Die Jagd auf Dieter Zurwehme
Das verräterische Gebiss
Vier Täter aus Berlin
Eine Frage der Ehre
Sonst kommen wir ihn holen …
Die zwei Leben des Dirk Stahl
Tanja
Nachwort
Die Autoren
Liebe Leserinnen und Leser,
es ist selbstredend, dass nach dem Echo der Leserschaft und dem sich in Jahrzehnten angesammelten Fundus an authentischen Kriminalfällen eine Fortsetzung die logische Folge war. Diese liegt jetzt vor. Wiederum fesselnd, aber auch mitfühlsam und absolut glaubwürdig.
Hier wird nicht der Diebstahl, gewissermaßen der graue Alltag des Kriminalisten, verfolgt, sondern vornehmlich Kapitaldelikte, eben aus einer besonderen Liga der Belle Etage der Kriminalistik.
Vor der Wahrnehmung abnormen Verhaltens sind wir im Alltag nicht gefeit, wir fürchten uns sogar vor dem Ereignis, etwa dem Mord gewissermaßen in unserer unmittelbaren Nähe. Dennoch beobachten wir ein leidenschaftliches Interesse unserer Mitmenschen an Mordfällen, das nach v. Hentig (1956) keine andere Erklärung zulässt, als dass Töten und Getötet werden an den innersten Kern unserer Instinkte heranreicht.
Soweit das Genre Mord – vielleicht besser amoralisch-biologisch Tötung genannt – in Wort und Bild dem breiten Konsum freigegeben ist, darf es erlaubt sein, zu klassifizieren.
Die in diesem Band aufgezeigten Kriminalfälle sind kein Konstrukt aus dem elfenbeinernen Turm, es sind Fronterfahrungen eines Kriminalisten aus vielen Jahren Berufstätigkeit, abgrundtief in jeder Hinsicht.
Um jemandem „auf die Spur zu kommen“ bedarf es Spürsinn, langjähriger Berufserfahrung, Lehrbuchwissen, oft auch eines Gedankenblitzes und einer Portion Glück.
Da wird solides Grundwissen auch nicht von der heute so hoch favorisierten Erbgutanalyse ersetzt. Sie hilft, macht aber Basiswissen und Erfahrung nicht nebensächlich.
Bei dem Fortschritt der Vernichtungsphysik muss man, was die Interpretation angeht, zumindest mithalten können. Ist die nicht sicher möglich, benötigen Kriminalisten, ähnlich wie Richter, den Sachverstand anderer Berufsgruppen.
Naheliegend ist das bei Tötungsdelikten der Arzt für Rechtsmedizin.
In das Puzzle, das zusammengesetzt werden soll, liefert die gerichtliche Medizin oft einige wertvolle Bausteine.
Mit einer Befundpräsentation am Obduktionstisch ist jedoch das Rätsel nicht gelöst. Der erfahrene Pathologe wird nur dann ein geschickter Gerichtsmediziner, wenn er bereit ist, zu sehen und zu hören, und wenn er bemüht ist, die Gesamtsituation zu verstehen, in der der Todesfall sich ereignete (Leithoff, 1977).
Eine dieser merkwürdigen Symbiosen zwischen Kriminalist und Arzt habe ich mit dem Autor über viele Jahre außerordentlich fruchtbar gepflegt.
Nonverbale Kommunikation war das über große Strecken.
Mancher Einschätzung nach darf die Sparte der Kapitalverbrechen cum grano salis eine erstaunliche Aufklärung bescheinigt werden: Es ist eben nichts so fein gesponnen, es kommt doch an das Licht der Sonne!
Das lässt auch auf weitere Fallpräsentationen hoffen.
Der nachdenkliche Leser wird sich nach der Lektüre in die Abgründe kriminellen menschlichen Verhaltens wieder zurücklehnen, die einzelnen Episoden werden ihn aber gewiss noch längere Zeit nachdenklich stimmen.
Prof. Dr. Dr. Rolf Endris
Es ist Frühlingsanfang, Sonntag, der 21. März 1999. Viele Menschen nutzen diesen trockenen Tag, um einen Spaziergang zu machen – auch in Remagen im nördlichen Rheinland-Pfalz, einer Stadt unweit der ehemaligen Bundeshauptstadt Bonn, ist das so. Am Ortseingang Richtung Bonn liegt das Krankenhaus. Hier herrscht an diesem Nachmittag reger Besucherverkehr. Dem Krankenhaus gegenüber in der Sinziger Straße befinden sich einige zweigeschossige Reihenhäuser.
Es ist etwa 17 Uhr, als Passanten eine merkwürdige Beobachtung machen und innehalten: Aus einem Fenster in der zweiten Etage eines dieser Häuser werden Gegenstände geworfen. Bei näherem Hinsehen stellt sich heraus, dass es sich um ein Fernsehgerät, ein Regalbrett und einen Korb handelt. Am geöffneten Fenster erkennen die Spaziergänger eine Frau, die wild mit den Armen gestikuliert, aber keinen Ton von sich gibt. Plötzlich verschwindet die Frau. Die Menschen auf der Straße sind ratlos. Was mag sich da oben in der Wohnung in diesen Augenblicken abspielen? Schließlich nehmen sich einige von ihnen ein Herz und rufen die Polizei.
Es dauert nicht lange, bis Beamte der Polizeiinspektion Remagen eintreffen. Sie befragen die Zeugen, stellen ihre Personalien fest, sehen sich genau um und machen sich ein Bild von dem, was die Leute beobachtet haben. Dann versuchen sie es mit lauten Rufen in Richtung des geöffneten Fensters. Keine Reaktion. Nach mehreren Versuchen geben sie es auf und verschaffen sich Zutritt in das Haus. Im Parterre scheint niemand zu Hause zu sein. Sie gehen in die zweite Etage und öffnen die Wohnungstür, hinter der sich die Frau befinden muss.
