in anderer zeit

In Gedenken an meine Eltern
Für Cecilia, Julia und Alexandra

Menschenleben sind Augenblicke –
eine kurze und intensive Begegnung mit der Welt

michael wolfgang geisler

in anderer zeit

roman

Ein fordernder Weg

Im Kloster

Japan von 729 bis 791

Unendliche Vielfalt der Bestimmung

Weihnachten 2021

Der früh gestorbene Soldat

Deutschland von 1922 bis 1942

Jugend, Aufbruch und ernste Gedanken

Die siebziger Jahre

Seemann in der neuen Welt

Neuspanien von 1730 bis 1804

Gespräch mit Konstanze

Ach, wäre es nie geschehen

Schweden von 1593 bis 1632

Die Welt ist voller Geheimnisse

Mein Mann

Geschäfte, Geld und Wert

Chicago von 1820 bis 1887

Alles hat seinen Wert

Stadtschreiber in Delft

Niederlande von 1400 bis 1492

Die Ordnung

Irrwege zum Ziel

Mönch auf der Suche

Norditalien von 1312 bis 1362

Der Einzelne und das Ganze

Totgeborene Zwillinge: ein kurzes Dasein

Mittelalter in Norddeutschland um das Jahr 1000

Das verlassene Kind

Sinai um das Jahr 1

Jenseits des irdischen Seins

Trennung, Leid und Illusion

Was steht an?

Bauernleben – Indien und Nordfrankreich
vom 7. bis zum 9. Jahrhundert

Täuschung

Der junge Graf und ich

Pfalz von 1520 bis 1550

Gespräch mit Judith

Eine Liebe voller Vorsicht

Süd-Ost Italien 300 n. Chr

Fortsetzung des Gesprächs mit Judith

Das Mädchen, das ihren Mann liebt

Ostafrika vor langer Zeit

Abschluss des Gesprächs mit Judith

Das Leben geht mit Macht weiter

Ahnung der Erkenntnis

Eine Zugfahrt

Arabischer Krieger

Nordafrika von 906 bis 960

Ein Leben voller Kraft

Hohepriester

Judäa/Palästina um 100 v. Chr

Ein Leben Gott gewidmet

Philosoph und Lehrer

Griechenland von 373 bis 309 v. Chr

Der Philosoph und die Kultpriesterin

Freiheit

Ein Brief – Zufall, Leid, das Böse und Heilung

Meister in Indien

Zeitlos oder im Jahre 521 v. Chr

Ein Brief – Erkenntnis

Ein Besuch

Weihnachten 2021

Heute und ein Traum vom Reich Atlantis

Schöpfung

Es lebt der Mensch in seiner Zeit

verbunden mit der Ewigkeit.

Der Schöpfung Kind wird er genannt

von Gottes Geist, von Gottes Hand.

Und von der Wiege bis zum Tod

Erfahrung aus dem Leben holt

der Mensch zu unser aller Glück.

Wer sieht es denn, wer kennt dies Stück?

Die Seele soll die Liebe bringen,

aus dem Geist Bewusstsein springen,

der Körper stellt uns unseren Raum,

das Leben hierin aufzubauen.

Wo können wir denn Neues schaffen?

Wo kann uns Gott gestalten lassen?

In dieser Welt ist es erlaubt!

Nur hier wird etwas aufgebaut!

FRUTO II 2006

Ein fordernder Weg

Im Kloster

Japan von 729 bis 791

Mein Körper liegt aufgebahrt in der Halle. Lange weiße Haare umrahmen mein Gesicht und meine Schultern. Ich bin in ein weißes Gewand gekleidet. Um mich sind die Nonnen des Klosters – auch sie ganz in Weiß. Sie halten Totenwache. Der Weg vom Eingang des Klosters bis zur Halle, in der mein Leib auf Tischhöhe ruht, ist mit kleinen weißen Fahnen geschmückt. Sie flattern im Wind. Sie sollen den Menschen und den Geistern verkünden, dass hier jemand gestorben ist. Die Nonnen sitzen am Boden. Sie müssen aufblicken, wollen sie meinen Körper betrachten. Meine kleine Gestalt verliert sich in der Halle. Die Töchter Buddhas führen die Totenzeremonie durch.

Immer wieder stehen sie von ihrem Platz auf und verneigen sich fast bis zum Boden vor mir. Sie stellen kleine Schalen, gefüllt mit Totengaben, zu meinen Füßen. Dann setzen sie sich wieder auf ihre Kissen. Reglos mit verschränkten Beinen und aufrechtem Rücken sitzen sie dort. Sie meditieren.

Tee, das Getränk Buddhas, wird gereicht. Sein feiner Duft erfüllt die Halle und verbreitet eine vornehme Atmosphäre. Niemand spricht ein Wort. Keine Lieder ertönen. Keine Verse werden rezitiert. Nur der Klang des Gongs unterbricht die Stille, wenn ein Schlag mit dem Holzschlegel auf die bronzene Schale ihn ertönen und langsam durch den Raum gleiten lässt.

Meine Schwestern vermeiden es, sich gegenseitig anzuschauen. Sie sind eins mit der Zeremonie, so wie es uns gelehrt wurde. Der Augenblick ist das, was ist. Nichts soll die Harmonie des Augenblicks stören. Im Augenblick erfüllt sich die Einheit des Ganzen. Das Leben zeigt sich in seiner wahren Gestalt. Es gibt keine Grenzen. Es gibt kein Gut und Böse.

Ich schaue herab auf meine Nonnen. Viele Jahre habe ich mit ihnen zusammen in diesem Kloster gelebt. Ich war ihre Oberin. An mir lag es, sie zu lehren. Wir waren vierzehn Frauen.

Seit Langem wird an diesem Ort ein heiliger Fels verehrt. Ein Fels von ganz ebenmäßiger runder Gestalt, in hellem Weiß, mit gut drei Metern Durchmesser. Ein Fels, der die Vollkommenheit wiedergibt und in seiner Form und Farbe zeigt, dass alles eins ist. Sein Geist wird seit alters von den Menschen hoch geachtet. An dieser Stelle wurde einst ein kleiner Schrein errichtet. Besucher kamen und kommen hierher, wenn sie Rat und Unterstützung suchen. Unser großer Meister Zi Teng hat neben diesem Schrein unser Kloster gegründet. Er hatte zuvor viele Jahre in China die Lehren Buddhas praktiziert.

Diese Lehre war seit Langem im Reich der Chinesen bekannt. Die Kaiser in China folgten ihr. Unsere Tennō Shōtoku, die vor zwanzig Jahren verstorbene hoch verehrenswerte Kaiserin von Japan, hat unser Land für die Lehren des Buddha geöffnet.

