Laozi‘s DAO DE JING
übersetzt von Richard Wilhelm
kommentiert von Meister Jan Silberstorff
Band 2 - DE
ISBN 978-3-935367-53-0
Copyright 2013 by LOTUS-PRESS
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Inhalt
Zeichenerklärungen zu DAO und DE
Einleitung zu Band II
Band 2 - DE
Vers 38 - Wer das LEBEN hochhält, ...
Vers 39 - Die einst das Eine erlangten: ...
Vers 40 - Rückkehr ist die Bewegung des SINNs ...
Vers 41 - Wenn ein Weiser höchster Art vom SINN hört, ...
Vers 42 - Der SINN erzeugt die Eins ...
Vers 43 - Das Allerweichste auf Erden ...
Vers 44 - Der Name oder die Person: ...
Vers 45 - Große Vollendung muß wie unzulänglich erscheinen, ...
Vers 46 - Wenn der SINN herrscht auf Erden, ...
Vers 47 - Ohne aus der Tür zu gehen, ...
Vers 48 - Wer das Lernen übt, vermehrt täglich. ...
Vers 49 - Der Berufene hat kein eigenes Herz. ...
Vers 50 - Ausgehen ist Leben, eingehen ist Tod. ...
Vers 51 - Der SINN erzeugt. ...
Vers 52 - Die Welt hat einen Anfang. ...
Vers 53 - Wenn ich wirklich weiß, was es heißt, ...
Vers 54 - Was gut gepflanzt ist, wird nicht ausgerissen. ...
Vers 55 - Wer festhält des LEBENS Völligkeit, ...
Vers 56 - Der Wissende redet nicht. ...
Vers 57 - Zur Leitung des Staates braucht man Regierungskunst, ...
Vers 58 - Wessen Regierung still und unaufdringlich ist, ...
Vers 59 - Bei der Leitung der Menschen und beim Dienst des Himmels ...
Vers 60 - Ein großes Land muß man leiten, ...
Vers 61 - Indem ein großes Reich sich stromabwärts hält, ...
Vers 62 - Der SINN ist aller Dinge Heimat, ...
Vers 63 - Wer das Nichthandeln übt, ...
Vers 64 - Was noch ruhig ist, läßt sich leicht ergreifen. ...
Vers 65 - Die vor alters tüchtig waren ...
Vers 66 - Daß Ströme und Meere Könige aller Bäche sind, ...
Vers 67 - Alle Welt sagt, mein SINN sei zwar groß, ...
Vers 68 - Wer gut zu führen weiß, ...
Vers 69 - Bei den Soldaten gibt es ein Wort: ...
Vers 70 - Meine Worte sind sehr leicht zu verstehen, ...
Vers 71 - Die Nichtwissenheit wissen ...
Vers 72 - Wenn die Leute das Schreckliche nicht fürchten, ...
Vers 73 - Wer Mut zeigt in Waghalsigkeiten, ...
Vers 74 - Wenn die Leute den Tod nicht scheuen, ...
Vers 75 - Daß das Volk hungert, ...
Vers 76 - Der Mensch, wenn er ins Leben tritt, ...
Vers 77 - Des Himmels SINN, wie gleicht er dem Bogenspanner! ...
Vers 78 - Auf der ganzen Welt ...
Vers 79 - Versöhnt man großen Groll, ...
Vers 80 - Ein Land mag klein sein ...
Vers 81 - Wahre Worte sind nicht schön, ...
Autorenportrait
Kalligraphien
Danksagung
Weitere Informationen
Auch von Jan Silberstorff
Auch von Lotus-Press
DAO
Dao4
SINN (DAO) / Weg / Methode
„Ein Kopf der mit seinen Augen
auf ein Ziel schaut -
zwei Füße, die ihn dorthin tragen -
der Geist ist bereits da, während das Selbst versucht,
dorthin zu kommen -
der Weg ist das Ziel!“
„Zwei Augen, die auf die Einheit schauen -
wo zu finden?
In mir selbst.
Und zwei Füße, die mich dorthin tragen,
das ist der Weg.“
DE
De2
LEBEN (DE) / Tugend / Wirkkraft
„Zwei Füße, das ist der Weg -
zwei Menschen, das ist die Handlung:
Mit reinem Herzen geradeaus zu schauen -
auf diesem Weg an den Mitmenschen zu handeln -
das ist die reinste Tugend.“
Der vorliegende zweite Band ‚DE‘ meines Daodejing-Kommentars kann eigenständig gelesen werden, ist aber in erster Linie die Fortführung meines ersten Bandes ,DAO‘. Im Wesentlichen folgt Band II daher denselben Leseanweisungen aus der Einleitung zu Band 1.
Wie bereits in Band 1 werden die von Richard Wilhelm gebrauchten Übersetzungen von DAO und DE mit SINN und LEBEN aufgrund ihrer umfassenden Bedeutung, wie von ihm vorgegeben, vollständig in Großbuchstaben wiedergegeben. Daher lasse ich auch die beiden chinesischen Termini auf diese Art. Sie wechseln jedoch zur Normalschrift, wenn das ‚unaussprechliche DAO‘ zum gehbaren Lebensweg (‚Dao‘) und die ‚ursprüngliche Wirkkraft DE‘ zur rechten Verhaltenstugend (‚De‘) des Menschen wird.
Viele Begriffe wie z.B. DAO/Dao, DE/De, Taiyi, Wuji, Taiji etc. haben zueinander sowohl unterschiedliche Bedeutungen als auch gemeinsame Schnittmengen. Begriffliche Vorstellung eines ‚entweder oder‘ angesichts der Definitionen wären hier eingedeutscht und irreführend. Das gleiche gilt für die Wahrnehmung des Absoluten als Neutrum oder Wesenhaftes. Denn ein Allumfassendes ist immer grenzenlos – daher eben nicht eingrenzbar. Auch nicht in eine Entscheidung, ob es sich hier etwa um die eine oder andere der oben genannten Optionen handeln könnte. Denn allein schon die Feststellung, dass es unaussprechlich ist (vgl. Vers 1), zwingt uns zur Aufgabe solcher Formulierungen. Gerade Laozis chinesischer Originaltext zeigt uns, wie oft er selbst zwischen diesen Dimensionen in seinen Beschreibungsversuchen hin und her pendelt. So auch der Kommentar.
Bei der näheren Untersuchung von Wilhelms Übersetzung habe ich entdeckt, dass Wilhelm mit mehreren unterschiedlichen chinesischen Originalen gearbeitet haben muss und habe diese so gut ich konnte wieder aufgespürt. Anhand dieser unterschiedlichen Quellen habe ich dann die Wang Bi Version des vorliegenden Originals so verändert, dass sie vollständig originär und richtig, dennoch aber in seiner nun besseren Übereinstimmung mit Wilhelms Übersetzung einzigartig ist. Ich liefere somit einen chinesischen Text, der erstmals mit Wilhelms Übersetzung so weit möglich korrespondiert und dennoch nichts an seiner Originalität verliert. Für Interessierte veröffentliche ich zu beiden Kommentarwerken ein kleines drittes Bändchen, in dem entsprechende Nachweise und Bibliografien geliefert werden, die hier absichtlich nur in ihrem Minimum in Einleitung, Text und Danksagung beifügefügt worden sind, um das Werk in seiner Komplexität nicht überstrapazieren zu müssen. Dazu muss erwähnt werden, dass der vorliegende Kommentar eben nicht aus dem Zusammentragen von bereits existierenden Veröffentlichungen, sondern fast ausschließlich meiner eigenen Praxis-Erfahrung sowie dem mir persönlich überlieferten Wissen meiner Lehrer entspringt.