Auf den ersten Blick scheint alles in Ordnung zu sein. Nichts deutet auf einen ungewöhnlichen Vorfall hin. Die Polizisten arbeiten sich weiter vor, orientieren sich zur Seite der Bundesstraße hin, dort, wo das Fenster offen stehen muss. Von der Frau weiter keine Spur. Kurze Zeit später betreten die Beamten das Schlafzimmer und erstarren vor Schreck: Hier bietet sich ihnen ein Bild des Grauens!
Ihr erster Blick fällt vom blutdurchtränkten Bett auf den Boden. Dort liegt ein weiblicher Körper vor dem Fenster – furchtbar zugerichtet. Die Frau blutet aus unzähligen Wunden im Gesicht und am Oberkörper, ist offenbar tödlich verletzt. Zwar lebt sie noch, ist aber nicht mehr ansprechbar.
Sofort verständigen die Polizeibeamten das benachbarte Krankenhaus, das augenblicklich Rettungskräfte zu ihnen schickt. Diese übernehmen noch an Ort und Stelle die Erstversorgung der Verletzten und bringen sie in das Krankenhaus. Es liegt auf der Hand, dass ihre Chancen eher schlecht stehen.
Mit dem Abtransport der Schwerverletzten ist das Grauen für die Polizisten vor Ort aber noch längst nicht vorbei. Als sie sich der übrigen Wohnung widmen, finden sie im Bad, das gleich neben dem Schlafzimmer liegt, zwei weitere Personen, die ganz offensichtlich tot sind.
Die gefliesten Wände, der Boden, die Badewanne, alles ist voller Blut, das zum Teil schon angetrocknet zu sein scheint.
Bei den beiden Leichen handelt es sich um eine Frau und einen Mann. Letzterer liegt in der Badewanne auf dem Bauch. Seine Hände sind mit Klebeband auf dem Rücken gefesselt, auch die Beine sind auf dieselbe Weise fest zusammengeschnürt. Augen und Mund sind ebenfalls mit dem Band zugeklebt. Die Kleidung des Mannes ist blutdurchtränkt. Nach der Ursache muss nicht lange gesucht werden: Am Hals und Oberkörper befinden sich große klaffende Wunden.
Die Frau liegt neben der Badewanne in einer großen Blutlache. Sie ist auf die gleiche Weise wie der Tote mit Klebeband gefesselt und hat an Hals und Oberkörper ebenfalls schreckliche Wunden. Ein rasch herbeigerufener Notarzt kann nicht mehr tun als den Tod der beiden Personen feststellen.
Die schockierten Polizeibeamten verlassen die Wohnung und sichern den Tatort großräumig ab. Gleichzeitig kümmern sie sich um die Personalien der Toten und finden rasch heraus, dass in der Wohnung Elisabeth Becker und ihr Mann Kurt Matthias Schröder leben sollen. Das noch lebende Opfer ist Frau Becker. Über die Meldedaten können auch die ersten Angehörigen ermittelt werden.
Die Mordkommission Koblenz nimmt ihre Arbeit auf. Für Kriminalhauptkommissar Gerhard Starke bedeutet dieser Fall, dass schon wieder ein Wochenende vorzeitig zu Ende ist. Aber es soll noch schlimmer kommen: Die ersten Mitteilungen der Polizei aus Remagen lassen erahnen, dass die Beamten der Mordkommission auch die kommende Nacht nicht zu Hause verbringen werden. Aufgrund der besonderen Größenordnung des Falles werden sämtliche Mitarbeiter zusammengerufen.
Zu einem routinemäßigen Ablauf gehört, dass die Spurensicherung alarmiert wird, mit der man sich am Tatort verabredet. Wenig später sind alle in Remagen versammelt. Die Begrüßung fällt relativ kurz aus, denn den Ermittlern ist daran gelegen, sich möglichst rasch in die Örtlichkeiten einweisen zu lassen. Kommissar Starke und seine Kollegen verschaffen sich einen kurzen Überblick über die Situation in der Wohnung, wobei sie selbstverständlich darauf achten, keine Fremdspuren zu hinterlassen. Hilfreich dabei sind Schutzüberzüge an den Schuhen. Die versierten Polizeibeamten aus Koblenz hüten sich ohnehin davor, die Tatzimmer zu betreten, lediglich von den Türen aus sehen sie sich das Innere der Räume an.
Die Aufgaben werden verteilt. Die Beamten des Erkennungsdienstes, die heute meist nur Spurensicherung oder kurz „Spusi“ genannt werden, machen sich an die Arbeit. Sie filmen das komplette Anwesen und insbesondere die Wohnung. Im Schlafzimmer und im Bad schießen sie Übersichts- und Detailaufnahmen, die Sicherung der Spuren wird fotografisch dokumentiert. Es ist abzusehen, dass die Aufnahme aller Spuren mehrere Tage dauern wird. Die Erfolgsaussichten sind allerdings nicht sehr groß, denn die erfahrenen Beamten erkennen gleich, dass der oder die Täter wenn überhaupt nur wenige Spuren hinterlassen hat beziehungsweise haben. Es ist nicht auszuschließen, dass bei der Tat Handschuhe getragen wurden.
Kommissar Starke weiß, dass den Kollegen der Spurensicherung am Tatort einiges abverlangt wird: In der relativ kleinen Wohnung bei dem immer stärker werdenden Geruch von geronnenem Blut peinlichst genau nach Spuren der Täter zu suchen, ist nicht jedermanns Sache.
Während am Tatort akribisch Spuren gesichert werden, beginnen die Ermittler das Umfeld der Opfer zu erkunden und nach Zeugen zu suchen.
Noch sind alle wie erschlagen von den Eindrücken, die sie aus der Wohnung mitnehmen:
Was für eine schreckliche Tat mag sich hier zugetragen haben?
Was für ein Mensch hat hier gewütet, der zwei Leichen und eine lebensgefährlich verletzte Frau hinterlassen hat?
