Joachim Schummer, Dr. phil. habil., geb. 1963, ist Philosoph, Soziologe und diplomierter Chemiker. Er lehrt an Universitäten nur noch auf Einladung, zuletzt als Gastprofessor u.a. in den USA, Australien, Brasilien, Bulgarien, Kolumbien, Philippinen und Deutschland. Er war wissenschaftlicher Berater der UNESCO und des Deutschen Museums in München und ist seit zwei Jahrzehnten Herausgeber einer internationalen Fachzeitschrift zur Philosophie der Chemie. Seine Forschungsschwerpunkte sind Philosophie, Geschichte, Ethik, Soziologie und Politik der Wissenschaften.
Neun Antworten auf eine alte Frage
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Wolfram Burckhardt
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ISBN 978-3-86599-259-8
1.Einleitung: Zwecke der Wissenschaft
2.Ideen zur Weltverbesserung
3.Methoden zur Schärfung des Denkens
4.Erklärungen und Aufklärung
5.Vorhersagen zum Umgang mit der Zukunft
6.Innovationen
7.Befriedigung kultivierter Neugier
8.Erfüllung in einer Lebensform
9.Orientierung in der Welt
10.Bildung
11.Die Harmonie der Zwecke und ihre philosophische Verengung
12.Das Spannungsverhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft
13.Schluss: Ein Vorschlag zu beiderlei Nutzen
Index
Anmerkungen
Wozu Wissenschaft? Schon die Frage erscheint manchem Forscher als Provokation. Warum soll man etwas rechtfertigen, das eine jahrtausendealte Tradition besitzt, das in allen Hochkulturen gepflegt wurde, was so selbstverständlich zu unserer Gesellschaft gehört wie Computer, Telefon, Fernseher und Buch – oder besser noch: wie Lesen, Schreiben und Rechnen? Solche Reaktionen bezeugen einen gesellschaftlichen Konflikt. Wer die Frage nach dem Zweck als Rechtfertigungszwang liest, sieht sich in eine Ecke gedrängt, seine Existenzberechtigung bedroht. Er missversteht sie vielleicht als Vorspiel zu einer weiteren Kürzung seines Forschungsbudgets oder einer noch strikteren Reglementierung der eigenen Tätigkeit.
Sicherlich: Ein Steuerzahler, der große Summen der öffentlichen Hand in die Wissenschaften wandern sieht, erwartet von Politikern eine Rechtfertigung für ihre Zuweisungen. Die Frage ist jedoch in ihrer Allgemeinheit so unverdächtig und bedeutsam, dass sie sich jeder stellt, der auch nur im Entferntesten mit Wissenschaft zu tun hat. Jeder Schüler, der die Grundlagen verschiedener Disziplinen erlernen soll, fragt mit Recht seine Lehrer, wozu das alles gut sein soll. Ein Journalist, der über bestimmte Forschungen berichtet, muss die Absicht der Handlungen kennen, wenn er eine spannende Geschichte erzählen will. Ein Philosoph oder Sozialwissenschaftler, der die Rolle der Wissenschaft in der Gesellschaft besser verstehen will, wird kaum umhin kommen, sich mit Zwecken zu beschäftigen. Und natürlich muss auch jeder Wissenschaftler, wenn er ein neues Projekt beginnt, Fragestellungen formulieren, für welche ihm die geplanten Forschungen in einem größeren Kontext erfolgreich erscheinen.
Von Würmern, Schnecken oder Motten erwartet niemand Zwecke. Ihr Verhalten verstehen wir als durch Ursachen bestimmt. Die Motte fliegt zum Licht, nicht weil sie sich die Absicht dazu setzt, sondern weil ihr Lichtrezeptor fast unmittelbar die Bewegungen ihres Flugapparats steuert. Bei Menschen unterstellen wir dagegen in ihren Handlungen Absichten oder selbstgesetzte Zwecke, die sie verfolgen und über die sie Rechenschaft ablegen können. Das scheitert nur dann, wenn die Handlung im Affekt, Wahn, Rausch, unmittelbaren Reflex, aus Gewohnheit oder im Spiel erfolgt. Sobald man all dies jedoch ausschließen kann, gerät jemand, der die Absichten seines Handelns nicht benennen will, unter Verdacht.
Die Wissenschaft gilt gemeinhin als Verkörperung von Zweckrationalität – manchmal wird gerade das an ihr sogar kritisiert. Sie verfolge ihre Fragestellungen planend und zielgerichtet ohne Umschweife und irreführende Affekte, vorurteilslos, gefühlskalt, »verkopft«, rational. Niemand zweifelt, ob die Wissenschaft überhaupt Zwecke verfolgt, und doch fällt es vielen schwer, diese zu benennen. Gerade weil die Forschung von außen oft so schwer verständlich ist, könnte der Verweis auf Zwecke schon eine erste Klärung bringen. Wo er unterbleibt, erwächst mehr noch als bei anderen menschlichen Handlungen der Verdacht, die Absichten würden verheimlicht. Das lädt zu wilden Spekulationen ein.
Vor diesem Hintergrund sollte man die Frage »Wozu Wissenschaft?« betrachten und die zwei stereotypen Antworten, die dazu allenthalben geliefert werden. Die eine lautet, die Wissenschaft befördere die Technik, und die andere, sie produziere Erkenntnis um ihrer selbst willen, sei »zweckfreie« Forschung. Schon auf den ersten Blick erscheinen beide nicht plausibel. Denn ein Technikbezug ist nur bei den Technikwissenschaften selbstverständlich und lediglich in einigen Bereichen der Naturwissenschaften und Mathematik erkennbar, während er bei allen Geistes- und Sozialwissenschaften mit Ausnahme der Ökonomie kaum herzustellen ist. Diese Antwort kann sich also gar nicht auf Wissenschaft allgemein beziehen. Vielmehr scheint sie eine sehr spezifische politische Frage zu erwidern: Wozu soll jener Grenzbereich dienen, welcher der Technik zugeordnet werden könnte, aber nicht unbedingt muss?
Bei der zweiten Antwort bleibt ganz unverständlich, wie man ein Produkt – Erkenntnis oder Wissen – herstellen kann, ohne damit weitere Absichten zu verfolgen. Das mag man im Spiel, Affekt oder aus Gewohnheit tun können, aber nicht im Rahmen dessen, was als Verkörperung von Zweckrationalität gilt. Auch diese Antwort, für die sich übrigens in der älteren Wissenschafts- und Philosophiegeschichte kaum Belege finden, lässt die allgemeine Frage »Wozu Wissenschaft?« unbefriedigt. Vielmehr erscheint sie als hilfloser Versuch der Verteidigung jenes Grenzbereich vor der politischen Indienstnahme für die Technik. Das wird dann deutlich, wenn die Produktion »zweckfreier« Erkenntnis mit dem vermeintlich zweckrationalen Argument begründet wird, sie ermögliche langfristig eine bessere Technik. Also doch alles nur wegen der Technik? Sollte dies das Einzige sein, um dessentwillen man Forschung betreibt, dann wäre es in der Tat schlecht um sie bestellt. Dann könnte man getrost all die Fächer abschaffen, die dem nicht förderlich oder gar hinderlich sind.
