MULTIPLE CITY
STADTKONZEPTE 1908|2008
URBAN CONCEPTS 1908|2008
HERAUSGEGEBEN VON | EDITED BY SOPHIE WOLFRUM UND | AND WINFRIED NERDINGER
IN ZUSAMMENARBEIT MIT | TOGETHER WITH SUSANNE SCHAUBECK
FOTOGRAFISCHE LEITUNG | DIRECTOR PHOTOGRAPHY MARKUS LANZ
ARCHITEKTURMUSEUM DER TECHNISCHEN UNIVERSITÄT MÜNCHEN
LEHRSTUHL FÜR STÄDTEBAU UND REGIONALPLANUNG DER TECHNISCHEN UNIVERSITÄT MÜNCHEN
MULTIPLE CITY
STADTKONZEPTE 1908 | 2008
URBAN CONCEPTS 1908 | 2008
1 GARTENSTADT | STADTLANDSCHAFT
GARDEN CITY | URBAN LANDSCAPE
2 FUNKTIONALE STADT | PATCHWORK CITY
FUNCTIONAL CITY | PATCHWORK CITY
3 REGION ALS STADT | NETZSTADT
REGION AS CITY | NETWORK CITY
4 TESSUTO URBANO | STADT ALS KOLLEKTIVES GEDÄCHTNIS
TESSUTO URBANO | CITY AS COLLECTIVE MEMORY
5 REGENERATION DER STADT | STADTUMBAU
URBAN REGENERATION | URBAN RENEWAL
6 STADTBAUKUNST | ARCHITEKTUR DER STADT
URBAN DESIGN | ARCHITECTURE OF THE CITY
7 GENIUS LOCI | ORT UND ATMOSPHÄREN
GENIUS LOCI | PLACE AND ATMOSPHERES
8 SITUATIVER URBANISMUS | PERFORMATIVER URBANISMUS
SITUATIONAL URBANISM | PERFORMATIVE URBANISM
9 MOBILE STADT | TELEPOLIS
MOBILE CITY | TELEPOLIS
10 GESUNDE STADT | NACHHALTIGE STADT
HEALTHY CITY | SUSTAINABLE CITY
11 SOZIALER WOHNUNGSBAU | LIFESTYLE URBANISMUS
SOCIAL HOUSING | LIFESTYLE URBANISM
12 PLEASURE CITY | CITY OF PERFECTION
PLEASURE CITY | CITY OF PERFECTION
13 STADT ALS BILD | URBAN ICON
CITY AS IMAGE | URBAN ICON
14 NEW TOWNS | NEW CAPITALIST CITY
NEW TOWNS | NEW CAPITALIST CITY
15 TERRITORIUM STADT | STADT ALS BEUTE
TERRITORY CITY | CITY AS PRIZE
16 MYTHOS METROPOLIS | MYTHOS MEGACITY
THE MYTH OF METROPOLIS | THE MYTH OF MEGACITY
Vorwort
Preface
Landschaftsurbanismus | Sören Schöbel-Rutschmann
From Urban Growth to Mega-Urban Landscape | Detlev Ipsen
(Dys)Functionalism in a Post(sub)urban Landscape | Bart Eeckhout, Steven Jacobs
Innovationsland: Tussenland | Rainer Johann
Broadacre City and Sprawls | Robert Bruegmann
Open System Network | Gunther Laux
Stadt als gebautes und kollektives Gedächtnis | Winfried Nerdinger
Stadtquartiere vom Webstuhl | Sylvain Malfroy, Frank Zierau
Learning from London | Cordelia Polinna
Creative Leipzig. Stadt als Beziehungslandschaft | Iris Reuther, Andreas Paul
Architektonische Urbanistik | Sophie Wolfrum
Wie kommt der Entwurf zur Stadt? | Josef Rott
The Richly Designed Street | Coy Howard
Landschaft als Geschehen der Natur und der Stadt | Martin Seel
Lebendige Orte oder: die Spuren der Berührung | Ina-Maria Greverus
Performance, Risk and the Public Realm | Iain Borden
Fußgänger in der nackten Stadt | Jörg Dünne
Multiple Mobilities. Mobilität in der modernisierten Moderne | Wolfgang Bonß
What Happened to the Temporary Private Zones? | Doris Zoller
Urbane Nachhaltigkeit – eine Utopie? | Rolf Peter Sieferle
Sustaining = Synergizing? Cities in Anticipation | Cornelia Redeker
A Toda Costa | Markus Lanz, Sophie Wolfrum
Zeeland Pr[i]vince | Marisol Rivas-Velázquez, Christian Schmutz
Cities of Perfection: Stadtfluchten oder Stadtversprechen | Regina Bittner
The Shopping Centre as an Urban Innovator? | Alex Wall
Raumdogma und Architekturbild | Gerd de Bruyn
Im Bilde sein | Alban Janson
Cities Without History | Neville Mars
Zweierlei Städte | Christoph Luchsinger
In Europa mehr Initiative und Kraft entwickeln | Stephan Lanz
Re-codifying Territories of Exclusion | Marcos Leite Rosa
Capitalising Urban Myth | Ole Bouman
The Endless City | Ricky Burdett
Biografien
Biographies
Bildnachweis | Image Credits
Leihgeber, Dank | On loan from, Thanks
VORWORT
Megacities und schrumpfende Städte, highspeed urbanism und slow cities – die Städte der Erde verändern sich. Der Gegensatz zwischen Stadt und Land löst sich auf, alles wird Stadt in verschiedenen räumlichen und strukturellen Ausprägungen. Neue Formen von Städten, neue urbane Landschaften, neue globale und lokale räumliche Netzwerke entstehen. Angesichts dieser Dynamik sprechen wir prospektiv vom „Jahrhundert der Städte“. In den Kulturwissenschaften und auch in den bildenden Künsten ist die Urbanistik zu einem zentralen Thema geworden, wie die großen Ausstellungen der letzten Jahre zeigen.
Wie diese Entwicklung interpretiert und wie auf sie reagiert wird, ist auch abhängig von urbanistischen Diskursen, die jeweils ihre spezifische Geschichte haben. Diese Geschichten greifen wir in sechzehn Themen auf. Wir liefern kein Kompendium und keine Anleitung zum Städtebau; vielmehr möchten wir zu einem besseren Verständnis der Komplexität von Städten hinführen, indem wir urbanistische Leitbegriffe von ihrer Entstehung über ihre diversen Modifikationen und Veränderungen bis heute verfolgen. Anlass für unserer Projekt ist das hundertjährige Bestehen des Lehrstuhls für Städtebau an der TU München, der 1908 von Theodor Fischer begründet wurde. Auf Theodor Fischer (1908–28) folgten Adolf Abel (1930–52), Georg Werner (1954–1960), Gerd Albers (1961–1987), Ferdinand Stracke (1988–2003) und Sophie Wolfrum (ab 2003). Fischers Nachlass wird im Architekturmuseum der TU betreut. Ausstellung und Katalog sind eine gemeinsame Hommage beider Institutionen an einen großen Städtebauer und Architekten, der in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts die Stadterweiterung Münchens gestaltete, die bis heute die Stadt prägt. Der Zusammenhang von zeittypischen Positionen, langfristigem Einfluss von städtebaulichen Maßgaben und Stadtphänomenen der Gegenwart zeigt sich an seinem Werk geradezu exemplarisch. Wir wollen nicht lediglich zurückblicken und Vergangenheit dokumentieren. Wir fragen uns vielmehr, inwieweit einige der großen Themen, die in den letzten hundert Jahren sukzessive aufgekommen sind, heute noch virulent sind.