Ohne einem Obduktionsergebnis vorgreifen zu wollen, gehen die Mitglieder der Mordkommission Koblenz davon aus, dass die klaffenden Wunden der Opfer durch einen scharfen Gegenstand, möglicherweise ein Messer, verursacht worden sind. Zwar liegt es den Ermittlern fern, einem Obduktionsergebnis vorzugreifen, doch wissen sie, wie wichtig es ist, sich frühzeitig ein Bild über die Verletzungen zu machen, denn nur so können sie nach geeignetem Tatwerkzeug suchen.
Beobachtungen werden ausgetauscht, erste Schlüsse besprochen, die ein noch äußerst vages Bild des Tathergangs ergeben: Aufgrund der Gesamtsituation gehen die Beamten davon aus, dass sich der Täter längere Zeit am Tatort aufgehalten haben muss. Das Fesseln und Knebeln der Opfer braucht schon eine gewisse Zeit. Auch der Gedanke, dass möglicherweise mehrere Täter die Taten ausgeführt haben, ist momentan noch zulässig. Völlig klar ist allen zum jetzigen Zeitpunkt nur, dass die Opfer sich verzweifelt gewehrt haben müssen. Was ihnen angetan wurde, lässt niemand einfach so über sich ergehen.
Die Polizisten erkundigen sich im Krankenhaus nach dem Zustand der schwerverletzten Frau. Sie liegt im Koma, der Erfolg einer Notoperation ist fraglich. Niemand weiß, ob und wann sie das Bewusstsein wieder erlangt. Anhand der Personenbeschreibungen kann mit der Hilfe der Angehörigen geklärt werden, um wen es sich bei den Verstorbenen handelt. Danach muss die tote Frau im Bad Rita Maria Becker sein, die Schwägerin der Frau im Krankenhaus, und der tote Mann ihr Bruder, Hans Paul Becker.
Herrn Schröder, den Ehemann von Elisabeth Becker, können die Beamten nicht finden. In dem Fall können die Angehörigen mit Hinweisen weiterhelfen: Sie erzählen der Polizei, dass Herr Schröder und seine Frau eine alte Villa gekauft hätten, die direkt am Rhein liege. Das Haus werde derzeit renoviert, und Herr Schröder sei täglich dort, um nach dem Rechten zu sehen.
Hauptkommissar Starke zögert keinen Moment und fährt mit zwei Kollegen zur angegebenen Adresse. Nach wenigen Minuten ist er an Ort und Stelle: An der Seite des Gebäudes befindet sich eine provisorische Tür, die nur angelehnt ist. Im Innern des Hauses sind die Spuren der Renovierungsarbeiten unübersehbar. Überall liegt Werkzeug, und in jedem Raum müssen die Polizisten über die unterschiedlichsten Baumaterialien steigen.
Laut ruft Gerhard Starke nach Herrn Schröder, doch er erhält keine Antwort. Er ruft erneut, ruft immer wieder und jedes Mal lauter – eine Antwort bleibt aus. Die Kollegen durchsuchen im Parterre Raum für Raum. Herr Schröder ist einfach nicht zu finden.
Dann setzen die erfahrenen Kriminalisten die Suche im Obergeschoss fort. Sie sind auf alles gefasst. Man sieht, dass Trockenbauarbeiten ausgeführt worden sind. Die Beamten arbeiten sich immer weiter durch die Baustelle, gehen Raum für Raum ab.
Plötzlich finden sie den Gesuchten. Er liegt auf dem Bauch, ist offenbar tot. Sein Körper ist teilweise mit Bauschutt bedeckt. Hat der Täter das bewusst gemacht, weil seine Kleidung mit der des Opfers in Berührung gekommen ist? Wollte er so mögliche Faserspuren beseitigen? Kommissar Starke ist klar: Sollte das so gewesen sein, müssen die Ermittler sicherlich davon ausgehen, dass der Täter Erfahrung hat im Umgang mit Polizei und Justiz.
Zugleich weiß Starke, dass es nicht die Zeit ist für voreilige Schlüsse. Zu leicht könnten diese die Ermittlung in eine falsche Richtung lenken. Immerhin handelt es sich um Dinge, die in diesen Minuten eigentlich nur der Täter schildern könnte. Hinzu kommt, dass der Bauschutt auf der Leiche nicht das einzige ist, was gleich auffällt: Neben dem Körper des Toten steht ein aufgespannter Schirm. Seine Bedeutung ist den Beamten im Augenblick noch ein Rätsel.
Die Leiche selbst ist furchtbar zugerichtet: Auf der rechten Seite des Halses sind zahlreiche größere Stich- und Schnittwunden. Alles ist voller Blut. Der Mörder muss mit äußerster Brutalität vorgegangen sein. Das Opfer hat auch nicht den Hauch einer Chance gehabt, denn es ist von seinem Peiniger gefesselt worden: Die Unterschenkel sind mit Klebeband zusammengeschnürt, auf die gleiche Weise sind die Hände auf dem Rücken fixiert. Auch der Kopf ist mit dem Band umwickelt. Auffällig ist, dass mehrere Lagen davon über Augen und Mund geklebt sind.
Die erfahrenen Beamten merken einmal mehr, dass es höchste Zeit ist, sich von dem furchtbaren Anblick loszureißen, um auch innerlich auf die nötige Distanz gehen zu können. Ein kurzer Moment, in dem alles abgeschüttelt wird, was einem routinierten Ablauf im Wege stehen könnte. Dann werden auch schon die nächsten Schritte eingeleitet: Erneut muss der Notarzt kommen, um den Tod des Opfers festzustellen. Die Kollegen der Spurensicherung werden informiert und der zweite Tatort wird weiträumig abgesperrt und durch Polizeibeamte bewacht.
Die Ermittler gelangen an ihre Grenzen. Kommissar Starke kann darauf vertrauen, dass Routine die Oberhand bei ihm behält. Dazu ist er zu lange im Dienst und hat in den letzten Jahren und Jahrzehnten zu viel gesehen. Wäre das allerdings sein erster Fall, wüsste er nicht, wie er reagiert hätte. Vielleicht hätte er sich übergeben müssen. Dennoch, ein solches Gemetzel hat auch er bisher noch nicht miterleben müssen. Er weiß, dass er die Bilder lange vor Augen haben wird: Die beiden gefesselten Leichen im Bad der ersten Wohnung. Überall das gleiche Verletzungsmuster, riesige klaffende Stich- und Schnittwunden im Oberkörper, Hals und Gesicht. Überall Blut in der Badewanne, an den Wänden und auf dem Fußboden. Das gleiche Bild im Schlafzimmer.