Die beiden Antworten illustrieren, wie sehr die eigentlich unverdächtige und naheliegende Ausgangsfrage in eine politische Debatte verwickelt ist über die Autonomie der Wissenschaft. Wer sich da hineinbegibt, gerät in eine Polarisierung: Magd der Technik hier, Freiheit von allen Zwecken dort. Zwischen diesen beiden Polen der eindimensionalen Perspektive lässt sich heute fast jede Position verorten. Niemand fragt mehr, ob die Antworten überhaupt plausibel und sinnvoll sind, ob sie die Wissenschaften insgesamt betreffen statt lediglich einen kleinen Bereich, was »zweckfreie Forschung« eigentlich bedeuten könnte oder ob nicht ganz andere Zweckdimensionen eine Rolle spielen. Weil Zwecke gleichbedeutend mit technischer Orientierung erscheinen, ist die Frage für die eine Seite gleichsam ein Tabu, während die andere Seite darauf immer schon ihre eindimensionale Antwort bereithält.
In einer solchen Situation ist es ratsam, Distanz zu nehmen von politischen Debatten, die uns blind machen und das Denken lähmen. Die Ausgangsfrage ist von sehr viel weiter reichender Bedeutung als aktuelle Probleme der Forschungspolitik. Denn sie betrifft unser Verständnis von Wissenschaft insgesamt und deren Rolle in der Gesellschaft. Eine Wissenschaft, die ihre Zwecke nicht mehr benennen kann, verkümmert, weil sie orientierungslos wird. Und eine Gesellschaft, welche die Wissenschaft nicht mehr begreift und deren Angebote entsprechend wahrnehmen kann, wird diese zu ihrem eigenen Nachteil fallenlassen oder nur diejenigen Aspekte nachfragen, die sie versteht. Die politische Debatte ist Ausdruck genau dieser Degenerierung.
Ich wähle in diesem Essay als Weg der Distanznahme zum einen die historische Rückbesinnung auf eine Zeit, in der die Polarisierung noch keine Rolle spielte. Als Wissenschaft noch überwiegend von Privatgelehrten betrieben wurde, was bis weit ins 19. Jahrhundert üblich war, musste man sich um die eigene Autonomie keine Gedanken machen und konnte frei diejenigen Zwecke benennen, die man für wichtig erachtete. Zum anderen hilft die philosophische Reflexion, diejenigen Zwecke wieder bewusst zu machen, die wir, gerade weil sie uns so selbstverständlich und vertraut sind oder weil wir in der Polarisierung gefangen sind, gar nicht mehr wahrnehmen können. Auf diese Weise lassen sich mindestens neun verschiedene Zwecke identifizieren, die vermutlich zu allen Zeiten, in denen Wissenschaft gedieh, eine zentrale Rolle gespielt haben. Sie charakterisieren sowohl einzeln als auch zusammengenommen die Wissenschaft insgesamt, also alle Disziplinen der Natur-, Technik-, Geistes- und Sozialwissenschaften. Daher bilden sie deren Gemeinsamkeit und Eigenart im Unterschied zu allen anderen Bereichen der Gesellschaft, auf die sie jedoch bezogen sind. Erst wenn man die Zwecke der Wissenschaft auf einer allgemeinen – und damit auch einer allgemein verständlichen – Ebene begreift, wird sowohl ihre Eigentümlichkeit als auch ihre unersetzbare Rolle für die Gesellschaft deutlich.
Im Folgenden werden die wichtigsten Überlegungen und Ergebnisse dieses Bandes zusammengefasst. Ich stelle zunächst die einzelnen Zwecke in den Kapiteln 2–10 vor, die man auch für sich oder in einer anderen Reihenfolge lesen kann. Die Kapitel 11–13 diskutieren dann diese Zwecke gemeinsam in einem philosophischen und gesellschaftlichen Zusammenhang. Dabei wird die schlichte Annahme vorausgesetzt, alle Wissenschaften produzieren nach ihren jeweils eigenen Vorstellungen Wissen oder Erkenntnis.1 Während Ähnliches jedoch auch für andere Bereiche der Gesellschaft gelten kann, etwa die journalistische Recherche oder polizeiliche Ermittlung, wird das spezifisch Wissenschaftliche daran erst durch Bezug auf ihre Zwecke deutlich.
Obwohl die Technik einen so herausgehoben Status in der gegenwärtigen Debatte besitzt, ist sie gar kein Zweck, sondern immer nur Mittel für anderes, das dann als Zweck gelten könnte. Das disqualifiziert sie als eigenen Kandidaten im vorliegenden Kontext, zumal ihr Bezug nur wenige Disziplinen betrifft. Stattdessen lässt sich der dahinterstehende und übergeordnete Zweck benennen, Ideen zur Weltverbesserung zu entwickeln. Einerseits setzt dieser eine ethische Wertereflexion voraus; andererseits bezieht er sich auf eine Welt, zu der nicht nur materielle, sondern auch soziale, psychologische und alle Arten von Sinnzusammenhängen gehören (Kapitel 2). Aus der allgemeineren Perspektive gelangen dann auch wieder alle Wissenschaften in den Blick, die jeweils auf ihre Art und in ihrem Bereich an Ideen zu einer Verbesserung arbeiten.
Ähnlich ist jedes Fach für sich kontinuierlich damit beschäftigt, unser allgemeines Denken zu schärfen, indem es neue und präzisere Begriffe bildet sowie Standards des Argumentieren, Schließens und Schlichtens in Meinungsverschiedenheiten weiterentwickelt (Kapitel 3). Es gibt zwar keine einheitliche Methode, wie es die Wissenschaftstheorie einmal erhofft hatte, aber in allen Disziplinen vergleichbare Verfahren der Bewertung und gemeinsame Werte der bedingungslosen Sachbezogenheit, Vorurteilsfreiheit, Gleichberechtigung und so weiter. Die Methoden der Wissenschaften sind zwar ihre Mittel, aber weil sie ständig auf neue Gebiete und Umstände angepasst werden müssen, ist die Weiterentwicklung ein zentraler Zweck. So fremdartig all dies aus der normalen Lebenswelt erscheinen mag, so sehr ist es ihr doch immer wieder eine unverzichtbare Inspirationsquelle gewesen zur Bewältigung nichtalltäglicher Probleme.
