Thomas Fitzner
I n s e l k o l l e r
Nase voll vom Paradies?
Ein Fehlstart auf Mallorca
Roman
vitolibro
Drei Arten von Männern sind unfähig,
die Frauen zu verstehen –
die jungen,
die alten
und die mittleren Alters.
Irisches Sprichwort
Cover
Titel
Widmung
Impressum
1. Oskar kehrt nach Mallorca zurück und kriegt keinen Kuss
2. Helene will ein neues Leben und Oskar keinen Pool
3. Oskar schmeißt ein hübsches Mädchen aus seinem Bett und kriegt wieder keinen Kuss
4. Oskar klopft spät nachts an eine Tür und erläutert den deutschen Charakter
5. Oskar bittet um Verzeihung und entdeckt einen Experten im Minzebeet
6. Madeleine lässt eine Bombe platzen und Oskar sieht Sterne
7. Egon bläst zum Angriff – und Oskar lernt das Mittelalter kennen
8. Auch Balduin lässt eine Bombe platzen und Oskar kriegt fast einen Kuss
9. Oskar lernt etwas über Vulkane und kriegt endlich einen Kuss
10. Joana ist nicht bei der Sache und Jürgen schmiedet Pläne für Oskar
11. Balduin fasst sich an die Kehle – und in Felanitx tagt ein Krisengipfel
12. Oskar entdeckt den Täter und wird zu seiner eigenen Hochzeit eingeladen
13. Oskar ist zum Kotzen zumute und er wird zum Essen eingeladen
14. Oskar und ein Hubschrauber geraten in Turbulenzen
15. Jemand denkt an Oskar und wieder fliegt der Hubschrauber
16. Madeleine verblüfft nicht, Joana kommt zu spät – und Oskar hat einen übersäuerten Magen
17. Oskar kauft Olivenöl und wird von der Sippe beschnuppert
18. Helene macht Oskar ein Geständnis, Oskar machte Joana ein Geständnis, und Madeleine trägt einen Bart
19. Joana warnt Oskar vor dem Flugverkehr – und Oskar hat wieder keinen Pyjama dabei
Epilog Balduin feiert Premiere, Jürgen schwebt an Oskar vorbei – und Joana verweigert Flitterwochen
Inselkoller
Neuausgabe
Die Originalausgabe erschien im Lübbe Verlag im Jahr 2003
unter dem Titel „Mallorca, vorläufig für immer“
© Edition wiederlieferbar.de bei Vitolibro (Inh. Vito von Eichborn), Malente, 2014
Umschlagkonzept: Vitolibro
Umschlagmotiv: Thomas Fitzner
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014
ISBN epub: 978-3-86940-208-6
Weiteres finden Sie unter www.vitolibro.de und www.wiederlieferbar.de
… der Verlag mit dem Flieger
Madeleine Zarfou schrie: „Rechts!“
Oskar Tschann, einundvierzig Jahre alt, international tätiger Fotoreporter, stieg auf die Bremse. Der Geländewagen kam mit einem Ruck zum Stehen. Sie standen mitten in einem Fichtenwald in den Bergen der mallorquinischen Tramuntana. Oskar trommelte aufs Lenkrad des Geländewagens und pfiff durch die Zähne.
„Ich meinte links“, sagte Frau Zarfou und nestelte an ihrem Papier herum. Sie war ungefähr in Oskars Alter, schwieg aber hartnäckig über ihren Jahrgang. Sie trug einen glänzenden grünen Hosenanzug und sah damit aus, als sei sie gerade dem Melassebecken einer Bonbonfabrik entstiegen. An ihren Ohren hingen Seepferdchen und an ihren schlanken Händen klimperten Bernstein-Goldreifen. Ihre Armbanduhr war supermodern und machte alle fünf Minuten dideldidü und Frau Zarfou versuchte sie umzuprogrammieren, doch das einzige, was sich dabei veränderte, war die Dideldidü-Tonhöhe.
„Sie halten den Plan verkehrtrum“, knurrte Oskar.
„Moment mal. Doch rechts.“
Oskar holte tief Luft. „Madeleine …“
„Fahren wir geradeaus weiter und sehen, wohin’s da geht“, schlug Frau Zarfou vor, faltete das Papier zusammen und blickte erwartungsfroh nach vorne, wo außer ein paar Meter Feldweg aufgrund der Dunkelheit absolut nichts zu sehen war.
„Werfen Sie das nicht weg“, sagte Oskar und deutete auf das Papier. „Damit kann die Polizei später unseren Tod rekonstruieren.“
„Ihre Helene ist keine begnadete Planzeichnerin“, bemerkte Frau Zarfou. „Was ist? Wollen wir weiterfahren?“
„Nein, wollen wir nicht“, maulte Oskar. „Wir warten hier, bis jemand vorbeikommt. Wenn das wirklich der Weg zu Alfred Schnabels Supervilla und Superfiesta ist, dann müssen hier schicke Geländewagen vorbeibrausen. Warten wir auf einen. Ich war noch nie der letzte Gast auf einem Fest.“
„Und wenn keiner vorbeibraust?“
„Dann wissen wir, dass wir uns verfahren haben. Dann müssen wir wieder zurück.“
„Und wo ist zurück?“
Oskar machte eine Handbewegung, die alle Himmelsrichtungen abdeckte. „Na dort irgendwo.“
Stille sank auf die beiden herab. Dann sagte Frau Zarfou: „Jetzt sind Sie wieder mal sauer auf mich. Dabei kann ich nichts dafür, wenn Ihre Lebensgefährtin sich am Tag Ihrer Ankunft aus dem Staub macht, nur weil irgendwo in der Tramuntana eine Party …“
„Bitte“, flehte Oskar.
Frau Zarfou verstummte.
Das Problem war, dass sie Recht hatte. Oskar musste sich eingestehen, dass sein ganzes Leben an einem Punkt angelangt war, der auf gespenstische Weise diesem Moment entsprach: Er wusste nicht mehr weiter.
Eigentlich sollte Oskar Tschann der glücklichste Mensch der Welt sein. Vor einem Jahr hatte ihn der Zufall nicht nur auf die schönste Insel der Welt verschlagen, sondern ihn auch mit der schönsten Frau der Welt zusammengebracht. Gemeinsam bewohnten sie eine Finca auf dem Lande und lebten genau das Leben, von dem fünf Komma neun Milliarden Menschen nur träumen können.
Warum war Oskar trotzdem schlechter Laune? War es der Jetlag nach der siebzehnstündigen Reise mit Zwischenlandungen auf Flughäfen, deren bloße Erwähnung jedem Piloten Zitterkrämpfe beschert?
Oder war es die Enttäuschung, weil seine Helene ihn nicht am Flughafen abgeholt hatte, obwohl Oskar sein Leben riskiert und seine vorletzten Devisen ausgegeben hatte, um aus einer obskuren mittelasiatischen Republik einen Anruf nach Mallorca zu tätigen und seine Geliebte rechtzeitig über die Rückreise zu informieren, und über den Umstand, dass er, nebenbei erwähnt, noch am Leben war?
Dabei hatte sie durchaus glücklich geklungen am Telefon, jedoch plötzlich eine Pause gemacht, und als sie gesagt hatte: „Du, ich muss dir was …“, hatte offenbar ein Guerillero die Leitung abgeklemmt und die fette Telekommunikationsbabuschka hatte ihm zweihundert Dollar abgeknöpft. Alle weiteren Kontaktversuche hatten ihm das Vergnügen beschert, von seinem eigenen Anrufbeantworter abgewimmelt zu werden.