Das ganze Bett voller Blut, der Teppichboden bis hin zum Fenster und dann die Fensterbank, auf die sich die schwer verletzte Frau gestützt haben muss, als sie die Gegenstände aus dem Fenster geworfen hat. Als ob das nicht schon genug ist, zeigen die Spuren an der Leiche von Herrn Schröder eine weitere Steigerung der Brutalität. Offenbar ist der Mann in der Villa regelrecht hingerichtet worden. Jemand muss mit einem gewaltigen Überlebensmesser zu Werke gegangen sein.
Fragen über Fragen schießen den Ermittlern durch den Kopf. Müssen das nicht mehrere Täter gewesen sein? Einer allein kann doch so etwas nicht anrichten! Oder doch? Aber warum begeht jemand eine solche Tat? Lassen sich Menschen einfach so abschlachten ohne Gegenwehr? Wie lange haben die Täter gebraucht, um ein solches Blutbad anzurichten? Wer war das? Was gibt es für ein Motiv, was treibt jemanden an, der so etwas tut?
Der Kommissar lässt es sich nicht anmerken, wie sehr ihn der Anblick der Toten mitnimmt und innerlich aufwühlt. Er weiß, dass Emotionen nicht weiterhelfen und leitet die nächsten Schritte ein: Starke informiert die Staatsanwaltschaft und benachrichtigt die Rechtsmedizin in Bonn. Man verständigt sich, dass die Obduktion der Leichen am nächsten Tag durchgeführt werden soll.
Die Fingerabdrücke der Leichen werden gesichert. Dies geschieht, damit sogenannte berechtigte Fingerabdrücke, solche also, die nicht von Fremden stammen, sondern von den Menschen, die hier ein- und ausgingen, beim Abgleich ausgeschlossen werden können. Auch kann es – wenn auch sehr selten – vorkommen, dass durch die Polizeibeamten Fingerabdrücke am Tatort hinterlassen werden. Aus diesem Grund sind deren Abdrücke beim Landeskriminalamt hinterlegt, damit man sie so ebenfalls ausschließen kann. Angesichts der Art und Weise, wie die Taten ausgeführt worden sind, ist eigentlich davon ausgehen, dass Spuren des Täters an den Leichen zu finden sind. Noch vor Ort werden die Leichen genauestens untersucht. Wichtige Spuren können fremde Haare sein. Sollte sich später herausstellen, dass sie vom Täter stammen, hätte man einen klaren Beweis in den Händen. Die Beamten der Spurensicherung schneiden und sichern noch vor Ort die Fingernägel der Opfer, damit sie beim Landeskriminalamt auf Anhaftungen untersucht werden können, die möglicherweise vom Täter stammen. Sollte es zu einem Kampf gekommen sein, kann es durchaus sein, dass der Täter vom Opfer verletzt wurde und sich etwa Hautpartikel unter den Fingernägeln befinden.
Außerdem muss das Blut an den Leichen gesichert und auf Fremdblut untersucht werden. Bei dem Verletzungsmuster, das sich den Ermittlern im konkreten Fall bietet, kann es durchaus sein, dass der Täter ebenfalls geblutet hat.
Wichtig ist auch, dass das gesamte Klebeband gesichert und auf mögliche Fingerabdrücke des Täters hin untersucht wird. Vielleicht können sich – speziell auf der Klebstoffseite – Textilfasern von der Kleidung des Täters feststellen lassen: Der Sisyphusarbeit am Tatort wird die im Labor folgen.
Irgendwann am späten Abend ist die Spurensicherung rund um die Leichen an beiden Tatorten abgeschlossen und sie werden durch einen Bestatter in das Institut für Rechtsmedizin nach Bonn gebracht.
Natürlich liegt die Vermutung nahe, dass es einen Tatzusammenhang zwischen dem Toten in der Villa und den Leichen beziehungsweise der verletzten Frau in der Sinziger Straße gibt. Kann es sein dass sich ein solches Drama im Kreis der Familie abspielt? Skepsis ist angesagt im Umgang mit den Angehörigen.
Sind hier vielleicht die Täter zu suchen? Hat sich ein familiärer Streit dermaßen hochgeschaukelt, dass gleich die ganze Familie ausgelöscht worden ist? Die Kollegen vor Ort haben die Anschriften der Angehörigen ermittelt. Es ist nun die traurige Aufgabe der Koblenzer Kripobeamten, die Familien zu benachrichtigen. Dies auch deshalb, um mit der Erfahrung der Mordermittler hinter der Emotionalität vielleicht auch falsche Betroffenheit zu entdecken – Misstrauen ist immer angebracht.
Die Beamten der Spurensicherung und der Mordkommission ermitteln die ganze Nacht hindurch, jede noch so kleinste Spur wird gesichert. Das große Polizeiaufkommen an den Tatorten und in der gesamten Stadt Remagen bleibt natürlich nicht unbemerkt. Ein Großteil der Bevölkerung ist auf den Beinen.
Zahlreiche Medien mit einem Großaufgebot an Journalisten berichten von den Tatorten. Glücklicherweise hat die Staatsanwaltschaft als „Herrin des Ermittlungsverfahrens“ es übernommen, Presseauskünfte zu geben. Die Ermittler sind erleichtert: Zumindest den öffentlichen Druck haben sie damit vorerst vom Hals.
Die Lage erfordert es, dass die Mordkommission personell aufgestockt werden muss. Die Aufgaben, die vor ihnen liegen, können die wenigen Beamten, die vor Ort sind, nicht allein bewältigen. Der Dienststellenleiter der Kripo Koblenz wird die Verstärkung anfordern.