Das ist noch deutlicher im dritten Zweck der Wissenschaft, nämlich Antworten auf Warum-Fragen zu finden (Kapitel 4). Ob als Ursachenerklärung, wie in den Natur- und Technikwissenschaften, als Verstehen von Sinnzusammenhängen, wie in den Geisteswissenschaften, oder als Aufklärung über grundlegende natürliche und gesellschaftliche Verhältnisse: überall ringen die Wissenschaften um Verständnis. Sie tun dies in einer Weise, die aus der Alltagsperspektive oft respektlos erscheint, weil sie die gewohnten Selbstverständlichkeiten hinterfragen und manchmal sogar komplett über Bord werfen. Sobald man jedoch mit einem neuartigen Problem konfrontiert ist, bei dem unsere Lösungsroutinen versagen, hilft auch im Alltag nur die wissenschaftliche Herangehensweise der kompromisslosen Analyse.
Komplementär zur Erklärung ist der Zweck der Vorhersage (Kapitel 5). Die Wissenschaft ist natürlich keine Hellseherei, aber sie stellt, wiederum in allen ihren Disziplinen, die besten verfügbaren Mittel bereit, um zukünftige Entwicklungen abzuschätzen und Prognosen jeglicher Art kritisch zu bewerten. Beides ist von großem persönlichen und gesellschaftlichen Wert. Denn einerseits bestimmen unsere Erwartungen alle unsere Handlungen und andererseits ist die Unsicherheit der Zukunft für die meisten Menschen eine erhebliche Belastung. Das macht sie anfällig für die allgegenwärtigen manipulativen Spiele mit Hoffnungen und Ängsten, die unsere Entscheidungen und Handlungen beeinflussen wollen. Wer sich dem entziehen will, findet allein in der Wissenschaft ein geeignetes Gegenmittel.
Zu den unvorhersehbaren Ereignissen gehört alles Neue im eigentlichen Sinne. Innovation ist als Zweck so fest in allen Wissenschaften verankert, dass lediglich neuartige Erkenntnis als eine schätzenswerte Leistung gilt (Kapitel 6). Dadurch wird sie selbst kurioserweise unvorhersehbar und weder planbar noch determinierbar, allen politischen und unternehmensberaterischen Innovationsbemühungen zum Trotze. In ihrem systematischen Streben nach Neuheit unterscheidet sich die Wissenschaft von allen anderen gesellschaftlichen Bereichen, auch von der Kunst. Ihre Kreativität ist daher ein unersetzlicher und unerschöpfbarer Quell von Neuheit, der in vielen gesellschaftlichen Bereichen Anwendung findet.
Das betrifft insbesondere die Befriedigung des menschlichen Grundbedürfnisses der Neugier (Kapitel 7). Die Geschichte liefert überraschend eindeutige Belege: Wissenschaft gedieh nur dann und dort, wo die Befriedigung der Neugier als Zweck gelten durfte. Immer wenn sie pauschal geächtet wurde – meist als eitlen Vorwitz, der sich um Dinge kümmerte, die niemanden etwas angehen durften –, verkümmerte die Forschung. Der Aufstieg der modernen Wissenschaften geschah nicht zuletzt durch ihr gesellschaftliches Angebot einer einzigartigen alternativen Befriedung dieses Grundbedürfnisses. Wer seine Neugier kultiviert und auf Erkenntnisfragen ausrichtet, erfährt eine größere Genugtuung, als ihm die »schmutzige Wäsche« seines Nachbarn je bieten könnte.
Die Befriedigung der Neugier im Ergebnis sowie der eigenmotivierte Ansporn und Reiz im Forschungsprozess sind zentrale Motive für die Wahl eines Forscherlebens. Hinzu kommt die Vorliebe für Sachbezogenheit, Vorurteilsfreiheit, Gleichberechtigung, Allgemeinheit von Eigentum und andere soziale Werte anstelle von emotionaler Beeinflussung, Diskriminierungs- und Machtspielen sowie der Fixierung auf Privateigentum. Man betreibt Wissenschaft, gleich welcher Disziplin, nicht wie irgendeine Erwerbstätigkeit, sondern entscheidet sich für sie als Lebensform, so wie es die meisten Forscher bis ins 19. Jahrhundert noch als Privatgelehrte taten. In diesem grundlegenden Sinn ist sie ihr Zweck, dasjenige, um dessentwillen man sie betreibt (Kapitel 8). Gerade weil sich die wissenschaftliche Lebensform in vielerlei Hinsicht deutlich von den bürgerlichen Formen unterscheidet, bietet sie ein wichtiges Korrektiv, eine Alternative und Orientierung bei der persönlichen Wahl jedes Einzelnen.
Derjenige Zweck, der bei der Idee einer »zweckfreien« Wissenschaft vermutlich leitend war, besteht in der Entwicklung eines Weltbildes (Kapitel 9). Doch bei genauerer Betrachtung sind die Wissenschaften weder alleine noch zusammengenommen dazu in der Lage. Vielmehr sind Weltbilder immer das Produkt einseitiger metaphysischer Verallgemeinerungen, die meist zur Popularisierung einzelner Disziplinen propagiert wurden. Stattdessen liefert uns das gesamte Spektrum der Wissenschaften ein differenziertes und konkurrenzloses Angebot der Weltorientierung in all ihren natürlichen, technischen, sozialen und Sinndimensionen. Die verschiedenen Fächer arbeiten jeweils in ihrer Weise an der Beantwortung von Fragen nach dem, was es gibt, was wann und wo gewesen ist, was auf welche Art miteinander zusammenhängt oder was möglich und unmöglich ist. Das erfüllt auf einmalige Weise unsere wichtigsten Bedürfnisse nach Orientierung in der Welt.
Die Wissenschaft ist kein Unternehmen von Einzelgängern, sondern sie tauscht sich stets untereinander aus, zieht ihren eigenen Nachwuchs heran und vermittelt ihre Ergebnisse der allgemeinen Öffentlichkeit. Die Bildung ist einer ihrer wichtigsten Zwecke, ohne die sie überhaupt nicht existieren könnte (Kapitel 10). Dies wird heute oft übersehen, obwohl historisch sogar alle ihre wichtigsten Reformen zugleich Bildungsreformen waren und fast alle Inhalte der höheren Bildung bis heute wissenschaftlichen Ursprungs sind. Das Thema erlaubt es, die zuvor genannten acht Zwecke noch einmal gesondert unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten, der uns ganz eindringlich die existenzielle Bedeutung der Wissenschaft für die Gesellschaft vor Augen führt.
