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Impressum

Sommer …

Der Autor

 

Alfred Wallon

ENDSTATION

 

 

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Bereits in dieser Reihe erschienen:

 

7001 Stefan Melneczuk, Marterpfahl

7002 Frank W. Haubold, Die Kinder der Schattenstadt

7003 Jens Lossau, Dunkle Nordsee

7004 Alfred Wallon, Endstation

7005 Angelika Schröder, Böses Karma

7006 Guido Billig, Der Plan Gottes

7007 Olaf Kemmler, Die Stimme einer Toten

7008 Martin Barkawitz, Kehrwieder

7009 Stefan Melneczuk, Rabenstadt

7010 Wayne Allen Sallee, Der Erlöser von Chicago

7011 Uwe Schwartzer, Das Konzept

7012 Stefan Melneczuk, Wallenstein

Alfred Wallon

 

ENDSTATION

 

Ein Marburg-Krimi

 

 

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© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Titelillustration: Jörg Jaroschewitz

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Satz: Winfried Brand

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-310-0

Sommer

Es war ein trüber und wolkenverhangener Tag, als Manfred Hellmer die Goldbergstraße hinter sich ließ und an der ersten Ampel rechts auf der Umgehungsstraße weiterfuhr. Sein Ziel war das Uni-Klinikum, das sich außerhalb von Marburg auf den Lahnbergen befand. Dort arbeitete er seit fünfzehn Jahren als Krankenpfleger. In dieser Woche hatte er Spätschicht. Sein Dienst begann um vierzehn Uhr, aber er fühlte sich jetzt schon, als hätte er vierundzwanzig Stunden an einem Stück gearbeitet. Er schlief unruhig und das seit Wochen. Immer wieder suchten ihn Albträume heim, die ihn keine Ruhe finden ließen. Jedes Mal, wenn er aufwachte, war er schweißgebadet, weil es ihm nicht gelungen war, die Vergangenheit festzuhalten. Die Vergangenheit hatte für ihn bisher immer Sicherheit bedeutet. Dies hatte sich auf tragische Weise verändert.

Während er die Zufahrt zum Botanischen Garten passierte, überholte ihn ein Mercedes mit hoher Geschwindigkeit und scherte kurz darauf so unvermittelt vor ihm ein, dass Hellmer stark abbremsen musste. Er fluchte und hupte wütend, doch das schien den Mercedesfahrer nicht zu interessieren, stattdessen bog er knapp hundert Meter weiter rechts ab, in die Zufahrt zum Fachbereich Chemie der Philipps-Universität. Im ersten Moment überlegte Hellmer, ob er dem Wagen folgen und den Fahrer zur Rede stellen sollte. Ein Blick auf seine Armbanduhr riet ihm davon ab, heute war er spät dran. Er musste sich sputen, um pünktlich auf der Station zu sein.

Hellmer wechselte mit seinem roten Peugeot 307 auf die linke Spur und bog kurz darauf in den Kreisel ein, der zu den Parkplätzen vor dem Klinikum führte. Dort folgte er den Hinweisschildern zu den für das Personal ausgewiesenen Stellplätzen. Die befanden sich im unteren Bereich des sich über mehrere Ebenen erstreckenden Parkareals. Das Uni-Klinikum war fast ein eigener Stadtteil. In den letzten zwanzig Jahren hatte man hier einen Gebäudekomplex nach dem anderen aus dem Boden gestampft und die damals noch alle im Zentrum von Marburg gelegenen Kliniken unter einem Dach vereint. Das Frauen- und Kinderzentrum, das weiter östlich errichtet worden war, symbolisierte die neueste Entwicklung, die mit dem Namen Rhön-Klinikum verbunden worden war. Diese privat betriebene Klinikgruppe hatte sich vor einigen Jahren nicht nur das Uni-Klinikum Marburg einverleibt, sondern auch die Gießener Uni-Klinik. Seitdem herrschten hier überwiegend privatwirtschaftlich orientierte Richtlinien, und das hatte in den letzten Monaten für starke Unruhe bei der Belegschaft gesorgt. Es hatte eine Zeit gegeben, in der sich Manfred Hellmer für all dies noch interessiert hätte. Aber das galt jetzt nicht mehr. Für ihn war die tägliche Fahrt zum Schichtantritt nur noch ein notwendiges Übel und gleichzeitig der Garant dafür, dass am Monatsende sein Gehalt gezahlt wurde. Motivation und Freude an seiner Arbeit zählten nicht mehr.