Meister Zi Teng ist hier in die Berge, abseits der Dörfer und Straßen, gekommen, um die Lehre zur Vollkommenheit zu praktizieren. Denn jeder Mensch muss selbst zur Erkenntnis gelangen. Nur insoweit der Mensch sich selbst befreit hat, kann er anderen helfen. Nur aus der eigenen Befreiung erwachsen Mitgefühl und sorgende Liebe. Der Weg zur Vollkommenheit führt den Menschen zu dem Wissen, dass alles, was ist, in Verbindung miteinander steht, keine Grenze und Abtrennung wirklich ist, und die Erkenntnis des Ganzen und Allumfassenden uns ein Leben in Mitgefühl für jedes Wesen zuweist.

In China war er Schüler bedeutender Lehrmeister. Über viele Jahre folgte er der Lehre des Chán. Dies ist der Weg der Meditation. In der Meditation lernen wir Menschen, die Grenzen aufzulösen, die uns hier auf der Erde in unsere kleine Welt einsperren. Wir sitzen in Stille und konzentrieren uns auf das, was hinter dem Wandel, dem Werden und Vergehen steht. Zeit und Ort verlieren ihre bestimmende Kraft. Was wir als unsere irdische Wirklichkeit kennen, ist nicht mehr – weder materiell noch als Idee.

Meister Zi Teng kehrte zurück nach Japan und wählte diesen Ort, der durch den weißen Fels das Vollkommene beschreibt, um die Lehren des Buddha und die Erfahrung des Chán zu praktizieren. Zuerst lebte und meditierte er hier alleine. Die Menschen, die zum weißen Felsen kamen, sahen, welch heiliger Mann er war. Sie spürten seine fürsorgende Liebe. Sie kamen zu ihm, um seinen Rat zu erhalten. In seiner großen Weisheit und aus dem in ihm lebendigen Mitgefühl zeigte er ihnen, welche Bestimmung ihr Leben barg. Sein Name wurde voller Ehrfurcht genannt. Zahlreich sind die Berichte seiner ruhmreichen Taten der Weisheit und Liebe.

Dann geschah ein denkwürdiges Ereignis. In einem Dorf, eine Tagesreise vom Schrein gelegen, lebten mehrere Familien, an die vierzig Menschen – darunter auch ich mit meinen Angehörigen. Wir lebten vom Anbau von Hirse, Reis und Gemüse und auch einige Tiere nannten wir unser Eigen. Das Dorf lag am Fuße von steilen Hängen, an denen Terrassen für die landwirtschaftliche Nutzung angelegt waren.

Im Herbst, nach einem warmen und vom Regen verwöhnten Sommer, die Ernte war schon eingebracht, kam ein großes Unwetter auf. Wie ein großer Wasserfall fiel der Regen vom Himmel. Der Wind peitschte ihn gegen die Berghänge. Das Unwetter wollte kein Ende finden. Der Tag wurde zur Nacht.

Ich war noch eine junge Frau. Meine Hochzeit sollte in der kommenden Woche stattfinden. Das Unwetter machte mich und meine Mutter unruhig, denn es gab noch viel für die bevorstehende Vermählung vorzubereiten. Trotz der vom Himmel strömenden Wassermassen gingen wir zum Haus einer Nachbarin. Sie lebte alleine mit einer ihrer Töchter. Ihr Mann war bereits vor einigen Jahren gestorben. Ihre anderen Kinder hatten geheiratet und wohnten außerhalb des Dorfes. Weitere vier Frauen aus der Nachbarschaft kamen hinzu, denn vielfältige Planung und Arbeit für die bevorstehenden Feierlichkeiten waren zu erledigen.

Ich stand in meinem fast fertigen Hochzeitsgewand, an dem die anderen Frauen noch arbeiteten, als wir ein furchtbares Grollen und Donnern vernahmen. Immer lauter kam es auf uns zu. Das Haus erzitterte. Wir kauerten uns in eine Ecke des Zimmers und hielten uns gegenseitig umklammert. Das laute Dröhnen schien uns eine Ewigkeit anzudauern. Dann trat Stille ein. Wir hörten den Regen gegen das Haus schlagen und waren zutiefst erschrocken. Wir ahnten, was es bedeutete. Der Hang war, aufgelöst durch das überreichliche Wasser, herabgestürzt. Eine Lawine von Erde, Steinen und Wasser hatte sich in das Dorf ergossen.

Zitternd und bleich wie der Tod öffneten wir die Tür. Im Dämmerlicht sahen wir nur Berge aus Schlamm. Trotz des strömenden Regens, ich immer noch für die Hochzeit gekleidet, kletterten wir hinaus auf die Geröllmassen. Ich bahnte mir den Weg zu dem Ort, an dem das Haus meiner Eltern gestanden hatte. Alles war bedeckt mit Erde und Gestein. Kein Lebenszeichen von meinem Vater, den Geschwistern und Großeltern war zu entdecken. Ich rief ihre Namen. Niemand antwortete! Ich sah meine Mutter verzweifelt Steine zur Seite räumen. Ich lief dorthin, wo das Haus meines zukünftigen Mannes sich befunden hatte. Auch hier nur Schlamm. Einzelne Bretter des Hauses ragten hervor. Es gab keinen Zweifel: Niemand, der sich in diesen Häusern aufgehalten hatte, konnte den Erdrutsch überlebt haben.

Völlig durchnässt und verdreckt, wie betäubt von dem, was wir gesehen hatten, kämpften wir uns zurück durch das Geröll. Teilweise versank ich bis über die Knie im Schlamm. Alle Häuser des Dorfes, außer jenem der Witwe, waren unter einer dicken Schicht aus Steinen und Erde begraben.

Ich weiß nicht mehr, wie wir die Nacht verbracht haben. Unsere Welt war zerstört! All die Menschen, mit denen unser Herz verbunden war, waren tot. Wir weinten, bis uns auch hierzu die Kraft fehlte. Wir flehten die Geister und Ahnen an, uns beizustehen. Auch den Geist des weißen Felsens und Meister Zi Teng riefen wir um Hilfe.

Erst am nächsten Nachmittag ließ der Regen nach. Im Licht des Tages bot sich ein furchtbares Bild. Wir hatten alles verloren: Haus, Nahrung, Angehörige und Freunde. Die Felder waren weggeschwemmt. An diesem Ort konnten wir nicht bleiben. Mich plagten Fieber und Husten. Erschöpft lag ich auf einer Matte und fiel in einen tiefen Schlaf.

Als ich nach vielen Stunden erwachte, war mir, als läge ein böser Traum hinter uns. Ich fühlte mich erholt. Doch mein Schmerz war groß. Ich dachte an meine Geschwister, meinen Vater, die Großeltern. Alle waren tot! Ich dachte an die Freunde und Verwandten.

Ein Sonnenstrahl fiel in das Haus. Meine Mutter und die anderen Frauen lagen auf ihren Matten. Meine Mutter sah überaus erschöpft aus. Ihr Gesicht war grau und sie atmete schwer.