Keiner der neun Aspekte ist wohlgemerkt neu, vieles mag sogar auf den ersten Blick fast trivial erscheinen, sobald man sich von der Polarisierung gelöst hat. Aber es wird Aufgabe der einzelnen Kapitel sein, sie auch als zentrale Zwecke der Wissenschaft auszuweisen und sowohl ihre wechselseitigen Verträglichkeiten als auch die Grenzen und Barrieren ihrer Verfolgung zu bestimmen.
Auch wenn hier kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben wird, entspringen die einzelnen Zwecke nicht einer bloß zufälligen Listung von Möglichkeiten. Tatsächlich können sie in der Wissenschaft alle zugleich verfolgt werden und bilden zusammengenommen ein harmonisches Gefüge, in dem die mittelfristige Vernachlässigung eines Zwecks auf Kosten der anderen geht (Kapitel 11). Vor diesem Hintergrund erscheint es rätselhaft, wie es überhaupt zu der heutigen eindimensionalen Polarisierung kommen konnte. Deren Ursprung lässt sich in einem Konflikt zweier philosophischer Hauptströmungen des 19. Jahrhunderts ausmachen: der Entkleidung der Wissenschaft von allen Lebensbezügen im Deutschen Idealismus und dessen marxistischer Gegenentwurf einer Wissenschaft im Dienste der kapitalistischen Industrie. Dass sich ausgerechnet die Philosophie bis heute nicht von dieser ideologischen Spaltung befreien konnte, liegt auch an der Verstärkung des Konflikts im Kalten Krieg, der uns eine zweckbereinigte Wissenschaftstheorie beschert hat. Eine Überwindung der Polarisierung muss sich daher auch wieder philosophisch auf die Vielfalt der Zwecke besinnen.
Mit dem Zweckgefüge gerüstet, lässt sich nun auch das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft neu verstehen (Kapitel 12). Einerseits bietet die Verfolgung jeder dieser Zwecke einer modernen Gesellschaft wichtige bis existenzielle Grundlagen. Andererseits wäre eine autonome Wissenschaft, die sich auf ihren Kern zurückzieht, zwar geschwächt, bliebe aber bis heute denkbar. Das Abhängigkeitsverhältnis beider ist also durchaus einseitig. Das erklärt, weshalb die Gesellschaft sich die Wissenschaft gleichsam einzuverleiben sucht, indem sie ihr ihre eigenen Werte und Organisationsformen überstülpt. Weil die Wissenschaft jedoch in ihrer eigenen Grundstruktur so andersartig ist, führt dies zur einer massiven Beschneidung und Behinderung jedes einzelnen ihrer Zwecke. Die gesellschaftliche Einverleibung erstickt daher die Wissenschaft und treibt sie in eine Aufspaltung, zu erheblichem Schaden auf beiden Seiten. Das Ergebnis der Rück- und Neubesinnung lautet daher: Nur wenn die Wissenschaft in ihrer eigenartigen Zweckstruktur verstanden und respektiert wird, kann sie der Gesellschaft von elementarem Nutzen sein.
Das Schlusskapitel zieht dieses Resümee mit einem Lösungsvorschlag und weist die Einwände zurück, die man von den ideologischen Polen aus zu erwarten hat. Von der einen Seite wird man hören, die Forschung sei viel zu komplex, um ihr irgendwelche bestimmten Zwecke unterstellen zu können. Die andere Seite wird die Darstellung als anachronistisches Märchen betrachten, das im heutigen Zeitalter der »post-akademischen«, also rein technikorientierten, Wissenschaft längst überholt sei. Doch selbst wenn man sich meinen Gegenargumenten verschließt, wird man das Zweckschema zumindest als begriffliches Instrument akzeptieren müssen, um die gegenwärtigen rasanten Veränderungen zu begreifen. Danach lässt sich immer noch unbefangen fragen, ob man diese gutheißt. Wer hingegen nicht in der Polarisierung gefangen ist, wird in der Darstellung auch die Potenziale erkennen, welche die Wissenschaft für die Gesellschaft birgt, die jedoch in schwindendem Maße von ihr wahrgenommen werden. Dann lässt sich das Schema auch kritisch anwenden, um genau das einzufordern, was sowohl gesellschaftlich nützlich ist als auch zu den Kernkompetenzen der Wissenschaft gehört.
In meinen beiden letzten Büchern, zur Nanotechnologie und Synthetischen Biologie, habe ich aus einem kulturgeschichtlichen und philosophischen Kontext heraus kritische Positionen zu neueren Entwicklungen der Wissenschaft formuliert.2 Dieser Band betont demgegenüber die konstruktive Seite, indem er ihre zunehmend in Vergessenheit geratenen Potenziale heraushebt. Daran wird zugleich deutlich, wie sehr die beiden Hauptaufgaben einer zeitgemäßen Philosophie der Wissenschaften, Kritik und Konstruktion, miteinander verwoben sind.
Ein beachtlicher Teil der naturwissenschaftlichen Forschung findet heute eine direkte oder indirekte Verwertung bei der Entwicklung und dem Gebrauch von Technik. Viele Projekte sind sogar ausdrücklich auf solche Nutzung ihrer Ergebnisse ausgerichtet. Umgekehrt ist die Technikentwicklung in den meisten Bereichen auf wissenschaftliches Wissen angewiesen. Das ist keine Besonderheit heutiger Hochtechnologien; vielmehr erkannte das im vierten vorchristlichen Jahrhundert bereits Platon, von dem viele dies nicht vermuten würden, weil er ihnen als Vertreter »zweckfreier« Wissenschaft gilt. Tatsächlich unterschied er aber zwei Arten von Erkenntnissen, eine auf »reine« Einsicht gerichtete und eine, die allem praktischen Handeln zugrunde liegt. Die erste Art sah er in der »reinen« Mathematik verwirklicht, deren ausschließlicher Zweck die pädagogische Einübung und Pflege abstrakten Denkens war, worauf wir in Kapitel 10 zurückkommen werden. Die zweite umfasste die Kenntnis von Ursachen und Prinzipien der Welt, um menschliche Handlungen zu rationalisieren, weswegen gerade auch die Techniken diese benötigten.3 Weil alles menschliche Handeln nach ethischen Standards orientiert sein sollte, war ihm die Technik jedoch selbst kein Zweck, sondern lediglich Mittel zur Beförderung des Guten.
