Fadhil al-Azzawi
DER LETZTE
DER ENGEL
Roman
Aus dem Arabischen von Larissa Bender
DÖRLEMANN
Die Originalausgabe »Akhir al-mala’ika« erschien 1992
bei Riad El-Rayyes Books Ltd., London.
Anmerkung des Autors
Dieser Roman wurde zwischen dem 12. April 1987 und
dem 2. September 1990 in Berlin und Nikosia geschrieben,
zum Teil auch in Damaskus, Tripolis und in Sanaa.
eBook-Ausgabe 2014.
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
© 1992 by Fadhil al-Azzawi
© 2014 by Dörlemann Verlag AG, Zürich
Umschlaggestaltung: Mike Bierwolf
Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-908778-61-5
www.doerlemann.com
Was gestern noch Wein gewesen war,
war heut’ Essig. Und nie wieder
wurde der Essig zu Wein. Nie wieder.
Hermann Hesse: Der schwere Weg
Erstes Kapitel
Hamid, damals noch nicht unter seinem Spitznamen bekannt, der ihm bis an sein Lebensende anhaften sollte, betrat die Wohnung, der ein Hauch von Weite entströmte. Wie immer stieß er die schwere, mit breitköpfigen Nägeln beschlagene Türe aus Walnussholz einfach mit dem Fuß auf. Sie wurde nur nachts mit einem Schubriegel mit weit hervorragenden Zacken verschlossen, auf dem sich der Grünspan ausgebreitet hatte, sodass der Riegel an den Enden hellgrün schimmerte. Danach stieg Hamid die wenigen Stufen zu den beiden kleinen, über dem Eingang zum Hof liegenden Räumen hinauf.
Es war das erste Mal, dass Hamid so früh von seiner Arbeit in der Erdölfirma zurückkehrte. Seine Frau Fatima wunderte sich, hatte sie ihn doch nicht vor dem Nachmittag zurückerwartet, und jetzt war es noch nicht einmal elf. Sie plauderte gerade über das niedrige Mäuerchen hinweg mit ihrer Nachbarin im angrenzenden Haus über ihre nächtlichen Vergnügen, als Hamid ihr unschuldiges Lachen unterbrach. In Wahrheit trübten Bitterkeit und Kummer Fatimas Glück, denn es war bereits mehr als ein Jahr seit ihrer Hochzeit vergangen, und noch immer war sie nicht schwanger geworden. Sie hatte fast alle namhaften und namenlosen Imame der Stadt aufgesucht, um sich ein Amulett gegen die Unfruchtbarkeit anfertigen zu lassen, das den Zauber, den ihr ihre vielen Neiderinnen offensichtlich angehext hatten, unwirksam werden lassen sollte. Obwohl sie dies niemals laut ausgesprochen hatte, kreisten ihre Zweifel von Beginn an um Nazira, die Schwester ihres Mannes, und deren Mutter, Hidaja, eine fettleibige Alte, die aus ihrem Umgang mit dem Teufel keinen Hehl machte. Deren Haus war voller Kräuter und getrockneter Blüten, Knochenmehl und verschiedener chemischer Substanzen, die sie bei den jüdischen Drogisten in Qaisarija am Eingang zum alten Suk erwarb.
Einer der Imame, die Fatima aufgesucht hatte, war blind gewesen. Für einen Dirham hatte er ihr ein Amulett geschrieben und zu ihr gesagt: »Dieses Amulett wird jeden Teufel verbrennen, der es wagt, sich dir zu nähern.« Um sicherzugehen, war sie aber auch noch zu einem turkmenischen Imam gegangen, der in einem namenlosen Gässchen hauste, das vom Dschai-Viertel abzweigte. Weil ihr Bauch sich jedoch nicht zu wölben begann, riet ihr ihre Nachbarin ein oder zwei Monate später, doch einmal die Gräber der toten Imame aufzusuchen, wenn schon die lebenden, die erst nach Entgegennahme der Bezahlung ihre Amulette anfertigten, nichts hatten ausrichten können. Also hüllte sich Fatima in ihre schwarze Abaja und machte sich auf zum Mausoleum von Imam Ahmad, das sich mitten auf der großen Straße befand, die den Musalla-Bezirk mit dem alten Suk verband. Dort weinte und flehte sie, fest entschlossen, so lange sitzen zu bleiben, bis der Imam ihre Bitte nicht mehr ignorieren konnte. Da sie in ihrer inbrünstigen Hingabe und in Tränen aufgelöst vollkommen vergessen hatte, dass sie mitten auf der Straße saß, wäre sie sogar beinahe von einem vorbeifahrenden Auto angefahren worden. Als Nächstes besuchte sie das Grab eines kurdischen Imams auf dem Musalla-Friedhof, von dem man sich erzählte, dass er mit den Vögeln zu sprechen pflegte, die ihn nicht nur verstanden, sondern ihm auch gehorchten. Als sich aber einen Monat später immer noch keine Veränderung bei ihr eingestellt hatte – wenngleich sie ihren Mann gezwungen hatte, mehrere Male in einer einzigen Nacht mit ihr zu schlafen –, sagte ihre Mutter zu ihr: »Dieses Mal werden wir das Grab eines jüdischen Heiligen aufsuchen, denn niemand ist dem Teufel ergebener als die Juden. Böses kann seine Wirksamkeit nur durch Böses verlieren.« Am nächsten Morgen erzählte sie ihrer Nachbarin davon, die ihr daraufhin riet, zur Zitadelle zu gehen und von einer Christenfamilie den Zahn eines Schweins zu erbitten, den die Christen normalerweise in die Wasserkrüge legten. Diesen Zahn solle sie unter das Kopfkissen ihres Mannes stecken, denn der Satan fürchte nichts mehr als einen Schweinezahn. Vielleicht wegen der zahlreichen Ratschläge von allen Seiten, vielleicht aber auch aus Verzweiflung über die Heiligen, die ihre Fähigkeit, Wunder zu tun, verloren hatten, beschloss Fatima, diese enttäuschenden Versuche – zumindest vorübergehend – einzustellen und stattdessen noch öfter mit ihrem Mann zu schlafen. Sie wusste nämlich – und damit lag sie wohl richtig –, dass die ganze Angelegenheit eher im Bett als an jedem anderen Ort entschieden wurde – und sei er auch die Ruhestätte der Gott am nächsten stehenden Heiligen.