Ich ging zur Tür und öffnete sie. Das gleiche Bild wie am Vortag. Der Schlamm war etwas getrocknet. Das Haus der Witwe lag im Schatten eines kleinen Hügels. Das hatte uns gerettet. Ich ging zur Kochstelle und wollte uns ein warmes Getränk bereiten. Doch die Wasserbehälter waren leer. So nahm ich den Weg durch den Schlamm zum Bach, der nun breit und kräftig durch unser Tal floss. Ich füllte den Behälter und schaute auf das Wasser, wie es wild durch das Geröll strömte. Welche Macht das Wasser hatte und wie weich es zugleich sein konnte. Ich hörte das Rauschen und in diesem Rauschen meinte ich zu vernehmen, wie es immer wieder »Zi Teng« wiederholte. »Zi Teng, Zi Teng, Zi Teng«, sprach das Wasser zu mir.

Ich fühlte, wie mich mit diesen Worten neue Kraft durchströmte. Ja, wir sollten zu Meister Zi Teng gehen. Schon öfter waren wir beim weißen Fels gewesen, um seinen Rat einzuholen. Vor einigen Wochen hatte ich ihn zu meiner bevorstehenden Hochzeit befragt. Ich wollte wissen, ob ich den richtigen Pfad beschritt und was mich in Zukunft erwartete. Meister Zi Teng hatte meine Fragen schweigend angehört. Dann war er aufgestanden. Am nächsten Tag zum gleichen Sonnenstand sollte ich wieder zu ihm kommen.

Am folgenden Tag hatte er mich begrüßt und mich setzen lassen. Er gab mir eine Schale Tee zu trinken. Dies war das erste Mal in meinem Leben, dass ich dieses Getränk probierte. Der feine Geschmack, gepaart mit dem zarten Duft, versetzte mich in eine innere Andacht.

Dann begann Meister Zi Teng zu sprechen: »Mein wohlanständiges junges Mädchen. Diese Hochzeit wird eine Vermählung mit den Kräften des Himmels sein. In deinem Hochzeitsgewand wirst du vor sie treten und sie werden dich erwählen zu ihrer Braut. Das Leben wird Großes von dir fordern. Es lässt dir keine Wahl als die, es anzunehmen. Du bist stark und du wirst den Weg gehen.«

Meister Zi Teng hatte geschwiegen. Ich wusste nicht, was ich über das Gehörte denken sollte. Ich wartete. Doch er ließ erkennen, dass er gesagt hatte, was zu sagen war. Ich verbeugte mich tief vor ihm und ging zu meiner Mutter, die mich begleitet hatte. Wir saßen noch lange bei dem weißen Fels. Wir schauten zum Stein und wir schauten zu den Bergen. Die Worte von Meister Zi Teng klangen in mir nach. Ich versuchte zu verstehen, was er gemeint hatte. Würde ich Kinder haben? Dazu hatte er nichts verlauten lassen. Doch die Kräfte des Himmels waren auch die Herren darüber, ob Kinder geboren würden. Hatte ich großen Kinderreichtum zu erwarten? Heute weiß ich, was er gemeint hatte!

Als ich nun hier am Wasser stand, da fielen mir seine Worte wieder ein. Er hatte gesagt, dass ich stark sei und meinen Weg gehen würde. Dieser Weg, dachte ich, sollte uns als Erstes zu Meister Zi Teng führen. Bei diesem Gedanken atmete ich auf. Ja, das war der richtige Entschluss. Ich ging zurück zum Haus der Witwe und wollte mein Vorhaben mit den anderen besprechen.

Im Haus angekommen waren alle Frauen wach. Sie lagen erschöpft und mutlos auf ihren Matten. Ich zündete das Feuer an und bereitete uns ein warmes Getränk aus geröstetem Hirsepulver und stärkenden Kräutern. Wir saßen schweigend und nur unser Schlürfen unterbrach die Stille.

Dann begann ich zu sprechen: »Wir haben an diesem Ort keine Zukunft mehr. Unsere Familien sind nicht mehr unter uns. Die Häuser sind zerstört. Das Vieh ist unter dem Schlamm verschüttet. Die Felder sind unwiederbringlich verloren.«

Ich machte eine Pause. Die Frauen blickten weiterhin auf ihre Trinkschalen. Doch sie schienen mir zuzuhören.

»Soeben, als ich das Wasser geholt habe, da hat mir der Geist des Wassers einen Namen genannt: Meister Zi Teng. Wir sollen zu Meister Zi Teng gehen. Er wird uns helfen.«

Einige der Frauen hoben den Kopf. Ich meinte eine Andeutung von Zustimmung zu erkennen. Nur meine Mutter zeigte keine Regung.

Ich sprach weiter: »Morgen, wenn die Sonne aufgeht, werden wir aufbrechen. Heute müssen wir das wenige Essen und die Kleidung, die uns noch geblieben ist, zusammenpacken.«

Ich sah Einverständnis in den Gesichtern. Mein Vorschlag schien den Frauen wieder mehr Leben eingehaucht zu haben.

Am nächsten Morgen brachen wir auf. Beladen mit Mühsal zogen wir los. Ich stützte meine Mutter, die immer noch wie betäubt von Schmerz und Trauer war. Wir gingen durch Schlamm und Geröll das Tal hoch. Nach ungefähr einer Stunde kamen wir zu dem Pfad, der uns über die Berge zu Meister Zi Teng bringen würde. Wir liefen schweigend und keine von uns wandte den Blick zurück, um ein letztes Mal auf den Ort zu schauen, an dem, nun unter Steinen und Erde begraben, unser Dorf gelegen hatte. Meine Mutter seufzte hin und wieder. Es ging mir durch Mark und Bein zu hören, wie sich aus ihrem Innersten der Schmerz seinen Weg bahnte.

Der Pfad war beschwerlich. Wir waren erschöpft. Als nur noch der letzte Anstieg vor uns lag und der Schrein bereits zu sehen war, konnte ich erkennen, dass Meister Zi Teng am Ende der Steigung stand und zu uns herabschaute. Er schien uns zu erwarten. Ihn zu sehen, gab mir Kraft.

»Seht ihr Meister Zi Teng«, sprach ich zu den anderen. Sie schauten nur kurz auf. Doch es schien mir, als beschleunigte sich ihr Schritt.

Meister Zi Teng empfing uns am Ende des Pfads. Wir waren zu erschöpft, ihm unsere Ehrerbietung zu zeigen. Er führte uns zu seiner Hütte. Er hatte Tee aufgesetzt und eine Schale Hirse für jede von uns bereitgestellt. Schweigend aßen und tranken wir. Dann breiteten wir die Matten aus und schliefen bis zum nächsten Morgen.

Wieder hatte Meister Zi Teng eine Mahlzeit für uns zubereitet. Der Wächter des Schreins war mit Helfern aus dem Dorf in der Nachbarschaft gekommen. Sie errichteten eine kleine Hütte, in der wir schlafen konnten. Wir erzählten von unserem Unglück. Die Menschen hörten voller Entsetzen zu.