Urbanistische Leitbilder und Glaubenssätze, zeitweise apodiktisch und unversöhnlich postuliert, lösen sich zumeist nach einiger Zeit auf, werden durch neue Erkenntnisse und Erfordernisse oder auch durch neue Ideologien überholt. Sie hinterlassen jedoch ihre Spuren, denn sie können auf verschiedene Weise zum Alltag werden, sedimentieren sozusagen in weiterhin wirksamen Schichten. Sie können, lange nachdem sie als vorherrschende Lehrmeinung verblasst sind oder ganz aufgegeben wurden, als räumliche Praktiken der Gegenwart aktuell bleiben. So ist beispielsweise die Funktionale Stadt, ein Leitbild der Moderne, immer noch in unserer Baugesetzgebung zu erkennen und wird weiterhin praktiziert durch eine Stadtgesellschaft, die Stadt konsumieren, aber keine Störungen durch andere tolerieren will. Nutzungen werden weiter ausdifferenziert und voneinander isoliert, obwohl in der Urbanistik heute das Gegenteil – Mischnutzung, Vielfalt und Überlagerung – geschätzt wird.
Die Vielfalt der Erscheinungsformen und der strukturellen Transformationen der Städte wird von einer Vielfalt von Interpretationen, Geschichten und Sichtweisen begleitet: Die vielschichtige und vielgesichtige Stadt wird zur multiple city. Es gibt keine Deutungshoheit einzelner Positionen. Es ist heute ein Gemeinplatz, dass jede Stadt aus zahllosen individuell interpretierten gleichzeitigen Städten besteht. Jeder Mensch bewohnt seine eigene Stadt, konstruiert die eigene mental map seiner Umwelt. Stadt ist zudem ein Chronotopos, in ihren Räumen überlagern sich verschiedene Zeiten. Welche dieser Zeiten wir gerade schätzen, welche Vergangenheit gepflegt wird, ist ebenso Ausdruck wie interpretatorischer Akt der Gegenwart. Zudem können wir die Vielfalt von Stadt und von Städten aus verschiedenen Diskurslinien heraus wahrnehmen. Diese unterschiedlichen Sichtweisen überlagern sich oder laufen parallel. Die Kenntnis dieser Diskurse schärft den Blick für Phänomene der Gegenwart. Wir sehen die Stadt als Mythos, Funktionsmaschine, Bild, Text, Sozialprodukt, Netzwerk, szenischen Raum, Werkzeug von Wirtschaft und Macht, Werbeträger, Ausdruck von Gesellschaft und als Architektur.
Städte entstehen nicht von selbst, sondern werden von Menschen gemacht. Räume bilden gesellschaftliche Strukturen ab, sind Abdruck zeittypischer Konditionen, Vorlieben und Maßgaben. Ursachen und räumliche Folgen kann man dann als Sozialwissenschaftler interpretieren – das zeigt beispielsweise das Kapitel Mobilität. Man kann sie als Ingenieur therapieren – das zeigt das Kapitel Nachhaltigkeit. Man kann die resultierenden Konflikte als Stadtplaner moderieren und neue Strategien entwickeln – das zeigt das Kapitel Netze. Urbanistik ist eine Querschnittswissenschaft, die eine Vielfalt von Disziplinen vereinigt – darunter nicht zuletzt die Architektur. Architektur gestaltet die Räume der Stadt: vielfältige, reichhaltige, prägnante, anlagerungsfähig für Deutungen und zugleich offene Räume, offen für Interpretation und offen für den vielfältigen Gebrauch einer urbanen Gesellschaft. Auch diese Vielfalt führt zur multiple city.
Ausstellung und Katalog konnten nur durch großzügige finanzielle Unterstützung verwirklicht werden. An erster Stelle danken wir deshalb der Bundeskulturstiftung sowie der Fritz Thyssen Stiftung, die eine Realisierung unseres Projekts erst ermöglichten. Weiterhin danken wir Christiane Thalgott, den Leihgebern, die uns ihre wertvollen Exponate zur Verfügung stellten, und den Autoren und Fotografen des Katalogbuchs. An dem über mehrere Jahre erarbeiteten Projekt halfen zahlreiche Personen mit, denen wir allen für Rat und Hilfe danken. Besonders erwähnen möchten wir die Studierenden, die Modelle und Planunterlagen erstellten.
Sophie Wolfrum, Winfried Nerdinger, Susanne Schaubeck
PREFACE
Megacities and shrinking cities, high-speed urbanism and slow cities – the world’s cities are changing. The differences between city and countryside are diminishing, everything is becoming the city in a variety of spatial and structural forms. New shapes for cities, new urban landscapes, new global and local spatial networks are emerging. In the face of this dynamism we speak prospectively of the “century of cities”. In the cultural sciences and visual arts urban design has become a central theme, as the major exhibitions of the last few years show.
How this development is interpreted and how we react to it is thus independent of urban design debates, each of which has its specific history. These histories have been taken up in sixteen topics. We are not attempting to deliver a compendium or instructions for city planning; our aim is to bring about a better understanding of the complexity of cities by pursuing the key concepts of urban design from their origin through diverse modifications and changes to the present day. Our project has been undertaken on the occasion of the hundredth anniversary of the Department of City Planning at the TU Munich, which was founded by Theodor Fischer in 1908. Theodor Fischer (1908–28) was followed by Adolf Abel (1930–52), Georg Werner (1954–1960), Gerd Albers (1961–1987), Ferdinand Stracke (1988–2003) and Sophie Wolfrum (from 2003). Fischer’s bequest is kept in the Architectural Museum of the TU. The exhibition and catalogue are a joint homage of the two institutions to a great city planner and architect who in the last years of the 19th century drew up plans for Munich’s city expansion, which have left their mark on the city up until the present day. The relationship of positions typical for the time, the long-term influence of city planning measures and urban phenomena of the present is displayed in his work in an almost exemplary manner. Our intention is not simply to look back and document the past. Rather more we want to investigate the extent to which some of the major topics which have successively occurred in the last hundred years are still virulent today.
