Der Tote wurde von der Hausangestellten, Maria das Dores, gefunden. Er saß mit durchschnittener Kehle auf einem Stuhl. Es gab keine Anzeichen eines Kampfes in der Wohnung, anscheinend hatte er den Mörder erwartet. Oder die Mörderin oder die Mörder. Die Schreibmaschine stand auf einem Tischchen neben dem Stuhl, aber es lagen nur weiße Bögen daneben. Sollte er gerade etwas geschrieben haben, so waren die Blätter vom Tatort entfernt worden. Dona Maria konnte nicht sagen, ob er gerade beim Schreiben gewesen war oder nicht. Von der Küche aus war das Geräusch der Maschine nicht zu hören, und als sie ihm das Mittagessen gebracht hatte, hatte sie nicht darauf geachtet. Was für ein Mensch er war? Merkwürdig. Ich weiß auch nicht. Besuch? Nur der Bruder, der einmal im Monat kam. Eine Zeitlang kam eine Reinemachefrau aus Jardim do Leste, eine Bekannte von mir, aber sie putzte nicht besonders gut. Und er bekam ein paarmal Besuch von Inspektor Macieira. Ja, von ihm persönlich. Aber das ist schon eine Weile her. Er lebte allein. Er war nicht sehr gesprächig. Ach ja, einmal hat er etwas gesagt. Einfach so, ohne besonderen Anlass. Ich brachte ihm das Mittagessen, er sah nachdenklich zum Fenster hinaus und lächelte, und da, als ich ihm das Tablett gab, da sagte er folgendes: »Er hatte recht, Dona Maria, ich habe das Haus bekommen.« Keine Ahnung, was er damit sagen wollte.
Oder auch:
Schwer zu sagen, an welcher Wunde er gestorben ist. Er hat Verletzungen am ganzen Körper, sie bilden ein Muster, aber was es bedeutet, ist nicht zu erkennen. Und an der Wand steht auch etwas, mit Blut geschrieben. In einer fremden Sprache. Komisch, er hat ein Buch geschrieben, in dem der Mörder genau das macht. Er tötet und schreibt mit dem Blut des Opfers etwas an die Wand. Verrückte Welt, nicht?
Oder auch ganz anders!
Man lässt seine Eltern ins Sanatorium holen. Man muss etwas tun. Jetzt weigert er sich einfach zu essen. Er sagte, er werde nie wieder etwas in den Mund stecken. Erst der Wahn, dass ihm ein Fuß fehle. Dann regte er sich über das Radio von Dona Nicola auf, die im Zimmer neben ihm wohnt. Und jetzt das. Dr. Macieira versucht, mit ihm zu sprechen. Aber er redet nur wirres Zeug. Er beschuldigt Dr. Macieira, dieser wolle in sein Hirn eindringen. Und erfindet Geschichten, von denen eine immer noch verrückter ist als die andere. Ja, es stimmt schon, dafür sind wir da, aber wenn er sich weigert zu essen, können wir auch nichts tun. Hier nicht. Wir werden ihn an den Tropf hängen müssen, oder so etwas. Die Maschine? Er schreibt den ganzen Tag. Aber sehen Sie nur, er schreibt nichts Richtiges. Nur Zeilen über Zeilen sinnlos aneinandergereihter Buchstaben. So als ob das, worauf es ihm ankäme, zwischen den Zeilen läge.
Copyright der eBook-Ausgabe © 2014 bei Hey Publishing GmbH, München
© Luis Fernando Veríssimo, 1988. By arrangement with Literarische Agentur Mertin Inh. Nicole Witt e. K., Frankfurt am Main, Germany and Agência Riff, Rio de Janeiro, RJ, Brazil
Übersetzt aus dem Portugiesischen von Kurt Scharf.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: FinePic®, München
Autorenfoto: © Sylvio Sirangelo
ISBN: 978-3-95607-071-6
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Im Garten des Teufels
»Es kann kein Leser gewesen sein, der Ihr Buch nachgestellt hat.«
»Und warum nicht?«
»Weil das Buch erst nach dem Verbrechen erschienen ist.«
Jetzt war es an mir, ihn zu fragen, ob er sich sicher sei. Er war es.