Hellmer parkte seinen Wagen und stieg aus. Früher hatte er oft gelacht, aber auch dies war Vergangenheit. Stattdessen wirkte sein Blick verbittert und geistesabwesend. Hellmer wurde reizbar und das kannten seine Kollegen inzwischen zur Genüge.

„Hallo Manfred!“, riss ihn eine helle Stimme aus seinen Gedanken. Er drehte sich um und erkannte Susanne Hasselbach, die als Krankenschwester auf der gleichen Station arbeitete. Auch an diesem Mittag schenkte sie ihm ein freundliches Lächeln, sie kannte Hellmers private Probleme.

„Hallo Susanne“, erwiderte Hellmer knapp. Seine Miene war so abweisend, dass Susannes anfängliches Lächeln gefror.

„Jetzt warte!“, ließ ihn Susannes Stimme innehalten. „Hast du dich mal im Spiegel angesehen, Manfred? Mit deiner Miene könntest du kleine Kinder erschrecken!“

Äußerlich blieb Hellmer ruhig, als er sich zu ihr umdrehte. „Susanne, ich fühle mich nicht wohl und habe auch keine Lust auf Smalltalk. Und was deine offensichtlichen Mitleidsbekundungen angeht: Ich bin nicht scharf darauf, mir das anzuhören. Hast du das begriffen? Wenn ja, sage es gleich auch den anderen Kollegen, damit hier klare Verhältnisse herrschen.“

Susanne blickte Hellmer an. Eigentlich hatte sie nur nett zu ihm sein wollen. Hellmer deutete ihren Blick richtig und das regte ihn noch mehr auf. Er blieb am Ende des Parkplatzes stehen und geriet, wie schon oft in den letzten Tagen, in sekundenlanges Grübeln. Auf Mitgefühl konnte er verzichten. Susanne begriff nicht, wie er sich fühlte. Im Gegensatz zu ihm lebte sie seit fast zehn Jahren in einer funktionierenden Partnerschaft. Er hatte einige Beziehungen hinter sich, die nie lange gehalten hatten. Manchmal hatte er sich gefragt, warum das so war. Irgendwann hatte er für sich akzeptiert, dass ihm das Schicksal in Bezug auf Frauen immer im letzten Moment einen Strich durch die Rechnung machte. Obwohl er sich doch stets bemüht hatte. Die einzige Konstante in den letzten drei Jahren war seine Mutter Marianne gewesen. Als sein Vater vor drei Jahren gestorben war und sich ein Jahr später herauskristallisiert hatte, dass seine Mutter allein nur schwer zurechtkam, war es für Manfred Hellmer selbstverständlich gewesen, sie zu sich zu nehmen. In dem älteren Haus, das er zwar günstig gekauft, aber mithilfe der Bank finanziert hatte, gab es eine kleine aber gemütlich eingerichtete Einliegerwohnung. Seine Mutter hatte ihn beim Bezahlen des Kredits regelmäßig unterstützt. Bis zu ihrem Tod vor einigen Monaten.

Es war alles schnell gegangen. Zuerst die Schmerzen im Bauchbereich, der Besuch beim Arzt und der schreckliche Befund: Darmkrebs. Das Todesurteil. Hellmer hatte seine Mutter zu einer Chemotherapie überreden können, aber die Behandlung hatte nicht angeschlagen, weil der Krebs im fortgeschrittenen Stadium war. Hier im Uni-Klinikum war sie zuletzt nur noch ein Schatten ihrer selbst gewesen. Ein vom Krebs gezeichneter Körper, der an zahlreichen Schläuchen und Geräten hing, bis irgendwann auch der letzte Überlebenswille erloschen war. Für Hellmer war eine Welt zusammengebrochen. Die Beziehung zu seiner Mutter war sehr innig gewesen. Der Tod des Vaters hatte Mutter und Sohn zusammengeschweißt, so war das Leben trotz seiner emotionalen Einsamkeit halbwegs erträglich für ihn gewesen. Aber jetzt fühlte er sich zum ersten Mal wirklich allein.