Die Pinyin halte ich bei Satzbeginn im ersten Buchstaben groß, nach einem Doppelpunkt jedoch klein.
In Wilhelms jeweils vorangestellten Versen finden sich keine Veränderungen entsprechend der inzwischen neuen deutschen Rechtschreibung. Diese findet sich dann aber im Kommentartext berücksichtigt.
Der unterschiedliche Gebrauch der Anführungsstriche folgt ebenfalls den Anweisungen aus Band 1.
Hamburg, den 08.05.2013
Jan Silberstorff
Wer das LEBEN hochhält, weiß nichts vom LEBEN; darum hat er LEBEN.
Wer das LEBEN nicht hochhält, sucht das LEBEN nicht zu verlieren; Darum hat er kein LEBEN.
Wer das LEBEN hochhält, handelt nicht und hat keine Absichten.
Wer das LEBEN nicht hochhält, handelt und hat Absichten.
Wer die Liebe hochhält, handelt, aber hat keine Absichten. Wer die Gerechtigkeit hochhält, handelt und hat Absichten.
Wer die Sitte hochhält, handelt, und wenn ihm jemand nicht erwidert, so fuchtelt er mit den Armen und holt ihn heran. Darum: Ist der SINN verloren, dann das LEBEN.
Ist das LEBEN verloren, dann die Liebe. Ist die Liebe verloren, dann die Gerechtigkeit. Ist die Gerechtigkeit verloren, dann die Sitte.
Die Sitte ist Treu und Glaubens Dürftigkeit und der Verwirrung Anfang.
Vorherwissen ist des SINNes Schein und der Torheit Beginn.
Darum bleibt der rechte Mann beim Völligen und nicht beim Dürftigen.
Er wohnt im Sein und nicht im Schein. Er tut das andere ab und hält sich an dieses.
Wer DE hochhält,
weiß nichts vom DE;
darum hat er DE.
Wer von der Tugend (DE) spricht, wer sie proklamiert, sie „hochhält“, handelt nicht aus seiner Natürlichkeit, sondern künstlich. Wer aber nicht um die Tugend weiß, sondern aus reinem Herzen in Unschuld gut ist, der hat wahre Tugend. Denn wahre Selbstlosigkeit weiß nichts von sich selbst. „Hochhalten“ tut also die Tugend in Wirklichkeit derjenige, der „nichts von ihr weiß“, der nicht wegen eines „Du sollst“ oder wegen einer Norm so ist, sondern weil er gar nicht anders kann, da er ansonsten gegen sein Herz und damit gegen seine Natur handeln würde.
Auch kann „Tugend hochhalten“ (shang4 de2) als Eigenbegriff, ‚höchste Tugend‘, bedeuten. Der daoistische Großmeister und Abt des Louguantai-Tempels [Der Louguantai ist der legendäre Grenzpass, an dem Laozi sein Daodejing hinterlassen haben soll. Er befindet sich im Zhongnan Gebirge in der Nähe von Xian] und als höchster Daoist lebendiger Staatsschatz der VR China, Daozhang Ren Farong, zieht daher und aufgrund obiger Bedeutung den Begriff ‘Shangde’ mit ins Wuji hinein, in das reine Nichts. Somit erhält ‚Shangde‘ die Qualität ursprünglichster Reinheit und kann nur in Absichts- und Selbstlosigkeit, also im ‚Nicht-Handeln‘ (Wuwei) gelebt und erfahren werden.
Gleich im ersten Vers des Abschnittes DE des Daodejing erklärt uns Laozi also bereits genauestens seine Deutung des Begriffes DE (genau wie bereits im ersten Vers des Abschnittes DAO über das DAO), der im Deutschen mit den Begriffen Tugend, Leben oder Wirkkraft beschrieben werden kann. Vom Schriftzeichen her sehen wir ursprünglich auf der linken Seite zwei Füße oder auch zwei Menschen, die einen Weg beschreiten, bzw. es wird der Teil eines Weges dargestellt. Daneben ein Kreuz mit geraden Strichen, darunter ein Auge und ein Herz. Es bedeutet somit: „der Weg, aus reinem Herzen geradeaus zu schauen“. Dass wir in dem Radikal links auch zwei Menschen erkennen, gibt uns eine sehr schöne Metapher, dass es sich hier nicht bloß um allein und still gelebte Weisheit, sondern um ein aktives Miteinander handelt. Vergleichen wir dies mit unseren ersten zwei Zeilen oben, wird sofort klar, dass Laozis Tugend nicht mit dem Begriff von Moral gleichgesetzt werden möchte. Im Gegenteil. Siedelt er Moral als ganz unten auf der ethischen Treppe an (siehe weiter unten), so steht (Shang-)DE doch gleich unter dem DAO. Es ist die Wirkkraft, durch die das DAO erschafft; das DAO wirkt durch DE – so auch der Mensch, der vom DAO beseelt ist, nur durch DE, also tugendhaft, handeln kann. Es ist sein natürliches Bestreben, keine aufgesetzte Moral. Denn sein Handeln kommt aus der Wahrnehmung der Quelle, des letztendlich und vor allem Guten, aus dem alles geworden ist – dem DAO. Aber tugendhaft ist nur ein Begriff für das äußere Verhalten eines solchen Menschen. Denn das DAO wirkt durch ihn, und somit ist er direkt der kosmischen Wirkkraft (DE) des Ganzen angeschlossen, ist Teil dieser Kraft und wirkt in dieser Kraft. Das macht ihn zum Berufenen, zum Heiligen.
Dieser Vers ist sinnvoll auch so zu übersetzen:
„shang4 de2 bu4 de2 shi4 yi3 you3 de2“ – ‚Höchstes DE ist nicht De, daher hat es DE.‘ (‚Höchste Tugend ist keine Tugend, daher hat sie Tugend.‘)
Denn das höchste DE weiß nichts von sich selbst und seinem ‚De‘ [Zu den unterschiedlichen Schreibweisen von DAO/Dao und DE/De siehe die Einleitung], und ist daher das höchste DE. Oder: Wer Tugend hochhält, hat keine Tugend. Aber wer keine Tugend hat (sondern auf natürliche Weise gut ist), der hat Tugend. Bzw. die höchste Wirkkraft ist sich seiner Tugend nicht bewusst, aber ausschließlich (und gerade dadurch) vollständige Tugend.
Der Grund also (shi4 yi3), warum etwas durch DE geführt wird, bzw. De hat oder nicht, liegt in der Selbstverständlichkeit bzw. Natürlichkeit seiner Ausübung.[Vgl. hierzu den Begriff ,zi4 ran2 - von selbst, Natürlichkeit‘, der in den Versen 17, 23, 51, 64 und am bekanntesten in Vers 25 vorkommt und den späteren Daoismus sehr geprägt hat.]
Wer DE nicht hochhält,
sucht das DE nicht zu verlieren;
darum hat er kein DE.