Hungrig nach Essen, Trinken, Ruhe, Frieden, und hungrig vor allem nach Helene, ihrer Zärtlichkeit, ihrem Humor, ihrer Schönheit, ihrer bloßen Anwesenheit, war er in Palma de Mallorca aus dem Flugzeug und durch die Gänge und Hallen des Flughafens geschlurft. Und hatte wen vorgefunden?
Madeleine Zarfou.
In seinem Kopf durchlebte er zum wiederholten Mal die Szene am Flughafen, deren Inszenierung so ganz anders ausgefallen war, als er sich das Tausende Kilometer lang vorgestellt hatte. Selten war seiner Vorfreude so die Luft rausgenommen worden wie vor knapp einer Stunde auf dem Flughafen Son Sant Joan, Palma de Mallorca. Willkommen in der Wirklichkeit.
„Helene hat mich gebeten, Sie abzuholen“, begrüßte ihn dort Madeleine, während ihre Miene in Sorgenfalten versank. „Mein Gott, Sie sehen ja aus, als seien Sie Dschingis Khan begegnet.“
„Ich bin mehreren hundert Dschingis Khans begegnet“, erwiderte Oskar unwillig. „Die meisten in Zollbeamtenuniform. Wo ist Helene?“
„In Alfred Schnabels Supervilla.“
„WO?“
„Lassen Sie mich das Gepäckwägelchen schieben, Sie sehen schwach aus.“
Oskar ließ es widerstandslos geschehen lassen und fragte: „Madeleine, ich verstehe nicht.“
„Helene“, erklärte Madeleine und machte ein hochoffizielles Gesicht dazu, „ist vor einer Woche von Alfred Schnabel eingeladen wor …“
„Wer ist Alfred Schnabel?“ bellte Oskar und ein Sicherheitsbeamter wandte sich abrupt um.
„Keine Ahnung“, erwiderte Frau Zarfou. „Ich weiß nur, dass er heute in seiner Villa eine phan-tas-ti-sche Party steigen lässt, mit einer Kunstvernissage, und Helene meinte, bevor sie wieder auf einen Flug wartet, der sowieso verspätet ankommt, und deshalb diese ein-ma-li-ge Vernissage versäumt, möge doch lieber ich auf Sie warten und dann nachkommen.“
„Ist sie allein …?“, fragte Oskar, doch Frau Zarfou schüttelte bereits den Kopf. „Nein, mit Jürgen natürlich.“
Oskar lachte auf. Natürlich. Jürgen Debarcon, der stets hilfsbereite Nachbar.
Er zwang sich zu einem Themenwechsel, denn er wollte Madeleine keinen Triumph gönnen. Hatte sie nicht von Anfang an ihre Skepsis spüren lassen, was seine Beziehung mit Helene betraf? War sie nicht immer ein wenig eifersüchtig gewesen? Er beschloss, ihr auf den Zahn zu fühlen, und fragte: „Madeleine, seit wann interessieren Sie sich für Vernissagen?“
„Seit niemals“, erwiderte Madeleine geantwortet. „Aber ich mache mir Sorgen um Sie.“
„Lassen Sie meine Sorgen meine Sorge sein“, erwiderte er forsch. Schweigend gingen sie zu Zarfous Wagen.
„Fahren bitte Sie“, bat Frau Zarfou.
„Warum ich?“
„Damit ich nicht verhaftet werde. Ich bin alkoholisiert.“
Stockbesoffen wäre ein uneleganter Ausdruck gewesen, aber ein präziser. Oskar fiel das erst jetzt auf. Der Alkoholmief hätte ja auch von den vorbeiströmenden Ballermann-Touristen ausgehen können, und seltsam wirkte Frau Zarfou eigentlich immer. Nur jetzt, da sie es selbst bestätigte, erkannte Oskar, dass sie tatsächlich himmelblau war. „Wie sind Sie denn zum Flughafen gekommen?“ fragte Oskar mit Entsetzen.
„Mit Vertrauen in das Gleichgewicht des Universums“, gurrte Madeleine.
Oh, Gott, dachte Oskar. Die Zarfou-Theorie. Die abstrusen Ideen seiner treuesten Kumpanin auf der Insel. „Warum haben Sie getrunken?“
„Ich mache eine Kur.“
„Eine Kur!?!?“
Frau Zarfou schaffte es binnen fünfzehn Minuten, aus einem müden Wrack ein hellwaches Individuum zu machen. Metamorphosen dieser Art waren ihre Spezialität. Sie lebte in ihrem eigenen Universum, propagierte ihre eigene Religion und kassierte dafür teures Geld von einer Anhängergemeinde, in der die Prachtexemplare des deutschen Menschenzoos auf Mallorca zusammenfanden. Oskar hatte den Verdacht, dass er der einzige Ungläubige war, zu dem Madeleine freiwillig Kontakt pflegte, und noch dazu gebührenfrei. Momentan hatte er ein Gefühl, als hätte er ein Starkstromkabel berührt und als sprössen ihm überall Antennen aus dem Kopf. Das war der Zarfou-Effekt.
„Sie trinken? Madeleine, wie wollen Sie das Gleichgewicht des Universums herstellen, wenn Sie schon Probleme mit Ihrem eigenen haben? Ehrlich, jetzt bin ich es, der sich Sorgen macht.“
„Das ist süß von Ihnen. Vorsicht, fahren Sie nicht die Schranke nieder.“
Die Geschichte war, wie Madeleine mit bemerkenswert nüchterner Diktion dargelegt hatte, die folgende: Im Kreis ihrer „Frequentanten“, wie sie ihre Kunden, Apostel, Schüler oder Opfer nannte, waren mehrere Fälle von Depression aufgetreten, und Frau Zarfou, die auf alles eine Antwort wusste, musste sich eine Therapie ausdenken, um ihren Dunstkreis nicht zu enttäuschen. Die Antwort hieß „Gleichgewichtstherapie“ und war noch verrückter als alles, was Madeleine jemals mit Oskar angestellt oder anzustellen versucht hatte. Eine Woche wurde in sieben Lebensabschnitte unterteilt, jeder Tag erhielt ein Etikett. Mittwoch – nach Zarfou der eigentliche, universelle Wochenbeginn – war der Tag der Geburt. Donnerstag der Tag der Entdeckung der Welt. Freitag die Entdeckung der Mitmenschen („Da sind so Sachen passiert, dadadim, dadadam, …“), Samstag die Erfüllung, Sonntag die Enttäuschung, Montag die Depression, Dienstag Versöhnung und Tod. „Die Idee besteht darin, den natürlichen Zyklus eines Lebens so lange nachzuspielen, bis uns Aufstieg und Niedergang. Euphorie und Depression, Geburt und Tod nichts mehr ausmachen.“ Die Themen würden in gemeinsamen Sitzungen „gefeiert“. Oskar unternahm eine Anstrengung, sich eine solche Feier vorzustellen, und scheiterte hoffnungslos. Mit Ausnahme des Mitmenschen-Entdeckungstags, dadadim, dadadam.