Fatima hätte sich allerdings gar nicht so gegrämt, wäre da nicht das Drängen ihrer Mutter gewesen und die Anspielungen der alten Hidaja und deren Tochter Nazira, die gerne in Rätseln mit ihr zu sprechen pflegten: »Die Kuh, die nicht wirft, wird geschlachtet.« Sie genoss ihre nächtlichen Wonnen mit ihrem Mann, der niemals auch nur daran gedacht hatte, Kinder in die Welt zu setzen, denn seine Liebe zu den Frauen war größer als jede andere Liebe in seinem Leben. Mehr noch als das aber wollte er sich so lange wie möglich das Gefühl bewahren, jung und unbeschwert zu sein. Er ging morgens zu seiner Arbeit in der Erdölfirma und kehrte erst nach Hause zurück, wenn es ihm gefiel – mitunter kam er nachmittags, meist aber nicht vor zehn oder elf Uhr nachts. Fatima war darüber keineswegs verärgert, denn, abgesehen von den Geschichten, die er ihr manchmal erzählte, wusste sie nichts über seine Arbeit. Sie wusste, dass er das Privatauto eines englischen Ingenieurs und dessen Frau steuerte, und da er die beiden von Ort zu Ort kutschierte und oft auf sie warten musste, hatte sie begriffen, dass diese Art von Beschäftigung es häufig erforderte, bis spät in die Nacht zu arbeiten. Von Zeit zu Zeit musste er seinen Boss auch in andere Städte oder Regionen begleiten. Besonders während der christlichen Feiertage brachte er dann Londoner Schokolade oder gezuckerte Kokosnussstücke mit nach Hause, die sie noch nie vorher gekostet hatte.
Als sie ihren Mann jetzt das Haus betreten sah, eilte sie auf ihn zu. Zum ersten Mal seit ihrer Hochzeit kam er um diese Uhrzeit nach Hause. Sie war beunruhigt und verwirrt, doch sie beherrschte sich mit Mühe und erkundigte sich nicht nach dem Grund für seine vorzeitige Rückkehr. »Ich möchte mich ein wenig hinlegen«, sagte er stattdessen lächelnd zu ihr. Erst da fand sie den Mut, ihn vorsichtig zu fragen: »Du bist doch hoffentlich nicht krank?« »Nein, gar nicht«, antwortete er und stieg die Stufen zu ihren beiden Zimmern über dem Hauseingang hinauf, »ich bin nur müde.« Diese Antwort genügte ihr. »Gut«, entgegnete sie, »ich werde mich mit dem Kochen beeilen, damit wir gemeinsam Mittag essen können.« Mit diesen Worten zog sie sich zum Kochen zurück. Sie war glücklich und zufrieden, dass ihr Mann zu Hause war, bei ihr. Und wenn etwas nicht in Ordnung wäre, würde er es ihr bestimmt erzählen, da war sie sich sicher.
Ganz im Gegensatz zu seiner Gewohnheit hüllte sich ihr Mann jedoch in Schweigen. Mehr noch, er verließ nicht einmal das Bett. Als der Nachmittag anbrach, ging er weder zum Kaffeehaus noch besuchte er seine Freunde, ja, nicht einmal auf die Straße trat er hinaus, um mit den Jugendlichen des Viertels ein Schwätzchen zu halten. Es kam sogar noch schlimmer, als er auch am nächsten Tag das Haus nicht verließ, um zur Arbeit zu gehen. Erst da begriff Fatima, dass etwas nicht stimmte, dass er etwas vor ihr verheimlichte und dass es – ganz sicher – etwas Ernstes war. Getrieben von ihren Befürchtungen, drängte sie ihn, ihr die Wahrheit zu erzählen, doch er entgegnete lapidar, er habe ein paar Tage Urlaub genommen. Auch wenn sie diese Antwort nicht gänzlich überzeugte, war sie immerhin ein wenig beruhigt, denn womöglich schwindelte er nur, um sie nicht zu verärgern oder zu beunruhigen.
Sie wusste schließlich, dass er ihr, wenn er bei guter Laune war, eine Geschichte nach der anderen über Mister McNeely, über seine leichtfertige Frau Helen und über all die anderen Engländer erzählte, die in Baba Gurgur in der Erdölfirma in Kirkuk arbeiteten. Sie wusste auch, dass alle Engländer »Boss« genannt wurden und dass ihnen die Firma gehörte. Sie mussten beide immer furchtbar lachen, wenn Hamid ihr erzählte, wie die englischen Frauen den Arbeitern schamlos ihre nackten Körper zur Schau stellten, und wie sie in T-Shirts und Shorts neben ihren gehörnten Ehemännern herumsprangen, die mit ihren Frauen auch noch prahlten. Hamid hatte sogar entdeckt, dass die Frau des Bosses mehr als einen Liebhaber hatte. Genauso wusste er von der Beziehung des Bosses mit der Tochter von Chamu, einem Assyrer, der in der Firma die Stellung eines »First Class«-Arbeiters innehatte, und dass ihr Vater sie zu dieser Beziehung sogar noch ermutigte. Als wäre es das Normalste von der Welt, versuchten der Boss und seine Frau nicht einmal, ihre Affären vor Hamid geheim zu halten. Wenn die attraktive brünette Gattin des Bosses sich von ihrem Liebhaber verabschiedet hatte, stieg sie mit einer solchen Selbstverständlichkeit zu Hamid ins Auto, als kehrte sie vom Gebet zurück. Einmal waren sie in Habanija am Ufer des Sees gewesen, als Helen sich splitternackt ausgezogen hatte. Als sie bemerkte, wie Hamid, vollkommen perplex, wild und lüstern ihren Körper anstarrte, zwinkerte sie ihm lächelnd zu, bevor sie sich ins Wasser begab. »Was willst du mehr als das?«, hatte Fatima ihn immer wieder aufgezogen. »Viele würden sogar noch dafür bezahlen, so eine angenehme Arbeit zu finden.«
In Wahrheit aber genoss Hamid seine Arbeit nicht so, wie seine Frau sich das vorstellte, denn wenn er hinter dem Steuer des Wagens saß und darauf wartete, dass Helen von ihrem Stelldichein kam, fühlte er sich nur allzu oft gedemütigt. Manchmal forderte man ihn sogar auf, ins Haus zu kommen, und bot ihm im Dienstbotenzimmer eine Limonade an. Dann musste er dem Stöhnen seiner Herrin und ihres Geliebten, mit dem sie sich auf dem Bett im Nachbarzimmer vergnügte, lauschen – und das trieb ihn schier zum Wahnsinn. Aber sosehr ihn das auch erregte, er wagte es nicht, gegen die Einladung zu protestieren oder sie gar abzulehnen. Und irgendwie hegte er die unbestimmte Hoffnung, sie würde auch ihn eines Tages begehren und ihn auffordern, mit ihr zu schlafen. Doch dieser Tag kam nie. Nachdem Helen McNeely sich in Habanija nackt ausgezogen und ihm verschwörerisch zugezwinkert hatte, war er über einen Monat lang vollkommen verunsichert gewesen. Er wollte sie, aber er hatte nicht den Mut, die Barriere zwischen sich und ihr zu übertreten. Doch das Bild, wie sie da nackt vor ihm gestanden hatte, ging ihm nicht mehr aus dem Kopf, und immer, wenn er mit seiner Frau schlief, musste er daran denken. Das minderte seiner Meinung nach allerdings nicht die Liebe zu seiner Frau, denn schließlich war sie seine Frau, und Miss Helen McNeely war nicht mehr als ein Flittchen. Es wäre nur sein gutes Recht als Mann gewesen, seine Chance zu bekommen, und er war überzeugt davon, ihr im Bett beweisen zu können, dass er besser war als all die anderen Liebhaber. Auf diese Weise könnte er sich rächen; und es würde die Erniedrigung ausmerzen, die er jedes Mal verspürte, wenn sie auf dem Weg zu einem ihrer Geliebten das Auto bestieg.