Urban models and dogmas, occasionally postulated apodictically and irreconcilably, usually disintegrate in time, to be replaced by new perceptions and requirements or by new ideologies. But they leave behind their traces, for they can in many respects become routine, sedimenting so-to-speak in continued effective layers. They can, long after they have paled as the predominant doctrine or completely abandoned, remain current as spatial practices of the present day. The functional city, for example, is a model of the modern age, still recognisable in our building legislation and still practiced by an urban society that wants to consume the city, but not tolerate disturbance by others. Uses are being further differentiated and isolated from one another, although the opposite is valued in urban design today – mixed uses, variety and overlapping.
The diverse manifestations and structural transformation of cities is accompanied by a variety of interpretations, histories and perceptions. The complex and multi-faceted city becomes the multiple city. There is no sovereignty of interpretation of individual positions. Today it is a truism that every city consists of numerous individually interpreted, concurrent cities. Every person lives in his or her own city, constructs his or her own mental map of the environment. The city is moreover a chronotopos in whose spaces various eras overlap. Which of these eras we currently value, which past is cultivated, is both an expression and an interpretational act of the present. Furthermore, we can perceive the diversity of city and cities from different lines of debate. These differing views overlap or run parallel. A knowledge of these debates sharpens the awareness of present-day phenomena. We see the city as a myth, functional machine, image, text, social product, network, scenic space, instrument for business and power, advertising medium, expression of society and architecture.
Cities do not emerge of their own accord, they are made by people. Spaces map social structures, are an imprint of conditions, preferences and measures typical for the time. Reasons and spatial sequences can be interpreted as a social scientist – this is portrayed, for example, in the chapter Mobility. They can be given treatment by an engineer – as shown in the chapter Sustainability. One can moderate the resulting conflicts as a city planner and develop new strategies – this is discussed in the chapter Networks. Urban design is a cross-sectional science that combines a variety of disciplines – including architecture. Architecture implies the design of urban spaces as diverse, comprehensive, succinct, and at the same time open spaces, open for interpretation and open for the diverse uses of an urban society. This variety also results in the multiple city.
The exhibition and catalogue were only realised with generous financial support. First and foremost we would like to thank the Bundeskulturstiftung (German Federal Cultural Foundation) and Fritz Thyssen Foundation, who were instrumental in the implementation of our project. Furthermore, we thank Christiane Thalgott, the lenders who have placed their valuable exhibits at our disposal, and the authors and photographers of the catalogue. Numerous persons have contributed to the project over a period of several years. We would like to thank them all for their advice and support. Particular mention must be made of the students who created models and drawings.
Sophie Wolfrum, Winfried Nerdinger, Susanne Schaubeck
1
GARTENSTADT
STADTLANDSCHAFT
GARDEN CITY
URBAN LANDSCAPE
GARTENSTADT | STADTLANDSCHAFT
Wohnen im Garten war in vielen Gesellschaften eine Utopie, die nur für Wohlhabende Wirklichkeit werden konnte. Die venezianische Oberschicht hatte ihre Villen auf der Terraferma, der europäische Adel seine Sommerresidenzen, der Bürger in Deutschland im 19. Jahrhundert seine Sommerfrische draußen vor der Stadt. Der Garten hat schon immer eine Antithese zur Zumutung städtischer Enge und gesellschaftlicher Zwänge geboten. Als im 19. Jahrhundert die Städte im Zuge der Industrialisierung wuchsen und die Lebensbedingungen der Massen unerträglich wurden, war es naheliegend, auf diese Heterotopien zurückzugreifen. Das Gegenmodell lag bereit.
So ist es verständlich, dass Ebenezer Howards Buch Garden Cities of Tomorrow Anfang des 20. Jahrhunderts eine solch immense Bedeutung erhalten konnte. Das Modell einer Stadt im Grünen, in Gärten, das die Vorteile von Stadt und Land vereinen und deren Nachteile vermeiden will, war geboren, und Realitäten werden bis heute an diesem Modell der Gartenstadt gemessen. Im Konzept der Gartenstadt können sich unterschiedlichste politische Positionen wiederfinden, hier bilden Sozialreformer, Lebensreformer und Stadtfeinde eine Allianz. Faktisch sind die frühen sogenannten Gartenstädte in Deutschland meist kleine Werkssiedlungen für Arbeiter und keine vollständigen Städte. Die erste Gartenstadt, das von Barry Parker und Raymond Unwin geplante Letchworth in England, wurde zum Vorbild für die NewTowns der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In den USA entwickelten Clarence Stein und Henry Wright 1929 für Radburn eine Typologie, die weltweit Schule machte – so sehen Wohnviertel noch heute in der ganzen Welt aus. Die Gartenstadt ist in dieser reduzierten Form einer Wohnsiedlung im Grünen das Erfolgsmodell unter allen städtebaulichen Konzepten geworden.
Die Gartenstadt sollte einst die Stadt reformieren. Radikaler noch ist das Konzept der Stadtlandschaft: die Auflösung der Städte in die Landschaft. Zu Beginn ist sie eine Utopie, die zum Beispiel von Bruno Taut mit schwärmerischen Skizzen illustriert wird. Schon da tauchen organische Formen auf, die an Vögel, Schmetterlinge oder Lungenflügel erinnern. Zugleich hat die Stadtlandschaft ihren Ursprung in der Kulturgeografie. Sie findet sich als Leitbild in verschiedenen Ausprägungen bei der Avantgarde der Zwischenkriegszeit aber auch bei den reaktionären Zuträgern völkischer Konzepte von Siedlungszellen in der Zeit des Nationalsozialismus.
Dieses ideologische Gemenge taucht scheinbar unpolitisch in den Wiederaufbaukonzepten nach dem Krieg, in den großen städtebaulichen Wettbewerben und in den alltäglichen Programmen jener Zeit wieder auf. Hans Bernhard Reichow setzt seine Organische Stadtbaukunst in Siedlungen um, Hans Scharoun will Berlin als ein weites offenes Gefüge im Tal der Spree auflockern, die neue Hauptstadt Brasilia hat den Grundriss eines Vogels, der seine Flügel in die Landschaft ausbreitet. Das sind nur wenige Beispiele für einen universellen Trend, in dem sich Großstadtfeindschaft jeglicher politischer Couleur einnisten kann. Wohnen im Garten? Die Freiheit der Landschaft? Dieser utopische Kern ist den Städten dieser Zeit kaum noch anzusehen. Nur selten haben die weiten Flächen den Charme von Gärten oder die Weite und Offenheit von Landschaft.