In den ersten Tagen steht eine Unmenge an Ermittlungsaufträgen an. Die schwierigen Abklärungen innerhalb der Familie, die Vernehmungen der anderen Hausmitbewohner, auch wenn sie zum Zeitpunkt der Tat offenbar nicht anwesend waren, Befragungen der Nachbarschaft und der Besucher des Krankenhauses, die Einweisung der neuen Kollegen, die nicht täglich mit Tötungsdelikten zu tun haben. Mit viel Fingerspitzengefühl müssen sie sensibilisiert werden für die anstehenden Aufträge. Die Arbeitsbelastung ist enorm. Starke weiß, wie fatal es jetzt wäre, irgendetwas Entscheidendes zu übersehen oder zu vergessen.
Hinzu kommt die psychische Belastung durch all das Erlebte und Gesehene. Dabei denkt er nicht an sich, sondern an die Kollegen, vor allem die jüngeren. Doch nicht nur sie, auch ihre Familien werden die Leidtragenden in den nächsten Tagen und Wochen sein, denn man wird sich kaum zu Gesicht bekommen.
Als nächste Hürde, die genommen werden muss, stehen drei Obduktionen an, bei denen zumindest einer der Ermittler anwesend sein muss. Liebend gerne würde Starke seine Zeit anders verbringen, doch ist ihm klar, dass es auch dieses Mal wieder ihn treffen wird. Längst schon kann er nicht mehr zählen, wie viele Obduktionen er miterlebt hat. Doch in diesen Fällen wird es besonders hart – das weiß er. Es wird vor allem darum gehen, Aufschluss über die Todesart zu erhalten und vielleicht sogar Hinweise auf den Täter, die eventuell wiederum davon abgeleitet werden können. Genauso wichtig ist es, Informationen über die Tatwaffe zu sammeln. Wurde in den drei Fällen die gleiche Tatwaffe benutzt? Wenn ja, wie wurde sie eingesetzt?
Auch Beamte der Spurensicherung nehmen immer an der Obduktion teil und achten besonders darauf, ob es an der Kleidung oder dem Fesselmaterial Kontaktspuren des Täters gibt.
Einige Stunden später ist es geschafft. Kommissar Starke ist speiübel, als er von den drei Leichenuntersuchungen zurückkehrt. Doch wie so oft reißt er sich auch jetzt zusammen, denn er muss die Kollegen ausführlich über das Ergebnis unterrichten. Hier muss er reden und über alles Gesehene berichten. Woanders wird er wieder schweigen. Wie auch bei anderen Mordermittlungen will seine Familie natürlich aus erster Hand informiert werden, wenn er dann einmal nach Hause kommt. Doch der Kommissar weiß, dass er im Privaten auch jetzt wieder nicht über den Fall sprechen kann und nur auf die Zeitung des nächsten Tages verweisen wird. Blockaden, die schon immer da waren und über die er sich nie große Gedanken gemacht hat. Mit den Jahren hat seine Familie gelernt, damit umzugehen.
Das Obduktionsergebnis liefert den Ermittlern Fakten, die für die weitere Bearbeitung des Falles von großer Bedeutung sind: Kurt Matthias Schröder wurde durch mehrere Stiche mit einem zweischneidigen Gegenstand, vermutlich einem Messer, in den rechten Hals getötet. Hierbei wurde die Halsschlagader durchtrennt. Beim Zustechen führte der Täter mit dem Messer auch Schnittbewegungen aus. Dies könnte darauf deuten, dass er als Metzger gearbeitet hat und das, was er in diesem Beruf gelernt hat, nun in äußerster Brutalität anwendet. Herr Schröder verblutete an Ort und Stelle.
Aufgrund des Verletzungsmusters wurde Hans Paul Becker mit hoher Wahrscheinlichkeit mit dem gleichen Messer getötet. Seine Leiche weist elf Einstiche in die Brust auf und zwei Einstiche mit Schnittbewegungen im Hals. Die Brusthöhle wurde hierbei mehrfach eröffnet, mehrere Rippen wurden durchstochen, was auf ganz massive Hiebe schließen lässt. Der Herzbeutel wurde dreifach eröffnet. Herr Becker verstarb nach kürzester Zeit noch im Badezimmer.
An der Leiche von Maria Elisabeth Becker stellen die Mediziner ebenfalls wuchtige Einstiche im Hals fest. Einer davon durchstach ihn komplett. Daher muss es sich um ein recht langes Tatwerkzeug gehandelt haben – ein Messer mit einer langen Klinge etwa.
Die Verletzungen der einzigen Überlebenden, Rita Maria Becker, können noch nicht rechtsmedizinisch untersucht werden. Sie ist operiert worden, ihre Wunden sind entsprechend versorgt, doch ist den Ärzten zufolge eine darüber hinaus gehende Untersuchung nicht mit ihrem Gesundheitszustand vereinbar. Die Mediziner beschreiben der Polizei die Wunden im Hals der Frau. Sie ähneln den Verletzungen der anderen Opfer. Offenbar hat der Täter dieselbe Waffe benutzt.
Ständig stehen die Ermittler mit dem Krankenhaus in Kontakt, denn sofern Frau Becker aus dem Koma erwacht, darf man auf eine wichtige Zeugin hoffen, die möglicherweise konkrete Hinweise zum Täter geben kann.
Die Ärzte im Krankenhaus zeigen sich jedoch sehr skeptisch: Es ist nicht sicher, ob die Frau jemals das Bewusstsein wiedererlangt oder ob sie sich in diesem Fall an den Tathergang erinnern wird. Dennoch klammert sich das Team um Kommissar Starke an diesen Strohhalm und bleibt am Ball. Fieberhaft gehen die Ermittlungen weiter: Im Umfeld des Tatorts sichern die Beamten weitere Spuren, die sie zur Abgleichung sofort dem Landeskriminalamt übermitteln. Allen ist klar: Hier zählt jeder Tag, die Zeit arbeitet für den Täter. Je länger es dauert, bis er gefasst ist, um so mehr Zeit hat er, wichtige Spuren zu verwischen, Beweismittel verschwinden zu lassen und sich ein Alibi zurechtzulegen.