Seufzend passierte er den Haupteingang des Klinikums und warf im Vorbeigehen einen kurzen Blick auf die Zeitungen im Kiosk. Eine Motorzeitschrift weckte sein Interesse. Er blätterte darin herum und vergaß für einen Moment, dass er längst auf der Station hätte sein müssen.

„Manfred, du solltest dich beeilen!“ Es war wieder Susanne Hasselbach.

„Ja doch“, brummte er und folgte seiner Kollegin zum nächsten Fahrstuhl, der zur Station 113 im ersten Stock des Klinikkomplexes führte.

„Die Stationsleitung hat nach dir gefragt“, sagte Susanne. „Ich habe der Oberschwester gesagt, dass du im Haus bist und nur in der Verwaltung noch etwas erledigt hast.“

„Danke, Susanne“, erwiderte Hellmer mit einem angedeuteten Lächeln. „Tut mir leid, wenn ich eben kurz angebunden war. Ich habe nicht dich damit gemeint.“

„Ich weiß, Manfred. Vielleicht solltest du mal ausgehen und dich nicht andauernd in deinen eigenen vier Wänden in Cappel verkriechen. Auf die Dauer ist das ganz schön langweilig, oder?“

„Ich komme schon klar damit, wie es jetzt ist“, erwiderte Hellmer, während sich die Tür des Fahrstuhls öffnete und die beiden die Kabine betraten. „Zerbrich dir nicht deinen schönen Kopf über mich. Du hast bestimmt Besseres zu tun.“

„Wir sind seit fast zehn Jahren Kollegen“, erwiderte Susanne. „Da ist man sich nicht mehr fremd.“

Hellmer war froh, als sich die Fahrstuhltür öffnete. Private Gespräche unter Kollegen waren ihm ein Gräuel. Er hatte eine Mauer um sein Ich errichtet und diese seelische Isolation half ihm, zu verarbeiten, was mit seiner Mutter geschehen war. In Wirklichkeit wurde die permanente Einsamkeit mit jedem weiteren Tag nach der Beerdigung schlimmer und beherrschte seine Gedanken so sehr, dass es bei ihm immer wieder zu unkontrollierten Reaktionen kam. Dies sollte auch heute geschehen, doch davon ahnte Hellmer noch nichts.

 

*

 

„Ihre Schicht beginnt um vierzehn Uhr, Herr Hellmer“, sagte Oberschwester Karin Schulz mit kritischem Blick. „Sie sind fast eine Viertelstunde zu spät und stören die weiteren Abläufe.“

Im ersten Moment lag Hellmer eine heftige Erwiderung auf der Zunge, aber dann sah er den beschwörenden Blick seines Kollegen Dirk Bergmann und verzichtete darauf. „Ich musste noch etwas in der Verwaltung abgeben“, erwiderte er. „Aber jetzt bin ich da. Ich denke nicht, dass wegen einer Viertelstunde die Welt untergeht.“

„Wir arbeiten hier nach einem bestimmten Konzept“, antwortete die Oberschwester scharf. „Das dürften Sie doch verstanden haben, oder brauchen Sie ein zweites Gespräch mit der Personalverwaltung, damit Sie endlich begreifen, was man von Ihnen erwartet? Ihre privaten Probleme sind verständlich … trotzdem wünsche ich keine weitere Verspätung. Haben Sie das verstanden, Herr Hellmer?“

„Klar und deutlich.“

Die Oberschwester setzte ihren Gang durch die Station fort, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen. Erst als sie aus Hellmers Blickfeld verschwunden war, hob dieser den rechten Mittelfinger und ließ damit auch seine Kollegen wissen, was er von Karin Schulz hielt.

„Was schaut ihr so entsetzt drein?“, fragte er Susanne, Dirk und zwei weitere Krankenpfleger, die seine Geste gesehen hatten. „Jetzt sagt mir nicht, dass ihr dieses arrogante Weib so ohne Weiteres als Chef akzeptiert. Die ist doch …“

„Manfred, jetzt beruhige dich“, fiel ihm Dirk ins Wort. „Du tust dir damit keinen Gefallen, wenn du weiter herumnörgelst. Du weißt, dass Doktor Staudenbach nur auf eine passende Gelegenheit wartet. Mach es ihm nicht zu leicht. Und jetzt lass uns endlich an die Arbeit gehen.“

Hellmer nickte seufzend und zog sich um. Anschließend ging er zusammen mit Dirk durch die verschiedenen Zimmer, um nach den Patienten zu sehen. An diesem Nachmittag blieb zum Glück alles ruhig und die Tätigkeiten des Krankenpflegepersonals verliefen routinemäßig. Trotzdem hatte Hellmer Mühe, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Das blieb bis zum Feierabend so, dann konnte er endlich nach Hause fahren. Mit der Einsamkeit in den eigenen vier Wänden hatte er immer besser umgehen können, als mit den Launen von Vorgesetzten und Kollegen.