»Weil das Buch erst nach dem Verbrechen erschienen ist.«
»Im Verlag wird das Buch von vielen Leuten gelesen, bevor es veröffentlicht wird«, ich ließ nicht locker. »Es könnte ein Lektor oder Korrektor gewesen sein. Die sind zu allem fähig. Vielleicht aus Rache für meinen Umgang mit den Pronomen.«
Der einbeinige Kriminalschriftsteller Estévão wird durch die Beschuldigungen des Inspektors Macieira nachhaltig verunsichert. Ist der blutrünstige Grieche, Produkt seiner Phantasie und Bösewicht Nr. 1 in seinen fünftklassigen Krimis, Realität geworden? Eine mysteriöse Mordserie lässt keine andere Schlussfolgerung zu. So beschließt Estévão der Realität ein Schnippchen zu schlagen und schickt seinen Helden Conrad in immer wieder neue und ausgefallene Auseinandersetzungen mit dem fiesen Killer.
Doch je mehr sich der Schriftsteller darum bemüht, mittels seiner Imaginationskraft die Realität zu beeinflussen, desto mehr verwickelt er sich in Widersprüche, und Inspektor Macieira lässt nicht locker.
Maroun von Hubertus von Thielmann
Betörend, verstörend, einnehmend - der geheimnisvolle Halbasiate Maroun manipuliert sein Umfeld meisterhaft. Kaum jemand kann seinem Charisma widerstehen. Die Begegnung mit Fabian aber ändert alles, denn der ehemalige Manager erkennt den Strategen in Maroun und weiß: Jede Strategie hat auch ein Ziel!
Maroun hatte den Arm um ihre Hüften gelegt und schlenderte mit ihr in den nächsten Raum der Galerie, in der eine Ausstellung fernöstlicher Maler eröffnet worden war. Männer und Frauen, alt wie jung, sahen ihnen nach. Es war Maroun, der ihre Neugier erregte. Kurz nachdem ich die Galerie betreten hatte, war er mir aufgefallen. Genauso wie Corinna, meiner Frau.
»Mit wem macht sich denn Myriam davon?«, fragte sie.
Wir lebten in München, in der Stadt, in der ich aufgewachsen war. Damals, an jenem Abend, waren wir noch von Schrecken und Unglück verschont geblieben, obgleich ich, wie ich meinte, schon genug davon abbekommen hatte. Dachte ich später an diesen Abend zurück, hätten wir die Ausstellung sofort verlassen und uns Maroun vom Leib halten sollen.
Halb Asiate, halb Europäer und ganz und gar rätselhaft - Maroun ist Ende Zwanzig und eine außergewöhnliche Erscheinung. Er zieht die Menschen an wie bittersüßer Honig die Bienen und hinterlässt neben einem bleibenden Eindruck vor allem eines: eine Menge offener Fragen. Welche kriminellen Energien treiben ihn an? Was bezweckt er mit seinem Verhalten? Und was hat eine fernöstliche Organisation damit zu tun? Auf diese Fragen will Marouns väterlicher Freund Fabian spätestens dann eine Antwort, als seine Familie und Freunde in die Ereignisse verstrickt werden. Die Suche nach den Hintergründen gleicht einem Stich ins Wespennest, und Fabian muss erfahren, dass die Wahrheit zu finden oftmals leichter ist als sie zu ertragen …
Der Roman »Maroun« erzählt die Geschichte eines jungen Mannes im Spannungsfeld internationaler Kriminalität - ein Psychogramm der Kulturen!
Hubertus von Thielmann
Maroun
ISBN: 978-3-95607-084-6
Preis: 6,99 EUR
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Forbes Park von Hubertus von Thielmann
Drum prüfe, wer sich vertraglich bindet: Ein ehrgeiziger Manager übernimmt die Firmenleitung eines maroden Unternehmens auf den Philippinen - und gerät zwischen die Fronten des internationalen Big Business.