Nie wieder sollte Hamid zur Firma gehen. Natürlich würde sein Geheimnis eines Tages ans Licht kommen, auch wenn er diesen Tag ein ums andere Mal aufzuschieben versuchte, doch die Menschen im Chukor-Viertel erfuhren es von den anderen Arbeitern und begannen vor Lachen zu prusten, statt ihn ein wenig aufzumuntern. Alsbald war seine Geschichte in aller Munde, und irgendwann wusste es die ganze Stadt. An jenem Tag erhielt er seinen Spitznamen, der bis zum Schluss wie ein richtiger Familienname mit seinem Vornamen verbunden bleiben sollte. Selbst die ahnungslosen Kinder riefen ihn nur noch bei diesem Namen, den er irgendwann auch akzeptierte: Hamid Nylon.
Die Geschichte, so wie sie von jenen Arbeitern erzählt wurde und wie sie sie von den Firmenmitarbeitern gehört hatten, war folgende: Hamid, der als Privatchauffeur für Mister McNeely und seine Frau tätig war, hatte bei der Frau sein Glück versucht und ihre Zuneigung gewinnen wollen, und eines Tages hatte er ihr von einer Reise zur Luftwaffenbasis H3 und nach Rutba ein bescheidenes Geschenk mitgebracht, nämlich ein Paar Nylonstrümpfe. Miss McNeely aber, die in ihm nicht mehr sah als ihren Diener, habe ihm die Strümpfe ins Gesicht geschleudert und ihn hochkant rausgeworfen. Jemand behauptete auch, sie habe das Geschenk anfangs angenommen, und als sie ihn nach dem Grund dafür fragte, habe er sich zu ihr geneigt und sie – ganz wie in den Filmen, die er gesehen hatte – zu küssen versucht. Daraufhin habe sie geschrien, ihn geohrfeigt und beschuldigt, er hätte versucht, sie zu vergewaltigen. Andere wiederum erklärten, er habe zwar mit ihr geschlafen, doch irgendwann sei sie seiner überdrüssig geworden, und die Nylonstrümpfe hätten ihr nur als Vorwand gedient, ihn hinauszuwerfen. Die Frauen im Viertel hingegen behaupteten, er sei der Freund der englischen Lady gewesen. Er habe ihr tatsächlich Nylonstrümpfe zum Geschenk gemacht, doch ihrem Mann sei die Sache irgendwie seltsam vorgekommen, und so seien ihm die Strümpfe als Anlass gerade recht gewesen, Hamid zu feuern. Hamid selbst aber hüllte sich in Schweigen und weigerte sich tagelang, den Vorfall zu erwähnen. Und als er sein seelisches Gleichgewicht wiedererlangt hatte, sagte er nur den einen Satz: »An all diesen Geschichten ist nichts Wahres dran, außer die Sache mit den Nylonstrümpfen.«
Obwohl die Menschen im Chukor-Viertel seine Entlassung von der Firma als einen völlig normalen Vorgang betrachteten, gegen den man nichts ausrichten könne, versuchten einige Arbeiter der Firma und die meisten Jugendlichen des Viertels, die täglich in der Zourchaneh-Arena trainierten, die sie in der Ruine, gleich gegenüber Hamid Nylons Wohnung, ausgehoben hatten, die Menschen im Viertel gegen die Erdölfirma aufzuwiegeln. Sogar der Imam des Chukor-Viertels sagte in seinem Disputierzirkel, der sich tagtäglich spontan in der Moschee nach dem Abendgebet zusammenfand: »Die Engländer haben einen jungen Mann unseres Viertels seines Lebensunterhaltes beraubt, und das nur wegen ein paar Nylonstrümpfen. Das kann weder Gott noch sein Prophet billigen.« Einige Frauen ereiferten sich so sehr, dass sie die armen Kerosinverkäufer beschimpften und mir nichts, dir nichts die Hähne der von Eseln gezogenen Kerosinfässer aufdrehten, sodass das Kerosin auf die Straße floss. »Haut ab, lasst euer Öl in die Möse der Engländerin fließen«, riefen sie den Verkäufern zu, die bis zum Schluss gar nicht begriffen, worum es eigentlich ging. »Was tragen denn diese armen Leute für eine Schuld?«, versuchten die Alten zu vermitteln, denn die Familien der Firmenarbeiter wollten natürlich ihr Privileg nicht verlieren, das Kerosin über Bons zu ermäßigten Preisen zu erwerben. Die heimlich unter den Ölarbeitern agitierende Gewerkschaft aber verteilte anlässlich Hamid Nylons Entlassung ein Flugblatt und forderte seine Wiedereinsetzung auf seinen Arbeitsplatz. Dieses Flugblatt wurde jedoch von niemandem im Chukor-Viertel beachtet – und das war auch besser so, denn hätten die Menschen das Gefühl gehabt, es gehe hier um Politik, wäre ihnen angst und bange geworden. Noch niemals in seiner über hundertjährigen Geschichte hatte das Chukor-Viertel an einer Protestdemonstration teilgenommen, auch wenn viele Menschen von Demonstrationen doch immerhin gehört hatten, ja, einige sogar Zeuge der Demonstration geworden waren, die einige Monate zuvor am Großen Suk vorbeigezogen war. Der eine oder andere Schlachtermeister hatte damals sogar der Polizei geholfen, die Demonstranten anzugreifen und zu verprügeln, nachdem man ihnen weisgemacht hatte, diese Demonstranten forderten einmal wöchentlich die Zügellosigkeit der Frauen, und zwar immer freitags.
So geschah es, dass einen Monat nach Hamid Nylons Entlassung die Bewohner des Viertels an einem Freitag auf die Straße gingen, um die Rückkehr ihres entlassenen Sohnes zu seiner Arbeit in der Firma zu verlangen. Nach ausgiebigen Diskussionen in den Kaffeehäusern, die sich jeden Nachmittag in offene Foren verwandelten, waren alle von der Idee begeistert. Als Mullah Zain al-Abidin al-Qadiri dann noch sagte, die Muslime seien wie ein einziger Körper, und wenn eines der Organe klage, mache sich der ganze restliche Körper auf, ihm zu Hilfe zu eilen, da geriet die Angelegenheit quasi zu einer religiösen Pflicht. Ein betagter Künstler, der für seine Kalligraphien auf marmornen Grabsteinen bekannt war, malte dafür sogar Transparente, deren Slogans er sich selbst ausgedacht hatte.