 

*

 

Hellmer hatte das Klingeln seines Weckers nicht gehört. Als er die Augen aufschlug und entsetzt feststellte, dass es bereits Mittag war, verflog die Müdigkeit schlagartig.

Mist, jetzt komme ich wieder zu spät, dachte er, während er aufstand und im selben Moment einen heftigen Kopfschmerz fühlte. Er wankte ins Bad, stellte sich unter die Dusche und genoss das heiße Wasser, das die letzte Müdigkeit vertrieb. Die Zunge in seinem Mund fühlte sich wie ein dicker, pelziger Klumpen an. Hellmers Gesicht war blass, als er sich im Spiegel anschaute. Dass er sich nicht wohlfühlte, konnte man ihm ansehen. Der eine oder andere würde wieder hinter seinem Rücken über ihn reden. Der Hellmer schafft das nicht. Der hat wieder getrunken. Mein Gott, was ist das für ein Jammerlappen! So oder so ähnlich würden die Bemerkungen sein, das wusste er.

Als er sich anzog und im Stehen noch eine Tasse Kaffee trank, war es fast vierzehn Uhr. Er musste sich sputen. Hastig verließ er das Haus und ging zur Garage. Die alte Frau Balzer, die in diesem Moment am Grundstück vorbeikam und ihm etwas zurief, ignorierte er. Mit Vollgas fuhr er vom Hof.

Über dem Richtsberg zogen dunkle Wolken auf, wenige Minuten später fielen die ersten Regentropfen. Dieses trübe Wetter, das seit Tagen andauerte, trug nicht dazu bei, seine Laune zu heben. Die Fahrt bis zum Parkplatz des Uni-Klinikums schaffte er in einer knappen Viertelstunde. Er würde zu spät kommen, egal wie sehr er sich auch beeilte. Er entwickelte eine stoische Gleichgültigkeit, als er über den Parkplatz zum Eingang schritt und wenige Augenblicke später mit dem Lift zur Station 113 fuhr. Heute begrüßte ihn noch nicht einmal sein Kollege Dirk Bergmann, als er die Station betrat und sich umzog. Zum Glück war die Oberschwester nicht in der Nähe, sonst hätte es gleich wieder einen Vortrag über Pünktlichkeit gegeben.

Er bemerkte, wie Susanne Hasselbach mit ihrer Kollegin Anke Schulz redete, als er vorbeiging. Das Gespräch brach ab, die beiden blickten in eine andere Richtung.

„Dirk, was ist hier los?“, fragte Hellmer seinen Kollegen, als er für einen kurzen Moment mit ihm allein war. „Ist euch allen an diesem Morgen eine Laus über die Leber gelaufen?“

„Eher über deine Leber.“ Bergmann griff in die Hosentasche und holte eine Rolle Pfefferminz hervor. „Nimm besser zwei davon, dann merkt man es nicht so.“

Hellmer war klar, was ihm sein Kollege damit hatte sagen wollen. „Das war nicht geplant, Dirk. Ich hatte einen Scheißtag hinter mir und …“

„Da bist du nicht der Einzige“, fiel ihm Bergmann ins Wort. „Du hast keine Ahnung, was hier im Moment los ist, oder?“ Er sah, wie Hellmer den Kopf schüttelte und fuhr fort: „Seit heute früh tagt der Betriebsrat mit der ärztlichen Leitung des Klinikums. Die ersten Gerüchte verbreiten sich bereits. Personal wird ausgelagert, zusätzliche Stellen werden angeblich gestrichen.“

„Echt?“, fragte Hellmer unsicher. Wahrscheinlich hatte die oberste Heeresleitung des Rhön-Klinikums wieder einige Rationalisierungsmaßnahmen vorgeschlagen und die Mitarbeiter zahlten die Zeche. So war es immer gewesen. Hellmer wusste dies aus Erzählungen anderer Kollegen.