Im Laufe der weiteren Ermittlungen wird das familiäre Umfeld der Opfer beleuchtet.
Die Verwandten des Ehepaares Becker können sich nicht erklären, warum Hans Paul Becker und seine Frau Maria Elisabeth zum Tatzeitpunkt in ihrer Wohnung in der Sinziger Straße waren. Das Paar wollte nämlich an diesem Sonntag eigentlich in einem Restaurant in der Stadt zu Mittag essen. Die Ermittler befragen deshalb die Angestellten der Gaststätte und erfahren, dass Frau und Herr Becker das Lokal nach zwei Telefonaten getrennt voneinander verlassen haben. Zuerst sei Frau Becker gegangen, kurze Zeit später, nachdem er die Rechnung beglichen habe, war Herr Becker ihr gefolgt. Der Grund für den überstürzten Aufbruch ist niemandem bekannt.
Die Angehörigen der beiden Opfer stellen weiter fest, dass das Auto von Herrn Becker nicht zu finden ist – weder auf dem Hof des Hauses, in dem der Überfall stattgefunden hat, noch auf dem Parkplatz des Restaurants. Das Paar ist mit zwei Wagen zum Restaurant gefahren. Während das Fahrzeug von Frau Becker, ein Citroen, in der Sinziger Straße im Hof steht, bleibt das zweite Auto, ein Skoda Pickup, verschwunden. Auch die Wagenschlüssel fehlen – die für den Citroen liegen dagegen noch in der Wohnung. Dieser Umstand lässt nur den Schluss zu, dass der oder die Täter den Skoda zur Flucht benutzt haben.
Folglich wird sofort eine bundesweite Fahndung nach dem Fahrzeug ausgelöst.
Neben dem Fahrzeug ist offenbar auch Bargeld verschwunden. Die Beamten der Spurensicherung finden am ersten Tatort nur leere Geldbörsen.
Es erscheint unwahrscheinlich, dass überhaupt kein Geld in der Wohnung gewesen sein soll. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der Täter sich für seine Flucht mit Barem eingedeckt hat.
Auskunft darüber könnte der Polizei zu diesem Zeitpunkt nur die verletzte Frau Becker geben. Leider aber ist sie nach wie vor nicht ansprechbar.
Für Gerhard Starke und seine Kollegen sind das nervenaufreibende Tage: Der Täter scheint im wahrsten Sinne des Wortes spurlos verschwunden zu sein. Sie haben nichts in den Händen, das auch nur annähernd auf seine Identität hindeuten könnte. Mit der Arbeit, so scheint es, drehen sich die Beamten im Kreis. Hinzu kommt natürlich der öffentliche Druck, denn der Fall ist auf großes Interesse bei den Medien gestoßen. Die Bevölkerung ist verängstigt, und selbst die Polizei kann den Menschen ihre Sorgen nicht nehmen: Niemand könnte in diesen Tagen nämlich guten Gewissens behaupten, dass der Täter nicht ein weiteres Mal zuschlagen würde.
Dann endlich erreicht die Kommission die erlösende Mitteilung des Landeskriminalamtes: Am Tatort in der Sinziger Straße, an einem Wasserglas im Bad, wurde ein Fingerabdruck gefunden, der von einer fremden Person stammt.
Kommissar Starke beginnt sich mehr und mehr mit der Möglichkeit anzufreunden, dass es vielleicht doch nur ein einziger Täter war. Neue Fragen tun sich auf: Wie viele Stunden muss der Mörder wohl an den Tatorten zugebracht haben, um all dies anzurichten? Hat er die Opfer einzeln gefesselt? Wie haben sich in dieser Zeit die anderen Opfer verhalten? Hat der Täter seine Opfer gefoltert? Der Kommissar will sich gar nicht ausmalen, was diese Menschen bei dieser Tortur alles mitgemacht, wie sehr sie gelitten haben, welche Ängste sie ausgestanden haben!
Und dann immer wieder die Frage: Wenn es nur ein Täter war, was ist das für ein Mensch? Ist das überhaupt noch ein Mensch?
Starke spürt, wie ihm diese Gedanken zusetzen, wie sie seinen Schädel fast zerspringen lassen wollen, doch dann zwingt er sich zur äußersten Konzentration und blendet Assoziationen aus, die nicht hilfreich sein können. Übrig bleibt allein der Wille, diesen Mörder zur Strecke zu bringen, seiner habhaft zu werden und ihn einer gerechten Verurteilung zuzuführen.
Als der Fingerabdruck überprüft ist, weiß der Kommissar, mit wem er es zu tun hat. Bei ihm läuten sämtliche Alarmglocken, denn der Abdruck konnte einem Straftäter zugeordnet werden, dem die Morde von Remagen tatsächlich auch zuzutrauen sind.
Sein Name ist Dieter Zurwehme. Er ist wegen Mordes verurteilt und aus dem offenen Vollzug geflohen. Beim Blick auf seine Biografie tun sich Abgründe auf:
Dieter Zurwehme wurde 1942 in Bochum geboren. Schnell stellte sich heraus, dass er nicht der leibliche Sohn des Ehemanns seiner Mutter war. Auf dessen Betreiben hin wurde eine Vormundschaft eingeleitet, in deren Ergebnis das Kind in ein Bochumer Waisenhaus kam.
Bereits eine Woche später fanden sich Pflegeeltern, die bereit waren, das Kind aufzunehmen: Familie Zurwehme aus Ottbergen bei Höxter. 1946 adoptierten die Zurwehmes das Kind, sodass es auch ihren Nachnamen erhielt.
Der Junge wuchs in Ottbergen auf, besuchte hier Kindergarten und Volksschule.