Stadtlandschaft in diesem programmatischen Sinn ist Vergangenheit, eine abgelegte Ideologie. Auf andere Art ist sie jedoch wieder aktuell geworden: als reale Erscheinungsform zeitgenössischer Städte. Wir nennen das heute Zwischenstadt oder Tussenland, Stadtlandschaft oder urban landscape. Der Traum vom Wohnen im eigenen Haus im eigenen Garten, außerhalb der Stadt und scheinbar auf dem Land, ist ungebrochen. Das Gemenge von Landschaft, Siedlungsflecken und Infrastrukturen in den Stadtregionen der Welt hat die frühen Visionen von Stadtlandschaft weit übertroffen. So ist es nicht verwunderlich, dass in der gegenwärtigen Urbanistik Landschaft in den Fokus großräumiger entwerferischer Strategien kommt: landscape urbanism. | SW
Literatur: Bruegmann, Robert, Sprawl. A compact history, Chicago/London 2006 | Corner, James, Recovering Landscape. Essays in Contemporary Landscape Architecture, New York 1999 | Durth, Werner/Gutschow, Niels, Träume in Trümmern. Planungen zum Wiederaufbau Zerstörter Städte im Westen Deutschlands 1940– 1950, Bd. 1: Konzepte, Braunschweig 1988 | Frijters, Eric/Hamers, David/Johann, Rainer u. a. (Hg.), Tussenland, NAi Uitgevers/Ruimtelijk Planbureau, Rotterdam/Den Haag 2004 | Göderitz, Johannes/Rainer, Roland/Hoffmann, Hubert, Die gegliederte und aufgelockerte Stadt, Tübingen 1957 | Howard, Ebenezer, To-morrow. A Peaceful Path to Real Reform, London 1898; Garden Cities of Tomorrow, London 1902; Gartenstädte in Sicht, 1. deutsche Ausgabe, Jena 1907 | Reichow, Hans Bernhard, Organische Stadtbaukunst. Von der Großstadt zur Stadtlandschaft, Braunschweig 1948 | Sieverts, Thomas, Zwischenstadt, Braunschweig/Wiesbaden 1997 | Stein, Clarence, Towards New Towns for America, Liverpool 1951 | Taut, Bruno, Die Auflösung der Städte oder Die Erde eine gute Wohnung oder auch Der Weg zur Alpinen Architektur, Hagen 1920 | Unwin, Raymond, Town Planning in Practice, London 1909
GARDEN CITY | URBAN LANDSCAPE
In many societies living in the garden was a utopia that could only become reality for the wealthier sections of the population. The Venetian upper class had its villas on terraferma, the European aristocracy had its summer residences, the German bourgeois of the nineteenth century had its summer resorts outside the city. The garden has always been the antithesis of extreme urban overcrowding and social constraints. When cities began to mushroom in the nineteenth century, industrialisation and the living conditions of the masses became intolerable, and it seemed only natural to fall back on these heterotopias. The counter-model was at hand.
Thus, it is not difficult to understand why Ebenezer Howard’s book Garden Cities of Tomorrow gained such immense relevance at the beginning of the twentieth century. The model of a city in the countryside was born in gardens that united the advantages of city and country and avoided their disadvantages; and today realities are still measured against this model of the garden city. Different political positions resurface in the concept of the garden city; social reformers, life reformers, and adversaries of the city form an alliance. In reality, the early so-called Gartenstädte in Germany were predominantly modest Werkssiedlungen (company housing estates) for workers and not self-contained cities. Letchworth, England’s first garden city, planned by Barry Parker and Raymond Unwin, became the model for the New Towns of the second half of the twentieth century. In the USA, Clarence Stein and Henry Wright developed a typology for Radburn in 1929 that set a global precedent – even today many residential areas all over the world are laid out in this manner. In this reduced form of a residential area embedded in the landscape, the garden city has become the model of success for all urban planning concepts.
The garden city was once intended to reform the city. Even more radical is the concept Stadtlandschaft: the disintegration of cities into the landscape. At the beginning it is a utopia, as illustrated, for example, in effusive sketches by Bruno Taut. Soon organic shapes emerge – reminiscent of birds, butterflies, or lobes of the lung. At the same time, urban landscape had its origins in cultural geography. It is to be found as a model in various forms in the avant garde of the interwar period, as well as the reactionary informers of nationalist concepts for neighbourhood cells in the era of National Socialism.
This ideological mixture reemerges apparently non-politically in rebuilding concepts after World War II, in major urban planning competitions, and everyday programmes of that era. Hans Bernhard Reichow implemented his Organische Stadtbaukunst (Organic City Planning) in housing developments, Hans Scharoun wanted to disperse Berlin as a loose structure in the valley of the River Spree, the new capital city of Brasilia is laid out like a bird spreading its wings over the landscape. These are only a few examples of a universal trend in which hostility of any political colour towards the big city can implant itself. Living in the garden? Freedom of the landscape? This utopian core can hardly be recognised in the cities of this era. Rarely do the broad expanses have the charm of gardens or the openness of the landscape.
Urban landscape in this programmatic sense belongs to the past, a castoff ideology. However, it is back on the agenda in another form: as a real manifestation of contemporary cities. Today we call this Zwischenstadt or Tussenland, Stadtlandschaft or urban landscape. The dream of living in one’s own house in one’s own garden, outside the city and ostensibly in the country, is unbroken. The blend of landscape, settlements, and infrastructure in the world’s urban regions has far exceeded the early visions of urban landscape. So it is not surprising that landscape has become the focus of spacious design strategies in urban planning: landscape urbanism. | SW
Bibliography: Bruegmann, Robert. Sprawl. A Compact History, Chicago/London 2006 | Corner, James. Recovering Landscape. Essays in Contemporary Landscape Architecture, New York 1999 | Durth, Werner/Gutschow, Niels. Träume in Trümmern. Planungen zum Wiederaufbau Zerstörter Städte im Westen Deutschlands 1940–1950, Vol. 1: Konzepte, Braunschweig 1988 | Frijters, Eric/Hamers, David/Johann, Rainer et. al. (eds.), Tussenland, NAi Uitgevers/Ruimtelijk Planbureau, Rotterdam/Den Haag 2004 | Göderitz, Johannes/Rainer, Roland/Hoffmann, Hubert. Die gegliederte und aufgelockerte Stadt, Tübingen 1957 | Howard, Ebenezer. Tomorrow. A Peaceful Path to Real Reform, London 1898; Garden Cities of Tomorrow, London 1902 | Reichow, Hans Bernhard, Organische Stadtbaukunst. Von der Großstadt zur Stadtlandschaft, Braunschweig 1948 | Sieverts, Thomas, Zwischenstadt, Braunschweig/Wiesbaden 1997 | Stein, Clarence, Towards New Towns for America, Liverpool 1951 | Taut, Bruno, Die Auflösung der Städte oder Die Erde eine gute Wohnung oder auch Der Weg zur Alpinen Architektur, Hagen 1920 | Unwin, Raymond, Town Planning in Practice, London 1909
LANDSCHAFTSURBANISMUS | Sören Schöbel-Rutschmann
Seit hundert Jahren denken Städtebauer in Deutschland darüber nach, wie Stadt und Landschaft zum gegenseitigen Vorteil verbunden werden können. Heute wissen wir, dass sich die Stadt weder durch totale Sanierung nach innen noch durch partielle Zersiedelung nach außen glücklich in die Landschaft aufheben lässt. Der Kampf gegen die sozialen, ästhetischen und ökologischen Zumutungen der verdichteten Spekulantenstadt hat vielmehr dazu geführt, dass auch deren entsprechende Qualitäten verblassten. Zudem entwickelten sich die peripheren Landschaften zu fragmentierten, unansehnlichen und ressourcenfressenden Zonen. Unabhängig davon, ob diese Situation nun beabsichtigte Folge oder unerwünschte Nebenfolge der Emanzipation des Individuums und der sozialen Verhältnisse in Stadt und Landschaft ist, haben sich die urbanistischen Disziplinen nunmehr um zwei verschiedene Baustellen zu sorgen: Neben die Aufgabe, die europäische Stadt fortzuschreiben, tritt die Notwendigkeit, die urbanisierten Landschaften zu entwickeln.