„Wenn du dich nicht andauernd verkriechen würdest, wüsstest du das auch, Manfred. Aber du interessierst dich in letzter Zeit nicht mehr für das, was um dich herum geschieht. Ist dir egal, wie es um deinen Arbeitsplatz bestellt ist? Da müsstest du dir jetzt erst recht Sorgen machen und …“

„Weil ich auf der Abschussliste stehe. Ist es das?“ Hellmers Erwiderung kam heftiger über seine Lippen, als er das gewollt hatte. Hinterher tat es ihm leid, dass er so impulsiv reagiert hatte. Aber er kam nicht mehr dazu, sich bei Bergmann zu entschuldigen, denn in diesem Moment betrat Dr. Staudenbach die Station, wie immer in der üblichen Hektik. Sein Blick erfasste alles und jeden und blieb für einen kurzen Moment auf Hellmer haften. Zumindest kam es Hellmer so vor. Doch er musste sich mit seinen Kollegen um die Patienten kümmern. Er verrichtete seinen Dienst zügig, auch wenn er sich ab und zu bei einem Gähnen ertappte und öfter in die Küche ging, um einen Schluck Mineralwasser zu trinken. Er hätte seinen Kummer gestern Abend besser nicht in Wodka ertränken sollen. Die Folgen spürte er und die Zeit bis zur ersten Pause kam ihm unendlich lang vor.

„Was ist los mit dir?“, wollte Bergmann von ihm wissen, als er sich später in der Kantine zu Hellmer setzte. „Gibt’s einen Grund, warum du dir gestern Abend die Kante gegeben hast?“

„Keinen triftigen“, brummte Hellmer. „Es ist eben passiert. Das ist alles.“

„Doktor Staudenbach wird das aber nicht akzeptieren, wenn er es bemerkt, Manfred. Du musst vorsichtiger sein, sonst stehst du als Erster auf der Abschussliste. Vermutlich hat ihm die Oberschwester einiges erzählt.“

„Das ist mir klar. Ich werde mich ab sofort zusammenreißen und mich nicht mehr hängen lassen. Ich glaube, ich sollte auch wieder unter Menschen gehen.“

„Gute Idee. Das bringt dich auf andere Gedanken. Vielleicht kriegst du auch bald mal eine gute Frau ab.“ Während Bergmann das sagte, grinste er. Hellmer saß mit dem Rücken zum Kantineneingang und hatte Tanja Struck, die Chefsekretärin des ärztlichen Direktors, nicht hereinkommen sehen. Dass sie ihren Blick suchend umherschweifen ließ, hatte Dirk hingegen bemerkt. Nun hatte sie Hellmer erspäht und steuerte auf ihn zu.

„Auf der Station haben sie gesagt, dass du gerade Pause machst, Manfred“, sagte sie zu ihm und nickte Bergmann kurz zu. „Wenn du fertig bist, kommst du bitte zu mir?“

„Gerne. Gibt’s was Wichtiges?“

„Der Chef will dich sprechen“, erwiderte Tanja langsam. „Der Betriebsrat ist auch mit dabei. Manfred, ich habe keine Ahnung, was das zu bedeuten hat. Wirklich nicht.“

Hellmer fühlte sich überrumpelt. Es nutzte nichts, sich jetzt darüber den Kopf zu zerbrechen. Er würde erst Klarheit haben, wenn er diesen Termin wahrnahm. Gegen ungerechte Vorwürfe würde er sich zu wehren wissen. Schließlich war auch der Betriebsrat bei diesem Gespräch anwesend.

„Ich komme gleich mit“, entschied Hellmer, nachdem er den letzten Schluck Kaffee getrunken hatte. „Schließlich sollte man die hohen Herren nicht unnötig warten lassen.“

Tanja erwiderte nichts. Sie wich seinen Blicken aus. Träge folgte er ihr über die langen Flure bis hin zum Verwaltungstrakt. Hin und wieder versuchte er auf dem Weg dorthin ein zwangloses Gespräch mit Tanja anzufangen, doch sie blieb zurückhaltend.