Er zeigte allerdings wenig Interesse an der Schule und fiel wegen seiner hartnäckigen Lügen ständig auf. Auch blieb er häufig dem Unterricht fern. Das Verhältnis zu den Adoptiveltern wurde immer angespannter, die Schwierigkeiten nahmen zu. Dieter Zurwehme bestand darauf, den Namen seiner leiblichen Eltern und ihren Aufenthaltsort zu erfahren, doch wurde ihm das verwehrt. Immer häufiger blieb er seinem Zuhause fern, manchmal verschwand er für mehrere Tage. Seine Adoptiveltern waren dann jedes Mal in großer Sorge, denn nie klärte er sie darüber auf, wo er sich aufgehalten hatte.
Als er gerade 13 Jahre alt war, trat er erstmals strafrechtlich in Erscheinung.
Dieter Zurwehme sprach damals ein 15-jähriges Mädchen an, dem er sein Geld abnehmen wollte. Um es von belebten Straßen wegzulocken, erzählte er dem Mädchen, dass im Wald ein totes Reh liege. Neugierig folgte es ihm, doch auf dem Weg zu dem vermeintlichen Reh ließ der Junge die Maske fallen: Er stellte dem Mädchen ein Bein, sodass es hinfiel. Brutal schlug er ihm jetzt mit der Faust auf den Kopf, hatte aber Pech: Zum einen hatte er wohl nicht mit der starken Gegenwehr des Opfers gerechnet, zum anderen kamen plötzlich Passanten heran. Dem jugendlichen Täter blieb nichts anderes übrig, als von seinem Opfer abzulassen und zu fliehen.
Wenig später wurde Zurwehme ermittelt und gestand die Tat. Aufgrund seines Alters hatte er Glück: Kinder unter vierzehn Jahren dürfen nicht bestraft werden, sodass er wegen Strafunmündigkeit mit einem blauen Auge davonkam.
Leider aber nahm der Junge dies nicht als Warnung an: Noch im selben Jahr überfiel er eine 20-jährige Frau. Sie war mit einem Fahrrad unterwegs, und genau darauf hatte Zurwehme es abgesehen. Er sprach die Frau an, erzählte ihr, dass er seine Geldbörse verloren habe, und bat sie, ihm bei der Suche zu helfen.
Die junge Frau zweifelte nicht an dieser simplen Geschichte, stieg vom Rad und suchte mit Zurwehme. Natürlich war keine Geldbörse zu finden, doch konnte der Junge während dieser Minuten in Ruhe den richtigen Zeitpunkt seines Überfalls abwarten. Zurwehme schlug mit einem kräftigen Buchenstock, den sie für die Suche benutzt hatten, heftig auf die Frau ein. Verletzt fiel sie zu Boden, woraufhin Zurwehme sich ihr Fahrrad nahm und flüchtete. Die Frau kam noch relativ glimpflich davon, erlitt an Kopf und Oberkörper Prellungen.
Lange sollte der Täter jedoch keine Freude an seiner Beute haben, denn schon zwei Tage später wurde er in Hannover mit dem Fahrrad aufgegriffen.
Die Behörden handelten: Für Zurwehme wurde zunächst die vorläufige und später die endgültige Fürsorgeerziehung angeordnet.
Er wurde in einem Erziehungsheim untergebracht, doch machte er sich bereits drei Tage später wieder aus dem Staub. Wenig später griffen Beamte ihn an der niederländischen Grenze auf und brachten ihn zurück in das Erziehungsheim. Beim zweiten Versuch gelang ihm die Flucht in die Niederlande. Mehrere Tage lang hielt er sich hier bei Verwandten auf, doch zum Dank für den Unterschlupf, der sich bot, bestahl er die Leute und reiste von jetzt an quer durch das Land.
Wieder dauerte es nicht lange, bis er erneut aufgegriffen und in das Erziehungsheim gebracht wurde. Schon zu dieser Zeit wurde Zurwehme psychiatrisch untersucht. Im Ergebnis galt er jedoch als geistig normal, krankhafte psychische Abweichungen wurden nicht festgestellt. Die Rede war lediglich von charakterlichen Mängeln.
Das Amtsgericht in Höxter, das sich mit dem Fall zu beschäftigen hatte, ordnete die endgültige Fürsorgeerziehung an. Zwar legten die Adoptiveltern Beschwerde dagegen ein, doch wurde diese vom Gericht zurückgewiesen.
Nach der achten Klasse wurde Zurwehme aus der Schule entlassen. Vorgesehen hatte man für ihn, dass er den Beruf des Schlossers erlernen sollte. Dies schien zu seinen Fähigkeiten und Neigungen zu passen. Allerdings zeigte sich der Junge auch in dieser Zeit nicht sehr ambitioniert, sondern blieb seiner Lehrstelle sehr oft fern, was am Ende sogar dazu führte, dass er aus der Fürsorgeerziehung „beurlaubt“ wurde und wieder bei seinen Adoptiveltern wohnte.
Er brach die Lehre ab und trat nun eine Ausbildung als Kfz-Schlosser an. Leider dauerte es auch hier nur ein halbes Jahr, bis er die Lehrstelle aufgab.
Mit dem erneuten Ende einer beruflichen Perspektive blieb für ihn offenbar nur eine räumliche Veränderung: Es zog ihn fort aus dem kleinen Ort Ottbergen in die Großstadt. Zurwehme verließ sein Elternhaus und fuhr nach Frankreich. Die Abenteuerlust hatte ihn gepackt, er wollte in die Fremdenlegion. Da er zu jung war, machte er in seiner Bewerbung falsche Angaben. Der Schwindel kam ans Licht und man schob ihn nach Deutschland ab.
Hier wurde Zurwehme nun in mehreren Erziehungsheimen untergebracht, aus denen er aber regelmäßig türmte. Auf seinen zahlreichen Fluchten brach er Autos auf und entwendete auch ein Motorrad.