Stadtlandschaft
Die Utopie der Verbindung von Stadt und Landschaft begleitet den modernen Städtebau seit seinen Anfängen. Einmal mehr wurde sie in den 1940er Jahren von Albert Speer und Hans Scharoun in extrem gegensätzlichen und doch in dem Ideal einer Stadtlandschaft verwandten Plänen formuliert. Beide Pläne entstanden als Modell zur Totalrevision der durch den Krieg „aufgelockerten“ Stadt. Speers Modell beinhaltete zum einen eine gigantomanische Fantasie von Stadtkrone, cardo und decumanus, zum anderen aus Nutzflächen und malerischen Bildern vermischte Landschaftszüge, die tief in die Stadt hineinreichten. Zu deren Rändern hin reduzierte sich der urbane Raum auf die Dichte einer Gartenstadt. Scharouns Plan sah hingegen ein durch die Strukturen der Naturlandschaft, vor allem aber durch ein Autobahnraster gegliedertes Band aus Parkbebauungen und so romantischen wie zweckdienlichen Grünanlagen vor. Auch ihm diente das Stadtmuster zur Steigerung der als bauliche Dominanten vorgesehenen Architekturen: Theater und Universitäten.
Beide Stadtlandschaften, obwohl die eine der totalen Herrschaft und die andere der Freiheit verpflichtet waren, hatten also einerseits eine Polarität aus Zerfließendem und Konzentriertem, andererseits ein mechanisches, funktional trennendes und homogenisierendes Stadtmuster gemein. Die mechanische Homogenisierung hat sich im Baurecht verstetigt, das Ideal aus Dominante und Extensität reproduzierte sich hingegen im Selbstverständnis der folgenden Generationen von Entwurfsarchitekten und Landschaftsplanern. Während sich die räumliche Trennung von Stadt und Landschaft tatsächlich zunehmend auflöste, führten die planerischen Diskurse über die beiden kulturellen Angelegenheiten in erstaunlich unterschiedliche Richtungen.
Die Trennung von Stadt und Landschaft
Die frühen 1970er Jahre markierten in Deutschland eine Wende sowohl in den urbanistischen als auch in den Diskursen um den Begriff Landschaft. Die Ursache für die Auflösung der Städte wurde auch in den hypo- oder hyperwissenschaftlichen Methoden der Analytiker und Planer erkannt. Der französische Soziologe Henri Lefebvre nannte die Soziologen, Architekten und Urbanisten blind, weil sie versuchten, die neuen Formen gesellschaftlicher Produktion von Raum, die sich abzeichnende völlige Verstädterung, noch immer mit den Begriffen der industriellen Stadt zu erfassen.1 Stadt aber sei kein System und müsse sowohl aus einer morphologischen als auch einer sozialen Perspektive betrachtet werden. In diesem historischen Moment wurde die „Stadt selbst als privilegiertes Projekt gesellschaftlicher Prozesse“ erkannt.2 Im behutsamen Stadtumbau, in der kritischen Rekonstruktion und Revitalisierung der Stadt zeigten sich die Erfolge dieser doppelperspektivischen Analyse und Planung. Stadt erwies sich als ein soziales und ökologisches Optimum3, in dessen permanenten Formationen4 und zugleich offenen Räumen5 sich das Potenzial einer freien, in Wohlstand lebenden, sozial ausgleichenden und integrativen Gesellschaft immer wieder erneuern lässt. Dieses zugleich auf die Morphologie und die Soziologie gestützte Verantwortungsbewusstsein gegenüber dem Städtischen übertrug sich jedoch nicht auf die Landschaft. Landschaft erschien den Analytikern und Planern gemäß der Erkenntnistheorie Kants als eine Idee von konkret räumlicher Natur, die durch ein subjektives Geschmacksurteil bewertet wird.6 Die Natur als Landschaft kann demnach entweder ihre unbeherrschbare Gewalt offenbaren und dann dem Anschauenden ein Gefühl der Erhebung vermitteln oder in einem interesselosen Wohlgefallen als schön erkannt werden. Sie kann auch Ausgangspunkt der objektiven naturwissenschaftlichen Anschauung werden. Was so nicht erkannt werden kann, ist Landschaft als Verantwortungsbereich, als Gegenstand praktischer Vernunft, in dem das Verhältnis des Menschen zur Landschaft im Sinne eines kategorischen Imperativs geregelt würde. Die Hermeneutik Gadamers korrigiert diese rein subjektive Ästhetik der Landschaft, zeigt ihre Geschichtlich-keit und verortet die Urteilskraft im Gemeinsinn.7 So werden die Alpen erst als fürchterlich und später als schön angesehen – und heute als bedroht.8
Theorie und Praxis der Geografen und Landschaftsplaner aber beruhen auf einem distinktiven und konservierenden Landschaftsbegriff. So stuft Gerhard Hard Landschaftsbegriffe, die, wie etwa Stadtlandschaft, keine schöne und harmonische Besonderheit beschreiben, als kontradiktorische Begriffe ein, die nur eine „Verschandelung“ der Landschaft beschreiben könnten.9
Aus dem Naturschutz entwickelte sich ebenfalls in den 1970er Jahren eine flächendeckende Planung. Hierfür bedurfte es der Inanspruchnahme und Neubesetzung des Landschaftsbegriffes. Obwohl sich nun die Landschaftsplanung sowohl auf den besiedelten als auch unbesiedelten Bereich erstrecken sollte und den Naturhaushalt sowie eine soziologische Perspektive umfasste (jedoch beschränkt auf eine Erholungsfunktion und zuletzt um einen Erlebnis-wert erweitert), also grundsätzlich auf den gesamten Raum als Landschaft Bezug nahm, führte das Gesetz durch die Definition der Schutzaspekte Vielfalt, Eigenart und Schönheit ebenfalls zu einem distinktiven und konservierenden Landschaftsbegriff. Dieser wurde nicht als Zielsetzung eines Entwicklungsprinzips, sondern fatalerweise als Bewertungsmaßstab eines Bewahrungsprinzips formuliert. Damit waren all jene Landschaften stigmatisiert und planerisch marginalisiert, die den ästhetischen Kriterien in ihrem Bestand nicht genügen. Die Frage, wie sich Stadt und Landschaft verbinden lassen, wurde damit ausgerechnet dort, wo sie vordringlich zu lösen wäre, nämlich in den suburbanen Räumen, in der Regel von der Landschaftsplanung gar nicht weiter gestellt – und wenn, dann nur mit der Zielrichtung, das eine vor dem anderen zu schützen. Eine Verlandschaftlichung von Stadt galt per se als Aufwertung, eine Urbanisierung von Landschaft als Verschlechterung.