„Warte einen Moment“, bat Tanja, als sie das Büro erreichten. „Ich sage dem Chef eben Bescheid.“

Hellmer musste nicht lange warten. Tanja kam zurück und forderte ihn mit einer stummen Geste auf einzutreten. Sie wich dabei seinen fragenden Blicken aus.

Als Hellmer das großzügig und edel eingerichtete Büro des ärztlichen Direktors betrat, blickte ihn Professor Bernhardt kurz an. Der Direktor begrüßte ihn förmlich und forderte ihn auf, am Tisch Platz zu nehmen. Dort saßen bereits Dr. Staudenbach und Mirko Brock vom Betriebsrat.

„Vielen Dank, dass Sie so schnell kommen konnten, Herr Hellmer“, begann Professor Bernhardt. „Aus wichtigem Anlass musste ich sie her zitieren, habe deshalb auch Herrn Brock vom Betriebsrat dazu gebeten, weil die ganze Sache ein wenig … heikel ist.“

„Sie müssen etwas deutlicher werden, Herr Professor“, sagte Hellmer. „Mir kommt es vor, als würde Gericht über mich gehalten. Warum ist Doktor Staudenbach bei diesem Gespräch mit dabei?“

„Doktor Staudenbach ist der verantwortliche Oberarzt von Station 113 und Ihr direkter Vorgesetzter“, erwiderte Professor Bernhardt knapp. „In Personalangelegenheiten muss er ebenso befragt werden wie der Betriebsrat und …“

„Habe ich verschreibungspflichtige Medikamente geklaut oder was soll das Ganze hier?“, fiel ihm Hellmer barsch ins Wort. Im Hintergrund verdrehte Brock entsetzt die Augen. „Reden Sie nicht um den heißen Brei herum, sagen Sie mir bitte, um was es geht. Ich bin kein kleines Kind mehr.“

„Das ist es, was ich gemeint habe, Herr Professor“, seufzte Dr. Staudenbach. „Sein Verhalten ist aggressiv und kontraproduktiv für den Teamgeist auf unserer Station.“

„Ich möchte Sie daran erinnern, dass Herr Hellmer die letzten fünfzehn Jahre ohne jegliche Probleme seinen Dienst im Klinikum verrichtet hat, Doktor Staudenbach“, griff Brock in seiner Eigenschaft als Betriebsrat ein. „Dieses Verhalten, wie Sie es nennen, wurde erst zum Thema, als Sie die Leitung der Station übernahmen. Ich erinnere an die Beurteilung, die Sie Schwester Susanne gegenüber abgegeben haben und …“

„Das ist im Augenblick nicht das Thema, Herr Brock!“ Professor Bernhardt versuchte die Situation zu entspannen. „Wir sind hier, um mit Herrn Hellmer über das Jetzt und Heute zu sprechen.“

Dutzende von Gedanken schossen Hellmer in diesen Sekunden durch den Kopf. Die Befürchtung, die er beim Betreten des Büros hatte, wurde konkreter.

„Herr Hellmer, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass wir Ihnen zum Ende dieses Monats eine betriebsbedingte Kündigung aussprechen werden.“ Der ärztliche Direktor brachte es auf den Punkt. „Ich bitte Sie, ganz ruhig zu bleiben. Es gibt Gründe, die ich Ihnen gerne erklären möchte.“

„Kündigung …?“, murmelte Hellmer kopfschüttelnd. „Aber das kann …“ Sein Blick richtete sich auf Dr. Staudenbach. „Was zum Teufel hat er Ihnen über mich erzählt, dass Sie mir kündigen wollen?“

„Die Wahrheit … was sonst?“, entgegnete Dr. Staudenbach mit einem abfälligen Lächeln.

„Einen Augenblick, Manfred“, versuchte Brock Hellmer zu beruhigen. „Der Betriebsrat weiß natürlich von deinen privaten Problemen und wir haben das auch in die Waagschale geworfen, als es darum ging, den Sozialplan aufzustellen.“

„Was für ein Sozialplan?“, fragte Hellmer. „Kann es sein, dass jeder Bescheid weiß, nur ich nicht?“