Wer bemüht ist, unbedingt tugendhaft sein zu wollen, der wird künstlich und entfernt sich somit vom DAO. Es ist einfach: Je mehr ich die Erfahrung des DAO mache, um so mehr beginnt DE in mir zu wirken. Mache ich diese
Erfahrung aber nicht und will ich mir De, als Wirkung von DE, durch bloße Verstandeskraft aneignen, bleibt es immer aufgesetzt. Es kann daher in schwierigen Situationen so nicht aufrecht erhalten werden, da es nicht meiner Natur entspricht, nicht mein Eigen ist, sondern nur etwas, was ich quasi mit mir herumführe und sinnbildlich vor Schreck fallen lassen kann. Die Wirkkraft DE wirkt zwar durch alle Menschen. Aber in seiner Reinheit und Führungskraft entfaltet es sich erst durch unsere Einung mit dem DAO, das ja gleichsam das DE ist. Ansonsten ist es nur wie das Spiegelbild des Mondes im Wasser, aber nicht der Mond selber.
Wörtlich:
„xia4 de2 bu4 shi1 de2 shi4 yi3 wu2 de2“ - ‚Niederes De (will) DE/De nicht verlieren, daher ist es ohne DE/De‘.
Kurz: Wer ständig tugendhaft sein will, hat keine (innewohnende) Tugend. Sie kommt nicht aus dem Herzen. Die Tugend, die aus dem Herzen kommt, ist keine Tugend, da sie ein natürlicher Zustand ist. Und gerade daher ist letztere die wahre Tugend!
Anmerkung: Wie kann ich, wenn sie mir nicht von Geburt an gegeben ist, zu solch einer natürlichen Tugendhaftigkeit kommen, wenn ich sie doch nicht absichtlich ansteuern kann? Wie komme ich zur Reinigung meines Herzen (vgl. u.a. die Verse 3, 49, 67), sodass alles andere von selbst kommt (vgl. die Verse 23, 32, 51, 57 und 73)? Durch vertiefte und korrekte Praxis des Wuwei, des Nicht-Handelns, sodass Körper und Geist zur Ruhe kommen und ihr eigentlicher Grundzustand (vgl. Vers 6) wieder hervortreten kann. Der Sinn (Dao) für Tugend (De) entsteht durch die Absichtslosigkeit. Ein reines Herz, ein reiner Verstand und ein geläuterter Körper sind die besten Voraussetzungen für wirkliche und echte Tugend, sprich die Erfahrung von DAO und DE. Andersherum: Wo weder Herz noch Verstand gereinigt sind und wo der Körper immer noch mehr will, als er braucht - wie könnte da Tugend etwas anderes sein, als Mittel zum (Selbst-)Zweck?
Aber natürlich soll dies nicht heißen, dass, solange DE nicht erfahren wird, es nicht sinnvoll und lobenswert ist, sich beabsichtigt tugendhaft zu verhalten. Im Gegenteil. Durch stets tugendhaftes Bemühen wird sich wahre Tugend mit der Zeit einstellen - wenn dieses Verhalten aus dem ehrlichen Wunsch nach Mitgefühl und selbstloser Liebe entspringt und nicht dem Erhaschen von Anerkennung. Daher zieht Daozhang Ren Farong eben auch diese ‚niedere Tugend‘ (xia4 de2) als Eigenbegriff (Xiade) in den Bereich des Taiji im Sinn des gewordenen Seins (You/Wanwu) als bewusstes menschliches Handeln hinein, wenn auch hier nur in seinen Beschränkungen (vgl. Vers 1).
So wie also aus Wuji Taiji entsteht, sollte sich die ‚höchste Tugend‘, die reine Wirkkraft (DE), als ‚niedere Tugend‘ (De) im menschlichen Handeln widerspiegeln. Anfänglich vielleicht aus bewusstem Handeln und Streben nach dem über allem stehenden ‚Guten‘ (also über der Dualität von Gut und Schlecht), letztlich aber aus der Selbstvergessenheit reiner Urkraft.
Wenn wir uns auf den von Wilhelm so schön benutzten Begriff „LEBEN“ beziehen (siehe seine Übersetzung zu diesem Vers am Anfang dieses Kapitels), kann man verkürzt anmerken, dass, wer um sein Leben nicht zu große Sorge trägt, wer im Hier und Jetzt lebt, „LEBEN“ hat, sprich ‚lebt‘! Wir wollen auch hier noch die mystische Seite bedenken: „LEBEN“, ewiges, wahrhaftiges Leben, hat der, der absichtslos in Zeit und Raum selbstvergessen einfach im Hier und Jetzt lebt. Er währt beständig außerhalb des Dualismus, wirkt aber zeitlich in ihm. Wie kann Tod geschehen, wenn die Person aus der eigenen Wurzel, dem Nichts heraus, in Zeit und Raum agiert? Wo Absichtslosigkeit herrscht, da ist kein Wollen. Wo kein Wollen ist, ist im Innersten kein Ereignis. Wo kein Ereignis ist, ist weder Zeit noch Raum. Wo weder Zeit noch Raum ist, kann nicht gestorben werden. Die agierende Person stirbt. Nicht aber ihre ursprüngliche Natur, das absichtslose Sein selbst, das tief im Nicht-Sein wurzelt. Ganz so, wie DE durch DAO aus der Ewigkeit ins Zeitliche hinein‘scheint‘ und alles bewirkt, bzw. es überhaupt erst entstehen lässt. So schließt sich der Kreis der Bedeutungen von DE/De als Wirkkraft, LEBEN und Tugend. Daher:
Wer DE hochhält,
handelt nicht und hat keine Absichten.
Der wahrhaft Tugendliche wirkt aus dem „Nicht-Handeln“ (wu2 wei2, Wuwei) heraus. Er ist nicht voreingenommen, und sein Handeln entsteht spontan und natürlich aus der Situation heraus und nicht aus seinem Eigenwillen. Gerade die Absichtslosigkeit ist es, die es ihm möglich macht, neutral und unvoreingenommen gut zu sein.
Aber gerade die Erfahrung des DAO ermöglicht es ihm überhaupt erst, Ruhe zu finden. Die Rastlosigkeit und das Erreichen-Wollen kann aufgegeben werden. Die entstehende Absichtslosigkeit führt zudem dazu, dass die Handlung zur Ruhe kommt. Unbeteiligtes Betrachten, innerer Friede und Seligkeit stellen sich ein. Handlung wird richtig und zielsicher, findet aber nur statt, wenn sie notwendig ist. So wechselt das Umherhasten in der Welt zu einem zur Ruhe Kommen in der Welt. Letzteres führt zur Durchdringung des Tores in die ‚Nicht-Welt‘, das Nicht-Sein (vom Wanwu und You zum Wu, vgl. Vers 1 und 6).