Don Lucio dachte nicht an den Bischof, er dachte über Hoffmann und die AG nach. Ob Hoffmann zu Schwandts Nachfolger ernannt werden würde? Don Lucio hielt Hoffmann für einen Spießer, der unfähig war, mit der Macht umzugehen. Schwandt hatte das auch nicht gekonnt, er war erpressbar gewesen. Don Lucio wünschte sich einen jungen Nachfolger. Frisch und noch nicht so erfahren sollte er sein, aber ehrgeizig, wie es diese jungen Leute in der AG waren, die sich ein halbes Leben mit Karriere ködern ließen. So einer würde ihm Spaß machen. Er würde mit ihm spielen können, so wie mit Jason und dann auch mit Lily. Don Lucios Spiele waren riskant für den, mit dem erspielte. Es musste nicht so wie mit Jason und Lily enden, Don Lucio gab jedem eine Chance.
Diese Chance ergreift der Manager Kauff - jedoch nicht gänzlich freiwillig. Seine Karriere beim Weltkonzern Corpus AG hat oberste Priorität, und nur deshalb sagt er zu, als ihm - auf Betreiben eines Kontrahenten - ein Posten in Asien zugeschoben wird. Zusammen mit seiner Frau Jana fliegt Kauff nach Manila, um die dortige Niederlassung auf Vordermann zu bringen. Was Kauff nicht weiß: Nicht nur seine Widersacher wollen ihn scheitern sehen, auch die Machenschaften des skrupellosen Großaktionärs Don Lucio machen aus Kauffs Einsatz einen wahren Höllentrip.
»Forbes Park« ist ein dicht erzählter Thriller über Machtmissbrauch und Manipulation im Krieg der Konzerne - so spannend wie zeitlos!
Hubertus von Thielmann
Forbes Park
ISBN: 978-3-95607-085-3
Preis: 6,99 EUR
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Streif von Hubertus von Thielmann
Einfluss und Macht erreichen viele, doch nur wenige können sie behalten: Ein junger Karrierist muss erkennen, dass es im Spiel der großen Wirtschaftskonzerne nicht nur um Gewinne geht, sondern vor allem darum, nicht zu verlieren.
Streif hatte sein Hemd ausgezogen. Nina war nackt, Schweißtropfen liefen über ihren flachen Bauch auf den Nabel zu. Streif schwitzte selten. Er war achtunddreißig und noch immer ein hervorragender Squashspieler. Nina, mit der er seit vierzehn Jahren verheiratet war, war zwei Jahre jünger. Sie hatten keine Kinder, Nina konnte keine bekommen. Streif schlug die Akte zu und sah Nina an.
»Möchtest du was trinken?«, fragte sie.
Er öffnete die Gürtelschnalle.
»Konzentrier dich auf deinen Chef.«
Ein kluger Rat, wie sich alsbald zeigt - denn Joachim Streifs Erfolgsgeschichte beim Weltkonzern Corpus AG endet unverhofft, als ihm während seiner Funktion als New York Repräsentant Fahrlässigkeit und Missmanagement vorgeworfen wird. Zu Unrecht, denn der wahre Schuldige ist Streifs Boss. Streif will nicht nur so schnell wie möglich seine Unschuld beweisen, vielmehr beherrscht ihn der Wunsch nach Rache. Er ersinnt einen ungewöhnlichen Vergeltungsplan, und schon bald erfährt sein ehemaliger Mentor am eigenen Leib, dass Streif seine Lektion gelernt hat …
Der mitreißend erzählte Roman »Streif« handelt vom moralischen Verfall in den wahren Machtzentren der Welt: den Großkonzernen - ein fiktionaler Tatsachenbericht!
Hubertus von Thielmann
Streif
ISBN: 978-3-95607-083-9
Preis: 6,99 EUR
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Luis Fernando Veríssimo, geb. 1936, hat sich in Brasilien als Erzähler, Journalist und Humorist einen Namen gemacht. Sein Roman »Im Garten des Teufels« spiegelt in kunstvoller Form die Gegenwart Brasiliens wider, einem Dschungel der Gewalt, der von Jahr zu Jahr sinnloser wird und sich jedweder rationaler Analyse entzieht.