Meister Zi Teng sprach zu uns: »Euer Weg aus der Not und dem Leid hat euch zu mir geführt. Ihr könnt bleiben, wenn ihr möchtet. Wir werden für den Winter ein Haus bauen. Es werden in den nächsten Tagen viele Besucher zum Schrein kommen, denn das Fest des Wechsels zum Winter steht an, und sie suchen die Hilfe des Geistes des weißen Felsens. Die Besucher werden Gaben bringen, so dass ihr zu essen habt und ihr könnt ihnen helfen.«

Wir hörten seine Worte und sie klangen wie unsere Rettung. Es ereignete sich, wie er gesagt hatte. Wir lernten, den Besuchern beizustehen. Wir wiesen ihnen einen Platz zum Ruhen zu. Wir nahmen ihre Gaben entgegen und halfen ihnen, den Schmutz des Tages abzuwaschen. Wir holten Wasser aus dem Bach und stellten es bereit. Wollten sie beim Schrein die Nacht verbringen, konnten sie dies an offenen, aber überdachten Stellen tun.

Die Helfer aus dem Dorf hatten schnelle Arbeit geleistet. Wir konnten bald in unser neues Haus einziehen. Meister Zi Teng wies uns Aufgaben zu. Der Platz um den weißen Fels sollte eine neue Gestalt erhalten. Er wollte, dass sich die Harmonie des Steins in einem Garten zeige. Nach seinen Vorgaben bereiteten wir den Platz für Bäume, Sträucher und Blumen. Wir leiteten einen Arm des Bachs durch unseren Garten. Je mehr unser Werk an Gestalt gewann, desto mehr Besucher kamen zu dem Schrein, um zu sehen, was hier entstand.

Oft verbrachte ich schlaflose Nächte. Ich sah dann die Geister des Sturms kommen und unser Dorf mit Erde und Steinen verschütten. Ich sah, wie sie unser Haus unter Schlamm begruben. Meine Trauer war unendlich groß. Doch die Gemeinschaft tat mir gut. Wir halfen einander, wo wir konnten. Über das Unglück sprachen wir nicht. Immer waren wir beschäftigt. Meister Zi Teng trug uns jeden Tag zahlreiche Arbeiten auf.

Als das Frühjahr kam, legten wir kleine Felder zum Anbau von Gemüse und Kräutern an. Die Bewohner des benachbarten Dorfes halfen uns dabei. Meister Zi Teng wies uns an, für den Garten Bäume und Sträucher, Moos und Gras, Blumen und Kräuter zu pflanzen. Mir machte dies große Freude. Zudem gab es noch eine ganz besondere Aufgabe: Meister Zi Teng zeigte uns einige Pflanzen mit ebenmäßigen und glänzenden Blättern. Diese sollten wir ganz besonders pflegen. Aus den Blättern dieses Strauchs wurde der Tee bereitet. Wir hatten noch nie einen Teestrauch gesehen. Er kam mir überaus formvollendet vor. Fein und vornehm spiegelten die Blätter das Licht. Diese Pflanze wollte mit Achtung behandelt werden.

Meister Zi Teng erzählte uns, dass jenseits des Meeres in China der Teestrauch weit verbreitet sei. Er berichtete auch, dass Buddha aus einem fernen Land hinter hoch bis zum Himmel aufragenden Bergen stammte. Ich stellte mir Buddha als einen noch weiseren Meister Zi Teng vor.

Ein großer Kummer blieb: meine Mutter. Ihr Haar war grau geworden. Sie sprach kaum. Die Freude hatte sie verlassen. Sie klagte nicht, doch es war, als wäre das Leben aus ihr gewichen. Reglos saß sie auf ihrer Matte, aß und trank kaum und wälzte sich nachts ruhelos hin und her. Ich machte mir große Sorgen. Hin und wieder weilte sie beim weißen Fels. Sie saß dort und blickte zum Boden. Manchmal nahm sie den Pfad hinauf zur Schlucht. Ein kleiner Bach stürzte an dieser Stelle die Felsen hinab. Von hier hatte man einen wunderbaren Blick zum Tal. Das Rauschen des Wasserfalls und leichte Schwaden des sprühenden Wassers umhüllten einen. Oft stand sie lange dort und blickte dem fallenden Wasser nach.

An einem schönen, sonnigen Tag sah ich sie wieder einmal den Pfad hinaufgehen. Ihre kleine Gestalt verlor sich in der weißen Gischt. Ich wartete lange beim weißen Fels, dass sie wieder herabkäme. Doch sie kam nicht. So folgte ich ihr. Ich erreichte die Schlucht und konnte sie nicht entdecken. Ich blickte den Wasserfall hinab und sah sie unten im Bachbett liegen. Sie schien unversehrt, doch ich wusste, sie war tot. Der Schmerz war zu groß für sie geworden. Sie konnte ihn nicht mehr tragen.

Meister Zi Teng hielt die Totenzeremonie. Es war eine bewegende Feier. Ich konnte meine Mutter gut verstehen. Ich denke, für sie war richtig, was geschehen war. Sie ist an einem Ort mit dem Blick auf die Größe und Schönheit der Welt gestorben. Das war ihr Trost in ihrer Verzweiflung. Ich verabschiedete mich in großer Ehrerbietung von ihr. Sie wollte bei den Ahnen ihrer Familie sein. Meister Zi Teng hatte mir gesagt, ich sei stark genug, diesen schwierigen Weg zu gehen. Sie war es nicht.

Wir waren jetzt noch sechs Frauen. Auch die Witwe, in deren Haus wir den Erdrutsch überlebt hatten, hatte uns verlassen. Sie war zu ihrer ältesten Tochter gezogen. Wir Übrigen wollten hier beim Schrein, dem weißen Fels und Meister Zi Teng bleiben.

Als die Tage länger wurden, meinte Meister Zi Teng, er wolle uns nun in der Kunst des Chán unterrichten. So begann eine neue Zeit. Meister Zi Teng hatte uns bereits zuvor von seiner Reise nach China erzählt. Er berichtete von den wunderbaren Gärten, die er dort gesehen hatte. Gärten, in denen sich die Harmonie des Seins widerspiegelte. Solch einen Garten wollte er um den weißen Fels bauen. Die Menschen sollten an diesem Ort die Harmonie der Mächte des Kosmos sehen können.

Er lehrte uns den Tee auf eine Weise zuzubereiten, dass er den Menschen Klarheit und Feinsinn schenkt. Und natürlich sprach er von der Lehre Buddhas. Er fragte uns, ob wir dem Beispiel des Buddha folgen wollten. Dies sei überaus fordernd und er selbst, obwohl er seit vielen Jahren mit großer Kraft versuche voranzuschreiten, befände sich erst am Anfang. Doch er wolle uns einladen, das Leid dieser Welt zu überwinden und Schmerz und Trauer hinter uns zu lassen.