In einigen Versionen ist das Zeichen „yi3“, wörtlich ,damit‘ oder ,Grund‘, durch „bu4“, wörtlich ‚nicht‘, ersetzt. Aus ‚Höchstes DE handelt nicht und hat keinen Grund zum Handeln‘ („hat keine Absichten“) wird somit wörtlich: ‚Höchstes DE handelt nicht und nichts bleibt ohne Handlung (und nichts bleibt ungetan)‘. Hier finden wir einen klassischen Ausdruck des Daodejing wieder, dessen gesamte Verhaltensgrundlage in diesem einen Satz entdeckt werden kann. Bei genauerem Hinsehen jedoch finden wir die gleiche Bedeutung: Das ‚höchste DE‘ ist das DAO selbst als schöpfende Kraft. Nun ist diese Kraft insofern absichtslos, da sie nichts will als sich selbst zu ‚manifestieren‘, sprich sich aus dem Nichts im Sein darzustellen. Aber nicht auf irgendeine Weise, sondern ganz so, wie es ist. Daher hat es keine „Absichten“. Es möchte sich nicht auf eine bestimmte Art, sondern eben nur wie es eben ist im Seienden rückspiegeln. Daher spricht man vom „Nicht-Handeln“. Denn durch die Absichtslosigkeit wird die Handlung zur Nicht-Handlung, sprich zu einem natürlichen Prozess. Ebenso ist die zweite Variante zu verstehen: Auf diese Weise bleibt nichts ungeschehen. Es handelt nicht, indem es auf natürliche Weise einfach aus sich selbst herausfließt. Daher ist es ohne Aufwand, mühelos (vgl. u.a. Vers 6) und doch handelnd - und zwar nicht-handelnd, da natürlich und ohne Absicht (vgl. zum Nicht-Handeln u.v.m. Vers 2, 5, 6).
Wer DE nicht hochhält,
handelt und hat Absichten.
Wer ohne oder von künstlicher Tugend ist, hat sich etwas vorgenommen. Er möchte so und so sein, hat also Absichten und möchte sie auch umsetzen, handelt also nicht unvoreingenommen, sondern verfolgt einen Plan. Um an sein Ziel zu kommen, muss er die äußere Situation nach seinen Wünschen gestalten und ist daher nicht in der Lage, gütig zu sein. Es sei denn, es passt in seine Absicht. So kann er nicht zur Ruhe kommen, findet keinen inneren Frieden, kann nicht unbeteiligt betrachten und findet keine Seligkeit.
In dieser Strophe gibt es auch eine Schreibart, die hier ebenfalls das Wuwei, das Nicht-Handeln, mit angibt.
Statt „xia4 de2 wei2 zhi1 er2 you3 yi3 wei2“, nach dem Wilhelm übersetzt hat, existiert auch die Variante: ‚xia4 de2 wu2 wei2 er2 you3 yi3 wei2‘. Hiernach würde der Satz lauten: ‚Wer DE nicht hochhält, handelt nicht und hat damit Absichten.‘, bzw. wörtlich: ‚Niederes DE handelt nicht und/aber hat damit Absichten.‘
Der Edle ist auf natürliche Weise tugendhaft. Er weiß sozusagen gar nicht um die Tugend. Hier jedoch handelt die Person zwar äußerlich genauso wie der Edle, doch hat sie dabei eine Absicht. Sie will etwas (Tugendhaftes) erreichen. Oder sie möchte zumindest als tugendhaft gelten und benimmt sich deshalb tugendhaft, um vor anderen zu strahlen. Daher ist die Handlung des Ersten selbstlos und gilt dem anderen, während die Handlung des Zweiten Gefahr läuft, eigennützig zu sein, da ein Interesse vorhanden ist, wenn es auch ein lobenswertes sein kann, wenn man es ehrlich und aufrichtig anstrebt.
Auch hier soll angemerkt werden, dass ‚xia4 de2‘ als Eigenbegriff (Xiade) nach Daozhang Ren Farong die gelebte Tugend innerhalb der Dualität ist. Also das menschliche Handeln hier auf der Erde, das um Tugendhaftigkeit bemüht ist. Es ist im Unterschied zum ‚Shangde‘ nicht mehr direkt die reine Urkraft und daher natürliche Tugend, die aus dem Nicht-Sein zu uns herüber reicht, sondern die in der Welt aus unserem Verstand gefilterte, bereits korrumpierte Tugend als Abglanz des wahren ursprünglichen DE. Wir haben demnach drei Abstufungen der gelebten Tugendhaftigkeit:
den vom DAO durchdrungenen Edlen, der sich seiner eigenen Handlung nicht bewusst ist, aber gerade durch sein geläutertes Herz nicht anders kann als wahrhaft selbstlos zu sein und daher in jeder Handlung nur dienen und gut sein kann;
den Idealist, der um das Gute weiß und bewusst dafür kämpft, aber noch nicht vom Höchsten vollständig durchdrungen ist und daher noch selbstständig und aktiv aus eigenem Willen heraus handelt (Absichten hat); und schließlich 3. den Täuscher, der gar nicht wirklich Gutes im Sinn hat, sondern nur vor anderen in, wenn auch falschem, Licht strahlen möchte.
Der Edle hat bei aller wahrhaftiger Tugend seinen Frieden gefunden. Der Idelaist erringt Verdienste, aber ist noch am Kämpfen. Und der Täuscher ist in sich zerrissen und findet keinen wirklichen Halt.
Wer die Liebe hochhält, handelt, aber hat keine Absichten.
Liebe ist für den anderen da. Aber sie will sich auch mitteilen. Sie will nichts für sich, hat daher auch keine Absichten, handelt aber, um sich zu zeigen. Ihre Selbstlosigkeit macht sie gut, und daher ist ihr Handeln tugendhaft. Laozi benutzt hier (wenn auch unterbrochen durch bindende Zeichen) den Begriff wei2 wu2 wei2, Weiwuwei, also ‚Handeln ohne zu handeln‘ und bezeichnet hiermit absichtsloses Handeln, das sich von dem spontanen Handeln, das in dem ansonsten passiven Nicht-Handeln Wuwei mit enthalten ist, dadurch abgrenzt, dass das Handeln schon nicht mehr nur natürlich notwendige Handlungen umfasst, die sofort danach wieder aufhören. Sondern es ist ein aktives, gewolltes Handeln, das aber gezielt auf die Verbesserung der Lage des anderen bzw. des Ganzen abzielt und daher zwar aktiv, aber dennoch selbstlos ist. Daher ist der Begriff „Liebe“ von Wilhelm für den eigentlich wörtlichen Begriff „ren2“, ‚Wohlwollen, Güte, Humanität‘ passend gewählt. Das Schriftzeichen besteht aus einem Menschen (ren2) links und der Zahl zwei (er4) rechts, wobei das linke Radikal den Laut angibt. In unserem Sinn können wir es als einen Menschen auffassen, der etwas für die Gemeinschaft (‚zwei‘) tut. Damit können wir den Begriff in ein Handeln einordnen, das karitativen Charakters ist. Es ist ein Nicht-Handeln in Selbstlosigkeit, aber zugleich ein bewusstes Handeln im Wohlwollen dem anderen bzw. der Gemeinde gegenüber. Nichthandelndes Handeln bezeichnet also ein aktives Nicht-Handeln, das auf die Harmonie des Ganzen abzielt. So wie das Nichthandeln sie nicht zu zerstören sucht, versucht das nichthandelnde Handeln sich diesem Zustand wieder anzunähern. Ist diese Annäherung geschehen, wird es wieder ein reines Nichthandeln oder ein tatsächliches Nichteingreifen. Insgesamt ist also immer die aktuelle Situation ausschlaggebend und nicht die eigene Vorstellung.
Wer die Gerechtigkeit hochhält, handelt und hat Absichten.