Der Tag von Oskars Ankunft war Montag und Alkoholismus war in der Depression inbegriffen. Getrunken wurde, wie Frau Zarfou betonte, Zarfou-kompatibler Biolikör, womit man sich wohl, wie Oskar bemerkte, einen Zarfou-kompatiblen Biohammer einfing. Frau Zarfou und ihre deprimierte Bande hatten vier Therapiewochen hinter sich, und die Depression war zwar nicht kuriert, aber sie begann dem Publikum Spaß zu machen.
„Jodeldidü, it’s Partytime“, beendete Frau Zarfou ihre Erklärung, kramte einen Zettel aus ihrem Täschchen und wedelte damit. „Helenes Wegbeschreibung.“
Unterwegs auf einer Straße, die schnurstracks in die Berge führte, warnte Oskar: „Wenn das der falsche Weg ist, zeige ich Ihnen, was eine Depression ist.“
„Sie können nächsten Montag mitmachen“, gluckste Frau Zarfou. „Das ist der lustigste Tag von allen.“ Dann zeigte sie auf eine verwachsene Einfahrt in einen Feldweg. „Hier rein, wenn ich nicht irre.“
Sie hatte sich offenbar geirrt. Nach einer Dreiviertelstunde wilden Herumkurvens standen sie nun auf einem Feldweg und warteten vergeblich auf das Vorbeibrausen schicker Geländewagen.
„Was haben Sie eigentlich mit Ihrem Twingo gemacht?“ fragte Oskar. „Und warum fahren Sie so ein riesiges Geländeauto? Sie wohnen doch nicht auf dem Land.“
„Mit dem Twingo habe ich meine Schulden bei der Stadtverwaltung abgezahlt“, sagte Frau Zarfou. „Und dabei noch ein Geschäft gemacht.“
„Abgeschleppt?“
Frau Zarfou nickte. „Vor meinen Augen. Ich rechnete nach und kam zum Schluss, dass der Wert des Wagens erheblich unter dem lag, was die Stadtverwaltung wegen meines angeblichen Falschparkens samt Verzugszinsen einforderte. Also gab ich den Abschleppleuten ein Trinkgeld. Die haben vielleicht geguckt.“
„Kaufen Sie denn keine Parkscheine?“
„Aber natürlich.“
„Und warum erhielten Sie dann Strafzettel?“
„Weil die blöden Polizisten das nie begriffen.“
Oskar schüttelte den Kopf. „Versteh ich nicht. Die sehen doch den Parkschein im Auto!“
„Hm“, sagte Frau Zarfou und wirkte nachdenklich. „Ich hätte die Scheine also im Auto lassen sollen.“
Oskar blieb der Mund offen stehen. „Das kann nicht Ihr Ernst sein!“
„Ich dachte immer: moderne Technologie und so“, sagte Frau Zarfou und wedelte dazu mit den Händen.
Oskar schlug die seinen vors Gesicht. „Madeleine!“ Und diese Frau hatte er seine Finca renovieren lassen!
In diesem Augenblick preschte ein schicker Geländewagen an ihnen vorbei.
Frau Zarfou lächelte Oskar zu, hob die linke Augenbraue, senkte gleichzeitig die rechte – wie stellte sie das nur an? – und schnurrte: „Folgen Sie unauffällig diesem Fahrzeug!“
Oskar stieg aufs Gaspedal. „Sie haben mich auf den Arm genommen, stimmt’s?“
Ein melodiöses „vielleicht“ war die Antwort. Dann spürte er eine Hand auf seinem Oberschenkel.
„Madeleine, wir riskieren einen Unfall.“
„Ich will nur Ihren Beschleunigungsmuskel analysieren. Das ist der sensibelste Muskel des modernen Mannes. Sind Sie nervös?“
Der schicke Geländewagen vor ihnen raste durch eine Kiefernallee einen Hügel hinauf. Lichter wurden sichtbar, Fackeln, ein beleuchtetes Schild verkündete: „Can Schnabel“, und warnte auf Deutsch: „Privatgrundstück. Wachhunde, Kameras, Sensoren. Jeden weiteren Schritt haben Sie selbst zu verantworten.“
„Die Deutschen bleiben auf dieser Insel wirklich unter sich“, sagte Oskar. „Nicht mal spanische Kriminelle sind hier zugelassen. Die verstehen kein Wort, wenn sie hier einbrechen wollen.“
„Kommen Sie, die laufen doch heute alle mit einem Wörterbuch herum“, sagte Madeleine, die ihren Griff gelockert hatte.
„Haben Sie meinen Beschleunigungsmuskel zu Ende analysiert?“ fragte Oskar gereizt.
Madeleine zog ihre Hand zurück. „Ziehen Sie keine falschen Schlüsse, ich bin betrunken.“
Es war eine laue Sommernacht und vielleicht zirpten die Grillen, möglicherweise zwitscherten die Vögel und Schafe mögen gemeckert haben, Oskar hörte nichts davon, denn eine Jazzband blies die natürliche Geräuschkulisse der Tramuntana davon. Er hielt Madeleine den Arm hin, doch die sagte: „Lassen Sie, ich kann alleine gehen“, und stakte zwischen den geparkten Luxuskarossen ungefähr Richtung Eingang. Dort kam gerade ein alter Seat 600 zum Stehen und ein krummes Männchen stieg aus. Immerhin, dachte Oskar, hat er einen bunten Bekanntenkreis, unser Alfred. Das sprach für ihn, und das wiederum sprach für Helene.
Ach, Helene. Wie sollte er sie hier, vor allen Leuten, so in die Arme nehmen, wie es sich nach einer dreiwöchigen Trennung gehörte?
„Can Schnabel“ war ein Delirium aus rustikal und modernistisch. Am Fußweg zur Haustür lagen riesige Amphoren, vor der Fassade stand ein alter Karren und in der Eingangshalle mit ihren Steinwänden und Holzbalken hing ein zwei mal drei Meter großes Pop-Art-Gemälde, in dessen Zentrum eine Barbie-Puppe mit Kondomen an ein Kreuz gefesselt war, worunter geschrieben stand: „C’est la vie, Melanie“.
„Was sagen Sie dazu?“ fragte Oskar seine Begleiterin, drückte den Rücken durch und machte ein Kunstkritikergesicht.
Frau Zarfou krallte sich von hinten an seine Schultern und flüsterte ihm ins Ohr: „Könnten Sie mal diskret nach dem WC fragen?“
„Ich bin Alfred Schnabel“, tönte ein blonder Burt Reynolds mit breitem Lächeln, drückte Oskar die Hand und wies auf einen Kellner mit einem Tablett voller Getränke. „Was darf es sein?“
„Das Klo bitte“, sagte Oskar.
„Diskret!“ zischte Frau Zarfou von hinten.
Schnabels Lächeln war nicht einen Millimeter geschmolzen. „Durch den ersten Patio geradeaus durch, rechts in den Wintergarten, und direkt vor dem Picasso links hinein.“
„Haben Sie das mitbekommen?“ wollte Oskar fragen, doch Frau Zarfou war bereits verschwunden.
„Und Sie sind …?“ fragte Schnabel.