Eines Tages also machte sich die Prozession, der sich auch Kinder und Frauen angeschlossen hatten, nach dem Freitagsgebet auf den Weg. Die Athleten unter den jungen Männern sowohl des Chukor-Viertels wie auch anderer Stadtviertel trugen Spruchbänder, auf denen in Ruq’i-, Farsi- und Kufischrift geschrieben stand: »Es gibt keinen Gott außer Gott, und Mohammed ist sein Prophet«, »Im Namen Gottes, des Gnädigen und Barmherzigen«, »Dein Tag wird kommen, Verräter«, »Hamid Nylon ist unschuldig«, »Hamid Nylon muss eine Familie ernähren« und »Es lebe Hamid Nylon«. Neben diesen Spruchbändern erhoben sich grüne Banner, die man aus den Moscheen geholt hatte und auf denen »Gott«, »Mohammed« und »Ali« zu lesen stand. Als die Kinder diese Banner sahen, liefen sie rasch nach Hause und schleppten alle Lumpen an, derer sie habhaft werden konnten, befestigten sie an Stöcken und begannen, diese vor sich herschwenkend, innerhalb oder vor der Menschenmenge umherzuhüpfen. Die Derwische des Viertels zückten ihre Schwerter und Lanzen und schwangen sie, berauscht von den sporadisch ausgestoßenen Freudentrillern der Frauen und den Rufen »Gott ist groß«, in der Luft. Drei oder vier Männer – unter ihnen Langfinger Mahmud al-Arabi, der nachts in die Häuser einbrach, aber selbstredend nur außerhalb des Chukor-Viertels – hatten aus einem Gefühl der Verantwortung gegenüber den Söhnen ihres Viertels heraus ihre Pistolen geholt und schossen in die Luft. Als der Imam der Moschee ihnen das jedoch untersagte, stellten sie die Schießerei ein, ohne indes ihre Pistolen aus den Händen zu legen. Zahlreiche Kinder hatten ihre Gesichter mit Ruß geschwärzt, sodass sie aussahen wie Afrikaner oder Teufel. Andere hatten sich Ziegenköpfe mit bis zu den Füßen reichenden Fellen übergezogen und stachen mit ihren Hörnern in die Luft. Scheichs spritzten Rosenwasser aus kleinen Bronzegefäßen über die Versammelten. Wieder andere trugen Bilder von Hasan und Hussein; Bilder des Heiligen, der den Drachen tötete; Bilder von König Faisal dem Zweiten als Kind; von König Ghazi und von Kemal Atatürk. Sogar ein Bild der Tochter des Strohverkäufers, der Künstlerin Samanchi Qizzi, hatte man mitsamt seinem Rahmen aus dem Kaffeehaus im Großen Suk herbeigeschafft.
Endlich machte sich die Demonstration auf den Weg. Doch wohin? Niemand wusste es. Der Demonstrationszug durchquerte das Chukor-Viertel einmal hin, einmal her, zog in alle kleinen Gassen hinein und wieder hinaus, und die Frauen, die von den Dächern aus zuschauten, vermeinten wegen der rußgeschwärzten Gesichter und der Ziegenköpfe, es handele sich um eine Prozession, die um Regen beten wolle. Daher begannen sie, den Demonstrierenden als Glücksbote Wasser auf die Köpfe zu schütten. Nachdem nun die Demonstration einmal durch das ganze Viertel hin- und wieder zurückgelaufen war, rief einer: »Lasst uns zur Firma gehen und dort unsere Klagen vorbringen!« Und ein anderer meldete sich: »Gehen wir doch lieber zur Polizeizentrale und unterbreiten die Sache der Regierung!« Mullah Zain al-Abidin al-Qadiri aber, der Imam der Moschee, der den Zug gemeinsam mit den Ältesten des Viertels anführte, blieb plötzlich stehen und hielt eine Predigt, an die sich alle noch lange erinnern sollten: »Es ist doch unsinnig, von hier bis zur Firma in Baba Gurgur zu ziehen, um dem Engländer und seiner liederlichen Frau, die immerhin zu den Leuten der Buchreligionen gehört, unser Gesuch zu unterbreiten. Vorher werden wir auf dem Weg vor Erschöpfung sterben. Außerdem haben Gott und sein Prophet es den Muslimen verboten, ihre Köpfe vor den Ungläubigen zu senken. Wenn wir dorthin gehen, müssen wir eine Hure und ihren Zuhälter unterwürfig und willfährig um Gnade bitten. Das aber ist mit der Ehre des Chukor-Viertels nicht vereinbar. Ich habe auch gehört, dass einige gefordert haben, wir sollten zur Kaserne oder zum Palast gehen. Aber was hat die Regierung mit der Entlassung Hamid Nylons zu tun? Es sind die Engländer, die ihn rausgeworfen haben, und nicht unsere Landsleute. Nur die roten Kommunisten legen sich mit der Polizei und der Regierung an, und wir sind, Gott sei Dank, keine Kommunisten oder Moskoviter.«
Als der Imam Zain al-Abidin al-Qadiri an dieser Stelle seiner Rede angekommen war, erhoben sich aus der euphorischen Menge heraus die Stimmen. »Und was sollen wir sonst tun?«, fragten sie. Die prompte Antwort des Imams in die bleierne Stille hinein, die sich ganz plötzlich über den Ort gelegt hatte, war diesmal eindeutig und verblüffend zugleich: »Wir werden zu Gott gehen.« Die Menschen erfassten die Bedeutung dieses erhabenen Satzes nicht gänzlich, und so fuhr er fort: »Es stimmt schon, dass Hamid Nylon von der Arbeit entlassen wurde, aber die Heimsuchung ist bei weitem größer. Wir alle sind von der Dürre bedroht, es ist bis jetzt kein einziger Tropfen Regen gefallen. Und wenn Gott sich unser nicht erbarmt und seine Wolken über Kirkuk treibt, werden wir vor Hunger sterben. Lasst uns also nach Musalla ziehen und dort auf dem freien Feld Gott und seinen Propheten anrufen, damit der Regen niedergeht und sich Wohl und Segen über alle breiten.«
So geschah es, dass sich die Menschen, grüne Banner und Spruchbänder mit der Forderung nach Gerechtigkeit für Hamid Nylon vor sich her tragend, von Trommelschlägen und dem Rasseln der Tamburine begleitet, in Richtung Musalla-Platz aufmachten und diesen entlanggingen, bis sie den offenen Friedhof erreichten, wo sich die Wiedehopfe und Lerchen zwischen den Felsen versteckten. Erschreckt flatterten sie auf und erhoben sich in die Lüfte. Die Menschenmenge kam schließlich zu dem freien Platz, den die Turkmenen »Yeddi Qizlar« nannten und wo noch die Überreste von verlassenen Steinmühlen zu finden waren. Dort standen sie nun demütig und ehrfurchtsvoll vor Gott. Die Hände gen Himmel erhoben, flehten sie tränenüberströmt in einem gemeinschaftlichen Gebet um Regen und die Rückkehr Hamid Nylons zu seiner Arbeit. Mehr als eine Stunde verharrten sie dort und baten Gott, die rußverschmierten Gesichter mit einem heftigen Regenfall rein zu waschen. Plötzlich zogen von Osten her schwarze Wolken am Himmel auf. Rufe wie »Es gibt keinen Gott außer Gott« erhoben sich, und Gottes Barmherzigkeit und Macht wurden gepriesen. Man dankte Gott dafür, dass er die Bitte der Menschen des Chukor-Viertels erhört hatte. Und tatsächlich, es begann zu blitzen und zu donnern, und die betenden Demonstranten wurden vom Regen überrascht. Nur mit Mühe und Not erreichten sie vollkommen durchnässt ihre Häuser und wären beinahe in den Wasserfluten ertrunken, die durch alle Viertel strömten. Ein Wunder war geschehen. Und dieses Wunder ließ die Menschen vollkommen Hamid Nylons Geschichte vergessen. Der aber konnte jetzt endlich, wie die anderen auch, über sein Abenteuer mit Miss Helen McNeely lachen.