„Wir wollten die Belegschaft nicht unnötig beunruhigen“, antwortete Brock. „Das ist keine einfache Sache, von der wir hier reden. Es handelt sich um einschneidende Maßnahmen. Glaub nicht, dass es uns leicht gefallen ist, diesen Maßnahmen zuzustimmen. Aber wir vom Betriebsrat hatten Einsicht in diese Pläne. Wir haben auch den Auslagerungen zugestimmt, damit sich das Maß der Stellenstreichungen in einem vernünftigen Rahmen hält und …“

„Vernünftig?“ Hellmer konnte über diese Äußerung nur den Kopf schütteln. „Hinter jeder Stelle steckt ein Mensch, dessen Existenz gefährdet ist.“

„Darüber hätten Sie besser nachdenken sollen, bevor es zu den Unregelmäßigkeiten kam, Herr Hellmer“, warf Dr. Staudenbach ein, der diese Situation sichtlich genoss. „Wir haben Ihnen mehr als eine Chance gegeben. Sie haben die Zeichen der Zeit jedoch nicht erkannt. Da ist es logisch, auf wen die Wahl fällt, wenn Rationalisierungsmaßnahmen eingeleitet werden.“

„Auch wenn Sie das jetzt nicht hören wollen“, ergriff der ärztliche Direktor das Wort. „Wir hatten einfach keine andere Wahl. Bevor wir diese Entscheidung treffen mussten, haben wir kompetente Ratschläge eingeholt.“

„Wahrscheinlich von windigen und teuren Unternehmensberatern“, unterbrach ihn Hellmer, der seine grenzenlose Enttäuschung nicht mehr länger zurückhalten konnte. „Das ist mir klar, Herr Professor. Seien Sie stolz darauf, dass Sie eine weitere Existenz und das Leben eines Menschen zerstört haben!“

„Ich bitte Sie ernsthaft, auf den Boden der Tatsachen zurückzukehren, Herr Hellmer“, bemerkte Professor Bernhardt und runzelte die Stirn. „Natürlich soll diese Umstellung nicht ganz so hart für Sie ausgehen. Die betriebsbedingte Kündigung wird zum Ende dieses Monats wirksam und wir erkennen Ihre Leistung auch mit einer außertariflichen Sonderzahlung an.“

„Soll ich mich für diese unglaubliche Großzügigkeit auch noch bedanken, Herr Professor?“ Hellmer wurde laut. „Ist das der Lohn für meinen Einsatz über viele Jahre lang?“ Er hatte sich so in Rage geredet, dass er nicht länger still sitzen konnte. Sein Stuhl fiel nach hinten.

„Herr Hellmer, Sie nehmen Ihren Resturlaub am besten gleich in Anspruch“, schlug der Professor vor. „Denken Sie in Ruhe über alles nach. Die Sonderzahlung wird Ihnen helfen, über die Runden zu kommen. Es ergeben sich für Sie bestimmt neue Perspektiven.“

Hellmer bekam nur am Rande mit, was Professor Bernhardt ihm klarmachen wollte. Mit hastigen Schritten verließ er das Büro. Brock erhob sich ebenfalls und versuchte Hellmer erfolglos zurückzuhalten, der demonstrativ an Tanja vorbei sah, als er durch den Vorraum ging. Die Sekretärin schaute zur Tür ihres Chefs, die jetzt geschlossen war. Darauf hatte sie gewartet. Sie erhob sich und lief Hellmer hinterher. Sie holte ihn erst ein, als er den Verwaltungstrakt fast verlassen hatte.

„Manfred! Jetzt warte!“, rief sie ihm zu. „Ich muss mit dir reden. Bitte!“

„Ich wüsste nicht über was, Tanja“, erwiderte Hellmer, drehte sich dann aber doch zu ihr um. „Du hast davon gewusst … gib es zu.“

„Nein“, erwiderte Tanja. „Zumindest nicht, dass es um dich ging. Manfred, mir tut das sehr leid, das musst du mir glauben. Natürlich weiß ich als Chefsekretärin, dass einige Stellen abgebaut werden sollen. Aber dass es auch dich betraf, wusste ich erst, als Doktor Staudenbach mit im Büro saß. Er muss in dem Moment ins Büro gekommen sein, als ich losging, um dich zu suchen.“

„Klingt ein bisschen weit hergeholt … findest du nicht auch?“, entgegnete Hellmer mit unterdrückter Wut. „Was weißt du wirklich?“

„Dafür ist jetzt und hier nicht der richtige Zeitpunkt“