A Faint Cold Fear Thrills Through My Veins
William Shakespeare
So sehr du auch aufpasst
der Tod lauert
zwischen den Zeilen
Alcides Buss, Zweite Person
Auf den Namen Ismael höre ich nicht. Ich heiße Estévão oder so ähnlich. Wie alle Menschen bestehe ich zu achtzig Prozent aus Salzwasser, aber ich habe es schon aufgegeben, aus derartigen Tiefen irgendeinen bedeutungsschwangeren Unsinn heraufzuholen. Wie sogar die Wale lebe ich von den kleinen Fischen der Oberfläche, die bedeutungslos, aber nahrhaft sind. Vielleicht haben Sie einmal eins meiner Bücher an einem Kiosk gesehen. Jeder Mann über vierzig legt seine Bedürfnisse ab — außer dem, das ihn am Leben erhält. Bei mir sind es jene schlecht gedruckten Bücher auf Zeitungspapier mit grellem Einband, auf dem bevorzugt einer Frau mit üppigen, nackten Brüsten gerade etwas Schreckliches angetan wird. Ich schreibe jeden Monat ein Buch, unter verschiedenen amerikanischen Pseudonymen, wenngleich mein Held — ich weiß nicht, ob Sie das bemerkt haben - stets Conrad heißt. Conrad James. Herman Conrad. Ein wortkarger ehemaliger Matrose. Ein kleiner Fisch, aber mehr als eine Stadt verdankt ihre Rettung seinem entschlossenen Eingreifen zwischen den Seiten 90 und 95. Ich verfolge ein Schema: der große Fick ungefähr auf Seite 40, das entscheidende Zusammentreffen mit dem Bösewicht und die Auflösung ab Seite 90. Ich überlebe. Das Meer habe ich nie wiedergesehen. Wenn ich es recht bedenke — seit meinem Unfall bin ich nicht mehr aus dem Haus gekommen. Ich habe einen Fuß verloren. Aber davon will ich lieber nicht sprechen. Natürlich gibt es eine Frau, sie heißt Maria, die für mich kocht und mir stets neue Nachrichten über den Untergang ihrer Familie bringt. »Der Urin meiner Mutter sieht ganz schwarz aus«, und das ausgerechnet, wenn ich gerade Kaffee trinke. Dann ist da noch ein Mädchen, das zweimal in der Woche kommt, um meine Wohnung zu putzen, aber immer in meinem Bett landet. Lilia kommt schon seit zwei Jahren, aber sie hat noch kein einziges Buch abgestaubt. Das ist also mein Leben. Exile and cunnilingus. Aber das wollte ich eigentlich gar nicht erzählen.
Das Radio. Den ganzen Tag läuft das Radio.
»Bitte stellen Sie das Radio leiser, Dona Maria!«
Sie hört nicht. Klar, sie kann mich nicht hören, wenn das Radio so laut ist. Es ist ein Programm, das anscheinend überhaupt kein Ende nehmen will. Ein Mann hört sich Geschichten an, die ihm das Publikum erzählt. Geschichten von Elend und Verzweiflung. Von Eltern, die auf der Suche nach ihren verlorenen Kindern sind. Von Elendsquartieren, die in Flammen aufgehen. Von Ehedramen. Amputierten Gliedmaßen. Der Mann, der für das Programm verantwortlich ist, gibt Ratschläge und bittet um Hilfe. Er sagt, Gott werde seine Geschöpfe nicht verlassen. Das Publikum klatscht Beifall. Dona Maria hört mich nicht.