Dieses Wunder hinterließ im Gedächtnis der Menschen eine unauslöschliche Erinnerung. Noch lange disputierten und stritten sie darüber, wem der Dank für dieses Wunder gebühre. Hatte Gott auf das Flehen eines bestimmten Menschen oder auf ihrer aller Gebete geantwortet? Irgendwie kamen sie am Ende zu dem Schluss, Gott könne keinesfalls auf das Gebet eines der wenigen Araber reagiert haben, die sich an dieser Prozession beteiligt hatten, denn die würden sich niemals ihre Hintern waschen; ganz abgesehen davon, dass es ihr Schicksal war, bis zum Ende aller Tage als Verräter zu gelten. Sie hatten den ungläubigen Engländern in ihrem Krieg gegen die muslimischen Osmanen geholfen und ihre Brüder, die Türken, bekämpft, ohne jegliche Beachtung der Religion, die Araber und Türken vereinte. Die Turkmenen beschimpften die Araber bei jedem Streit, der zwischen ihnen ausbrach, mit den Worten »verräterische Araber« oder »diese Araber mit ihren vollgeschissenen Ärschen«. Das ging sogar so weit, dass viele arabische Kinder sich insgeheim wünschten, doch von Gott als Turkmenen erschaffen worden zu sein, und einige von ihnen teilten sogar die Begeisterung der turkmenischen Kinder für die eine oder andere Partei in der Türkei, zu deren Anhänger sich viele turkmenische Jugendliche bekannten. Das Bild Kemal Atatürks in Militäruniform, mit seinem ovalen Gesicht und geschmückt mit seinen Orden, hing in etlichen Häusern an den Wänden, während es nur die Araber wagten, das Bild des Königs oder des Prinzregenten oder sogar von Königin Alia aufzuhängen. Für sie hegten viele, besonders die Frauen, Zuneigung. Vielleicht weil sie Witwe war, oder vielleicht weil es die Engländer gewesen waren, die ihren Mann, König Ghazi, getötet hatten – so munkelte man zumindest. Es sollte dies ein Racheakt gewesen sein, weil er die Assyrer niedergemetzelt hatte, die im Irak unter der Präsidentschaft von Mar Scham’un einen eigenen Staat hatten gründen wollen – während der seine Haut hatte retten können und nach Amerika geflüchtet war. Die Frauen erzählten ihren Kindern immer voller Stolz, wie die Menschen in Kirkuk eines Tages auf die Straßen gegangen waren, um die zurückkehrenden siegreichen Soldaten und die bewaffneten Stammesangehörigen zu empfangen, ein jeder mit dem Kopf eines ungläubigen Assyrers in der Hand. Die Augen jener abgeschlagenen Köpfe hätten sie schamlos angestarrt und, so behaupteten die Frauen, ihnen unverschämte Blicke zugeworfen. Viele von ihnen hätten daraufhin ihren Schleier wieder übers Gesicht gezogen und den Satan und die Assyrer verflucht.
Wenn also den Arabern jegliches Verdienst an diesem Wunder abgesprochen wurde, so galt dies selbstverständlich auch für die Kurden. Tatsächlich leugneten die Kurden – es waren nur zwei oder drei Familien, die sich im Chukor-Viertel angesiedelt hatten – selbst jeglichen Anteil an dieser mit Gott in Zusammenhang stehenden Geschichte.
Auf jeden Fall wäre es ihnen auch gar nicht möglich gewesen, das Gegenteil zu behaupten. Schließlich waren sie von so schwachem Verstand, dass sie noch nicht einmal schwarze Rosinen von Mistkäfern unterscheiden konnten. Das ganze Chukor-Viertel wusste, dass man einigen Kurden bei einer Einladung einmal einen Teller mit schwarzen Rosinen vorgesetzt hatte, zwischen die ein paar Mistkäfer gesetzt worden waren. Als die Mistkäfer das Weite suchen wollten, hatten sich die Kurden auf sie gestürzt, um sie zu verschlingen. »Esst zuerst die Rosinen, die abhauen!«, forderten sie sich gegenseitig auf. »Die anderen bleiben sowieso liegen.« Würde Gott wirklich ein Gebet von solchen Idioten erhören? Diese Frage verdiente es nicht einmal, näher erörtert zu werden.
Es lag also auf der Hand, dass Gott das Flehen der Turkmenen erhört hatte, und von niemand anderem sonst. Aber hatte er das Gebet aller erhört oder nur das von einem oder zweien? Obwohl für diese vertrackte Angelegenheit nur schwerlich ein Beweis erbracht werden konnte, gingen die Meinungen darüber weit auseinander.
Manche behaupteten, dass dieses Wunder auf den verrückten Delli Ihsan zurückgehe, der, wie er es stets zu tun pflegte, seine Hand gen Himmel gestreckt und den Wolken befohlen hatte, zu regnen, worauf es tatsächlich zu regnen begonnen hatte. Die Leute, die das behaupteten, konnten ein unwiderlegbares Argument anführen, nämlich dass Delli Ihsan kein menschliches Wesen war, sondern zur Gattung der Dschinne gehörte, und zwar zur muslimischen Fraktion. Das war schließlich kein Geheimnis, denn alle konnten tagaus, tagein beobachten, wie Delli Ihsan, wenn er das Chukor-Viertel durchschritt oder im Großen Suk spazieren ging, ein ums andere Mal plötzlich stehen blieb und den Dschinnen ins Gesicht brüllte, die ihn, wie es schien, anpöbelten oder ärgerten. Dann setzte er seinen Gang fort, um sich ein weiteres Mal nach hinten umzuwenden und die Leere zu beschimpfen. Er konnte vor jedem Laden innehalten und sich nehmen, was immer ihm gefiel, ohne dass jemand eine Bezahlung verlangte. Zugegebenermaßen nahm er stets nur so viel, wie er für sich selbst benötigte, eine Orange hier, einen Apfel dort. Manchmal setzte er sich auch in eine abgelegene Ecke im Kaffeehaus und trank ein Glas Tee – natürlich ohne ihn zu bezahlen – und lauschte aufmerksam dem Kaffeehauserzähler, der die Geschichte von Antara Ibn Schaddad oder von Saif Ibn Dhi Yazan oder die Anekdoten von Muallah Nasr al-Din vortrug. Dann schüttelte er lächelnd den Kopf und trat wieder auf die Straße. »Was für ein Glücklicher, die Königin der Dschinne hat ihn zu sich gerufen«, murmelte dann manch ein Gast im Kaffeehaus.