Platons Unterscheidung, aus der sich in der europäischen Aufklärung die Trennung von »reiner« und »angewandter« Wissenschaft ableitete,4 kann nicht als Begründung der in der Einleitung skizzierten Polarisierung herhalten. Denn weder beschreibt sie eine zweckfreie Wissenschaft, noch bestimmt sie die Technik als Zweck. Hinter dieser, wie hinter jeder »angewandten« Wissenschaft, stehen vielmehr Ideen darüber, was durch sie bewirkt werden soll.
Weil Technik durch die Polarisierung so sehr in den Vordergrund gerückt ist und uns den Blick für die Vielheit der Zwecke verstellt, nimmt dieses Kapitel, wie bereits in der Einleitung angedeutet wurde, einen anderen Weg als die folgenden. Es beginnt mit einer Relativierung der Technik als eines Zwecks der Wissenschaft. Ich versuche das nicht durch subtile philosophische Argumente, sondern indem ich gleichsam den Alltagsverstand mit einer Reihe von Tatsachen und einfachen Überlegungen zur ihrer Rolle in der Gesellschaft konfrontiere. Daran schließt eine Neubestimmung des übergeordneten Zwecks der Weltverbesserung an, die der Platonschen Vorstellung nicht unähnlich ist, aber alle Wissenschaftsdisziplinen umfasst. Statt die abstrakte Idee des Guten zu reflektieren, resümiere ich schließlich die wichtigsten Konzepte der Technikethik, die jedes wissenschaftliche Bemühen um Weltverbesserung berücksichtigen sollte.
Die meisten Menschen beantworten die Frage nach dem Zweck der Wissenschaft heute pauschal durch Verweis auf die Technik. Da technisches Gerät im Alltag wie im Berufsleben allgegenwärtig ist, scheint nichts plausibler, zumal Bedienungsanleitungen oft schon sprachlich eine wissenschaftliche Herkunft verraten. Computer, Internet, Digitalkamera, Flachbildfernseher, Navigationsgerät, Smartphone …: die Wissenschaft scheint ein unerschöpflicher Quell für die Unterhaltungselektronik zu sein, die ihre Outlets in allgegenwärtigen Elektronikmärkten finden. So gerne dieses Bild zur Legitimation von Wissenschaft verwendet wird, wenn es etwa um die Zuweisung öffentlicher Forschungsgelder geht, so sehr bedarf es der Korrektur.
Zunächst fällt die Einseitigkeit der Perspektive auf, die Geistes- und Sozialwissenschaften gänzlich ausklammert zugunsten der Natur- und insbesondere der Technikwissenschaften, hier sogar nur sehr spezieller Zweige der Elektrotechnik und Informatik. Diese Ausblendung geht zum Teil auf einen Anglizismus zurück, denn das englische Wort science bedeutet nicht Wissenschaft, sondern meint ursprünglich nur Naturwissenschaft und Mathematik. Das amerikanische Alltagsverständnis ist sogar so sehr durch die eigene Science-Fiction geprägt – in der seltenst Naturwissenschaft, aber stets eine fiktive Technik dramatische Funktionen übernimmt –, dass die Bedeutungen von Wissenschaft und Technik miteinander verschmolzen sind. Eine ähnliche Einseitigkeit findet man in den amerikanischen Forschungsförderinstitutionen sowie daran anlehnend auch im Pendant der Europäischen Kommission, ganz zu schweigen von dem deutschen Forschungsministerium, das bekanntlich als »Bundesministerium für Atomfragen« begann. Die besondere Fokussierung auf Computer- und Kommunikationstechnik ist überdies durch das ausgeprägte Interesse amerikanischer Medien für den heimischen Markt bestimmt. Auch wenn dies inzwischen weltweit kopiert oder international verbreitet wird durch Internet-Newsportale von Google, Yahoo, Microsoft und anderen US-Firmen dieser Branche, so liefert deren Berichterstattung doch ein äußerst verzerrtes Bild der internationalen Wissenschafts- und Techniklandschaft.
Zur Korrektur des Bildes sollte man bedenken, dass der weitaus größte Teil der Technik von Verbrauchern gar nicht wahrgenommen wird, weil es sich dabei gar nicht um Konsumgüter dreht oder Dinge, mit denen man im Alltag in bewusste Berührung kommt. Das betrifft zum Beispiel die Militär- und Raumfahrttechnik, die Fertigungs-, Prozess-, Verfahrens- und chemische Technik, die Metallerzeugung und -verarbeitung, die Mess- und Regelungstechnik, die betriebswirtschaftliche Informatik, den Anlagenbau sowie die meisten Bereiche der Material-, Elektro-, Medizin-, Umwelt-, Abfall- und Energietechnik sowie weite Teile des Maschinenbaus und der Pharmazie. In vielen dieser Bereiche ist die deutsche Industrie international stark vertreten, während die beliebten Konsumgüter der Unterhaltungsindustrie seit Jahrzehnten überwiegend in Asien produziert und entwickelt werden. Demgegenüber macht der Gesamtwert deutscher Geräte der Unterhaltungselektronik gerade einmal 0,1% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) oder 0,6% der gesamten Industrieproduktion aus, während für die Forschung hier insgesamt das Dreihundertfache ausgegeben wird.5 Dadurch wird aber der Verweis auf diese Produkte und andere Dinge des täglichen Lebens als Legitimation der Wissenschaft schlechthin zumindest für dieses Land (und die meisten Industrieländer) mehr als fragwürdig.
Um die Bedeutung der Wissenschaft für die Technik in der Gesellschaft zu ermessen, ist es hilfreich, sich einige Zahlen zu vergegenwärtigen. Die deutsche Industrie (beziehungsweise das »verarbeitende Gewerbe« im Jargon der amtlichen Statistiker) lieferte im Jahr 2011 eine Wertschöpfung von knapp 505 Milliarden Euro. Das waren etwa 22% des BIP im Unterschied zu den fast drei Vierteln des BIP, das der sogenannte Dienstleistungssektor erwirtschaftete, für den keine Forschungsquoten vorliegen. Ein großer Teil der Industrie produziert jedoch weitgehend unabhängig von neuer naturwissenschaftlicher Erkenntnis, etwa die Nahrungsmittel-, Getränke-, Genussmittel-, Möbel-, Druckerei-, Textil-, Baustoff-, Kunststoff-, Schwer-, Mineralöl- und chemische Grundstoffindustrie sowie große Teile des Maschinenbaus, Schiffsbaus und der Bautechnik, obwohl natürlich in der Vergangenheit immer wieder Forschungsergebnisse in die jeweiligen Verfahren eingeflossen sind oder sie erst ermöglicht haben. Auf nennenswerte Aufwendungen für Forschung und Entwicklung kommen heute nur die wenigen Industrien, die sich unter einem technischen Innovationsdruck befinden, der verschiedene Gründe haben kann. Entweder etabliert man noch relativ junge Techniken (wie zum Beispiel die Umwelt- und alternative Energie-, Gen-, Medizin-, Elektrotechnik und Informatik), steht unter anhaltendem Konkurrenzdruck auslaufender Patente (pharmazeutische Industrie), möchte den Eindruck ständiger Modellinnovation erwecken (Automobilindustrie) oder bedient einen politischen Wettstreit mit öffentlichen Geldern (Militär- und Raumfahrttechnik). Selbst bei sehr großzügiger Berechnung machen diese Bereiche zusammengenommen keine zehn Prozent des BIPs aus. Das ist weniger als über die Vermietung von Grundstükken und Wohnungen in Deutschland erwirtschaftet wird. Wer die gesamte Wissenschaft als Dienstleisterin der Technik aus ökonomischer Perspektive begreift, degradiert also ihre gesellschaftliche Bedeutung auf die von Immobilienmaklern.