„Oskar Tschann, sehr erfreut.“
Schnabels Stirn umwölkte sich, während das Lächeln unverdrossen Stellung hielt. „Ich kann mich nicht an Ihren Namen erinnern. Standen Sie auf der Einladungsliste?“
„Ich will mich auf keinen Fall einschleichen“, sagte Oskar. „Helene Lamberg sagte mir …“
„Helene Lamberg!“ rief Schnabel. „Das ist etwas anderes. Willkommen, willkommen! Was möchten Sie trinken?“
„Wasser. Wenn Sie haben.“
„Durch den ersten Patio geradeaus durch“, erwiderte Schnabel, ohne die Miene zu verziehen, „rechts in den Wintergarten, und direkt vor dem Picasso links hinein.“
„Sehr freundlich“, sagte Oskar, machte Platz für den nächsten Neuankömmling, das krumme Männchen aus dem Seat 600, und wollte seine Suche nach Helene beginnen, als ihn eine Hand am Arm packte und zurückzog.
Es war Schnabel. „Können Sie Spanisch?“
„Leidlich“, sagte Oskar.
Schnabel wies auf das Männchen. „Dann übersetzen Sie mir bitte leidlicherweise, was mein Herr Nachbar wieder für ein Problem hat.“
Oskar wandte sich an das Männchen, das ihm mit schwerem mallorquinischen Akzent darlegte, dass Schnabels Jazztöne seinen gesamten Bauernhof am Schlafen hinderten und ob er nicht die Lautstärke reduzieren könnte, denn er und seine Frau müssten um fünf Uhr aufstehen und außerdem hätten sie gerade Besuch von der Tochter mit ihrem Kleinkind, und auch die Kühe seien schon nervös und …
„Jajaja, verstehe“, unterbrach Schnabel Oskars Übersetzung. „Kein Problem, wir machen leiser, adios, adios.“
Oskar blickte dem Männchen nach, wie es zwischen Fackeln und Amphoren und Palmen und Bougainvileas davonwackelte, zurück zu seinem Seat 600.
„Typisch“, bemerkte Schnabel. „Spanien ist das lauteste Land der Welt, aber wehe, ein Ausländer möchte einmal im Monat eine Party feiern.“
„Wenn das Ihr einziges Problem mit den Nachbarn ist …“ sagte Oskar.
„Da ist noch etwas“, beschied Schnabel. „Er will nicht verkaufen. Aber sobald er tot ist, mache ich seiner Witwe ein Angebot, das sie gar nicht ausschlagen kann. Dann gehört mir auch der Gegenhang, und dann drehe ich die Musik auf, so laut ich will.“ Er legte Oskar eine Hand auf die Schulter. „Tun Sie mir den Gefallen und sagen Sie Nat, er soll die Lautsprecher ein bisschen leiser drehen, damit die blöden Kühe ruhig schlafen können. Nat ist der mit der Glatze und dem Whisky und dem Mischpult.“
„In Ordnung“, sagte Oskar und begann sich durch das Gewühl der Gäste zu arbeiten, immer den Lautsprechern entgegen. Sein Ärger über Helenes Ausritt war einer reißfesten Heiterkeit gewichen, die nicht einmal Schnabel mit seinem Deutscher-Millionär-auf-Mallorca-Getue beeinträchtigen konnte. In ein paar Minuten würde er Helene in seinen Armen halten, das Leben war schön. Und wenn er es recht bedachte: die Flüge kamen ja wirklich oft unpünktlich. Einmal hatte Helene einen geschlagenen Nachmittag auf dem Flughafen verbracht, nur um ohne Oskar nach Hause zu fahren, weil der in Madrid festsaß, wo sich der Nebel nicht lichten wollte.
Es war ein turbulentes erstes Jahr ihrer Beziehung gewesen. Oskar war mehr unterwegs als daheim gewesen, weil die Renovierung einer Riesenfinca zu bezahlen war, die er gekauft hatte, um einem in Schwierigkeiten geratenen Freund zu helfen. Ein Fotojob hatte den anderen gejagt, er brauchte sich um Aufträge keine Sorgen zu machen, doch worum er sich langsam Sorgen machte, war seine Beziehung mit Helene. Er wurde das Gefühl nicht los, dass sie auf Veränderung hoffte. Nur wer oder was sollte sich verändern? Er hatte sich ja gerade verändert, war von der deutschen Provinz auf eine Mittelmeerinsel übergewechselt und fühlte sich wohl damit.
Von rechts stob Frau Zarfou heran. „Warum sind Sie nicht im Bürgerkrieg geblieben?“ schimpfte sie. „Mit Ihren Manieren passen sie dort viel besser hin. Mich so zu blamieren!“
„Sagen Sie, hängt da wirklich ein Picasso vor dem Klo?“ fragte Oskar.
„Darauf habe ich nicht geachtet“, erwiderte Frau Zarfou. „Mir war plötzlich übel geworden. Mein Gleichgewicht ist empfindlich gestört.“
„Sie sollten diese Depressionsfeiern meiden.“
Frau Zarfou knuffte ihn in den Bauch. „Nicht wegen des Alkohols, Sie Rüpel. Die sogenannte Kunst! Sagen Sie nicht, es gefällt Ihnen, wenn Kinderpuppen mit Kondomen dargestellt sind.“
Oskar tätschelte ihren Arm. „Originalität geht notfalls über Leichen. Haben Sie Helene gesehen?“
Frau Zarfou schüttelte den Kopf. „Nein. Aber einen interessanten Käsetisch. Kommen Sie mit? Helene mag Käse, die ist bestimmt dort in der Nähe.“
„Ich kann leider nicht mitkommen, der Boss hat mir eine Mission aufgetragen.“ Oskar zeigte in die Richtung, aus der die Jazzklänge bliesen. „Ich muss zur Band.“
Frau Zarfou verabschiedete sich mit einem Winken. „Jazz mag Helene sicher auch.“
Oskar nickte. Sicher, Jazz und Käse. Dann runzelte er die Stirn. Mochte sie Jazz? Dafür, dass sie seit einem Jahr ein Paar und unsterblich verliebt waren, kannte er sie noch viel zu wenig.
Nat entsprach zur Gänze Schnabels Beschreibung: Glatze und Whisky. Er saß am Mischpult gleich neben einer Bar und regelte mit der Rechten die Klang- und mit der Linken die Alkoholzufuhr. Oskar versuchte es zunächst mit Gesten, doch Nat, an dem außer Whisky und Glatze noch etwa neunzig Kilo zu beschreiben gewesen wären, erwiderte, und er tat es ebenfalls mit Gesten, dass Oskar sich ja was in die Ohren (oder sonstwohin) stecken konnte, wenn ihm die Musik zu laut war. Also brüllte Oskar in Nats Ohr: „Anweisung vom Chef!“ Nat zuckte die Achseln und fuhr die Lautsprecherbatterie ein halbes Dezibel herunter. Armer Bauer, dachte Oskar. Arme Kühe. Da fühlte er einen Stupser in seinem Rücken. Er wandte sich um und da stand … sie.
Die zart gebaute Helene im blauen Einszweidreiteiler. Blondes Haar wie vom Winde verwuschelt, dem besten aller Coiffeure. Ein kleines Lächeln spazierte wie eine Einladung über ihre Lippen. Natürliche Schönheit. Leichte Bräune. Wenig Schmuck an schlanken Armen.
Aller Ärger schmolz davon, der Lärm wurde zu Musik, der Bauer zum Bewohner eines anderen Planeten, Schnabel existierte nicht mehr, Nat war tausend Kilometer weg, Oskars gesamtes Vorleben, inklusive Bestechungen, Bedrohungen, Fastabstürze und Fotomotive, die mit Zurückschießen drohten, lösten sich in badewasserwarmes Glück darüber auf, hier zu sein, mit ihr zu sein.