Seine Beziehung zu den Dschinnen war vor vielen Jahren an den Tag gekommen, und sogar die Kinder im Chukor-Viertel kannten die Geschichte. Eines Nachts war Hadsch Ahmad al-Sabundschi, ein Großhändler aus dem Getreidesuk und der reichste Mann im Viertel, durch ein Geräusch vor seinem Schlafzimmerfenster erwacht, das nicht menschlichen Ursprungs zu sein schien. Er tat, als schlafe er weiter, lauschte aber mit all seinen Sinnen. »Harun, Harun, bist du bereit?«, flüsterte jemand im Dunkel. Der Fragesteller war ein fremder Kater, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Dann erblickte Hadsch Ahmad seinen Hauskater Harun, der auf den anderen Kater zuging und ihn begrüßte. »Ich habe mir einige Kleider meines Herrn für uns ausgeliehen«, sagte dieser zu ihm. »Ich hatte schon befürchtet, du hättest es vergessen oder seiest, von Müdigkeit überwältigt, wieder eingeschlafen«, antwortete der zweite Kater. »Doch nicht in einer solchen Nacht!«, entgegnete Harun. »Wie könnte ich unser jährliches Fest vergessen?« Dann sprangen sie lautlos über die Mauer auf die Straße.
Von Neugier überwältigt trat Hadsch Ahmad al-Sabundschi ebenfalls auf die Straße und folgte den beiden in gebührendem Abstand. Die beiden Kater, ein jeder mit einem Beutel um den Hals, schlichen Richtung Suk, dann schlüpften sie rechter Hand in eine Seitengasse, von wo aus sie auf die Hauptstraße kamen, die parallel zur Zitadelle verlief. In aller Ruhe setzten sie von dort ihren Weg fort, bis sie das Frauenbad erreichten. Vor dem Seiteneingang des Bades sah Hadsch Ahmad, wie sich sein Kater Harun und der andere Kater in zwei Männer verwandelten. Sie öffneten ihre Beutel und zogen die beiden Dschilbabs an, die sie mitgebracht hatten. Dann stießen sie gegen die Tür und verschwanden im Inneren. Einige Augenblicke lang vernahm Hadsch Ahmad eine süßliche, berauschende Musik, die vom Hof des Bades erklang. Sein Herz schlug heftig, denn einen der beiden Männer hatte er erkennen können: Es war kein geringerer als Delli Ihsan persönlich gewesen.
Hadsch Ahmad zögerte einen Moment: Sollte er gleichfalls hineingehen oder nicht? Er hatte Angst, aber er sagte »Im Namen Gottes, des Gnädigen und Barmherzigen« und rezitierte den Thronvers aus dem Koran, dann stieß er die Tür auf und trat, alles Weitere dem Schicksal überlassend, ein. Was er dort sah, hatte noch nie ein menschliches Auge erblickt, und Hadsch Ahmad al-Sabundschi würde sein Lebtag eines solchen Anblicks nicht noch einmal ansichtig werden.
Der Hof des Bades, das seine Frau einmal wöchentlich mit Kind und Kegel aufsuchte, hatte sich in einen riesigen Saal aus buntem Glas verwandelt. Von der Decke hingen gewaltige Kronleuchter aus Perlen. An den Seiten standen Bänke aus purem Gold, in die magische Inschriften eingraviert waren, von denen er allerdings kein einziges Wort entziffern konnte. Grüne, blaue, rote, gelbe und weiße Vögel schwebten in den Höhen des Saales und ließen eine Musik erklingen, so lieblich wie der Gesang der Paradiesbewohner. Hadsch Ahmad sog den Duft von berauschendem Räucherwerk ein, der ihn vollkommen vergessen ließ, dass er sich in einem Bad in Kirkuk befand, ja, er vergaß sogar, dass er überhaupt auf der Welt war. Ganz besonders verwundert war er allerdings durch einen Umstand, für den er keinerlei Erklärung hatte. Der Saal öffnete sich zum Gestade eines gewaltigen Meeres. Darauf kreuzten Schiffe, von weit her kommend und gesteuert von Katzen jeglicher Couleur. Sobald die Schiffe und Boote beim Saal angekommen waren, sprangen die Katzen an den Strand und verwandelten sich in junge Männer und Frauen von hinreißender Schönheit. Er, Hadsch Ahmad al-Sabundschi, der sein ganzes Leben in dieser Stadt verbracht hatte, wusste ganz genau, dass es in Kirkuk kein Meer gab und dass Chasa Su, der die Stadt durchquerte, nicht mehr war als ein kurioser Fluss, der im Sommer gänzlich austrocknete und im Winter zu einem wilden Strom anschwoll, der bisweilen über die Ufer trat und das Dschai-Viertel zu überschwemmen drohte. Hadsch Ahmad erblickte darüber hinaus zahlreiche Leute in den prächtigsten Gewändern. Am Kopf des Saales saßen der König und die Königin auf einem mit Perlen und Rubinen besetzten Thron. Sie waren umgeben von Ministern und Höflingen, außerdem standen ihnen in Seide gekleidete Jünglinge und Sklavinnen zu Diensten, die Speisen und Früchte auf Tellern aus purem Gold reichten. Hadsch Ahmad wusste, dass dies muslimische Dschinne waren und dass ihr König Hardhub hieß und die Königin Murdschaana genannt wurde.
Von den Lichtern und der Noblesse des Ortes geblendet, mischte sich Hadsch Ahmad al-Sabundschi unauffällig unter die Anwesenden. Als er Leute tanzen und singen sah, schloss er sich ihnen an, damit niemand bemerke, dass sich ein menschliches Wesen hier eingeschmuggelt hatte. Gemeinsam sangen sie wie mit einer einzigen Stimme zu einem magischen Tanz:
Ich sah meine Liebe mit den Augen meines Herzens.
Da fragte er: Wer bist du? Ich sagte: Du.
Du, der du jedes Maß überschrittest,
Um das ›Wo‹ zu tilgen. Wo also bist du?
Und jetzt, da es kein ›Wo‹ gibt, wo bist du?
Und es gibt kein ›Wo‹, dort wo du bist.
Und es gibt keine Vorstellung von dir, um sich dich vorzustellen,
Sodass die Vorstellung weiß, wo du bist.
Hadsch Ahmad al-Sabundschi kannte diese Verse von al-Husain Ibn Mansur al-Halladsch auswendig, und so begann er sie gemeinsam mit den anderen zu singen. Er erfuhr von den Anwesenden auch, dass dieser Dichter, den man in Bagdad an einem Palmenstamm gekreuzigt hatte, in Wahrheit kein Menschenkind gewesen war, sondern ein gottesfürchtiger Dschinn. Sie schätzten ihn sehr hoch und stellten ihn sogar eine Stufe über König Salomon den Weisen, der unbegrenzte Macht über alle Fraktionen der Dschinne besaß.