Landscape Urbanism
Die Trennung der Ideen von Stadt und Landschaft ist aber eine spezifisch europäische, vielleicht sogar deutsche Entwicklung. In den Vereinigten Staaten bildeten sich andere Diskurse aus. 1984 beschrieb der Begründer der Cultural Landscape Studies, John Brinckerhoff Jackson, Landschaft als ein „System menschengemachter Räume“, von denen eine jede als Ausdruck sich ständig verändernder Alltagswelten mit Toleranz und Respekt zu behandeln und als „wirklich ausgeglichene Landschaft“ zu gestalten sei,10 denn: „[…] so mag auch eine Landschaft ohne langfristige Ziele, ohne Struktur und Gesetz zwar paradiesisch anmuten, aber letzten Endes frustriert sie jede Suche nach einer sozialen oder moralischen Ordnung.“11 Ein solches Landschaftsverständnis, verbunden mit einer prozesshaften Vorstellung von Landschaftsökologie und einem Ideal sozialer Aneignung durch performative Prozesse der Akteure und nicht durch Determination von Räumen, legte es nahe, sich aus dieser Perspektive auch der Zukunft des Städtischen zu widmen. So entwickelten Landschaftsarchitekten der University of Pennsylvania, wie James Corner und Charles Waldheim, in den letzten Jahren eine Analyse- und Planungsmethode: „Landscape Urbanism describes a disciplinary realignment currently underway in which landscape replaces architecture as the basic building block of contemporary urbanism.“12 Zwar kommen die von den Vertretern des Landscape Urbanism zitierten Referenzbeispiele aus Europa, namentlich die Wettbewerbsbeiträge zum Parc de la Vilette in Paris von Bernard Tschumi und Rem Koolhaas (1983) und auch die Planungen von Koolhaas für die Pariser Ville Nouvelle Melun-Sénart (Koolhaas 1990). In Erinnerung an die Stadtlandschaften von Speer und Scharoun fällt es jedoch schwer, sich für die mechanisch-funktionalen patterns des US-amerikanischen und niederländischen Landscape Urbanism zu begeistern. Auch in den Vereinigten Staaten äußert sich Kritik: Gegenüber den sozialen und urbanen Qualitäten eines kulturell dichten, gewachsenen urbanen Raums wie New York City wird bemerkt, dass den Infrastrukturmustern eines mechanisch-ökologischen Landscape Urbanism schlicht die Akteure für eine performativ-urbane Aneignung der entstehenden Räume fehlen dürften.13
Die Verbindung von Stadt und Landschaft
Eine erste Position, die weniger nach dem amerikanischen mechanisch-ökologischen, sondern nach dem europäischen soziologisch-morphologischen Verständnis von Raum eine Verbindung von Stadt und Landschaft anstrebt, formulieren die beiden jüngsten deutschen Beiträge zu den Architekturbiennalen in Venedig: Auf Deutschlandschaft – Epizentren der Peripherie (2004) folgte Convertible City – Formen der Verdichtung und Entgrenzung (2006). Beide Ausstellungsprogramme suchten vorgeblich nach Verbindungen von Stadt und Landschaft. In den explizit architektonischen Konzepten erneuert sich das bereits angesprochene moderne Ideal von Dominante und Extensität. Die ausgestellten Projekte setzen sich durchweg im Sinn der von Lefebvre eingeforderten Doppelperspektive morphologisch und soziologisch mit der Architektur von Stadt auseinander – mit der Landschaft, die als suburbanes Umfeld oder Freiraum angesprochen wird, dagegen kaum.
Aber welche Potenziale liegen im Landschaftsbegriff? Sind die in den 1970er Jahren gewählten distinktiven und konservierenden Landschaftsbegriffe heute noch zwangsläufig? Zunächst lässt sich feststellen, dass die kontradiktorische Bedeutung von Stadt und Landschaft, wie sie Hard noch belegen konnte, heute nicht mehr zutrifft. Stadtlandschaft ist weder fach- noch alltagssprachlich ausschließlich negativ besetzt – „Rhein-Main Stadt-Landschaft: Eine heitere, moderat modellierte Landschaft bildet die Bühne für das Leben in der dicht besiedelten Rhein-Main-Region.“14
Auch an anderen Komposita mit „-landschaft“ lässt sich zeigen, dass eine Neuformulierung des Landschafts-begriffs möglich ist.15 In der Alltagssprache (einschließlich Medien, Werbung und Feuilletons) zeigt sich eine Emanzipation des Begriffs, die gleichzeitig seine besonderen Qualitäten verdeutlicht. In Komposita wie Medienlandschaft, Theaterlandschaft, Börsenlandschaft kommt ein Sinn von Landschaft zum Ausdruck. Er beinhaltet eine räumliche Struktur, ein offenes Ganzes, in dem die Vielfalt, die Unterschiede als Qualität erhalten sind und ein Zusammenhang konstruiert ist, der nicht beweis-, aber vermittelbar ist – und in dem sich eine eigene Qualität entwickelt. Dabei handelt es sich aber weder um distinktive noch szenische Qualitäten, Komposita mit „-landschaft“ beinhalten also nicht notwendigerweise eine Wertung und noch nicht einmal eine ausgesprochene Bildhaftigkeit. Ein zweiter Typ von Komposita mit „-landschaft“, wie Gefühlslandschaft, zeigt zudem, dass eine räumliche Ganzheit zwar beschrieben, aber nicht durch eine formale Ordnung kontrolliert werden kann (für eine kontrollierte Ordnung dient eher der Begriff Gefühlshaushalt). Diese Anwesenheit von Struktur bei gleichzeitiger Abwesenheit von Kontrolle weist aber darauf hin, dass die „-landschaften“ jeweils ein zwischen kultureller Willkür und natürlicher Unwillkürlichkeit gelegenes Spannungsfeld beschreiben. Landschaft erscheint damit differenziell16 oder, um es mit zeitgenössischen Autoren zu sagen, problematisch17 und reflexiv18. Diese Komposita beweisen nicht, dass Landschaft heute durchweg etwas anderes bedeutet. Sie erlauben aber, den Begriff der Landschaft nicht mehr nur als Geschmacksurteil oder Schutzgut zu verstehen, sondern aus einer zugleich soziologischen und morphologischen Perspektive zu einem Prinzip für die Entwicklung urbaner Räume zu erheben.