Das Handeln aufgrund von Gerechtigkeit jedoch ist bereits von minderer Qualität. Denn dieses Handeln hat bereits eine Absicht, es möchte zwar dem anderen gut sein, gleichzeitig aber dasselbe auch für sich haben. Hierdurch unterwirft sich die eigentlich gute Absicht dem Eigenwillen insoweit, als andere Personen zwar nicht übervorteilt werden sollen, man selbst aber auch nicht vernachlässigt werden möchte. Man hat eine Vorstellung von dem, was man will, man hat einen Eigenwillen. Der Tugend muss also ein Zugeständnis gemacht werden. Von unten betrachtet, und dieser Standpunkt ist bei uns üblich, könnte man sagen: Das, was ich möchte, billige ich auch dem anderen zu. Dadurch ist jedoch klar, dass die Selbstlosigkeit bereits verloren wurde. Aus dem ‚Nichts für mich und alles dem anderen‘, wie man es vielleicht bei einer Mutter ihrem Kind gegenüber erfahren kann (so auch das DAO bzw. die Mutter (Taiji) ihren ‚Kindern‘ Himmel (Yang) und Erde (Yin) gegenüber (vgl. Vers 1, 20, 25, 52 und 59)), wird ein brüderliches Teilen. Dies ist gut, aber im wahrsten Sinne des Wortes nur noch zur Hälfte selbstlos. [Natürlich soll hier nicht vergessen werden, dass es bei Laozi immer darum geht, die Tugend und Liebe dem anderen gegenüber auf eine gesunde Basis der eigenen Selbstkultivierung zu stellen]
Es soll hier daran erinnert werden, dass die beiden Begriffe „handeln“ und „Absicht“ im Original mit demselben Zeichen „wei2“ dargestellt werden.
Wer die Sitte hochhält, handelt,
und wenn ihm jemand nicht erwidert,
so fuchtelt er mit den Armen und holt ihn heran.
Ist auch der Sinn nach Gerechtigkeit verloren, gilt nur noch das ,eigene Recht haben‘ Wollen. Sitte ist hier ein Zustand, den man von den anderen erwartet und selbst einhält, um anerkannt zu werden bzw. die letzte Möglichkeit, eine öffentliche Ordnung ohne Gewalt aufrecht zu erhalten. Es geht längst nicht mehr um DE, Herzensgüte und Liebe oder Gerechtigkeit. Es geht um eine Norm, an die man sich hält und die man bei anderen beobachtet und verurteilt, wenn sie nicht erfüllt wird. Es ist keine Verbindung zum inneren Herzen mehr vorhanden, und der Mensch befindet sich im niedrigen Stand des miteinander Wetteiferns in dem Wollen, sich selbst zu erhöhen bzw. sich an einem Ritus festhalten zu wollen, da man kein Gefühl mehr für die eigentlich nährende Quelle hat. Es ist ein absolut künstlicher Zustand. Der Begriff des Spießertums kann es vielleicht ein bisschen umreißen. Nicht die innere ‚Erhöhung‘ durch Einsicht, mystische Schau und Weisheit und die daraus resultierende Tugend der natürlichen Demut, Güte und Selbstvergessenheit kann dem Menschen mehr das Ideal sein, sondern der bloße materielle Trieb, der versucht, durch Etikette etwas Besonderes sein zu wollen und sich in der Eitelkeit des Miteinanders nur insofern sonnt, als er der Gruppe angehört, die „im Recht“ ist. Auch schützt einen die Sitte vor den eigenen Unfähigkeiten und Ängsten. Denn was man sich selbst nicht zutraut oder was man selbst nicht schafft, wird einem zum Spiegel, wenn man es bei anderen sieht. So kann einem die Sitte das rechte Mittel sein, den anderen zu stoppen, um selbst die eigene Unzulänglichkeit nicht erkennen zu müssen. Viele große Propheten wurden dadurch zu Fall gebracht. Die Wahrnehmung von Geist ist abhanden gekommen.
In ihrem Bereich und bei aufrichtigen Menschen mag die Sitte an sich gut sein, aber nur insofern, als sie versucht, im Moment absoluten Verfalls noch Grenzen zu wahren.
Das Zeichen für Sitte (li3), heißt wörtlich ‚Ritual‘, was den Begriff in diesem Kontext nicht nur für das Daodejing, sondern generell wohl sehr gut in seiner Künstlichkeit interpretiert. [Wenn auch nicht vergessen werden sollte, dass gerade auch Rituale einen wertvollen Beitrag zur inneren Umgestaltung leisten können, wenn sie als Vehikel dienen, um eine bestimmte Transformation zu erreichen und nicht als Selbstzweck, zu dem sie oft veröden] Mehr wörtlich bedeutet dieser von Wilhelm recht volkstümlich übersetzte Teil:
„shang4 li3 wei2 zhi1 er2 mo4 zhi1 ying1 ze2 rang3 bi4 er2 reng1 zhi1.“ - ‚Höchste Sitte handelt und wenn niemand ihr damit beipflichtet, krempelt sie empört die Ärmel hoch und verwirft (diese(n)) mit erhobenen Armen bzw. zwingt (diese(n)) zur Vorschrift.‘
Darum: Ist das DAO verloren, dann das DE.
Ist das DE verloren, dann die Liebe.
Ist die Liebe verloren, dann die Gerechtigkeit.
Ist die Gerechtigkeit verloren, dann die Sitte.
Die Sitte ist Treu und Glaubens Dürftigkeit
und der Verwirrung Anfang.
Das DAO wirkt durch DE. Diese Wirkkraft tritt in Erscheinung als erschaffende und erhaltende, vorbehaltslose Liebe, die die reine und erhaltende Verbindung zwischen Schaffendem und Geschaffenem ist. Durch weitere Entfernung von dieser Reinheit bleibt als fahler Abglanz die Gerechtigkeit und schließlich die Sitte und Moral. Laozi beschreibt uns hier zum einen die einzelnen Schritte vom ursprünglichen DAO zu immer weiterem Abfall von ihm und den dadurch entstehenden Zerfall bis zu Disharmonie und Zerstörung. Es ist die Treppe nach unten, angefangen von perfekter Harmonie und Ursprünglichkeit bis zur absoluten Entzweiung und Dissonanz. Diese beiden Extreme sind jedoch keine Unterscheidung in Gut und Böse, sondern lediglich die Folge des Abfallens, der Entfernung vom Eigentlichen. Je weiter ich entfernt von etwas bin, umso ungenauer und weniger kann ich es wahrnehmen. Daher kann ich auch immer ungenauer und weniger danach handeln. Böses Handeln entspringt demnach der Unwissenheit und dem abhanden gekommenen Gefühl für das Richtige - durch zu große Entfernung von der eigenen Quelle, dem eigenen Ursprung. Man kann ebenso übersetzen: ‚Geht das DAO verloren, so auch das DE. Geht das DE verloren, so auch die Liebe. Geht die Liebe verloren, so auch die Gerechtigkeit. Geht die Gerechtigkeit verloren, so auch die Sitte.‘ Sodass der Verlust des einen in Folge auch den Verlust des nächsten initiiert. Wilhelms Übersetzung passt zu beiden Deutungsspektren. Es ist auffallend, dass Werte, die uns erstrebenswert erscheinen, z.B. die Gerechtigkeit, hier bereits als Verfall angesehen werden. Uns wird dadurch klar, dass wir uns eben noch nicht in einem gesellschaftlich hohen sozialen Milieu befinden, sondern noch immer dabei sind, uns aus den niederen Stufen des Miteinanders emporzuarbeiten.