In dem Freudentaumel, der alle erfasst hatte, gedachte Hadsch Ahmad al-Sabundschi eine Spur zu hinterlassen, die später über jeden Zweifel erhaben wäre. Also schlich er sich ganz nah an Harun heran, der seinen blauen Dschilbab trug, und brannte unbemerkt mit seinem Zigarettenstummel von hinten ein kleines Loch in den Ärmel. Schließlich fand er eine Möglichkeit, sich wieder auf die Straße zu stehlen. Hadsch Ahmad al-Sabundschi war vollkommen fassungslos nach diesem Erlebnis. Auf seinem Nachhauseweg wurde die Finsternis in regelmäßigen Abständen von fahlem Laternenlicht verdrängt. Er begegnete Einbrechern mit Säcken auf dem Rücken und Nachtwächtern, die von Zeit zu Zeit in ihre Pfeifen bliesen, genauso wie Betrunkenen, die einsam lauthals turkmenische Volkslieder grölten. Betrunkene in anderen Straßen antworteten ihnen gleichfalls mit turkmenischen Liedern und erwarteten wiederum eine gesungene Antwort. Hadsch Ahmad al-Sabundschi aber war so versunken in jener anderen Welt, dass er sich um nichts und niemanden scherte, nicht um die bangen Diebe, nicht um die Nachtwächter und noch nicht einmal um die turkmenischen Volkslieder, denen er sich eigentlich verbunden fühlte. Wie ein Prophet, der eine Offenbarung empfangen hatte, zitterte er vor Erregung und Ehrfurcht.
Kaum war er zu Hause angekommen, schlüpfte er ins Bett und grübelte über die Ereignisse seiner wunderlichen Nacht nach. Er versuchte zu schlafen, doch es gelang ihm nicht. Also lag er wach bis zum Morgengrauen, als er Harun wieder über die Mauer springen und sich ins Haus schleichen hörte. »Eine wunderschöne Nacht, nicht wahr?«, sagte der durch das Schlüsselloch hindurch zu Delli Ihsan, der offensichtlich auf der Straße geblieben war. »Ja, das war es«, hörte Hadsch Ahmad Delli Ihsan flüstern. »Auf Wiedersehen.« »Möge der Prophet Salomon mit dir sein«, entgegnete Harun teilnahmsvoll. Da erhob sich Hadsch Ahmad, der die ganze Nacht kein Auge zugetan hatte, um das Morgengebet zu verrichten, und sah, wie sich Harun, als sei nichts gewesen, auf der Schwelle räkelte. Hadsch Ahmad zog seinen blauen Dschilbab über und fand das Loch, das er selbst mit seinem Zigarettenstummel hineingebrannt hatte. »Hast du gesehen, Harun?«, fragte er Harun zur Überraschung seiner Frau. »Du hast ein Loch in meinen Dschilbab gebrannt. Du hättest mich um Erlaubnis bitten sollen, bevor du ihn anzogst.« In diesem Augenblick begriff Harun, dass Hadsch Ahmad ihn entlarvt hatte. Er senkte den Kopf, verließ das Haus und ward nie mehr gesehen.
Seit dem Tag, als Hadsch Ahmad al-Sabundschi im Kaffeehaus über sein Erlebnis berichtet hatte, hatte Delli Ihsan einen Heiligenschein. Die meisten Menschen, besonders die Einfältigen und die Kinder, fürchteten ihn zwar, doch die Alten des Viertels hielten Delli Ihsan für ein Geschenk Gottes und einen Segen. Ein muslimischer Dschinn in Menschengestalt konnte nur Gutes bringen! Dieser Verrückte, der im Gegensatz zu allen anderen Verrückten der Stadt über die Maßen elegant war, trug stets saubere Kleidung und handelte mit einer bewundernswerten Gelassenheit – außer wenn er in aller Öffentlichkeit Zwiesprache mit den Dschinnen hielt. Selbstverständlich hatte er auch keinen Stock, auf dem er wie die anderen Verrückten zu reiten pflegte. Kein einziges Kind hätte es gewagt, hinter ihm herzujagen, obwohl es im Viertel nur so von Kindern wimmelte, und genauso wenig wäre ein Mann auf die Idee gekommen, ihn zu verspotten oder sich über ihn lustig zu machen, denn das hätte ihn das Leben kosten können.
Es gab für die Menschen nicht den geringsten Zweifel an der wahren Herkunft von Delli Ihsan, ja, sie wussten sogar, von welcher der Dschinnenfamilien er abstammte. Zum einen war da die Geschichte von Hadsch Ahmad al-Sabundschi, an dessen Gottesfrömmigkeit und Lauterkeit niemand zweifelte. Aber das war nur einer der Beweise. Delli Ihsans Mutter, eine alte Frau von über hundert Jahren, hatte dem Drängen der Nachbarn irgendwann nachgegeben und eingestanden, dass einer der Dschinnenkönige, genannt Qamr al-Saman, sich in sie verliebt und sie heimlich nachts besucht hätte. Sie habe ihn nach dem Brauch Gottes und seines Propheten Mohammed geehelicht und Ihsan von ihm empfangen, dessen Identität sie vor der Allgemeinheit hatte geheim halten wollen. Ihr Gatte aber, der später in einem der Kriege gegen die jüdischen Dschinne gefangen genommen worden war, war vor Gram und Trauer über die Trennung von seiner Frau und seinem Sohn dahingeschieden.
Es war also sonnenklar, dass der Verrückte, der mit niemandem zu sprechen pflegte, verantwortlich war für das Wunder mit dem Regenguss, der Kirkuk so plötzlich unter Wasser gesetzt hatte. Wer außer ihm könnte dem Himmel befehlen, Wolken aufziehen zu lassen, und tatsächlich würde sich der Himmel bewölken? Und den Wolken zu befehlen zu regnen, und tatsächlich würden sie regnen? Aber wie immer gab es auch Leute, die Händel suchten und unbekümmert abweichende Meinungen äußerten. Sie behaupteten, der Regen sei Hamid Nylon zu verdanken, denn ohne seine Entlassung aus der Firma und ohne die Demonstration des gesamten Chukor-Viertels für ihn wäre das Wunder nicht geschehen. Diese Meinung entbehrte zwar nicht einer gewissen Logik, aber sie erklärte nicht das Wunder. »Wenn wir diese Logik akzeptieren, müssen wir noch einen Schritt weiter gehen als nur bis zu Hamid Nylon«, antworteten andere. Und damit meinten sie, bis zur liederlichen englischen Lady. Denn ohne ihre Affären und ihre Flatterhaftigkeit wäre Hamid Nylon nicht gefeuert worden. »Eine solche Denkweise aber würde uns unweigerlich in den Unglauben führen«, konstatierten sie zum Schluss.