»Bitte stellen Sie das Radio leiser, Dona Maria!«
»Wie heißen Sie? Sagen Sie uns bitte, wie Sie heißen.«
»Gloria.«
»Und wo drückt Sie der Schuh, Dona Gloria.«
»Zarolho macht mir Sorgen, das ist mein Kind.«
»Er ist blind, Sie suchen jemanden, der ihm ein Auge spendet.«
»Nein, das nicht, es ist etwas anderes.«
»Sprechen Sie sich nur aus, Dona Gloria. Achtung, verehrtes Publikum.«
»Er und sein Vater haben ständig Streit. Er raucht Hasch.«
»Zarolho oder der Vater.«
»Zarolho.«
»Ihr Gatte hat Streit mit Zarolho, weil er Haschisch raucht. Habe ich Sie richtig verstanden, Dona Gloria?«
»Mein Mann will Zarolho umbringen. Candó sagt, dass er ihm ein Messer in den Leib rennen will, wenn er zu Hause auftaucht. Zarolho ist auf Abwege geraten, aber er ist doch von unserem Fleisch und Blut.«
»Hört Ihr Gatte unsere Sendung, Dona Gloria?«
»Ja.«
»Und wie heißt er?«
»Candó.«
»Hören Sie mal gut zu, Seu Candó. Ihr Sohn ist schließlich Ihr Sohn. Töten Sie Ihren Sohn nicht, Seu Candó. Vielleicht ist er so geworden, weil es ihm in seiner Kindheit an der nötigen Zuwendung gefehlt hat, nicht wahr, verehrtes Publikum? Versuchen Sie, ihm zu helfen. Ist Zarolho schon vorbestraft, Dona Gloria?«
»Ja.«
»Schicken Sie ihn zu mir, ich werde mit ihm sprechen.«
»Vielen Dank.«
»Stellen Sie das Radio leiser, Dona Maria!«
Das erste Mal habe ich das Meer auf einem Stich gesehen, in einem Buch aus der Bibliothek meines Vaters. Es war ein düsterer Stich, das Meer schwarz und aufgewühlt, darüber große, graue Wolken, ein hilfloses Segelschiff auf einem riesigen Wellenberg, dazu verdammt, in den Abgrund geschleudert zu werden. Ich konnte noch nicht lesen. Später habe ich das Meer wirklich gesehen, oft auch auf bunten Fotos und in Farbfilmen, aber immer, wenn ich an das Meer denke, fällt mir dieser düstere Stich ein, und in meiner Vorstellung riecht es wie ein altes Buch. Das Buch muss hier irgendwo noch sein. Ich habe alle aufgehoben. Ich lebe in einer kleinen Wohnung, mit Wohnzimmer, Schlafzimmer und Küche in einem lauten, feuchten Mietshaus. Die Bücher liegen stapelweise im Wohnzimmer und im Schlafzimmer herum, bedeckt von Staub und Schimmel. Niemand macht sie sauber. Lilia wirbelt bloß den Staub auf, wenn sie von der Wohnungstür zum Schlafzimmer geht und dann wieder zurück vom Schlafzimmer zur Wohnungstür, und das zweimal in der Woche. Der Schmutz wandert nur weiter. Maria geht überhaupt nicht ins Wohnzimmer. Sie kommt morgens, erzählt die neueste Schreckensnachricht von zu Hause (»Meine Schwester hat jetzt grünen Auswurf«, und damit verdirbt sie mir den Appetit auf mein Joghurt) und geht direkt in die Küche, um das Radio anzustellen. Ich habe auch schon einmal den großen Wissensdurst gespürt, wissen Sie? Das Bedürfnis, der Welt tief ins blutunterlaufene Auge zu schauen und mich selbst zu ergründen, aber das Ergebnis war lediglich, dass ich gewissermaßen literarisch einen über den Durst trank und ein benebeltes Gehirn bekam. Manchmal habe ich den Eindruck, dass ich den Trödel in meinem Schädel scheppern höre, wenn ich den Kopf schüttele. Deswegen vermeide ich es, den Kopf zu schütteln. Ich bewege mich überhaupt wenig. Der Verlag schickt jemanden her, um die Bücher abzuholen, wenn sie fertig sind. Das letzte, das herausgekommen ist, trug den Titel Makabres Ritual. Ein ehemaliger Matrose namens Conrad James kommt in eine Stadt, die von einem Mörder terrorisiert wird, den alle »den Griechen« nennen. Conrad stellt den Griechen, aber zum ersten Mal in einem meiner Bücher stirbt der Bösewicht nicht. Der Grieche flieht. Der Roman lässt offen, ob der Grieche in einem der nächsten Bücher wieder auftaucht.