Gegenüber diesem relativ kleinen Bereich innovationsgetriebener Industrie erscheinen die gesamtgesellschaftlichen Forschungsaufwendungen von etwa 70 Milliarden Euro in Deutschland astronomisch hoch. Die Zahl wird aber relativiert, sobald man bedenkt, dass davon allein circa 47 Milliarden Euro von Industrieunternehmen für die »Forschung und Entwicklung« ihrer spezifischen Produkte ausgegeben werden. Denn fast die gesamte Summe wird für die äußerst kostenintensive Prozedur verwendet, eine wissenschaftlich etablierte Idee in ein marktfähiges Produkt zu überführen. Dazu bedarf es sehr aufwändiger Studien, die ein im Labor bewährtes Prinzip über Prototypen zum großtechnischen Verfahren oder marktfähigen Produkt entwickeln, die das Prinzip als eine von vielen Komponenten in ein komplexes Gerät integrieren, die mögliche Produkte an gesetzlich geforderte Sicherheitsstandards heranführen und an die tatsächlichen Bedürfnisse und Wertvorstellungen der Nutzer anpassen. Im Pharmabereich beispielsweise schafft es allenfalls einer von zehnttausend Wirkstoffen, die im Labor zunächst als tauglich erscheinen, nach jahrelanger Entwicklung und Tests über extrem teure klinische Studien zur Marktreife.6 Zwar fließen die wissenschaftliche Bildung und aktuelle Kenntnisse der Mitarbeiter in diese Prozesse ein, aber die produktspezifische Forschung und Entwicklung kann kaum als Wissenschaft zählen. Denn diese hat es immer mit allgemeinen Fragen zu tun und hat völlig andere methodische Standards zur Grundlage, welche in einer betriebsgeheimen Industrieforschung gerade nicht verfolgt werden können (siehe Kapitel 3). Die restlichen Gelder, von denen jeweils etwa die Hälfte an private oder staatliche Forschungsinstitute und an Hochschulen fließen, gehen zu 95% an die Natur- und Technikforschung,7 wobei wiederum der größte Teil direkt oder indirekt der industrienahen Produktentwicklung zukommt.
Wie weit die industrielle Entwicklung oft, freilich nicht immer, von der Wissenschaft entfernt ist, lässt sich an einem Beispiel illustrieren. Die verschiedenen Komponenten der sogenannten »Wasserstofftechnik« – also die Erzeugung von Wasserstoff durch Elektrolyse von Wasser oder Vergasung von Kohle beziehungsweise Erdgas mit Wasser, die Stromgewinnung aus Wasserstoff durch elektrochemische Reaktion mit Luftsauerstoff und die Grundverfahren zur Speicherung und Weiterleitung von Wasserstoff – sind allesamt seit mindestens einem halben Jahrhundert, viele sogar seit Jahrhunderten, wissenschaftlich bekannt. Die Technikentwicklung arbeitet demgegenüber seit wenigen Jahrzehnten an Effizienzsteigerung, an der Erfüllung von Sicherheitsstandards und an den Möglichkeiten, die schon lange etablierte Infrastruktur zur Leitung und Speicherung von Erdgas auch für Wasserstoff zu nutzen. Dabei geht es jedoch kaum noch um wissenschaftliche Fragen im eigentlichen Sinne, sondern in erster Linie um wirtschaftliche und politische Lösungen.
Bei anderen Problemen scheinen die technischen und politischen Wege bereits geebnet und man wartet lediglich auf den vermeintlich planbaren wissenschaftlichen »Durchbruch«. Ein ernüchterndes Beispiel liefert die Antibiotikaforschung. Inzwischen ist allgemein bekannt, dass die Verwendung von Antibiotika durch die Bildung bakterieller Resistenzen zeitlich begrenzt ist, weswegen wir in wenigen Jahren wieder völlig hilflos altbekannten und als behandelbar erachteten Krankheiten gegenüberstehen werden, wie Tuberkulose, Cholera oder Syphilis, wenn bis dahin keine neuen Wirkstoffe entwickelt sind. Unter diesem Druck hat die Wissenschaft ganz neuartige Verfahren entwickelt, um weitere Antibiotika aufzufinden. Dazu gehört das target drug design, nach dem die Molekülstruktur des Wirkstoffs gezielt nach Angriffsstellen der jeweiligen Bakterien synthetisiert wird. Außerdem sind automatisierte und miniaturisierte Screening-Verfahren entwickelt worden, die es erlauben, tausende Stoffe innerhalb kürzester Zeit auf ihre antibiotische Wirksamkeit zu testen. Diese hat man entweder durch weltweite Erfassung von Naturstoffproben oder durch die dafür neu entwickelte »kombinatorische Chemie« in großer Zahl gewonnen. Doch trotz des enormen Forschungsaufwands und der dabei entwickelten raffinierten Verfahren sind seit 1970 lediglich eine Handvoll neuer Antibiotikaklassen auf den Markt gelangt, während man in der »goldenen Ära« zwischen 1941 und 1969 mit vergleichsweise geringer Mühe 23 entsprechende Wirkstoffgruppen etablieren konnte.8 Das Beispiel zeigt eindrücklich, dass der Erfolg der Forschung selbst bei stringenter Nutzenorientierung und größtem Aufwand weder voraussehbar noch planbar oder gar erzwingbar ist, wie es Wissenschaftspolitiker, Unternehmer und Wirtschaftsberater gerne hätten und uns glauben machen.