Mullah Zain al-Abidin al-Qadiri war verärgert über all diese Äußerungen, die mit dem Islam seiner Meinung nach unvereinbar waren. Weder die Dschinne noch Hamid Nylon, so verkündete er, steckten hinter diesem Wunder, sondern Gott, der das Flehen der Muslime erhört und den Regen reichlich hatte fallen lassen. Dank dieser Logik wurde diese Position von den Bewohnern des Chukor-Viertels wohlwollend angenommen, zumal Hamid Nylon persönlich darüber gespottet hatte, dass er der Grund für das Wunder hätte gewesen sein sollen: »Wenn ich in der Lage wäre, Wunder zu vollbringen, dann hätte ich dieses englische Flittchen dazu gebracht, mit mir zu schlafen.« Und das hatte er vollkommen ernst gemeint.
Drei Tage lang regnete es ununterbrochen. Die niedrigen Häuser standen unter Wasser, viele Hausdächer waren eingebrochen. Der Chasa Su trat über die Ufer und überschwemmte die nahe gelegenen Viertel. Jetzt beteten die Menschen dafür, dass der Regen wieder aufhöre. Hamid Nylon aber hob am dritten Tag dieser Überschwemmung, die er Noahs Sintflut nannte, seinen Kopf und blickte gen Himmel. Dann sagte er zu seiner Frau, die die Chance genutzt und die meiste Zeit mit ihm im Bett verbracht hatte: »Es hat den Anschein, als müsse der Himmel ganz schön pieseln, nachdem er monatelang eingehalten hat.« »Lästere nicht Gott, Hamid, es ist ein Wunder«, antwortete seine Frau gereizt. »Ja, es ist ein Wunder«, lachte Hamid, »aber der Himmel muss auch nicht so übertreiben.« Während der ununterbrochenen Regenflut war Hamid Nylon in den beiden oberen Zimmern gefangen gewesen, die er im Hause seiner Schwester Nazira und ihres Mannes Chidr Musa, eines umherziehenden Schlachters, gemietet hatte. Die beiden bewohnten mit ihren drei Töchtern – die älteste fünf Jahre alt, die kleine hatte ihr erstes Lebensjahr noch nicht vollendet – das große Zimmer unten am Ende des Hofes.
Nur ein einziges Mal stieg Hamid Nylon während dieser regnerischen Tage in das große Zimmer hinab, wo er sich auf einen Teppich neben das Kohlenbecken setzte, dessen Glut gänzlich von Asche bedeckt war. Vor ihm stand ein Teller mit Aschrasi-Datteln und Walnüssen. In liebenswürdigem Ton bat er seine Schwester, ihm ein Glas Tee einzuschenken. Dann kam die kleine Laila und setzte sich auf sein Knie. Chidr Musa war besorgt. »Wie kann ich meine Schafe verkaufen, wenn es weiterhin so regnet?«, fragte er. »Betrachte die Regentage einfach als Urlaub, Mann«, zog Hamid Nylon ihn auf. »Dein Geld reicht dir doch für tausend Jahre.« »Das posaunt meine Schwester Kadrija überall herum, möge Gott sie verfluchen. Sie behauptet, ich würde die Dinare unter meine Matratze stecken und darauf schlafen, damit sie wie gebügelt aussehen.« »Na und?«, fragte Hamid Nylon zurück. »Es ist dein Geld, damit kannst du doch machen, was du willst.« Dann schwieg er und starrte im blassen Licht der Laterne auf die gold- und silberfarbig verzierten Schranktüren. Darauf saßen in roten und blauen Farben gemalte Pfaue mit symmetrisch angeordneten Federschwänzen und Lerchen auf zierlichen Zweigen; selbst die Schrankseiten waren mit einem Blumenmuster geschmückt. »Es gibt nicht mehr viel Arbeit in Kirkuk«, sagte Chidr Musa, »aber Schlachter gibt es wie Sand am Meer. Ich werde nach Hawidscha gehen. Da ist nicht ein einziger Metzger zu finden.«
Hamid Nylon wusste um Chidr Musas Liebe zu Geld und seinen Geiz – setzte er sich doch nur ganz selten einmal ins Kaffeehaus –, und er hatte den Eindruck, Kadrija habe recht mit ihren Behauptungen. Was er jedoch nicht wusste, war, dass es seine eigene Schwester Nazira war, die die Dinarscheine zu bügeln pflegte, denn sie verdiente bisweilen mit dem Handel von Stoffen und Frauenbekleidung mehr als ihr Mann. Sie reiste in weit entfernte Städte, um dort einzukaufen, und sei sogar bis nach Aleppo gefahren, wie es hieß, eine Stadt, die nach Ansicht der Frauen in Syrien oder Libanon lag. Von dort brachte sie bunte Stoffe, schöne Blusen und die »Abu al-Hil«-Seife mit, die sie den Frauen, zu erhöhten Preisen, wenn auch auf Pump weiterverkaufte. Mehr noch, ihre Mutter, die alte Hidaja, die im nahe gelegenen Jüdischen Viertel wohnte, verdingte sich bei den Frauen mit Gesichtsenthaarung und dem Bleichen der Haut durch Auftragen von Bleiweiß. Außerdem verstand sie sich auf Magie und Hellseherei. Man sagte ihr sogar nach, sie könne Stein in Gold verwandeln, indem sie mysteriöse Zaubersprüche aufsagte, die sie von ihren jüdischen Nachbarn gelernt hatte. Sie und ihre Tochter schmückten ihre kräftigen Fesseln stets mit Fußkettchen, die Handgelenke mit Armreifen, und um den Hals hingen Lira-Münzen an einer goldenen Kette.
Kaum hatte Hamid Nylon sein erstes Glas Tee unten im großen Zimmer getrunken, da tauchte seine Frau Fatima auf. Sie langweile sich alleine zu Hause, behauptete sie, doch in Wahrheit hatte sie Angst, Nazira könne sich mit ihrem Mann Hamid gegen sie verschwören. Sie wusste auch, dass Chidr Musa, der sich seiner Frau Nazira nicht widersetzen konnte, sich dem Komplott gegen seine Schwägerin anschließen würde. Als Hamid Nylon des Beisammenseins in dem schwachen Schein des Öllämpchens mit dem rußgeschwärzten Glas überdrüssig wurde, erhob er sich. »Das Beste, das man bei einem solchen Regen und in so einer Dunkelheit machen kann, ist, zu schlafen«, sagte er. Seine Frau schloss sich ihm an. Auf der Treppe, die zu ihren beiden oberen Räumen führte, vernahm er das Blöken eines von Chidr Musas Schafen. »Auch dir einen schönen Tag«, antwortete er spottend. Seine Frau, die hinter ihm die Treppe hochstieg, warnte ihn vor den zerbrochenen Stufen. »Die kenne ich alle wie im Schlaf«, entgegnete er in der Finsternis. Fatima war froh, wieder in ihr Heim zurückzukehren, wo sie vor den Fallstricken seiner Schwester sicher war. Vielleicht würde ihn ja auch die Lust überkommen, mit ihr zu schlafen.
Aber Hamid Nylon streckte sich rücklings auf dem Bett aus und hörte sie noch nicht einmal fragen, ob er Tee trinken mochte. Er träumte, und im Traum ließ er das Chukor-Viertel und die Stadt Kirkuk hinter sich, bis er zu einer grenzenlosen Weite gelangte, einer seltsamen Weite, wie er sie in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen hatte.