Landschaftsurbanismus
Unter den Aspekten „kollektive Räume“, „Raumerschließung“, „Raumwahrnehmung“, „Raumentwicklung“ und „Permanenz von Raum“ soll nun versucht werden, Landschaft nicht mehr als beschreibende Kategorie, sondern als Entwicklungsprinzip, als kategorischer Imperativ mit den beschriebenen Qualitäten von Urbanität zu einer neuen Verbindung zu führen. In Anlehnung an das amerikanische Modell, jedoch mit anderen Zielsetzungen, soll dies hier Landschaftsurbanismus genannt werden.
Kollektive Räume
Einem Landschaftsurbanismus fiele die Aufgabe zu, kollektive gesellschaftliche Räume zu begründen. Nun gilt Landschaft bislang nicht als soziale Verortung von Gesellschaft, sondern als Heimat von Gemeinschaft – also jener Form des Kollektivs, die im Zuge der Individualisierung verfallen muss.19 Ein Urbanismus, der Landschaft wie Stadt als Form eines gesellschaftlichen Vertrages oder einer öffentlichen Übereinkunft versteht, formuliert Landschaft daher als öffentlichen Raum, Ausdruck nicht nur von Kultur, sondern von Zivilisation. Zugänglichkeit und Gemeinge-brauch von Landschaft sind nicht nur zu gestatten (vergleiche § 56 Bundesnaturschutzgesetz), sondern als Grundrecht zu garantieren (Artikel 2 Grundgesetz). Öffentliche Landschaft bedarf offener Räume, gastlicher Orte, durchlässiger Strukturen, zentraler Konzentrationen, Orten und Zeiten der freien Zusammenkunft. Das heißt nicht, dass in urbanen Landschaften Nachbarschaft – also Gemeinschaft – keinen Ort mehr fände. Auch die Städte weisen von jeher solche Kollektive auf, Kieze und die lokalen Szenen bestimmter Milieus,20 die als Partialkulturen Anteil an den öffentlichen Räumen besitzen, sie aber nicht dominieren dürfen. Bevorzugte Orte der Zentralität sind Märkte. In urbanen Landschaften werden Malls, Einkaufszentren etc. daher nicht mehr „auf der grünen Wiese“, sondern „um die grüne Wiese herum“ angelegt, die als Fest-, Versammlungs- und Handelsort auch befestigt sein darf, aber vor allem in ihrer Dimension den Ort definiert.
Raumerschließung
Eine vergleichbare Bedeutung für den öffentlichen Raum der urbanen Landschaften, wie er den kommerziellen Zentren zufällt, ist auch den Fernstraßen und Bahnlinien zuzumessen. Ihre Linienführungen und Knotenpunkte sind nicht mehr allein den technischen Aspekten, wie Fahrdynamik und Umweltverträglichkeit, zu unterwerfen. Die Erschließung, Erfahrbarkeit und Durchlässigkeit der Landschaft sind zu gleichrangigen Zielen zu erheben. Dazu gehören die Beseitigung aller Grenzen und Sperren, aller Trennungen und Hindernisse,21 aber auch eine Führung, Dimensionierung und Bauweise, die nach dem hier vorgeschlagenen Prinzip Teil der Vielfalt und spannungsvoller Teil der Ganzheit von Landschaft zu sein hat. So formt sich eine neue Kultur der Fortbewegung in den urbanen Landschaften. Da das Reisen und das Pendeln wachsende Anteile an den individuellen Zeit- und Finanzbudgets im suburbanen Alltag in Anspruch nehmen, sollen sie nicht mehr allein unter quantitativen, sondern auch unter qualitativen Aspekten betrachtet werden: Denn je teurer, möglichst seltener und auch gezwungenermaßen langsamer das Fahren wird, umso mehr Wert wird der Qualität des Reisens zugemessen.
Raumentwicklung
Ein Landschaftsurbanismus verlässt die Prinzipien von Schutz, Eingriff und Ausgleich sowie das Verschlechterungsverbot eines Landschaftsbildes (Bundesnaturschutzgesetz) und erweitert stattdessen das Prinzip von Einfügung und Entwicklung (Baugesetzbuch) eines Landschaftszusammenhanges. Das Einfügegebot (§34 BauGB) wird über die „im Zusammenhang bebauten Ortsteile“ hinaus auf den gesamten Raum ausgedehnt und die „nähere Umgebung“ (ebenda) durch „Landschaft“ ersetzt. Einfügen heißt aber nicht allein quantitatives Einordnen (Bauweise und Grundstücks-ausnutzung), sondern landschaftliches Einfügen: Jedes Vorhaben hat einen Beitrag zu einer Vielfalt und zugleich an einer Ganzheit zu leisten, in dem es sich nicht isoliert, sondern sich zu allem anderen verhält, sich nicht gegenseitig aufhebt, sondern neue Qualitäten bildet.
Dieses Gebot und dieses Prinzip wären damit auch über alle Bebauungspläne (§30) zu stellen und müssten sich schließlich auch auf den sogenannten Außenbereich (§35) erstrecken, müssten das Bauverbot durch ein radikales Einfügungsgebot ersetzen, dem aber auch die bisher privilegierten Vorhaben unterliegen: landwirtschaftliche Anlagen, Ver- und Entsorgungsanlagen und schließlich Windenergieanlagen. Für letztere wurden an anderer Stelle Möglichkeiten der Einfügung nach einem Prinzip Landschaft aufgezeigt.22
Permanenz von Raum
Ein Landschaftsurbanismus beruht auf der Nachhaltigkeit von Form und der Wandelbarkeit der Funktion, also auf dem Modell von Permanenz, wie es Aldo Rossi für eine Architektur der Stadt gefordert hat, die die vorhandene Ordnung und damit die Kontinuität der Stadtgestalt erhält und die Landschaft als Standort und Topografie fortführt.23 Die Idee der Permanenz muss sich aber konsequenterweise auf die Landschaft selbst übertragen, von den gebauten Räumen auf die Zwischenräume, von der Parzelle auf die Flur, vom Straßenraster auf das historische Wegenetz, vom Blockrand auf die Grenzräume. Sowohl die Naturlandschafts- als auch die historischen Kulturlandschaftsstrukturen werden in einem Landschaftsurbanismus nicht nach dem Naturschutzrecht in ihrer Funktion reserviert, sondern im Sinne des Denkmalschutzrechts in ihrer Form gesichert. Für neue Bauwerke, Gebäude und Infrastrukturen soll daher keine Rückbauversicherung nachgewiesen werden, sondern ein Umnutzungspotenzial.