Laozi gibt uns somit gleichermaßen in umgekehrter Reihenfolge die Formel zur Erfüllung des menschlichen Potentials und seiner Bestimmung: Der Mensch soll sich von Sitte und Moral aufschwingen zur Gerechtigkeit. Von hier zur gelebten Liebe und zum wahren LEBEN bzw. zum Wiederanschluss an die ursprüngliche reine Wirkkraft (DE), um so Schritt für Schritt wieder im DAO aufzugehen. Andersherum: Tritt die Einheit in Erscheinung, entstehen Yin und Yang. Entfernen sich diese beiden Pole jedoch immer weiter voneinander, statt sich gegenseitig zu harmonisieren und im Gleichgewicht zu halten oder gewinnt eine Kraft zu sehr die Oberhand, entsteht Disharmonie, Entzweiung und schließlich Krankheit und Tod. Des Menschen Aufgabe, da er sich bereits weit von diesem Prinzip entfernt hat, ist es also, sich dem Taiji-Prinzip, d.h. dem Streben nach Einheit und somit der Rückkehr zum DAO vollständig hinzugeben. Dies wäre dann der Weg, nicht nur unsere persönliche Erfüllung, sondern auch unser mitmenschliches Niveau auf eine Ebene zu heben, die uns ‚den Himmel auf Erden‘ entstehen ließe.
Das DAO wirkt und nährt, es gibt sich uns fortwährend, nur sind wir es, die uns davon abwenden. Taijiquan-Großmeister Chen Xiaowang sagt: ,Das DAO ist nicht fern. Die Menschen sind es, die sich von ihm entfernen.‘ Unsere physische und geistige Gesundheit und unser ‚Überleben‘ des Todes hängen also nicht von den Gegebenheiten ab, sondern von unserer Einstellung und unserem (Zu-)Streben (Hinwenden) zu dem, was Laozi als DAO bezeichnet. Meditative Praxis hilft, dies immer tiefer zu erkennen und wahrzunehmen. Dieses wachsende Verständnis zu leben, ist die Umkehr zum DAO.
Vorherwissen ist des DAO Schein
und der Torheit Beginn.
Wenn etwas passiert, passiert es gerade dann, wenn es passiert. Und das DAO wirkt immer gerade jetzt. Nur genau jetzt ist das DAO authentisch erfahrbar. Was das DAO in Zukunft wirken wird, ist nicht authentisch und muss erst noch erfahren werden. Der Blick in die Zukunft ist nicht konkret. Auch dann nicht, wenn man sie präzise voraussagen würde. Denn sie passiert erst in dem Moment, wo sie passiert, und dann ist die Zukunft nicht Zukunft, sondern ebenfalls jetzt und daher Gegenwart. Daher ist Zukunft niemals eine authentische Erfahrung. Wenn ich mit einer Taschenlampe einen Weg ableuchte, dann kann ich zwar den Weg vor mir sehen, bin aber deshalb noch nicht da.
Ich sehe im Schein meiner Lampe den Weg, aber gehe ihn nur dort, wo ich bin. So ist „Vorherwissen“ nur des DAO Schein, aber nicht das DAO selbst.
Das Wort „Schein“, „hua1“, bedeutet wörtlich so viel wie ‚Pracht‘ oder ‚Zierde‘. Wir können es also auch insofern noch einmal gut verstehen, wenn wir uns die daoistische Praxis der Zukunftsschau ansehen. Sie ist eindrucksvoll (‚prächtig‘) und sie ‚ziert‘ ein jedes Kloster (durch das Angebot des Stäbchen-Ziehens der Pilger oder Touristen). Doch in Wahrheit nimmt mir dieses Interesse den Blick für das Hier und Jetzt. Vorabwissen beeinflusst meine Handlung in der Gegenwart. Geht es nicht um nötiges Planen der Grundbedürfnisse, sondern um ein schicksalhaftes Interesse am Morgen, lasse ich durch das Morgen mein Heute bestimmen und entziehe mich damit meiner eigentlichen Bestimmung, die sich aus dem Nicht-Handeln (Wuwei) ergibt.
Der „Torheit Beginn“ ist daher der Beginn des Verlustes von Wuwei, denn nur durch das Wuwei bin ich im Hier und Jetzt.
Darum bleibt der rechte Mann beim
Völligen und nicht beim Dürftigen.
Aus dem obigen Kommentar ergibt sich, dass der Berufene sich an das hält, was tatsächlich ist, also an den Moment selbst, an die Gegenwart, an das Wirkliche (hou4, wörtlich: ‚dick‘, auch: ‚gutherzig‘). Er kümmert sich nicht um das Morgen und denkt nicht an das Gestern. Das Jetzt ist real, alles andere ist Schein und damit „dürftig“ (bo2, wörtlich: ‚dünn, gering, klein, leichtsinnig‘, siehe auch weiter oben bei „Dürftigkeit“). Das „Völlige“ ist daher das, womit ich wirklich berührt bin, das Hier und Jetzt, während das Dürftige die Spekulation, das Morgen wäre. Daher „bleibt der rechte Mann beim Völligen und nicht beim Dürftigen“:
Er wohnt im Sein und nicht im Schein.
(„Sein“, hier „shi2“, wörtlich: ‚fest, solide, wahr, real; „Schein“ wieder „hua1“, wörtlich: ‚Pracht, Zierde‘)
Er tut das andere ab und hält sich an dieses.
Das „andere“ ist das Ferne, „dieses“ ist das, was gerade ist.
Die einst das Eine erlangten:
Der Himmel erlangte das Eine und wurde rein.
Die Erde erlangte das Eine und wurde fest.
Die Götter erlangten das Eine und wurden mächtig.
Das Tal erlangte das Eine und erfüllte sich.
Alle Dinge erlangten das Eine und entstanden.
Könige und Fürsten erlangten das Eine und wurden das Vorbild der Welt.
Das alles ist durch das Eine bewirkt.
Wäre der Himmel nicht rein dadurch, so müßte er bersten.
Wäre die Erde nicht fest dadurch, so müßte sie wanken.
Wären die Götter nicht mächtig dadurch, so müßten sie erstarren.
Wäre das Tal nicht erfüllt dadurch, so müßte es sich erschöpfen.
Wären alle Dinge nicht erstanden dadurch, so müßten sie erlöschen.
Wären die Könige und Fürsten nicht erhaben dadurch, so müßten sie stürzen.
Darum: Das Edle hat das Geringe zur Wurzel.
Das Hohe hat das Niedrige zur Grundlage.
Also auch die Fürsten und Könige:
Sie nennen sich: „Einsam”, „Verwaist”, „Wenigkeit”.
Dadurch bezeichnen sie das Geringe als ihre Wurzel.
Oder ist es nicht so?
Denn: Ohne die einzelnen Bestandteile eines Wagens gibt es keinen Wagen.
Wünsche nicht das glänzende Gleißen des Juwels, sondern die rohe Rauheit des Steins.
Die einst das Eine erlangten:
Der Himmel erlangte das Eine und wurde rein.
Die Erde erlangte das Eine und wurde fest.
Die Götter erlangten das Eine und wurden mächtig.
Das Tal erlangte das Eine und erfüllte sich.
Das Eine (das DAO, bzw. Taiyi, seine allererste Erscheinung) zu erlangen, bedeutet, zu seiner Bestimmung zu finden. Außerhalb des Einen wirkt mein Ich (Abgrenzung von dem anderen) und die Meinungen und Absichten, die es produziert. So bin ich unwissend und taumel durch die Gegend, überlegend, ob ich wohl dies oder das tun sollte. Mein Eigenwille grenzt mich von dem Einen ab, ja, entzweit mich im wahrsten Sinne des Wortes.