„Helene“, sagte Oskar.
„Oskar“, sagte Helene.
Sie verstanden beide kein Wort, aber lasen einander von den Lippen ab. Er umarmte sie heftig und spürte etwas Feuchtes an seinem Bauch. Helenes Käsebrot mit Tomatenauflage hatte nicht rasch genug auf Oskars Gefühlsaufwallung reagiert.
„Vorsicht“, las Oskar an ihren Lippen ab.
„Macht nichts“, antwortete er.
„Wie war der Flug?“ fragte Helene vermutlich. Das Lippenlesegespräch wurde kompliziert.
„Solala“, erwiderte Oskar und brüllte nun, um die Musik zu übertönen: „Leg endlich deinen Käsestullen ab und dann gehen wir in ein ruhiges Eckchen, wo niemand sieht, wie ich dich …“ die Musik brach ab und es wurde für einen Moment still im Raum, „ … VERGEWALTIGE!“
Aus der Stille wurde Totenstille.
„Vermutlich ein Scherz“, sagte jemand hörbar verunsichert. Jemand anderer lachte tapfer zur Bekräftigung und leises Geplapper begann.
Idioten, dachte Oskar und wandte sich nach Nat um. Der grinste, hob sein Whisky-Glas und brummte „Kurze Paooose“ ins Mikrofon. Wahrscheinlich, dachte Oskar, geht er jetzt zu Schnabel und klärt das mit dem halben Dezibel ab. Freier Krach für freie Bürger.
„Habt ihr gut hergefunden?“ fragte Helene, offenbar um ein Thema verlegen.
Plötzlich meldete sich ein kleiner Teil von Oskars Ärger zurück. „Komm“, sagte er. „Verziehen wir uns auf eine Terrasse. Ich möchte dir unter vier Augen sagen, wie sehr ich dich vermisst habe.“
„Dein Hemd …“
„ … muss in die Wäsche, aber das ist doch unwichtig. Gehen wir!“ Oskar zerrte Helene von dannen und suchte nach einer Terrasse.
„Bist du mir böse, weil ich nicht am Flughafen war?“ fragte sie.
„Nein“, sagte Oskar. „Nur ein bisschen enttäuscht. Ich wäre den Kuss, der sich seit drei Wochen in mir anstaut, am liebsten schon dort losgeworden, aber mit Madeleine wird das nie richtig was.“
Helene lachte auf. „An ihr würde es nicht scheitern.“
Oskar antwortete nicht, sondern zerrte seine Angebetete quer durch die Schar der Gäste, quer durch einen Saal mit Schinkentisch und Kaviarbottich, längs durch einen Korridor, wo ein junges Mädchen Erfrischungstücher verteilte, und einen der vielen Nebenpatios, wo ein Brunnen mit spuckendem Marmordrachen und pinkelndem Marmordelfin stand, auf der Suche nach einer Terrasse mit geeigneter Atmosphäre. Sie fanden auch eine, flüchteten jedoch, als sie rhythmische Atmung vernahmen und dazu synchrone Bewegungen eines Busches bemerkten. Auf dem Rückweg zum Spuckdrachen-Pinkeldelfin-Patio lief ihnen Madeleine über den Weg.
„Madeleine!“ rief Helene.
„Helene!“ rief Madeleine.
Die beiden Frauen küssten einander links und rechts auf die Wangen, Höflichkeitsknutscher mit dem Mund in der Luft, mua-mua. Oskar hatte schon seit jeher den Verdacht, dass dieser vermeintlich harmlose Kuss ausreichend Nuancen erlaubte, um geheime Botschaften auszutauschen. War es ein Luftkuss oder ein echter Hautknutscher? Dauerte er eine Zehntelsekunde länger als notwendig, rieben sich die Lippen gar fest auf der Wange des anderen? Vor den Augen der Partner spielten sich Mikroaffären ab, die ihre Fortsetzung meist nur in den Köpfen der Knutscher fanden. Helene und Madeleine jedenfalls hatten keine Affäre miteinander. Ein halbes Grad Drehung mehr und sie hätten die Hinterköpfe aneinandergerieben.
„Ich bin Ihnen so dankbar“, sagte Helene und tätschelte Oskar.
„Und ich Ihnen“, sagte Madeleine. „Ich wäre ja ohne Sie nie zu dieser Party gekommen, dabei bin ich soeben einem unglaublichen Menschen begegnet, den ich Ihnen beiden unbedingt vorstellen muss.“
„Wir waren gerade auf der Suche nach einer Terrasse“, warf Oskar ein.
„Das trifft sich gut“, sagte Madeleine und grabschte Helene am Arm. „Der unglaubliche Mensch erwartet uns auf einer solchen. Ich habe ihm gesagt, er soll sich nicht von der Stelle bewegen, bis ich ihm die beiden sympathischsten Menschen der Insel vorgestellt habe.“
„Der arme Kerl“, sagte Oskar. „Jetzt steht er dort wie angewurzelt. Lassen Sie ihn den Schreck erst verkraften, wir stoßen in einer Viertelstunde zu Ihnen. Ich hatte noch nicht mal Zeit, Helene einen unanständigen Kuss zu geben.“
„Eine Viertelstunde!“ rief Madeleine aus und hielt Helenes Arm umklammert. „Gute Frau, Sie sind eine Glückspilzin. Wenige küssen noch so, die Menschen haben viel zu wenig Zeit.“
„Vielleicht wollten wir auch ein paar Worte miteinander wechseln.“ Oskars Ton wurde flehentlich. „Madeleine, bitte!“
„Wir sagen nur schnell hallo“, bestand Madeleine auf ihre Entführung. Sie blickte Oskar herausfordernd an. In ihren Augen schwamm noch etwas Trunkenheit, aber auch boshafte Belustigung. Madeleine hatte ihnen einen Gefallen getan, jetzt hatte sie einen Wunsch frei. Sie tat alles, um ihr „Gleichgewicht des Universums“ wiederherzustellen, auch wenn rundherum die Welt in Brüche ging. Oskar spürte machtlosen Zorn in sich aufsteigen. Helene ergriff seine Hand. „Gehen wir schnell hallo sagen, hm?“
„Meinetwegen, sagen wir dem unglaublichen Menschen hallo“, lenkte Oskar ein, dem das Liebesadrenalin aus den Adern zu weichen begann und deshalb vor Müdigkeit bald die Augen zuklappten. „Aber dann suchen wir unsere Terrasse.“ Er zwinkerte Helene zu. „Da wird doch irgendwo noch ein Büschchen frei sein.“
„Oskar!“
Oskar kannte die Stimme. Jürgen Debarcon, der einsame Nachbar seiner Finca. Hilfsbereit. Höflich. Kultiviert. Wohlhabend. Immer für ein intelligentes Gespräch zu haben. Oskar hasste den Typ.
Zunächst wollte er tun, als hörte er nicht, doch Helene flüsterte ihm zu: „Sprich mit ihm, er hat so viel für uns getan. Sei freundlich. Bitte!“
„Lauter unglaubliche Menschen, was für eine Party!“ knurrte Oskar und ließ Helene mit Madeleine davonziehen, um ihren unglaublichen Menschen zu treffen, während er sich dem seinen zuwandte.
