchen.

«Nein, schließlich hatte ich eine Gehirnerschütterung.»

«Ich habe damals gesagt, dass man nicht immer alles allein schaffen kann und auch nicht muss!»

«Und das sagst ausgerechnet du, Laura. Hast du schon irgendwann irgendwas nicht allein geschafft?» Seine Stimme klang scharf, und er war ein bisschen lauter geworden.

«Du täuschst dich, Peter. Nach der Trennung von meinem Ex habe ich ein halbes Jahr Gesprächstherapie gemacht und außerdem einen Meditationskurs besucht. Das passt nicht zum Image einer Kriminalhauptkommissarin, aber es ist die Wahrheit. Und es hat mir verdammt gutgetan.»

«Weiß irgendjemand davon? Die lieben Kollegen zum Beispiel, oder der Chef?»

«Nein.»

«Aha, du hast es ja nicht mal mir erzählt. Und garantiert deshalb, weil du genau weißt, was der durchschnittliche Polizeibeamte von Psychogeschichten hält. Probleme haben nur Schwächlinge, und die haben bei der Polizei nichts zu suchen.»

«Nein, Peter. So einfach ist es nicht. Es gibt durchaus Kollegen, die Verständnis haben, wenn man nicht so gut funktioniert. Dich zum Beispiel. Ich habe es niemandem gesagt, weil ich mein Privatleben nicht mit der Arbeit vermischen wollte. Und nebenbei bemerkt – als Frau kann man es sich noch viel weniger erlauben, Schwäche zu zeigen.»

«Warum hast du es mir nicht gesagt, wenn du mir Verständnis unterstellst?»

«Weil es eine ganz persönliche Sache war, mit der ich selbst ins Reine kommen musste.»

Baumann schüttelte den Kopf. «Und warum darf ich mit meinem persönlichen Problem nicht allein fertigwerden?»

«Weil du in Ausübung deiner Arbeit als Polizist beinahe umgebracht worden bist. Weil niemand so etwas einfach abschüttelt. Noch nie was von traumatisierten Soldaten gehört, die aus Afghanistan zurückkommen? Das sind keine

Laura beobachtete, wie Baumann einen Hustenanfall zu unterdrücken versuchte. Es dauerte ein paar Sekunden, ehe sie begriff, dass er lachte. Als er sich wieder unter Kontrolle hatte, atmete er möglichst flach und sagte endlich leise: «Das war eine klassische Rede meiner hochgeschätzten Kollegin Laura. Knappe These, Konklusion und eine Frage, die bereits Lösungsansatz ist. Bravo!»

Laura lachte ebenfalls, hielt sich die Hand vor den Mund.

«Entschuldige, Laura.»

«Du musst dich nicht entschuldigen. Wahrscheinlich hast du ja sogar recht. Die Antwort auf deine Frage ist: Niemand weiß von der speziellen Reha, nur der Arzt und du.»

«Gibt es da nicht eine dritte Person?» Laura erinnerte sich genau, dass es in den letzten Wochen eine deutliche Annäherung zwischen der Dezernatssekretärin Claudia und Baumann gegeben hatte.

«Nein», antwortete er. «Falls du Claudia meinst – ich habe ihr nur von einer ganz normalen Reha für mein Knie und meine Rippen erzählt.»

«Warum?»

«Das ist meine Angelegenheit, oder?»

«Natürlich.»

Baumann rührte mit dem Kaffeelöffel in seinem Joghurt herum. «Was ist also die Lösung?» Er zuckte heftig zusammen, als knapp neben ihm ein Mann aus der Einfahrt zum Hinterhof des Hauses hervortrat.

«Die Lösung ist – ach, wieso machst du mich zu jemandem, der die Lösung weiß? Du kennst sie doch selbst!»

«Sag es trotzdem, dann können wir unsere Lösungen vergleichen.» Er lächelte, doch um seinen Mund lag ein bitterer Zug.

«Okay! Es ist einfach: Du absolvierst deine Reha, offiziell eine ganz normale Reha, und die Psychokomponente behältst du für dich. Von mir und von deinem Arzt wird es niemand erfahren. Und von Claudia auch nicht, das kann ich dir garantieren.»