Ich schrieb gerade an diesem Buch, als es an der Tür klingelte. Das war es, was ich erzählen wollte. Ich war im Begriff, zu dem großen Fick der Seite 40 zu kommen, als es klingelte.
»Dona Maria, es klingelt!«
Dona Maria hörte nicht. Um vom Stuhl aufzustehen, muss ich die Schreibmaschine, die ich auf dem Schoss habe, auf ein Tischchen neben mir stellen, die Krücke nehmen, mich aus dem Stuhl erheben, wobei das Salzwasser in mir gluckert — »Dona Maria, es klingelt!« — und langsam durch das Zimmer humpeln, dabei muss ich aufpassen, dass ich keinen der staubigen Bücherstöße umwerfe …
»Dona Maria, stellen Sie das Radio leiser!«
Es war ein Mann, der sich als Inspektor Macieira vorstellte, »wie der portugiesische Cognac«. Er humpelte auf dem anderen Bein, das hätte mir auffallen sollen. Ich bat ihn, Platz zu nehmen, aber er bestand darauf, dass ich mich zuerst setzte. Dann sagte er:
»Sie sind Stephen Eliot?«
Ich sagte »nun, ja, hm«, aber er fuhr fort, er sei ein eifriger Leser und Bewunderer meiner Bücher. Eine Lüge, denn dieses Pseudonym hatte ich bei meinem letzten Buch zum ersten Mal verwendet. Er sagte, er freue sich sehr, mich kennenzulernen.
»Dann setzen Sie sich doch«, sagte ich, als ob nur meine Bewunderer das Recht hätten, in meinem Hause Platz zu nehmen.
»Entschuldigen Sie bitte die Indiskretion …« begann er und zeigte auf mein Bein.
»Darüber möchte ich nicht sprechen.«
»Entschuldigen Sie. Ich habe auch einen Fuß verloren, aber ich habe mir eine Prothese machen lassen, und jetzt kann ich mich wieder normal bewegen. Meinen Sie nicht …«
»Dona Maria, stellen Sie das Radio leiser!«
Er zuckte zusammen, als er mich so schreien hörte, und nutzte die Unterbrechung vorsichtshalber, um das Thema zu wechseln. Er war ein Mann in meinem Alter, klein, schlank, gut gekleidet und hatte hervorquellende Augen, so als ob der enge Kragen sie aus den Höhlen herausdrückte.
»Wie gesagt«, fuhr er fort, »bin ich ein aufmerksamer Leser Ihrer Bücher.«
»Ich dachte, mich lese niemand«, sagte ich und log ebenfalls. Ich wusste, dass meine Bücher sich einigermaßen verkauften und regelmäßig an allen Kiosken zu haben waren. Schließlich lebte ich davon. Ich fragte, welches ihm am besten gefallen habe. Er zögerte, dann antwortete er:
»Das letzte.«
»Mörderische Wut?« fragte ich, um ihn auf die Probe zu stellen.
»Makabres Ritual.«
Der Hundesohn hatte wirklich etwas von mir gelesen. Er fuhr fort:
»Ich wollte mit Ihnen über dieses Buch sprechen. Ihre Adresse habe ich von Ihrem Verlag.«
»Bitte.«
»Zuerst möchte ich Sie fragen … Woher bekommen Sie eigentlich Ihre Einfälle?«
Ich dachte einen Augenblick daran, meinen Kopf zu schütteln, damit er das Rasseln der losen Teile darin hören könne. Aber dann antwortete ich nur, dass sie meinem Kopf entsprängen. Er machte »hm«, als ob ihm diese Antwort missfiele. Vielleicht hatte er gehofft, dass ich einen Lieferanten hätte. Jemanden, der Schwarzhandel mit Ideen triebe. Absolut vertrauenswürdig. Liefert nur echte Einfälle. Soll ich Sie mit ihm bekannt machen?