Seine Worte gaben uns Vertrauen. Hatten uns nicht die Geister des Sturms alles, was uns in diesem Leben lieb gewesen war, genommen? Wollten wir in Leid und Schmerz verweilen? Hatte uns nicht der Geist des Wassers den Weg zum weißen Fels und Meister Zi Teng gezeigt? In mir entstand ein Bild, wie das Wasser am weißen Fels vorbeifloss. Wie die Bäume und Sträucher und das Moos an seinem Ufer standen. Harmonie sollte herrschen! In der Harmonie hatte alles seinen richtigen Platz und das Leid war überwunden. Machtvoll trat dieses Bild des Gartens vor meine Augen. Ich weiß nicht, ob die anderen auch dieses Bild in ihrem Inneren gesehen haben. Doch wir waren uns einig. Wir wollten an diesem Ort bleiben.

Meister Zi Teng begann, uns Schritt für Schritt in die Meditation einzuführen. Er gab uns chinesische Namen, so wie er seinen Namen in China durch seinen Meister erhalten hatte. Mein Name lautete nun Mai Lin. Wir waren jetzt Nonnen des Buddha und folgten in diesem Kloster seinem Beispiel. Wenn keine Besucher beim Schrein weilten, dann saßen wir auf unseren Matten rund um den weißen Fels und betrachteten seine Vollkommenheit. Unser Atem floss gleichmäßig. Der kleine Bach sandte uns ein leichtes Rauschen. Wir saßen dort mit aufrechtem Rücken und gekreuzten Beinen. Die Welt der Sinne und Gedanken lag hinter uns. Wir waren eins. Wir waren, was um uns war, und was um uns war, waren wir. Wir hatten unsere Gestalt, ja die Idee unserer Gestalt, unsere Gedanken, die Idee unserer Gedanken überwunden. Lange Zeit lehrte uns Meister Zi Teng die Meditation.

Er gab uns auch auf, weiter den Garten zu gestalten. Die Pflanzen, die unter unserer Obhut gewachsen waren, wurden an ihren Platz gesetzt. Meister Zi Teng wusste, wo sie wachsen sollten. Steine kamen hinzu. Wir legten kleine Pfade und Stätten der Ruhe an. Moos umgab die Steine. Eine Brücke überquerte den Bach. Über die Jahre nahm der Garten immer mehr Gestalt an. Das Bild, das ich in vergangener Zeit in meinem Inneren wahrgenommen hatte, es hatte mich nicht getäuscht: Der Garten trug die vollkommene Harmonie in sich.

Unsere Gemeinschaft war in der Zwischenzeit größer geworden. Zwei junge Frauen hatten zu uns gefunden. Auch sie wollten den Lehren des Buddha folgen.

Als einige Jahre Erfahrung in der Meditation hinter uns lagen, übertrug Meister Zi Teng uns sechs älteren Schülerinnen eine weitere Aufgabe: Wir sollten den Menschen mit Rat zur Seite stehen. Meister Zi Teng hatte uns gelehrt, dass wir den Menschen, der zu uns kam, erkennen mussten. Wenn wir ihn erkannten, dann konnten wir ihm seine Bestimmung zeigen.

Zuerst empfingen wir nur wenige Ratsuchende. Oft vergingen viele Tage und niemand suchte mich auf, obwohl die Menschen zahlreich beim Schrein weilten. Doch bereits nach einem Jahr hatte sich dies gewandelt. Insbesondere Frauen kamen zu mir. Viel Schmerz, Trauer und Leid lag in ihnen. Tiefes Mitgefühl mit den Menschen erwachte in mir. Doch auch Glück war geboren. Ich konnte den Entwicklungspfad sehen, den ihr Dasein nehmen wollte und ihnen helfen zu erkennen, was das Leben von ihnen forderte.

Oft dachte ich an meinen Aufenthalt beim Schrein zurück, als Meister Zi Teng mir als jungem Mädchen die Vermählung mit den Geistern des Himmels verkündet hatte. Welche große Hilfe war mir das gewesen, als das Unglück über mich hereinbrach! Jetzt schöpfte ich meine Kraft aus der gemeinsamen Meditation mit Meister Zi Teng. Meine Ehrerbietung für ihn war unermesslich.

Zehn Jahre waren vergangen, seit ich zu Meister Zi Teng und dem weißen Fels gekommen war. Der Garten hatte sich in eine vollkommene Pracht der Harmonie gewandelt. Die Menschen kamen in großer Zahl zu uns. Da ließ mich Meister Zi Teng zu sich rufen. Als ich zu seiner Hütte kam, lag er auf der Matte. Er bat mich, ihm einen Tee zu bereiten.

Als ich ihm die Schale reichte, sprach er ganz leise zu mir: »Hochehrwürdige Frau, mein Körper ist zu schwach, den Kopf zu halten. Bitte tu du dies für mich und reiche mir einen Schluck Tee.«

Ich tat wie geheißen. Sein Kopf ruhte in meiner Hand. Er nahm einen kleinen Schluck Tee.

»Meine Zeit hier ist vorbei«, sprach er leise weiter. »Ich werde nun gehen und überlasse euch die Fürsorge für die Menschen und diesen Ort. Bestimmt eine Oberin aus eurem Kreis. Sorgt für den Garten und lasst die Harmonie sich zeigen. Sie ist Ausdruck der Schöpfung. Sorgt für die Menschen und helft ihnen!« Er stockte. Das Sprechen fiel ihm schwer.

Ich legte seinen Kopf auf die Matte. In seinen Augen konnte ich Angst erkennen. »Nicht«, hörte ich ihn sagen.

Ich nahm seine Hand und er hielt mich fest. Ich spürte seine Angst. Dann schloss er die Augen und sein Atmen hörte auf. Frieden umgab uns! Meister Zi Teng war gestorben. Zart und zerbrechlich lag er auf seiner Matte.

Ich rief meine Mitschwestern. Ehrerbietig verneigten sie sich vor ihm. Wir trugen seinen Körper in den Schrein, der uns auch als buddhistischer Tempel diente. Die Besucher verließen voller Achtung den Ort. Wir feierten die Totenzeremonie. Meister Zi Teng weilte nicht mehr unter den Lebenden.

Doch er wird weiterhin an diesem Ort verehrt. Die Menschen kommen, um ihn um Hilfe zu bitten. Meister Zi Teng hilft! Sein Mitgefühl ist bei uns!

So begann für uns Nonnen des Buddha eine neue Zeit.

Ich berichtete meinen Schwestern von den Anweisungen des Meisters. Bereits an einem der nächsten Tage wollten wir die Oberin bestimmen.

Wir setzten uns zusammen.

Unsere älteste Schwester ergriff das Wort: »Meine ehrwürdigen Schwestern, ich bin die Älteste in diesem Kreis. Daher möchte ich dieses Zusammensein leiten. Ich bitte eine jede von euch um ihre Meinung, wie wir unsere Wahl der Oberin treffen sollen.«

Sie blickte in den Kreis. Keine von uns erhob das Wort.