Raumwahrnehmung
In den urbanen Landschaften lässt sich neben der reinen Künstlichkeit des Städtischen die absolute Natur zeigen – der Wind, die Höhe, das Meer, die Insel.24 Dieser in dem hier gemeinten Sinne landschaftliche, weil spannungsvoll zusammenfassende und doch die Unterschiede erhaltende Blick erfasst den Raum als „differenziellen Raum“.25 „Wenn sich die Stadt selbst zur Schau stellt – von einer Terrasse, einem Kirchturm, einem Hügel, einem hochgelegenen Ort aus (der das Anderswo ist, von wo aus das Urbane erkennbar wird) –, so nicht, weil der Beschauer damit ein äußeres Abbild der Realität erblickt, sondern weil der Blick sammelt, zusammenfasst. Es ist die städtische Wirklichkeit selbst, die sich offenbart.“26 Orte einer solchen Raumwahrnehmung, der Erfahrung von absoluter Natur und reiner Künstlichkeit, sind auch die Anlagen der Infrastruktur. Die „landschaftspflegerische Begleitplanung“ hätte nun die Aufgabe, Autobahnen, Kraftwerke, Stauseen, Kühlwasserabläufe, Kanäle, Deiche, Klärbecken nicht mehr einzugrünen und zu verbergen, sondern anhand des gesamten Spektrums ihrer Möglichkeiten als Wahrnehmungsräume zu gestalten. Neben das Schöne und das Erhabene tritt so die Ästhetik des Differenziellen.
Mit diesen Aspekten ist sicherlich kaum ein kleiner Teil der Möglichkeiten beschrieben, die sich aus einer Verbindung von Landschaft als differenziellem Raum und Urbanismus als Theorie und Praxis städtischer Raumformen und Lebensformen ergeben. Landschaftsurbanismus ersetzt nicht die Urbanistik der großen Stadt, sondern interpretiert sie in urbaner Landschaft.
Anmerkungen: 1 Lefebvre, 1972, S. 35 | 2 urbandrift, 2002 | 3 Hoffmann-Axthelm, 1993 | 4 Rossi, 1998 | 5 Beck, 1994 | 6 Kant, 1974 | 7 Gadamer, 1960 | 8 Gadamer, 1960; Dinnebier, 1995 | 9 Hard, 1970, S. 62 ff. | 10 Jackson, 2005, S. 42 | 11 Jackson, 2005, S. 31 | 12 Waldheim, 2006, S. 11 | 13 Shane, 2003, S. 5 | 14 http://www.regionalpark-suedwest.de | 15 Schöbel, 2007 | 16 Lefebvre, 1972 | 17 Seel, 1996, S. 25 | 18 Beck, 1993, S. 177 ff. | 19 Tönnies, 2005 | 20 Schulze, 1994 | 21 Lefebvre, 1972, S. 188 | 22 Schöbel, 2007 | 23 Rossi, 1966 | 24 Lefebvre, 1972, S. 142 | 25 Ebd., S. 142 | 26 Lefebvre, 1972, S. 126
Literatur: Beck, Ulrich, Die Erfindung des Politischen. Frankfurt a. M. 1993 | Beck, Ulrich, Die offene Stadt, in: Süddeutsche Zeitung, 02.07.1994, Feuilleton S. 7 | Dinnebier, Antonia, Die Innenwelt der Außenwelt. Die schöne Landschaft als gesellschaftstheoretisches Problem, Berlin 1995 | Gadamer, Hans-Georg, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960 | Hard, Gerhard, Die „Landschaft“ der Sprache und die „Landschaft“ der Geographen, Bonn 1970 | Hoffmann-Axthelm, Dieter, Die dritte Stadt, Frankfurt a. M. 1993 | Jackson, John Brinckerhoff, Landschaften. Ein Resümee, in: Franzen, Brigitte/Krebs, Stefanie (Hg.), Landschaftstheorie, Köln 2005, S. 29–44 | Kant, Immanuel, Kritik der Urteilskraft (1790), hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 1974 | Koolhaas, Rem, Stadt gegen Peripherie, in: Arch+, 1990, H. 105/106, S. 76–80 | Lefebvre, Henri, Die Revolution der Städte, München 1972. (La Révolution urbaine, Paris 1970) | Rossi, Aldo, Die Architektur der Stadt. Skizze zu einer grundlegenden Theorie des Urbanen. hg. v. Lehrstuhl für Baukonstruktion und Entwurfsmethodik Professor Ueli Zbinden Technische Universität München. München 1998 (=Leseheft 1), S. 17–23, 85–88 | Schöbel, Sören, Landschaft als Prinzip, in: Stadt + Grün, 2007, H. 12, S. 53–58 | Schulze, Gerhard, Milieu und Raum, in: Noller, Peter/Prigge, Walter/ Ronneberger, Klaus (Hg.), Stadt-Welt, Frankfurt a. M./New York 1994, S. 40–53 | Seel, Martin, Eine Ästhetik der Natur, Frankfurt a. M. 1996 | Seggern, Hille von, Verstehen oder: Wie kommt neues in die Welt?, in: anthos, 2003, H. 4, S. 48–54 | Shane, Grahame, The Emergence of „Landscape Urbanism“, in: Harvard Design Magazine Nr. 19, Fall 2003/Winter 2004, S. 1–8 | Sieferle, Rolf, Rückblick auf die Natur, München 1997 | Tönnies, Ferdinand, Gemeinschaft und Gesellschaft, Darmstadt 2005 | Waldheim, Charles (Hg.), The Landscape Urbanism Reader, Princeton 2006
Internet: http://www.convertiblecity.de/ | http://www.deutschlandschaft.de/ | http://urbandrift.org/projekte/2002/nightspace/pro_ud_night_kap.html | http://www.regionalpark-suedwest.de
FROM URBAN GROWTH TO MEGA-URBAN LANDSCAPE | Detlev Ipsen
The meaning of landscape
In many parts of the world the patterns of urbanisation are undergoing radical change. Whereas the process of urbanisation in the nineteenth and twentieth centuries meant gradual spatial enlargement – the grand ensembles in Paris as a type of suburbanisation and the new towns surrounding London as a pattern of peri-urbanisation – in other ‘emerging’ economies we are now experiencing breakneck expansion. The process of mega-urbanisation not only means urban areas rapidly growing in size: a new type of urbanisation is emerging – the mega-urban landscape.1 It consists of a kaleidoscope of housing areas, industrial sites, farmland, dereliction, parks, vestiges of former villages and towns, old and new traffic infrastructure, and waterways.