Er blickte in das Gesicht eines provokant ausgeglichenen Mittfünfzigers, schlank, hochgewachsen, kurzes weißes Haar und ein präzise auf mediterran-nachlässig getrimmter Bart. Jürgen Debarcon steckte in weißer Sommerkluft und trug Geländesandalen, Humm-Vees in Schuhversion.
„Ich muss Ihnen meine Bewunderung aussprechen“, sagte er und ergriff Oskars Arm. „Ihre Bilder von der Wallfahrt nach Rocío haben mich tief beeindruckt.“
„Das freut mich“, sagte Oskar und befahl seinem Gesicht, die Mundwinkel Richtung Ohren zu verlegen. Ob das ein Lächeln ergab, konnte er nicht überprüfen, weil kein Spiegel in der Nähe war.
„Sie müssen ja todmüde sein“, sagte Jürgen, der immer noch Oskars Hand umklammert hielt. „Das war sicher ein schwieriger Einsatz. Helene hat mir alles darüber erzählt. Sie sind ein echter Teufelskerl. Helene hat so ein Glück.“ Endlich ließ er Oskars Hand los und trat einen Schritt zurück, als ob er ein Gemälde betrachtete. „Sie sehen ernsthaft überanstrengt aus.“
Kein Wunder, denn Oskar suchte nach etwas Freundlichem, was er Jürgen sagen konnte. Dieser gab sich für Oskars Geschmack ein Deut zuviel Mühe, nett zu sein. Dazu kam sein Talent, in den unpassendsten Augenblicken auf seiner Finca zu erscheinen, „um zu sehen, wie’s den lieben Nachbarn geht“. Wann immer Oskar tagsüber Helenes Reizen erlag und einen spontanen Liebesakt im Gartenmobiliar anbahnte, stellte sich Nervosität ein, weil jederzeit Jürgens Grinsekopf aus dem Boden wachsen konnte. Oskar nannte ihn deshalb „Jürgen, den Verhüter“, was Helene nicht komisch fand.
Freilich musste er zugestehen, dass es ihn beruhigte, Helene nicht alleine auf der Finca zu wissen, wenn er wieder mal den Globus tourte. Jürgen war in der Lage, eine undichte Wasserleitung zu reparieren oder Handwerker zu finden, die dann tatsächlich kamen und tatsächlich mehr reparierten als kaputt machten, und er leistete Helene Gesellschaft, aber sie zahlten einen teuren Preis: Oskars Finca hatte sich in Jürgens Gesellschaftssalon verwandelt, in dem sich der Nachbar unterhalten ließ, wann immer es ihm beliebte. Und wann immer Oskar ihm ein paar deutliche Worte sagen wollte, war es Helene, die ihn zurückhielt. Sollte er es verdächtig finden, wie tolerant Helene dieser Filzlaus gegenüber war, oder wäre das ein ethnologisch überholtes Verhalten?
„ … damit Helene eine sinnvolle Beschäftigung findet“, sagte Jürgen.
Oskar schreckte aus seinen Gedanken auf. In Jürgens Gequassel hatte sich unvermutet ein bedeutsamer Satz eingeschlichen. „Wie? Was?“
„Ein Projekt!“ rief Jürgen aus und seine rechte Hand umkrallte ein imaginäres Riesenei. „Ein Projekt! Helene braucht ein Projekt!“ Er senkte die Stimme. „Darf ich ganz offen mit Ihnen sprechen?“ Er zog Oskar in einen Winkel, obwohl niemand in Hörweite war, und wurde konspirativ.
„Nur zu“, sagte Oskar, der die Frage überflüssig fand. Jürgen hatte sich noch nie zurückgehalten, wenn es darum ging, sich ins Privatleben seiner Nachbarn einzumischen.
„Ich mache mir Sorgen um Ihre Beziehung zu Helene“, brummte Jürgen und machte ein dazu passendes besorgtes Gesicht.
„Beunruhigend“, erwiderte Oskar. „Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“
Jürgen überhörte die Ironie und sagte: „Es ist wirklich nicht meine Art, mich in die privaten Angelegenheiten meiner Freunde einzumischen.“
„Das ist mehr als offensichtlich“, sagte Oskar, und wieder entging seinem Gegenüber die Ironie.
Jürgens Augen verengten sich und er sagte: „Helene ist einsam.“
Auf seine unnachahmliche Weise verlieh Jürgen seinen Sätzen Gewicht, indem er drei Sekunden Schweigen und einen Seelsorgerblick dranhängte. Er setzte hinzu: „Ich habe den Verdacht, sie ist unglücklich.“
Nun musste Oskar widerwillig zugestehen, dass er diesen Verdacht teilte, aber das gab er nur sich selbst gegenüber zu, und nie, niemals, nicht in tausend Jahren Jürgen gegenüber.
„Hat sie sich dazu geäußert?“ fragte er.
Jürgen hob den Zeigefinger. „Das wäre nicht Helenes Art. Sie würde niemals mit jemand anderem darüber sprechen, bevor sie es mit Ihnen getan hat. Nein, es ist …“, er fasste sich an den Bauch, als hätte er eine Überdosis Kaviar genommen, „ … ein Gefühl. Und ich halte es nicht nur für meine Pflicht, Ihnen das mitzuteilen, sondern auch, Ihnen zu helfen. Euer Glück liegt mir sehr, sehr am Herzen.“
Nun wäre der Einsatz eines Streichorchesters angemessen gewesen, doch es war Nat, der die Hebel seines Mischpultes auf volle Kraft schob und eine nach Jazz klingende Druckwelle ging durch Schnabels Anwesen. Die armen Kühe der Nachbarn werden morgen wohl Kefir geben, dachte Oskar.
„Deshalb“, brüllte Jürgen, der sich angenähert hatte, um die Musik zu übertönen, „habe ich Helene den besagten Vorschlag unterbreitet.“
„Welchen Vorschlag?“ fragte Oskar.
Jürgen erstarrte in theatralischem Entsetzen. „Mein Gott, sie hat es Ihnen noch nicht erzählt?“
„Lieber Nachbar“, sagte Oskar, „ich bin gerade erst angekommen. Wir hatten noch nicht mal Zeit, Händchen zu halten, geschweige denn, Projekte zu diskutieren.“
„Verzeihen Sie, ich war indiskret“, sagte Jürgen und fuhr seine Miene von „entsetzt“ auf „bekümmert“ zurück. „Helene wird Ihnen alles erklären. Tun Sie mir, nein, tun Sie sich selbst den Gefallen und unterstützen Sie Ihr Mädchen. Sie braucht es.“
Mädchen. Das Mädchen war eine Mutter zweier beinahe erwachsener Kinder und Exgattin eines neurotischen Millionärs, und besonders dreckig ging es ihr auch nicht, hatte sie doch mit ihrem sonnigen Dasein auf einer Finca auf Mallorca und mit einem aufgeschlossenen, sensiblen Partner – ihm selbst, in aller Bescheidenheit – ein neues Leben begonnen, von dem sie zuvor nur hatte träumen können. Was konnte ihr denn nicht passen?
„Gehen Sie zu ihr“, sagte Jürgen und zwinkerte verschwörerisch.
Oskar hasste es, wenn ihn jemand aufforderte, zu tun, was er sowieso gerade vorhatte. Auch darin war Jürgen ein Experte. Jürgen war Experte in allem, was Oskar störte. Trotzdem konnte er nicht umhin zuzugestehen, dass Jürgen etwas angesprochen hatte, was schon seit längerem als unbestimmtes Gefühl auch durch Oskars Magen zirkulierte. Das störte ihn am meisten.