Sie sprach weiter: »Lasst uns ein Stäbchen aus Schachtelhalm in die Mitte des Kreises stellen. Dort, wohin seine Spitze fällt, sitzt unsere neue Oberin.«

Alle nickten voller Ehrerbietung. Wir holten das Stäbchen. Wir saßen in einem dichten Kreis um die Mitte. Unsere älteste Schwester beugte sich nach vorne und stellte das Stäbchen senkrecht auf die Erde. Ihr Finger löste sich und das Stäbchen fiel. Seine Spitze zeigte zu mir.

»Mai Lin soll unsere Oberin sein«, sagte sie.

Ich war nicht überrascht. Als Meister Zi Teng mir seine Anweisungen gegeben hatte, war dies bereits in seinen Augen zu erkennen gewesen. Ich spürte die große Verantwortung! Meister Zi Teng hatten wir überaus verehrt. Seine Weisheit und sein Mitgefühl waren groß. Ich sollte ihm nun nachfolgen! Unser Meister hatte uns jeden Tag gelehrt. Die Meditation mit ihm war uns Wegweiser gewesen. Konnte ich dies auch? Die Besucher würden nun Rat von mir wollen, so wie Meister Zi Teng ihn gegeben hatte. Ich wollte mein Bestes geben! Unser Meister hatte uns gelehrt, dass man den Menschen nur soweit helfen kann, wie man sich selbst befreit hat. Ich würde noch härter an meiner Befreiung arbeiten müssen.

Ich führte unser Leben auf die gleiche Weise fort, wie der Meister uns angewiesen hatte. Die Besucher kamen weiter zum Tempel, um Hilfe durch den weißen Fels und den Geist von Meister Zi Teng zu erhalten. Wir pflegten die Harmonie des Gartens. Wir übten uns in der Meditation. Wir empfingen die Besucher und gaben Rat, wenn sie uns fragten.

Das Dasein erfüllte mich mit großer Freude. Ich lernte immer besser, die Menschen zu erkennen. Oft war es nicht notwendig, dass sie zu mir sprachen. Welche Schritte für sie zu tun waren, um aus dem Leid zu finden und ihre Aufgabe zu meistern, war für mich auch ohne Worte zu sehen. Eine tiefe Verbindung mit den Menschen war entstanden.

Unser Garten entwickelte sich immer mehr zum Ausdruck vollkommener Harmonie. Kleine Steine fanden einen neuen Platz. Das Wasser erhielt eine Verzweigung. Es trennte sich vor dem weißen Fels, umfloss ihn von zwei Seiten, um sich dann wieder zu vereinigen.

Ein Garten zeigt das Leben. Ich lernte, dass sich auch die Harmonie wandelt. Der Garten soll jedoch nicht Ausdruck dieses Wandels sein, sondern die Einheit zeigen. Meister Zi Teng hatte uns dies gelehrt. Alles im Kosmos steht miteinander in Verbindung. Es gibt keine Trennung und keine Grenzen. Im Garten haben wir Menschen die Möglichkeit, das Gleiche aus verschiedenen Positionen wahrzunehmen und darüber zu erkennen, wie vielfältiger Ausdruck doch Ausdruck des Einen ist.

Zu meinen Aufgaben gehörte auch, meine Mitschwestern zu leiten. Ich wollte, dass sie ihre Freiheit fanden. Auf diese Weise konnte aus ihnen die sorgende Liebe für alles Leben entspringen. Das Leben wollten wir fördern – das Verletzen und Töten vermeiden. Meister Zi Teng hatte uns immer klare Anweisungen gegeben. So wollte auch ich es machen. Ich war streng zu meinen Schwestern, um sie auf dem Pfad des Buddha zu führen. Meine Schwestern bedurften unterschiedlich meiner Anleitung. Die meisten sahen ihre Bestimmung. Andere, wie auch Schwester Lai Chi, benötigten meine Hilfe. Oft fragte sie mich, was die richtigen Taten seien.

Ich sah, wie alle zum Buddha strebten, doch auch ich stand noch am Anfang und kannte nicht die Stationen, die wir zu finden hatten.

So vergingen unsere Tage. Der Ruf des Klosters reichte weit. Viele Besucher kamen zu uns auf den Berg. Die Tage im Dorf lagen lange hinter mir. Manchmal dachte ich an meine Eltern und Geschwister. Wie wäre es, wenn ich heute in meinem Dorf wohnen würde? Wäre ich glücklich geworden mit meinem Mann? Hätte ich Kinder gehabt? Auf Kinder hatte ich mich immer gefreut. Es lag auch Wehmut über meinen Erinnerungen.

Ich wurde eine alte Frau. Mein Haar wurde weiß, wie das meiner Schwestern. Ich spürte, wir waren eins. Ich wusste, die Trennung war nicht wirklich und doch sehnte ich mich manchmal danach: Nach jener Verlockung, ein eigenständiger Mensch zu sein, der seiner Bestimmung folgt. Dieses Leben ist uns geschenkt worden, um einmalige Erfahrungen zu machen, um zu gestalten und Ausdruck zu finden. Ich konnte in den Besuchern erkennen, wie beides vor ihnen lag. Die Aufhebung der Trennung und die Festigung der Eigenständigkeit.

Es kam der Tag, an dem ich Abschied nahm von dieser irdischen Existenz. Es war ein leichter Abschied. Die Angst, die ich bei Meister Zi Teng wahrgenommen hatte, ich spürte sie nicht. Vielleicht, weil ich so sehr auf mein Erdendasein schaute. Trauer und Schmerz waren immer noch in mir. Ich war müde, mit ihnen zu leben. Selbst der Schreck über das mit Donnern herabstürzende Geröll war weiterhin in mir. Ich wollte nicht mehr damit sein.

Ich sehe meine Schwestern, die ich so sehr in mein Herz geschlossen habe, bei meinem Körper wachen. Ich sehe, wie sie sich vor mir verneigen. Mit mir verlässt sie ihre Führung. Für die einen mehr, für die anderen weniger. Ich erkenne Lai Chi und wie Tränen über ihre Wangen rollen.

»Lai Chi, höre mich!«, spreche ich in meinen Gedanken zu ihr. »Ich war streng zu dir. Zu streng! Lai Chi, ich wollte, dass wir die Freiheit finden. Ich kenne deine Angst vor dem Donnern des Gerölls. Wir haben es beide erlebt. Lai Chi, du hast immer meinen Rat gesucht. Nun gehe deinen Weg. Ich habe versucht, dir Rat zu geben. Doch jeder Mensch, auch du, Lai Chi, muss seine Bestimmung selbst finden. Suche sie in dir, nur dort kannst du sie finden.