«Lass Claudia aus dem Spiel, sonst frag ich dich, wie es mit deiner Dauer-Fernbeziehung steht und ob du Guerrini von deiner Therapie erzählt hast.»

Jetzt ist er nicht mehr so fremd, dachte Laura. Laut sagte sie: «Lass uns frühstücken, und beim zweiten Cappuccino erzähle ich dir vielleicht ein bisschen von meiner Dauer-Fernbeziehung. Da bist du platt, was?»

Die ersten Gäste

Irgendein Zeichen hatte er befürchtet, erwartet. Trotzdem fröstelte er, und die Haut auf seinem Rücken fühlte sich an, als richteten sich alle Härchen einzeln auf. Er wandte sich um, lief in den Hinterhof, dann auf die Straße. Aber natürlich war da niemand. Schließlich kehrte er in seine Wohnung zurück und drehte den Umschlag ein paarmal in den Händen, ehe er ihn behutsam mit einem Brieföffner aufschlitzte. Vorsichtig zog er ein weißes Blatt hervor, entfaltete es, las halblaut und sehr langsam. Jedes Wort hinterließ ein unwirkliches Echo in seinem Kopf, selbst als er schweigend weiterlas.

Ehrenwerter Freund,

der äußerst bedauerliche Zwischenfall in Ihrem Restaurant hat mich auf den Gedanken gebracht, Ihnen meine

Es wäre deshalb unklug, diese Hilfe und vertrauensvolle Zusammenarbeit nicht in Anspruch zu nehmen. Zu gegebener Zeit werden wir Kontakt zu Ihnen aufnehmen.

Bis dahin wünschen wir Erfolg und gute Gesundheit

für Sie und Ihre große Familie.

Bereits während Sergio las – er las sehr langsam –, musste er sich setzen. Seine Knie gaben nach, und er hätte sich am liebsten auf den Boden gelegt und geweint. Alles war bisher ohne Komplikationen verlaufen, allen ging es gut, jeder war an seinem Platz. Das Unternehmen wuchs ständig und ohne Aufsehen zu erregen.

Sergio lehnte sich zurück und starrte an die Decke. Briefe dieser Art schrieb normalerweise er selbst. Er war es, der für sein Unternehmen in Deutschland Kontakte knüpfte, der Hilfe anbot, sei es in Form von günstigen Lieferungen oder Investitionen. Einen Brief diesen Inhalts zu empfangen war ehrverletzend, beschämend, eine Grenzüberschreitung von katastrophalen Ausmaßen. Er fühlte sich, als hätte ihn jemand nackt in einen feuchtkalten Keller gesperrt. Der Brief war eine schriftliche Wiederholung des nächtlichen Angriffs. Er verstand einfach nicht, was geschehen war und aus welchem Grund.

Erneut liefen die Ereignisse der vorletzten Nacht vor ihm ab. Cousin Eduardo und zwei Neffen hatten den Toten in einer Kiste verstaut und Fischkonserven um ihn herumgebaut. Danach hatten sie Küche und Restaurant extrem gründlich gereinigt – mit Sergios Hilfe, der eigentlich

Als am nächsten Morgen der Fischtransporter gekommen war, sah das Montenero aus, als wäre nichts geschehen. Sergio hatte die Lieferung in Empfang genommen wie immer, die Papiere unterzeichnet, mit dem Fahrer einen Caffè getrunken und ihm ein paar Tramezzini machen lassen. Danach hatten sie die Kiste mit dem Toten in den Laster geladen, und Eduardo war ein Stück mitgefahren. Zuvor hatte er Sergio umarmt und gesagt, er solle sich keine Sorgen machen, das Problem sei so gut wie erledigt.

Aber das war es nicht, und genau das hatte Sergio befürchtet. Der nächtliche Angriff war nicht die Tat eines kleinen Räubers gewesen, der hinter ein bisschen Geld her war, sondern der Angriff eines brutalen Mörders, der es auf ihn, Sergio, abgesehen hatte. Aber in wessen Auftrag? Sergio hatte durchaus eine ausgeprägte Phantasie, doch gerade jetzt ließ sie ihn im Stich.