Das DAO wirkt alles, und ein jedes hat seinen Grund (DAO/Dao), seine Bestimmung. Daher erlangt alles, was das Eine erlangt, auch seine Bestimmung: Der Himmel seine Reinheit, die Erde ihre Festigkeit – der Mensch sein Ziel und seine Aufgabe. Auch erkennen wir hier ein wesentliches Merkmal der Gesundheit: Der Geist (Yang, Himmel) soll rein, der Körper (Yin, Erde) soll fest, sprich geordnet, stabil, und in Ruhe, sprich ohne Schaden sein. Als Mikrokosmos des Makrokosmos folgen wir den Energien von Himmel und Erde.
Die Übersetzung „rein“ basiert auf dem Zeichen „qing1“, wörtlich ‚klar, rein, geklärt, angenehm, ruhig‘, und „fest“ auf dem Zeichen „ning2“, wörtlich ‚Frieden, Ruhe‘. Hieraus ergeben sich zusätzlich zur Wilhelmschen Übersetzung interessante Zusammenhänge:
Festigkeit, Beständigkeit, entsteht durch Ruhe. Kommt man zur Ruhe, setzt sich alles, und Balance stellt sich ein. Wir kommen der Einheit von Yin und Yang näher. Auf diese Weise klart der Geist auf (qing1). Wenn der Körper zur Ruhe kommt, entspannt er sich und der Schwerpunkt kann nach unten wirken. Dadurch werden wir standfester, und durch die Stabilität gelingt es dem Geist, ebenfalls zur Ruhe zu kommen. Dies ‚klärt‘ den Geist. Generell: Kommt die Erde zum Frieden, öffnet sich der Himmel. Im Chinesischen ist das Herz ebenso ein Begriff für Geist, und Geist steht u.a. für ‚Himmel‘: Herzens“rein“heit und ein ge“fest“igter (gesunder) Körper: die Kurzformel des Daodejing.
Auch wenn die Qualitäten von Erde (Yin) und Himmel (Yang) unterschiedlich sind, gibt es doch in den von Laozi verwendeten Schriftzeichen, die ja eigentlich ‚Klarheit‘ und ‚Frieden‘ bedeuten, eine Schnittmenge, eine Bedeutung, die in beiden Zeichen gleichermaßen enthalten ist: die ‚Ruhe‘. In dieser Ruhe sind Himmel und Erde vereint, Yin und Yang finden zueinander, und in entsprechender Vertiefung zerfallen sie wieder ineinander, sodass das große Eine zum Vorschein kommt. In der Ruhe liegt die Kraft. Die Ruhe ist es, die uns zurückführt in die Stille. Diese ist es, die uns aus dem Sein (You) zurückführt in die Erfahrung der Leere. Hieraus erkennen wir das Nichts (Wu) und damit das, was Laozi uns mit dem Begriff DAO vermitteln möchte.
Ruhe und Frieden sind das Bindeglied zwischen dem Sein (You) und dem Nichts (Wu).
Die Strophe über die Götter kann auch wie folgt gedacht werden:
„shen2 de2 yi4 [Yi1 wird inmitten eines Satzes yi4 gesprochen außer vor einem 4. Ton; dort yi2] yi3 ling2“ - ‚Der Geist erlangte das Eine und wurde wirkungsvoll.‘
Denn „shen2“, was ebenso für Gott, Götter, als auch Geister verwandt wird, bezeichnet auch die geistige Energie im Generellen. „Ling2“ wiederum bezeichnet ebenso ‚Geist‘, wie auch ‚Intelligenz‘, ‚wirkungsvoll‘ oder ‚effektiv‘. Um diesen, uns innewohnenden Geist (shen2) also in sein Optimum zu bringen bzw. sein Potential vollständig freizulegen (ling2), muss er das Eine erlangen, sprich frei von allem sein, sodass das DAO ganz durch ihn wirken kann. Wenn also die Körperlichkeit (Erde) zur Ruhe kommt, kann der Geist (Himmel) sich klären und entfalten.
Ähnlich der Wilhelmschen Übersetzung könnte man auch sagen: „Die Götter erlangten das Eine und wurden (deshalb) Götter“ (Zhi Zhongcai), da „shen2“ und „ling2“ hier in Entsprechung stehen. Im normalen Sprachgebrauch steht „ling2“ eher für gute, der Begriff ‚gui3‘ ihm entgegengesetzt für schlechte Geister (Dämonen, Gespenster). Das bedeutet, dem hier verwendeten Zeichen „ling2“ kann neben der neutralen auch eine positive Bedeutung beigemessen werden, wenn wir es ebenfalls mit ‚Geist‘ übersetzen. Daraus kann man eine weitere sinnvolle Variante ableiten, die auf den ersten Blick weit hergeholt wäre, aber hier ihren berechtigten Sinn findet: ‚Der Geist erlangte das Eine und wurde so (guter) Geist‘. Dies ist sinnvoll, wenn man „shen2“ als neutral und „ling2“ im Vergleich zu ‚gui3‘ sieht. Nimmt man also einen Geist an, der das Eine erlangt, wird er kein Gui, sondern ein Ling, ein guter Geist sein. Diese Darlegung lässt uns verstehen, dass auch unser Geist, je mehr wir das Eine erlangen, immer mehr gut, gütig und liebend (‚ren2‘, vgl. Vers 38) und weiter aufsteigend wahrhaft lebendig und ‚tugendhaft‘ (DE-De) wird, bis er es schafft, sich ganz mit dem DAO zu vereinen (vgl. Vers 38). So ist es also dem Menschen möglich, aus seinen irdischen Sphären entsprechend aufzusteigen. Auch umgekehrt wird ein Schuh daraus: Wenn wir vom Allerhöchsten, dem DAO in seiner ersten Präsenz (Taiyi), ausgehen und diese Präsenz wesenhaft ausdrücken wollen (wie es im Daoismus fortwährend geschieht), so ‚erlangt Gott das Eine (hier nicht aufsteigend das Eine erlangend, sondern herab entstehend aus dem ‚großen Nichts‘ (da4 wu2) das Eine annehmend) und wurde Gott!‘
In diesem Abschnitt erwähnt Laozi nach Himmel, Erde und den Göttern bzw. dem Geist auch das Tal. In Vers 6 haben wir erkannt, dass hier der tiefste Punkt des Geistes, die allererste Essenz und Quelle unseres Seins ausgedrückt wird. Wird hier das Eine erlangt, „füllt“ sich auch alles Weitere, da alles hieraus emporsprießt: Erreichst Du das Eine, folgt Dir alles Weitere nach, denn aus diesem Einen ist alles Weitere ja entstanden (auch ist diese Erfahrung in vollkommener Art für das Selbst er“füllend“, sprich selig machend!).
Alle Dinge erlangten das Eine und entstanden.
Daher sorgt sich der Weise nicht um seinen Wandel, denn ist er im Einen, fehlt es ihm an nichts. Alles, was er braucht, ist (wird) ihm gegeben.
Auch hier erkennen wir wieder eine Beschreibung kosmologischer Entstehungsgeschichte, wie sie seit dem ersten Vers das Daodejing durchzieht: Alles, was ist, ist aus dem Einen geworden. Es ist das Eine, das DAO bzw. seine erste Präsenz (Taiyi), durch das die beiden polaren Kräfte Yin und Yang und hieraus „alle Dinge“ entstehen (das Eine ist hier nicht bzw. nur bedingt gleichzusetzen mit der „Eins“, vgl. hierzu weiter unten und auch Vers 42).