Lai Chi, du darfst falsch handeln. Den Garten haben wir gestaltet, damit wir auch dann in Harmonie leben, wenn wir Fehler machen. Der Garten kann dir immer wieder zeigen, wohin du gehen sollst. Lai Chi, suche nicht den Meister, sondern suche dich. Auch ich wollte mein Leben lang wie Meister Zi Teng handeln. Doch kannte ich ihn? Meister Zi Teng ist meine Vorstellung. Ich wollte dir wie Meister Zi Teng sein. Doch ich bin nicht der Meister. Darum, Lai Chi, verzeihe mir, dass ich so streng war. Du und andere Menschen haben mir Macht gegeben. Macht zu haben verändert das Leben. Du bist nicht in Harmonie mit den Menschen, wenn du Macht über sie hast. Deine falschen Taten werden als richtige aufgenommen. Du musst weise sein, um deinen Einfluss für die Harmonie zu nutzen. Meister Zi Teng hat uns gelehrt, dass wir unsere Freiheit finden müssen, damit unsere Taten den Menschen dienen. Dieses Wissen lastete schwer auf mir. Mein Anspruch war groß. Doch darüber verliert das eigene Handeln an Wertschätzung. Denn alles, was ich gemacht habe, schien mir zu klein vor der Größe meines Anspruchs. Schaue ich zurück, kann ich erkennen, ich hatte zu wenig Achtung vor dem, was ich tat. Auch daher kam meine Strenge. Jetzt weiß ich, der Mensch ist nie perfekt. Er bleibt gefangen. Doch sein Mitgefühl ist von hohem Wert.«

Die Zuwendung zu Lai Chi hat mir Ruhe geschenkt. Frieden soll sein, wenn ich dieses irdische Sein verlasse. Der Garten zeigt sich vor meinem geistigen Auge. Von ihm gilt es noch Abschied zu nehmen.

»Mein geliebter Garten, auch zu dir möchte ich sprechen. In dir hat mein Geist seinen Ausdruck gefunden. Oft hatte ich das Gefühl, ich zeige mich in dir den Menschen ganz. Vollkommen verletzlich kam ich mir dabei vor. Doch jetzt sehe ich: Der Garten und der Gärtner sind nicht das Gleiche. Du bist der Garten und du bist aus dir selbst entstanden. Das Wasser und der Stein, der Baum und der Strauch, das Moos und die Blume, sie formen dich. Jeder Teil des Gartens leistet seinen Beitrag.

Ich versuchte zu helfen, dass jedes an seinem Platz ist. So wie die Menschen ihren Platz haben sollen. Dann leisten sie ihren Beitrag zur Harmonie. Die Menschen kommen zu dir. Sie sehen die Teile und sie sehen die Gesamtheit. Sie verweilen und betrachten dich. Immer wieder entdecken sie Neues – jeder auf seine Art. Großartig erhebt sich der weiße Fels.

Mein Garten, du bist aus dir und ich bin deine Dienerin. Ich habe dir geholfen zu sein. Die Menschen ruhen sich in dir aus. Mal sehen sie das Wasser auf sich zukommen, mal strömt es weg von ihnen. Mal wirft der Baum Schatten, mal liegt er im Schatten. Sie finden den Ort, der ihnen etwas zu sagen hat. Sie müssen nicht das Allumfassende des Gartens sehen. Sie können immer wieder zu dir kommen und Neues entdecken. Du erzählst ihnen von dem, das sie betrachten.

Und die Gärtnerin? Sie können mich fragen, aber sie müssen nicht. Wenn sie bei mir Rat suchen, erhalten sie Antwort. Denn die Menschen sollen sich selbst entdecken. Für jeden gibt es einen Platz und seinen Beitrag für das Ganze. Jeder ist einzigartig und wichtig. Er trägt einen Teil der Harmonie in sich. Ich danke euch Menschen und Wesen und lade euch ein, noch länger hier zu verweilen.«

Unendliche Vielfalt der Bestimmung

»Wieso aber, o Herr, kann es Wiedergeburt geben ohne eine Seelenwanderung? Erkläre mir dies.«

»Wenn zum Beispiel, o König, ein Mann eine Lampe an einer anderen Lampe anzündet, würde da wohl das Licht der einen Lampe zur anderen Lampe hinüberwandern?«

»Nicht doch, o Herr.«

»Ebenso auch, o König, wird man wiedergeboren, ohne dass dabei irgend etwas hinüberwandert.«

Die Fragen des Königs Milinda

Weihnachten 2021

»Oma Kristin, gibt es wirklich Engel?« Der achtjährige Lars hat diese Frage wohl schon eine Weile in sich getragen. Jetzt, da er alleine mit mir im Wohnzimmer ist, will er die Gelegenheit nutzen, sie zu stellen. Er nennt mich meist »Oma Kristin«. Er hat ja zwei Omas und ich bin eben »Oma Kristin«. Meine Schwiegertochter hat diesen Namen eingeführt. Ich verstehe mich gut mit ihr. Sie ist eine kluge und liebevolle Frau. Ihre Mutter ist die »Bacharach-Oma«. Sie wohnt in Bacharach. Dies muss ein schöner Ort am Rhein sein. Ich bin aber noch nie dort gewesen. Ich wundere mich, wie selbstverständlich Lars diesen schwierigen Namen »Bacharach« benutzt, wenn er von dieser Oma spricht.

Zu Weihnachten hat Lars ein ferngesteuertes Raumschiff geschenkt bekommen, das nun mit einem leisen Brummen durch das Zimmer schwebt. Er lässt es um den Weihnachtsbaum kreisen – immer knapp an den glitzernden Weihnachtskugeln vorbei. Sein Vater hat ihn schon einige Male ermahnt aufzupassen und gemeint, dass die Weihnachtskugeln einen Zusammenstoß nicht aushalten würden. Doch das Glitzern zieht ihn an. Ich vermute, er stellt sich vor, die Kugeln sind Sterne und das Raumschiff will diese nun erkunden.

Wie eine Fliege summt das Gefährt. Es ist ein Modell des Raumschiffs, das für den kommenden Flug zum Mars eingesetzt werden soll. Auf einem kleinen Monitor an der Steuerung kann Lars erkennen, was die Kamera des Raumschiffs aufnimmt. Eben ist auf dem Bildschirm ein Engel aufgetaucht. Die Figur hängt weit oben an einem Ast und hat eine Trompete in der Hand. Gibt es diese Engel wirklich? Leben sie im Kosmos, und fliegen sie von Stern zu Stern? Solche Überlegungen gehen ihm wohl durch den Kopf.

Ich denke über die Frage von Lars nach. Gibt es Engel? Was sind Engel? Ja, offensichtlich existieren sie für die Menschen. Seit alters her wird von ihnen berichtet. Immer sind sie Teil des menschlichen Seins gewesen. Mir geht durch den Kopf, wie schön es ist, sich im Leben beschützt und geleitet zu fühlen. Den Menschen tun Engel gut.