„Dann gehe ich mal“, sagte er hilflos, während Jürgen ihn gönnerhaft davonwinkte, „zu dem unglaublichen Menschen dort.“
Helene, Madeleine und der unglaubliche Mensch hatten einen Patio gefunden, in dem eine russisch gekleidete Schönheit Spezialitäten servierte, die definitiv nicht aus dem Dorfladen stammten.
„Oskar!“ rief Madeleine und zog ihn heran.
Warum grabscht heute jeder nach mir, dachte er verärgert. Jeder, außer Helene. Die stand nur da und lächelte geheimnisvoll. Mied sie seinen Blick? Nein, sie erwiderte ihn, aber nur kurz. Vielleicht weil das Gespräch mit dem unglaublichen Menschen so interessant war. Sie befanden sich in der Öffentlichkeit, kein Ort für verliebte Blicke. Nicht für diskrete Menschen wie sie.
„Darf ich Ihnen Friedmund Köller vorstellen“, sagte Madeleine.
Friedmund Köller war ein ernster junger Mann, gekleidet wie ein Anwalt – Krawatte, feines Tuch, Goldkugelschreiber in der Brusttasche – und reserviert. Oskar verstand sofort warum, denn Madeleine sagte: „Herr Köller ist Pflanzenpsychologe.“
In diesem Moment hätte Oskar sich am liebsten an eine Bar geschleppt und einen mehrfachen Whisky bestellt. Der Abend war wie verhext. Seine bezaubernde Frau durchlitt eine Krise, die er zu spät bemerkt hatte, und rundherum sammelten sich die unglaublichsten Gestalten zum Sturm auf seine geistige Gesundheit.
„Das ist bestimmt eine Marktlücke“, hörte er sich sagen.
„Sie sind natürlich skeptisch“, sagte Köller mit verzeihendem Lächeln.
„Oskar ist bei allem skeptisch“, erklärte Madeleine. „Das Einzige, wovon er überzeugt ist, ist er selbst.“
„Danke, Madeleine“, sagte Oskar.
„Hör ihm erst mal zu“, sagte Helene.
„Ich höre, ich höre, ich bin vollkommen offen“, sagte Oskar und wandte sich an Köller. „Das klingt wie ein ganz neuer Berufsstand. Wie sieht das aus – bebröseln Sie Mimosen mit Prozac?“
„Sehen Sie!“ rief Madeleine aus.
Köller zeigte eiserne Geduld. „Ich erkläre Ihnen das gerne“, sagte er mit der professionellen Ruhe eines Berufsstandes, der den Umgang mit Verrückten gewohnt ist, beginnend mit den eigenen Kollegen. „Wenn wir davon ausgehen, dass auch Pflanzen Lebewesen sind, müssen wir zwangsläufig akzeptieren, dass sie auch ein Gefühlsleben haben.“
„Wie Ameisen und Kakerlaken“, sagte Oskar.
„Oskar!“ wies Helene ihn zurecht.
„Ganz richtig“, sagte Köller. „Nur stehen Pflanzen philosophisch gesehen auf einer höheren Ebene. Und damit haben sie auch Probleme, die schwieriger zu lösen sind als die eines emotional vernachlässigten Hundes oder …“
„ … oder als die einer Stubenfliege mit sexueller Identitätskrise“, half Oskar.
Die beiden Frauen seufzten.
„Sie sind skeptisch“, stellte der Pflanzenpsychologe fest.
„Ich bin müde“, sagte Oskar. „Ich wollte nicht unhöflich sein, aber irgendwie … Madeleine, das wäre doch ein Ehemann für Sie.“
„Oskar“ rief Helene aus. „Nun sei nicht geschmacklos!“
„Weil Madeleine älter ist?“
Helene pfauchte und wandte sich kopfschüttelnd ab. Das, musste Oskar gestehen, war ein Tiefschlag gewesen. Ein Stich in eine alte Wunde, die noch nicht verheilt war. Zwischen ihrer Beziehung und der Millionärsehe hatte Helene nämlich eine Affäre mit einem jungen Studenten gehabt, der seinerseits ein Freund Oskars war. So hatte Oskar sie überhaupt kennen gelernt.
„Verzeihung“, sagte er. „Ich bin ein bisschen abgespannt, da werde ich komisch.“
Das russisch gekleidete Mädchen, dem die Missstimmung aufgefallen war, trat heran, um der nun unbehaglich schweigenden Gruppe zu einem Themenwechsel zu verhelfen. „Hätten Sie gerne tausendjährige Eier?“
Oskar öffnete den Mund, sagte aber nichts, als er Helenes warnenden Blick sah.
„Tausendjährige Eier!“ röhrte Madeleine. „Ist das nicht eine chinesische Spezialität?“
Das Mädchen zuckte die Achseln. „Mir hat jemand gesagt, russisch.“
„Russische Eier“, sagte Madeleine, „sind etwas ganz anderes.“
„Sind Sie auch Eierpsychologe?“ wandte sich Oskar an Köller.
Der wedelte den Aufschrei der beiden Frauen mit beiden Händen nieder. „Nein, wirklich, meine Damen, es macht mir überhaupt nichts aus. Ich bin dagegen vollkommen immun. Es amüsiert mich sogar. Oskar, Sie sind ein Kabarettist!“
Oskar und Helene verließen Alfred Schnabels Superfiesta wortlos. Erst als sie vor Jürgens riesigem Geländewagen standen – auch er hatte einen riesigen Geländewagen, alle auf Mallorca hatten plötzlich riesige Geländewagen –, sah Helene ihn an und seufzte: „Na, wie fühlst du dich? Hast du dich abreagiert?“
Oskar lehnte sich gegen den Wagen. „Ich habe zwei einundvierzigjährige Eier, die allmählich überlaufen.“
Helene sah ihn nur an, ohne ein Wort zu sagen.
Oskar räusperte sich. „Das war als Kompliment gemeint. Wäre eleganter gegangen, das gebe ich zu.“
„Man merkt, dass du drei Wochen unter Soldaten gelebt hast“, sagte Helene und es klang, als ob sie ihm verzieh. Aber auch das ärgerte Oskar. Warum musste ihm dauernd verziehen werden? Warum musste ihm seine eigene Lebensgefährtin verzeihen, dass er so war, wie er war?
Er kletterte in den Geländewagen, es war fast ein akrobatischer Akt, und ließ sich auf den harten Beifahrersitz fallen. „Tolles Gefährt“, sagte Oskar. „Was ist mit unserem?“
„In der Werkstatt“, sagte Helene. „Verliert noch immer Öl.“
„Mistkarre“, knurrte Oskar. „Glaubst du, das sind die Steinchen vom Feldweg?“
„Woher soll ich das wissen?“
Oskar zuckte die Achseln und hieb mit der Faust auf das Armaturenbrett. „Diese Probleme hat Jürgen nicht.“ Er sah Helene prüfend an, während sie prüfend die Armaturen betrachtete. „Der Herr Nachbar vertraut dir. In ganz Deutschland gibt es vielleicht hundert Männer, die ihr Auto herborgen.“
„Wir sind auf Mallorca“, sagte Helene und schaltete die Zündung ein und wartete. Die berühmten Dieselsekunden, die einzigen Momente der Meditation, die die westliche Zivilisation je hervorgebracht hat.