Während dieser Zeit gab die Staatsanwaltschaft Paderborn ein Gutachten in Auftrag, das Aufschluss geben sollte über die strafrechtliche Verantwortlichkeit und den Entwicklungsstand des jungen Mannes. Nach den entsprechenden Untersuchungen in der Universitätsnervenklinik Göttingen wurde festgestellt, dass Zurwehme durchaus reif genug war, um das Unrecht seiner Handlungen einzusehen. Seine sittliche und geistige Entwicklung liege nicht hinter der von Gleichaltrigen zurück.
Hinweise auf eine Bewusstseinsstörung, eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit oder gar eine Geistesschwäche konnten ebenfalls nicht gefunden werden. Dieter Zurwehme war von seiner Entwicklung her betrachtet ein völlig normaler junger Mann.
1959 – er war damals 17 – machte er seine ersten Erfahrungen mit dem Gefängnis. Wegen schweren Diebstahls, einfachen Diebstahls, versuchten Diebstahls und wegen Unterschlagung wurde der junge Mann zu einer Jugendstrafe von unbestimmter Dauer verurteilt. Das Mindestmaß der Jugendstrafe wurde auf sechs Monate, das Höchstmaß auf zwei Jahre und sechs Monate festgelegt.
Zurwehme ging in Berufung und hatte Erfolg: Das Landgericht hob – wie es juristisch heißt – das Urteil im Strafausspruch auf und setzte die Jugendstrafe für zwei Jahre aus. Der jugendliche Täter wurde aus der Haft entlassen und zog wieder zu seinen Adoptiveltern.
Bereits ein halbes Jahr später, am 30. Dezember 1959, verübte er in einem Bahnwärterhäuschen einen versuchten schweren Raubüberfall, das Opfer war eine 50-jährige Frau. Zurwehme hatte ein Messer eingesteckt, mit dem er die Frau, die er kannte, gefügig machen wollte. Unter verschiedenen Vorwänden gelang es ihm, dass sie ihm die Tür öffnete. In der Wohnung schlug er sofort auf sie ein, sodass sie auf den Boden fiel. Er ließ nicht locker, sondern würgte sie mit beiden Händen. Die Frau wehrte sich heftig, und es gelang ihr, dem Täter in den Finger zu beißen. Wütend drohte Zurwehme, sie zu erschießen, zog dann allerdings das Messer und forderte erneut Geld von ihr. In Todesangst flehte das Opfer um sein Leben, wies auf seine sechs Kinder hin – und schließlich ließ der junge Mann von ihr ab. Die Frau verband dem Täter den Finger und gab ihm noch fünf Mark, dann entfernte sich Zurwehme.
Er wurde nach dieser Tat erneut vorläufig festgenommen, es erging Haftbefehl. Bei seiner Vernehmung bestritt Zurwehme, dass er einen Raub habe begehen wollen. Vielmehr sei er von sexuellen Motiven getrieben worden.
Erneut wurde er daraufhin in einer Klinik für Jugendpsychiatrie untersucht und ein Gutachten erstellt. Auch jetzt stellten die Ärzte keine krankhaften Veränderungen fest. Aus diesem Grund wurde eine Jugendstrafe mit einem Mindestmaß von zwei Jahren und einem Höchstmaß von vier Jahren verhängt, die auch in der Berufungsverhandlung Bestand hatte.
1962 wurde Zurwehme wegen guter Führung vorzeitig aus der Haft entlassen.
Seine so verdiente Freiheit nutzte der nun 20-Jährige auch diesmal wieder, um Straftaten zu begehen: Schon Ende 1962 wurde er erneut wegen mehrerer Diebstähle zu einem Jahr Gefängnisstrafe verurteilt.
Als er diese verbüßt hatte, dauerte es nicht lange, bis er die Polizei erneut beschäftigte: Im Februar 1965 vergewaltigte er eine frühere Freundin. Auch in diesem Fall wendete er brutale Gewalt an, schlug und würgte das Opfer und machte es letztlich durch Drohen mit einem Messer gefügig.
Aus Angst, er würde sie umbringen, versprach sie ihm, nach der Tat nicht zur Polizei zu gehen. Zum Glück besann sie sich später eines besseren und zeigte ihren Peiniger an.
Zur gleichen Zeit stahl er im Raum Hannover mehrere Kraftfahrzeuge.
1966 wurde Zurwehme zu einer Gesamtstrafe von zwei Jahren und vier Monaten verurteilt. Diese Strafe verbüßte er bis zum Juli 1967.
Noch im selben Jahr trat er in Kassel strafrechtlich in Erscheinung: Wieder hatte er ein Auto gestohlen, was ihm eine neue Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten einbrachte. Nachdem er die Strafe abgesessen hatte, setzte sich Zurwehme in die Niederlande ab.
Hier wurde er wegen verschiedenen Einbrüchen und Autodiebstählen zu einer Gefängnisstrafe von zwölf Monaten verurteilt. Anschließend zog er mit einer Freundin nach Aachen, wo er bei einer Fleischtransportfirma in einem Schlachthof Arbeit fand.
Trotz der Arbeit hielt es ihn nicht lange an diesem Ort, er wechselte mehrfach seine Wohnorte und hielt sich im November 1972 in der Gegend von Düren auf. Seine finanzielle Situation war ständig mehr als angespannt. Über ein Immobilienbüro versuchte er an eine günstige Wohnung oder ein Zimmer zu kommen. Dabei kam ihm der Gedanke, dass in einem solchen Büro auch Bargeld zu holen sei.
Gleichzeitig plante er einen Überfall auf die Ehefrau seines früheren Arbeitgebers. Die Adresse kannte er, sodass er zu einem Zeitpunkt, zu dem er ihren Mann in der Firma vermutete, bei ihr klingelte. Mit einer Lüge brachte er die arglose Frau dazu, ihm zu öffnen. Sofort griff Zurwehme sie an, hielt ihr sein Fahrtenmesser an den Hals und verlangte Bargeld.
Das zweijährige Kind der Familie begann zu schreien, die Frau ebenfalls. Doch der Täter sollte einmal mehr Pech haben: Zufällig klingelte ein Monteur an der Haustür. Zurwehme brachte dies völlig durcheinander, er verlor die Nerven und floh.