»Der Grieche ist eine erfundene Gestalt?«
Ich zögerte. War er das? Er war es.
»Ja.«
»Haben Sie niemanden als Vorbild dafür benutzt? Jemanden, den Sie kennen? Jemanden, von dem Sie gehört haben?«
»Nein.«
»Sind Sie ganz sicher?«
»Warum?«
»Weil es einige, wie soll ich sagen, lieber Senhor Eliot, komische Übereinstimmungen gibt. Entschuldigung, ich meine natürlich nicht komische. Eigentlich eher tragische.«
»Was für Übereinstimmungen?«
»Haben Sie nicht in der Zeitung vom Tode jener Frau im Paradiesgarten gelesen? Vorigen Monat?«
»Ich lese keine Zeitung.«
»Sie ist mit mehreren Messerstichen getötet worden. Das Bett ist ganz mit Blut durchtränkt worden. Wir wissen noch nicht, wer der Mörder ist. Oder die Mörderin. Oder die Mörder.«
»Ja und?«
Ich blickte demonstrativ auf die Schreibmaschine, wo ich Conrad mitten in der Zeile verlassen hatte; er steckte gerade seine von der Sonne und dem Salz vieler Meere gebräunte Hand in Lindas Bluse, seine Finger suchten nach der Brustwarze, die ihm den ganzen Nachmittag lang durch den dünnen Stoff hindurch herausfordernd ins Auge gestochen hatte, und jetzt wollte er endlich zur Sache kommen. Ich habe zu tun, Inspektor!
»Da ist ein Detail, das nicht in der Zeitung stand, weil die Reporter es nicht erfahren haben. Der Mörder — oder die Mörderin oder die Mörder — schrieb mit dem Blut des Opfers etwas an die Wand … und zwar auf Griechisch, Senhor Eliot.«
Er sah mich starr an, offenbar erwartete er eine Reaktion. Er wartete vergebens. Dann fuhr er fort:
»Der Mörder ging genauso vor wie der Mörder in Ihrem Buch. Der Grieche.«
»Und was habe ich damit zu tun?«
»Nun ja, ich …«
»Ich übernehme keine Verantwortung für das, was meine Leser tun!«
»Es kann kein Leser gewesen sein, der Ihr Buch nachgestellt hat.«
»Und warum nicht?«
»Weil das Buch erst nach dem Verbrechen erschienen ist.«
Jetzt war es an mir, ihn zu fragen, ob er sicher sei. Er war es.
»Im Verlag wird das Buch von vielen Leuten gelesen, bevor es veröffentlicht wird«, ich ließ nicht locker. »Es könnte ein Lektor oder ein Korrektor gewesen sein. Die sind zu allem fähig. Vielleicht als Rache für meinen Umgang mit den Pronomen.«
Er lächelte müde. Ich enttäuschte ihn. Ich breitete die Arme aus.
»Dann ist es eben nur ein Zufall.«
»Ja, natürlich ist es nur ein Zufall. Aber, lieber Senhor …«
»Sprechen Sie mich nicht mit ›lieber Senhor‹ an«, sagte ich. Das war eine Warnung.
»Sie müssen doch zugeben, dass ich verpflichtet war, diesem Zufall nachzugehen. Wir von der Polizei glauben nicht an solche Zufälle.«
»Wir Schriftsteller sind auf sie angewiesen.«
»Dass wir beide nur einen Fuß haben, ist zum Beispiel …«
»Darüber möchte ich nicht sprechen.«
»Gewiss, gewiss. Besteht nicht vielleicht die Möglichkeit, lieber Senhor, Verzeihung, dass Sie ein Gespräch mit angehört haben, irgendeine Bemerkung über das Verbrechen und dies unbewusst als Anregung für Ihr Buch benutzt …«
»Wann ist das Verbrechen begangen worden?«
»Vorigen Monat. Am zwölften.«
»Da war das Buch schon beim Verlag.«
Er hob die Hände vor seine Brust und klatschte sich leicht auf die Schenkel, als ob er damit sagen wollte, dass die Angelegenheit damit erledigt sei. Er sah sich um und machte eine Bemerkung über die zu Bergen gestapelten Bücher. Ich sagte, die meisten hätte ich von meinem Vater. Er erwiderte, dass er leider keine Zeit zum Lesen habe.