Um zu entstehen, bedarf es also zuerst der Einswerdung [Es ist hier prinzipiell unerheblich, ob wir unter dem „Einen“ das Nichts selbst oder die allererste noch ungeteilte Regung hierin verstehen], um von hieraus im Vielen zu entstehen. Genauso bedarf es umgekehrt für uns aus unserem Vielen wieder der Einswerdung, um das Ewigliche zu schauen. Daher wird in so vielen Religionen (so auch im Daoismus) und spirituellen Schulen immer wieder vom ‘Umkehren’ gesprochen.
Ob bereits geworden oder nicht - alles hat sich also am Einen zu orientieren, um in Balance zu bleiben bzw. seiner Bestimmung zu entsprechen.
Könige und Fürsten erlangten das Eine
und wurden das Vorbild der Welt.
Es ist Laozis Absicht, wie auch generell die alte chinesische Vorstellung, dass die Herrscher ihr Mandat aus dem Himmel erhalten und somit gerecht (‚Gott recht‘) regieren. Das Wichtige aber ist stets, dass die Herrscher dieses Mandat nicht einfach zur freien Verfügung erhalten, sondern dass gerade sie die Einheit mit dem DAO, dem Einen, zu erlangen haben. Daher ist es Aufgabe des Herrschers, den Weg des DAO zu gehen, denn nur so wird er seinem Mandat und Volk gerecht. Er ist nicht Mittelpunkt von, sondern Brücke zwischen Himmel und Erde! [Der hier im chinesischen Original stehende Begriff für „Vorbild“ ist „zhen1“, wörtlich ,rein, keusch, treu, beständig‘. Es fragt sich jedoch, ob sich Wilhelm hier nicht auch an dem in anderen Versionen vorkommenden Zeichen ,zheng4‘, das ,gerade, aufrecht, redlich, korrekt, echt, führend, positiv, in Ordnung bringend‘ bedeutet, orientiert hat]
Das alles ist durch das Eine bewirkt.
Weshalb es SINN macht, sich diesem Einen anzuschließen, denn das Eine ist auch ohne uns. Aber wir sind nicht ohne das Eine. Wir (Wanwu) sind ein Ganzes, und jede Vorstellung von Trennung und Eigenheit ist nicht permanent und daher zwecklos. ‚Gott ist Einer, und der sind wir alle.‘
Anmerkung: Vergleichen wir dieses „Eine“ mit der „Eins“ aus Vers 42, finden wir in beiden Fällen das Schriftzeichen „yi1“, welches einfach die Zahl eins bedeutet. Im Deutschen haben wir jedoch die Möglichkeit, auch nach außen hin zwischen der Zahl und ‚dem Subjekt‘ zu unterscheiden: „eins“ und „das Eine“. Laozi zielt in diesem Vers auf „das Eine“ und in Vers 42 auf die „eins“ (da weitere Zahlen folgen). Obwohl die Bedeutungen sich hier mehr als ähneln, bin ich doch der Meinung, sie in diesen beiden Abschnitten nicht gleichzusetzen, sondern in ihren feinen Unterschieden (Dao/Taiyi/DE/Wu) zu belassen, wie sich auch aus beiden Kommentaren herauslesen lässt (vgl. besagten Vers 42, aber auch die Grafiken im Kommentar zu Vers 1).
Wäre der Himmel nicht rein dadurch, so müsste er bersten.
Wäre die Erde nicht fest dadurch, so müsste sie wanken.
Folgt der Mensch nicht seiner Bestimmung, geht er verloren in der Verirrung der Täuschung. Er sieht nicht klar und kommt nicht zu seinem Ziel. Stattdessen produziert er selber Ziele, die aber nicht mehr dem DAO entsprechen, und entfernt sich so immer weiter von ihm. Nun ist es aber nicht nur dem Menschen, sondern allem was ist, gegeben, durch das DAO eins mit seiner Bestimmung zu bleiben oder ohne das DAO und an der eigenen Bestimmung vorbei in Disharmonie und Sinnlosigkeit zu verfallen. Auch beschreibt Laozi hier, dass durch das Erlangen des Einen entsprechende Folgen untrennbar verbunden sind. Würde man durch das Erlangen des Einen, dem DAO, nicht gleichzeitig das DE erlangen, wäre das DAO nicht wirksam. Wird das Eine erlangt, findet alles unweigerlich zu seiner Bestimmung. Wird das Eine nicht erlangt, entfremdet sich alles seiner selbst. Es ist nicht möglich, dass jemand das Eine erlangt und sich dennoch seiner selbst entfremdet. Die Folge, durch das Eine zu seiner Natur zu finden, ist also garantiert, denn beides ist nicht voneinander trennbar.
Interessant ist, dass Laozi an dieser Stelle ganz nebenbei eine Auflistung verschiedener Seinsstufen und Dimensionen hinterlässt: Dinge, Menschen, Herrscher, Götter, Erde, Himmel, Natur – er gibt uns einen Hinweis auf die Vielschichtigkeit des Seins und ermuntert uns zu erkennen, dass es mehr gibt als das, was wir einfach so sehen oder wahrnehmen können. Er verweist uns so in völliger Selbstverständlichkeit auf die mystische Schau der gesamten Wirklichkeit, nicht nur auf die der Menschen in ihrem scheinbar dualen und drei/vierdimensionalen Kontext. Gleichwohl aber verweist er darauf, dass alle Dimensionen auch im Menschen prinzipiell angelegt sind. Denn was bedeutete uns des Himmels Reinheit, würden wir Menschen ihr nicht nachstreben können? Was nützte der Erde Festigkeit, wenn wir dem Element, das uns materiell hervorgebracht hat, nicht entsprechen würden und könnten?
„Wanken“ wir nicht, wenn wir nicht „fest“ stehen? „Bersten“ wir nicht, wenn unser Geist nicht „rein“ und ‚klar‘ (qing1), sondern getrieben, verwirrt und dadurch in pausenlosem Stress und überaktiven Gedanken und Emotionalität ist? Das Daodejing ist ein alter Text, doch er ist zeitlos auf alles anwendbar - auch und gerade auf unseren heutigen Alltag. Wir sollten nicht versäumen, Himmel und Erde gerade auch in uns selbst zu erkennen und zu entsprechen.
Wären die Götter nicht mächtig dadurch,
so müssten sie erstarren.
Hätten „Götter“ (shen2, auch ‚Geist, Himmelswesen‘) im Vergleich zu uns keine „Macht“, wären sie keine Götter. Da wir sie als mächtiger erkennen als uns selbst (im entsprechenden Kontext der Gutheit, sonst würden wir sie Teufel nennen), müssen sie dem Dao näher sein. Ist der Geist nicht in Verbundenheit mit dem Einen, ist er nicht erleuchtet, ist er nicht heilig. Er ist dumpf, erkennt nicht, „erstarrt“. Wir erkennen keine Perspektiven, werden destruktiv, verfallen dem Alkohol, der Gewalt, kurz: Alles Negative gewinnt die Oberhand. Alles verliert seine Wirkkraft (DE) und ja, „erstarrt“ (vgl. Vers 40)!
Wäre das Tal nicht erfüllt dadurch,
so müsste es sich erschöpfen.