Es wäre allerdings falsch, aus den bisherigen Überlegungen den Schluss zu ziehen, die Technik spiele nur eine unbedeutende Rolle in der Wissenschaft. Denn natürlich sind technische Anwendungen, oder allgemeiner: Nützlichkeitsüberlegungen, häufig der (ökonomische und psychologische) Motor wissenschaftlicher Forschung, was übrigens durchaus verträglich ist mit anderen Zwecken, wie noch zu zeigen ist. Das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Technik ist aber viel komplexer, als es das einfache Bild nahelegt, da die Entwicklung beider Bereiche jeweils auch nach eigenen Gesetzmäßigkeiten erfolgt. Denn, wie die beiden obigen Beispiele demonstrieren, folgt weder auf eine wissenschaftliche Entdeckung, selbst wenn ihre Anwendung gleichsam auf der Hand liegt, automatisch eine technische Entwicklung, noch lassen sich umgekehrt wissenschaftliche Ergebnisse für technische Zwecke erzwingen.
Die Frage nach der Technik als Zweck der Wissenschaft hat seit dem 19. Jahrhundert zu einer bemerkenswerten Spaltung der Deutungen mit ideologischen Zügen geführt, wie wir noch ausführlich in Kapitel 11 sehen werden. Denn sie betrifft die Autonomie der Wissenschaft und ist mit politischen Weltanschauungen verknüpft. Aus marxistischer Perspektive, wonach die Wissensproduktion notwendigerweise den herrschenden Machtinteressen folgt, wurde Naturwissenschaft weitgehend als Instrument kapitalistischer Technik aufgefasst. Demgegenüber formulierte die westliche Wissenschaftstheorie, die zumeist der mathematischen Physik eng verbunden war, die Wissenschaft folge ihrer eigenen Entwicklungslogik, sei von »reinem« Erkenntnisstreben genialer Köpfe getragen und könne allenfalls in einem separaten zweiten Schritt auf technische Fragen »angewandt« werden. Während die marxistische Seite die Wissenschaft als Bestandteil der Technikentwicklung deutete, ließ ihr westliches Pendant die Technik nur als nachgeordnetes, unbeabsichtigtes Nebenprodukt gelten.
Der ideologische Schlagabtausch hat nicht unwesentlich zur Polarisierung der Zweckfrage beigetragen – »reine« Erkenntnis hier, bedingungslose Technikorientierung dort. Dadurch wurden bis heute alle anderen Zwecke der Wissenschaft in den Hintergrund gedrängt, die im vorliegenden Band wieder in Erinnerung gerufen werden. Die Debatte hat aber auch eine Vielzahl interessanter historischer Studien provoziert. So absurd es ist, die Wissenschaft schlechthin als Knecht von Kapitalinteressen zu sehen und dabei alle anderen Zwecke zu verleugnen, so unhaltbar ist der Mythos von einer eigenen Entwicklungslogik der »reinen« Erkenntnis. Denn es lässt sich beispielsweise schwer leugnen, dass die Geometrie ihre Ursprünge in der Landvermessung hat, so wie die Astronomie ihre in der Astrologie; die frühneuzeitliche Mechanik wesentlich durch die Ballistik und andere Militärtechniken beeinflusst war; die Thermodynamik aus dem Bemühen um effizientere Dampfmaschinen erwuchs; die biologische Genetik und Evolutionstheorie wesentlich aus Fragen der Züchtungsforschung hervorgingen; die geologische Schichtenlehre der Kartographierung von Lagerstätten entstammt; und die organische Chemie ihr Entstehen zu großen Teilen der Pharmazie, Agrartechnik und Färberei verdankt.9
Die ideologische Debatte hat ein weiteres Problem in den Hintergrund gedrängt: jede nutzenorientierte Forschung ist wertgeleitet und kann dadurch einer differenzierten ethischen Bewertung unterzogen werden. Während die marxistische Perspektive pauschal das Kapitalinteresse hervorhob und oft mit Standardroutinen kritisierte, hat die westliche Seite meist auf der ethischen Neutralität der Wissenschaft bestanden. Nun sind aber technische Geräte und Verfahren immer nur Mittel, um bestimmte Zwecke zu erreichen. Dadurch wird aber die Rede von der Technik als Zweck der Wissenschaft zu einer leeren Floskel, solange nicht die beabsichtigten Zwecke der jeweiligen Technik benannt werden. Bezieht man die Technik hingegen allgemein auf Veränderung der Welt zum Besseren, oder schlicht: Weltverbesserung, dann ist damit eine sehr viel breitere und zugleich präzisere Perspektive gewonnen.
Zum einen lassen sich nun alle anderen Forschungen einbeziehen, die Ideen entwickeln, welche der Weltverbesserung dienlich sein könnten. Große Bereiche der Naturwissenschaften arbeiten an der Erkenntnis von Zusammenhängen, die nützlich ist, ohne eine Technik zu involvieren. Man denke etwa an ernährungswissenschaftliche Studien, die uns vor Fehlernährung bewahren, oder an umweltanalytische, meteorologische und klimatologische Arbeiten, die uns erst auf viele selbsterzeugte Umweltprobleme aufmerksam gemacht haben. Auch die bisher pauschal ausgeklammerten Geistes- und Sozialwissenschaften gehören dazu, sofern sie nach der Lösung gesellschaftlich relevanter Probleme forschen, beispielsweise Barrieren des gegenseitigen Verstehens und Verständigens zwischen Kulturen, Generationen, Nationen, Berufs- und Interessengruppen; Konflikte rechtlicher, moralischer, politischer oder ästhetischer Natur; oder Probleme des Warentauschs, Verkehrs, Verwaltungswesens, der Erziehung und Bildung. Sehr vieles von dem, was unsere amtlichen Statistiker bis heute im Geiste der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts pauschal in die Kategorie »Dienstleistung« packen, also etwa drei Viertel aller beruflichen Tätigkeiten, war und ist natürlich Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung verschiedenster Disziplinen mit dem Ziel der Verbesserung. So wie Absolventen der Natur- und Ingenieurwissenschaften ihre Fähigkeiten in verschiedenen Berufen bei der technischen Produktentwicklung zur Anwendung bringen, ohne damit schon Wissenschaft zu betreiben, so tun dies natürlich auch Geistes- und Sozialwissenschaftler bei der Entwicklung gesellschaftlicher Projekte.
Zum anderen gewinnen wir mit dem Zweck der Weltverbesserung eine präzisere Bestimmung und zugleich eine Bewertungsgrundlage. Während jedes beliebige Gerät zur Erreichung jeden beliebigen Zwecks als Technik gelten kann, zählen hier nur solche Mittel und Methoden, die dem Anspruch nach die Welt verbessern. Das erfordert eine Bewertung nicht nur nach funktionalen Kriterien, sondern auch nach ethischen Wertmaßstäben. Zur Weltverbesserung gehört also sehr viel mehr als Technik, und nicht jede Technik dient der Weltverbesserung.