»Ja, ich glaube schon«, antworte ich. »Zwar habe ich noch keinen Engel gesehen, aber doch gespürt, dass sie um mich sind.«

Lars ist zufrieden und vertieft sich wieder in das Spiel mit dem Raumschiff. Er lässt es oben auf dem Schrank landen. Kurz vor dem Aufsetzen kann er es nicht mehr sehen und ist auf Kamera und Monitor angewiesen, um eine sanfte Landung hinzubekommen. Das Gleiche gilt dann für den Start. Es scheint ihn zu faszinieren, wenn er nach dem ferngesteuerten Start das Raumschiff wieder oberhalb des Schranks sieht. Ich betrachte ihn beim Spielen. Schön, dass die Familie zusammen ist. Mein Mann, die beiden Söhne, die Schwiegertochter und das Enkelkind. Gemeinsam haben wir Weihnachten gefeiert. Natürlich stand Lars im Mittelpunkt.

Wie war das Leben zu meiner Kinderzeit? Lange scheint es mir her und doch nur ein Augenblick. Damals gab es noch keine ferngesteuerten Raumschiffe zum Spielen, aber mein älterer Bruder erhielt jedes Weihnachten neue Gleise, Lokomotiven, Wagen oder anderes Zubehör für seine elektrische Eisenbahn.

Gemeinsam spielten wir auch mit dem Puppenhaus oder dem Kaufmannsladen. Zum Fest wurden die Regale des Kaufmannsladens mit neuen Waren gefüllt. In den folgenden Wochen nahm der Bestand dramatisch ab. Das meiste war süß und essbar. Damals, kurz nach dem Krieg, waren Süßigkeiten etwas ganz Besonderes. Der Krieg ist nun im Jahre 2021 seit über 75 Jahren vorbei. Ich erinnere mich noch an die Ruinen des zerstörten Bahnhofs und an die französischen Soldaten auf ihrem Weg zwischen Kaserne und Innenstadt. In neu errichteten Häusern, nicht weit von uns, lebten die Offiziersfamilien. Beeindruckt hatte mich, dass die Verletzungen und Wunden an den Beinen oder Armen der französischen Kinder dick mit rotem Jod bedeckt waren. So waren ihre Knie fast immer mit tiefroten Flecken versehen. Meine Mutter verwendete kein Jod. Wenn, dann wurde ein kleines Pflaster auf die Wunde geklebt.

Der Krieg war etwas Dunkles, das in der Vergangenheit lag. So erlebten wir das als Kinder. Meine Eltern sprachen nicht darüber. Meine Mutter erzählte aber ab und an von den Juden.

Einmal waren wir im Urlaub in Holland auf der Insel Ameland. Dort verbrachte in der Nachbarschaft auch eine holländische Familie mit ihrer kleinen Tochter Saskia ihre Ferien. Wir spielten öfter mit ihr und die Eltern freundeten sich an. Unsere Mutter erzählte uns – außer mir waren da noch meine ältere Schwester und mein Bruder –, dass die Familie Juden wären. Unsere Mutter war sich da ganz sicher. Sie erwähnte irgendetwas von angewachsenen Ohrläppchen und fehlenden Waden. Die Eltern von Saskia, erzählte meine Mutter, sprachen schlecht über Juden und sie wusste nicht, wie sie sich dazu verhalten sollte.

Wenn ich nachträglich daran denke, wollten die holländischen Bekannten sicher überprüfen, wie meine Eltern zum Nationalsozialismus stünden, bevor sie sich mit ihnen anfreundeten. Sie wollten wissen, wie meine Eltern auf antisemitische Bemerkungen reagierten. Meinem Vater und meiner Mutter war es zutiefst peinlich zuzugeben, dass sie bemerkt hatten, dass es sich bei den Nachbarn um Juden handelte. Auch wenn diese blond und in jeder Hinsicht holländisch aussahen. Sie wollten nicht dabei ertappt werden, dass sie zwischen Juden und Nicht-Juden unterschieden.

Meine Eltern waren ganz sicher keine Antisemiten, aber hilflos dem gegenüber, was in der Vergangenheit auch in ihrem Namen an Furchtbarem geschehen war.

Später in der Schule habe ich mehr über den Krieg und die Judenverfolgung erfahren. Eine tiefe Schuld habe ich in mir empfunden. Das ging so weit, dass ich die These aufstellte, durch meine Existenz anderen Menschen den Platz zum Leben wegzunehmen. Ich dachte hier insbesondere an Kinder in der Dritten Welt, denen all das fehlte, was ich an Nahrung, Kleidung und Unterkunft zum Leben hatte. Dieses Schuldgefühl hat mich immer begleitet. Wahrscheinlich hat das Gefühl von Schuld viele Quellen. Wir sind Teil eines Volkes, Teil einer Familie und eng verbunden mit deren Geschichte. Es mag aber auch ganz persönliche Gründe geben.

Als ich neunzehn Jahre alt war, hatte ich hierzu ein Erlebnis. Ich verbrachte mit Freunden ein verlängertes Wochenende im Elsass in einer Hütte der Naturfreunde. Tagsüber machten wir ausgedehnte Wanderungen zu den Gipfeln der Vogesen. Abends tranken wir Wein, aßen Tomaten, Zwiebeln und Gurken, dazu Baguette mit frischem Brie aus der Käserei nebenan. An einem Tag beschlossen wir aus einer Laune heraus, einen Soldatenfriedhof in der Nähe zu besuchen. Hier waren französische Soldaten bestattet, die 1945 bei den letzten Gefechten des Zweiten Weltkriegs gefallen waren. Meine Freunde fuhren dann noch zum Einkaufen in die benachbarte Kleinstadt. Mich veranlasste ein mir in der Bedeutung unklares, aber dennoch bestimmendes Gefühl, nicht mitzugehen. Ich erklärte, dass ich mich noch ein wenig vom letzten Abend ausruhen müsste. Nun saß ich alleine auf einer Friedhofsbank und blickte auf die Gräber.

Ich spürte, wie die Grabsteine allmählich vor meinen Augen verschwammen. Ich legte mich auf die Bank und mein Blick ging zum Himmel. Die Wolken flogen sanft vorüber. Es war mir, als hörte ich meinen Namen.

»Hallo Kristin, wie geht es dir?«, vernahm ich eine Stimme. Immer tiefer kam ich in eine ganz feierliche Stimmung. Mein Körper ruhte ausgestreckt und völlig entspannt. Mich zu bewegen schien mir nicht möglich. Gut, dass ich alleine war, so konnte ich mich meinen Gefühlen hingeben. Vom Körper getrennt schwebte ich zu den Wolken empor. Engel schienen mich zu begleiten und ich fand meinen Platz auf einer weißen Wolke. Eine Tür lag vor mir. Ich öffnete die einfache weiße Holztür und trat hinüber in ein anderes Leben hier auf dieser Erde.

FLOR I 2006