„Hier drin“, sagte Oskar und pochte sich mit dem Zeigefinger gegen die Stirn, „sind wir in Deutschland. Da können wir noch so kernige Landrover fahren und noch so urige Fincas besitzen.“
„Warum musst du an allem etwas Negatives finden?“ fragte Helene und legte abrupt den ersten Gang ein.
„Was ist daran negativ?“ entgegnete Oskar. „Schämst du dich, Deutsche zu sein? Willst du deine Herkunft verleugnen? Erinnere dich: Adolf Hitler war Österreicher.“
Helene schnaubte und sagte nichts. Sie holperten über Feldwege bis zur Landstraße, wo es endlich ruhig dahinging.
Unvermittelt fragte Helene: „Hattest du mit Jürgen eine nette Konversation?“
„Keine Sorge, ich war ein braver Junge.“
„Er leiht mir den Wagen. Er lässt sich von Madeleine nach Palma bringen und übernachtet dort bei Freunden, alles, nur damit wir endlich allein sein können.“
Oskar schwieg ein Weilchen, dann sagte er: „Aha! Jürgen hat also doch Freunde!“
Helene lächelte. Oskar bemerkte es erst nach Minuten. Lächelnd lenkte sie den tonnenschweren Geländewagen über die Landstraße.
Als sie schon fast zu Hause waren, sagte sie: „Das wird eine lange Nacht.“
„Hoffentlich“, sagte Oskar bemüht enthusiastisch.
Sie kamen vor dem Gatter der Finca zu stehen. Helene warf ihm einen Blick zu, in dem keinerlei feurige Begierde abzulesen war. „Nein“, sagte sie. „Nicht das.“
„Can Tschann“, wie Oskar seine Finca scherzhaft nannte (obwohl Jürgen ihn aufgefordert hatte, ein entsprechendes Schild an den Eingang zu nageln, „weil das hier so üblich ist“), trug die Handschrift zweier Frauen. Madeleine hatte das verfallene Bauernhaus nach den Regeln des Feng-Shui renovieren lassen, während Oskar wie ein Besessener gearbeitet hatte, um das nötige Geld zu besorgen. Danach hatte Helene den Feng-Shui-Bunker in eine elegante mediterrane Residenz umgestaltet. Und Oskar jagte erneut wie ein Verrückter über den Globus, um das nötige Geld zu besorgen. Wenn er ehrlich war, hatte er seinen Wohnsitz nicht auf eine Mittelmeerinsel verlegt, um sich kaputtzurackern. Andererseits hoffte er auf ein baldiges Ende des Wahnsinns und die Erfüllung seines eigentlichen Traumes: Tempo rausnehmen.
Genau dagegen schienen sich die Mächte des Schicksals verschworen zu haben. So hatte Helene kurz vor seinem Abflug nach Mittelasien bemerkt, dass links neben der Terrasse der ideale Ort für einen Swimming-Pool wäre.
„Swimming-Pool!“ hatte Oskar geblafft. „Helene, wenn du es noch nicht mitgekriegt hast: Auf der Liste der reichsten Männer der Welt belege ich den zweihundertmillionsten Rang.“
„Jeder hat einen Swimming-Pool“, hatte Helene gesagt. „Das ist viel billiger, als du denkst.“
„Bevor wir weitere Ausbaupläne in Angriff nehmen“, hatte Oskar erwidert, „hätte ich gerne schwarze Zahlen auf meinem Konto gesehen. Meine Bank beschwert sich schon, ihr gehe die rote Tinte aus.“
Ein ähnliches Thema war das Auto. Der Gebrauchtwagen verlor seit dem Moment, da sie den Kaufvertrag unterzeichnet hatten, Öl. Helene drängte regelmäßig darauf, ein zweites Auto anzuschaffen, Oskar reagierte darauf mit hämischen Bemerkungen über den neuen Typus Landbewohner, der in seinem Leben mehr Benzin verbrennt als eine Fluggesellschaft.
Damit verletzte er Helene und erkannte es zu spät. Mit seiner Nörgelei beschwor er das Klischee der Frau herauf, die zu Hause das Geld verprasste, während der Mann sich „draußen“ abrackerte. Und das Klischee von den Rural-Schickies, die hundert Kilometer fahren, um einen urbanen Espresso zu schlürfen, aber mit Soloarzellen auf öko machen.
Sie waren doch so modern und aufgeklärt, was war schiefgelaufen? Hatte er sich nicht ein Leben lang vorgenommen, seine Beziehung würde etwas ganz anderes werden, etwas Neues, etwas Frisches? Und nun war kein Jahr vergangen und er kam nach Hause und nörgelte wie ein ganz normaler Ehemann.
Dieser Umstand bedrückte ihn beinahe mehr als die eigentlichen Anlässe für seine Nörgeleien, nur fiel es ihm mit jedem Tag schwerer, die angebliche Leichtigkeit des mediterranen Seins auf den Alltag umzulegen. Und das, obwohl er ein prächtiges Zuhause hatte und eine prächtige Person an seiner Seite, die daraus ein Juwel machte.
Mit Wehmut dachte er an die Anfänge. Er war es gewesen, der sie gebeten hatte, sich ums Haus zu kümmern, „obwohl, ich weiß, die moderne Frau, die moderne Gesellschaft …“
Und Helene hatte ihr schönstes Lächeln gelächelt, ihn zärtlich umarmt und geschnurrt: „Wir müssen uns nicht vom Zeitgeist vorschreiben lassen, wie wir unser Leben leben. Lass mich dein Zuhause sein. Die Abgeschiedenheit ist meine Freiheit, hier gibt es soviel Arbeit, und du hast soviel zu tun. Wenn ich muffig werde, sage ich dir Bescheid.“
Es war soweit: Helene war muffig. Wer konnte wirklich von einem Menschen verlangen, in einem Traumhaus auf dem Land herumzusitzen und wochenlang darauf zu warten, bis der Jäger und Sammler wieder mal für ein paar Tage hereinschaut, todmüde, zu keiner Unternehmung bereit, nur die Beine von sich strecken und der Stille der Natur lauschen wollend?
In „Can Tschann“ hörte Oskar erstmals an diesem Abend die Grillen zirpen, und das Knarren der alten Haustür klang ohrenbetäubend. Helene mied Oskars Blicke, indem sie Sachen umherrückte, hin- und herstellte, während er seine Taschen fallen ließ und ihr wortlos zusah.
„Reden wir“, sagte er dann.
„Willst du etwas trinken?“ fragte Helene und steuerte auf den Glasschrank zu, in dem eine Alkoholbatterie für die Hoch- und Tiefpunkte des Lebens bereitstand.
Oskar hasste es, wenn sich das Leben auf ausgefahrenen Bahnen bewegte. Der gewohnte Drink beim Heimkehren. Das gewohnte Blättern im „Spiegel“ vor dem Zubettgehen. Der gewohnte Liebesakt in der Feng-Shui-gerechten Schlafnische. Sein Leben erschien ihm plötzlich wie eine Karikatur. Vielleicht war es nicht der beste Moment, Gewohnheiten abzulegen, aber er lehnte den gewohnten Drink mit einem knappen „Nein, danke“ ab.
Helene machte auf dem Weg zum Alkoholschrank Halt und wandte sich um. Sie lächelte. Ihre Augen sagten: Das machst du nur, um mich in Verlegenheit zu bringen.