Wie sehr natur-, technik-, geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung bei der Weltverbesserung ineinandergreifen können und wie sehr die Fokussierung auf die Technik den Blick dafür verengt hat, lässt sich an einem Beispiel illustrieren. Durchfallerkrankungen gehören immer noch zu den häufigsten Todesursachen in vielen Entwicklungsländern,10 daher wäre ihre Vermeidung ein wichtiger Beitrag zur Weltverbesserung. Von den Naturwissenschaften kennen wir die Ursache der Durchfallerkrankungen, nämlich Krankheitserreger, die über Trinkwasser und Nahrung aufgenommen, im Darm vermehrt und teilweise wieder ausgeschieden werden. Die naheliegende Lösung besteht darin, Trinkwasser und Nahrung der betroffenen Menschen erregerfrei zu halten. Dazu gibt es eine Vielzahl von technischen und sozialen Ansätzen: Anlagen zur Filterung oder Sterilisation von Wasser, ungekochte und ungewaschene Nahrung vermeiden, eine strenge Hygiene bei der Nahrungszubereitung, die Einrichtung öffentlicher Toiletten sowie insbesondere eine strikte Trennung von Trink- und Abwassersystem. All diese Maßnahmen sind lange bekannt und erforscht und wären nach Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation auch ausreichend zur Lösung. Trotzdem sterben jährlich mehrere Millionen Menschen an Durchfallerkrankungen, hat mehr als eine Milliarde Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser.11
Die Herausforderung der Technikwissenschaften besteht hier nicht darin, teure High-Tech-Filteranlagen zu entwickeln, sondern Verfahren, die an die gegebene Ressourcenlage angepasst sind, also etwa Wassersterilisation durch UV-Strahlung der Sonne oder kleine Ozonisierungs- beziehungsweise Chlorierungsanlagen, die über die Entladung einer Autobatterie funktionieren können. All dies scheitert jedoch bis heute oft an der praktischen Umsetzung. Denn wer nicht die komplexe Ursachenkette versteht, wonach der Durchfall durch unsichtbare Keime verursacht ist und der Entladungsfunke Ozon zur Abtötung dieser Keime erzeugt, weil er auf ganz andere Formen der kausalen Zurechnung und Vermeidung vertraut, der wird auch nicht den Nutzen all dieser Maßnahmen einsehen. Daher wäre hier geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung gefragt, um das kulturell geprägte Weltbild der betroffenen Menschen und ihre sozialen Strukturen und Gewohnheiten zu verstehen, damit technische Lösungen schon bei der Entwicklung in diese Welt eingebettet und durch entsprechende Bildungsmaßnahmen unterstützt werden können.
Das Scheitern der Technik in manchen Entwicklungsländern offenbart das allgemeine paternalistische Missverständnis, technische Ansätze zur Weltverbesserung seien an sich gut und bedürften zur Umsetzung allenfalls Erziehungsmaßnahmen. Man kennt diese Herangehensweise auch hierzulande von der Atom- und Gentechnik sowie neuerdings von der Nanotechnologie und Synthetischen Biologie, für deren Akzeptanzbeschaffung Geistes- und Sozialwissenschaftler rekrutiert werden.12 Es gehört aber weder zu den Forschungsaufgaben noch zu den Kompetenzen dieser Disziplinen, die Vorzüge einer Technik anzupreisen. Deren Beitrag kann aber darin bestehen, Wertkonflikte zu studieren und vermittelnde Lösungsansätze bereits von Beginn an in die Technikentwicklung einfließen zu lassen, wozu es international bereits eine Vielzahl von Konzepten und erfolgreichen Projekten gibt.13 Geistes- und Sozialwissenschaftler sind dann Teil des Entwicklungsteams und müssen die Ergebnisse auch entsprechend mitverantworten.
Der Schritt von der Technik zu Ideen der Weltverbesserung als ein Zweck der Wissenschaft setzt diese unter den Primat der Ethik, also der Reflexion auf Werte, aus denen erst beurteilt werden kann, ob etwas gut oder schlecht, eine Verbesserung oder Verschlechterung ist. Zur Bewertung von Forschungen hat die Wissenschafts- und Technikethik inzwischen umfangreiches Material geliefert, das im Folgenden nur umrissartig dargestellt werden kann.
Alle Forschungen, die dem erklärten Ziel dienen, Menschen zu schädigen oder dies bereits im Forschungsprozess selbst tun, sind grundsätzlich moralisch inakzeptabel, weil sie die Menschenwürde verletzen, ungeachtet des Nutzens, den man sich davon versprechen mag. Das betrifft einerseits alle Menschenversuche psychologischer, soziologischer oder physiologischer Art, soweit dabei die Gefahr irreversibler Schäden für die Probanden besteht, selbst wenn diese darin eingewilligt haben. Das Problem ist heute beispielsweise wieder relevant in Forschungen zum sogenannten human enhancement bei der Einrichtung von »Gehirn-Computer-Schnittstellen«, um intellektuelle Fähigkeiten zu steigern.14 Andererseits gehört hierzu die gesamte Waffenforschung, auf die wir ausführlich in Kapitel 12 zurückkommen werden.
Selbstverständlich sind auch Geistes- und Sozialwissenschaftler davon betroffen. Man denke etwa an psychologische Humanexperimente, die traumatische Schäden hinterlassen, an die Ethnologie des 19. Jahrhunderts, deren Erkenntnisse wesentlich zur Unterwerfung und Versklavung ganzer Völker beigetragen haben, oder an psychologische Forschungen zu Foltermethoden, um völkerrechtliche Konventionen zu unterlaufen. Moralisch fragwürdig sind auch alle Studien, deren erklärtes Ziel darin besteht, Menschen zu täuschen oder zu ungewolltem Verhalten zu verleiten, beispielsweise Verbraucher zum Kauf von unnötigen Dingen, den sie nachher bereuen.
Auch wenn eine Forschung ausschließlich Nutzen verspricht, so kann sie doch aus verschiedenen Gründen moralisch problematisch sein. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn der gut gemeinte Nutzen gar nicht als solcher wahrgenommen, sondern als Schaden oder Bedrohung bewertet wird. Lebensformen und Kulturen unterscheiden sich eben, und damit auch ihre Wertungen: was einer als gut befindet, ist für den anderen schlecht.15 Ein drastisches Beispiel ist die bereits genannte Forschung zu human enhancementhuman enhancement