»Ich lese nur Schund.«
Dann begriff er, was er gesagt hatte.
»Oh! Entschuldigung.«
»Aber ich bitte Sie. Das macht doch nichts.«
»Ich wollte eigentlich nicht Schund sagen. Ich meinte leichte Lektüre, Unterhaltungsliteratur. Sachen, die am Kiosk verkauft werden.«
»Schund, ist schon in Ordnung. Fünftklassige Erzählungen.«
»Nein. Ihre sind wirklich gut.«
»Was soll das? Ich benutze doch verschiedene Pseudonyme. Woher wissen Sie denn da, dass sie alle von mir sind?«
»Das erkennt man am Stil. Und am Helden. Immer ein ehemaliger Matrose.«
»Der Conrad heißt.«
»Das hatte ich gar nicht bemerkt. Warum gerade Conrad?«
»Dona Maria, das Radio!«
»Komisch, verschiedene Autorennamen, aber immer derselbe Held.«
»Und dieselbe Geschichte.«
»Ja, lieber Senhor. Sie sehr … Pardon, Sie schreiben wohl gerade wieder eine.«
»Die Fortsetzung von Makabres Ritual. Ich bin schon in der Mitte.«
»Wirklich? Der Grieche kommt auch wieder vor?«
Lassen Sie mich nachdenken. Es ist schon eine Weile her, dieses erste Mal. Es war bei Einbruch der Dunkelheit. War es im Frühling? Ja, es war Frühling. Ich mag es nicht, in meiner Einsamkeit gestört zu werden, aber in gewisser Weise interessierte mich dieser Mann, mit seinen hervorquellenden Augen, seinen Zufällen und seiner Prothese in dem blasser werdenden Licht, das durch das Fenster hereinfiel. Ich weiß nicht mehr, ob er mir schon damals beim ersten Mal erzählte, dass sein falscher Fuß von einem Ziegenbock stamme. Von einem Bock! Er fragte mich, ob der Grieche in dem neuen Buch auch wieder vorkomme, und ich antwortete ihm ja.
»Und was führt er im Schilde?«
»Nun. Nach der Schlussszene von Makabres Ritual liegt Conrad ein paar Monate im Hospital. Das neue Buch beginnt damit, dass er aus dem Krankenhaus entlassen werden soll. Er bekommt Besuch von einer Frau, sie ist wunderschön und heißt Linda, die Schöne. Sie bringt ihm einen Umschlag mit Geld, zehntausend Dollar, und einer Nachricht. Die Nachricht ist von dem Griechen und lautet nur: »Geben Sie nicht auf«. Als er die Frau fragen will, was das bedeuten soll, stellt er fest, dass sie nicht mehr da ist. Niemand weiß, wer sie ist und woher sie kommt. Er verlässt das Krankenhaus. Er hat große Sehnsucht nach dem Meer. Er benutzt einen Teil der zehntausend Dollar, um Schäden zu bezahlen, die er bei der Jagd nach dem Griechen angerichtet hat.«
»Ich erinnere mich.«
»Er geht zu Inspektor Hennessy, von Interpol, seinem besten Freund, einem älteren Bruder.«
»Natürlich, Hennessy. Wie der Cognac.«
»Er sagt Hennessy, dass er Ferien machen will. Dass er von allem die Nase voll hat. Dass die Gerechtigkeit, wenn ein Ungeheuer wie der Grieche ihr entkommen kann, jeden Wert verloren hat. Er sagt, dass er, als er dem Griechen von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden habe, geradewegs in das blutunterlaufene Auge des Bösen geblickt habe und dass ihm schwindlig geworden sei, weil er gefühlt habe, dass ihn jenes Ungeheuer in einen Abgrund ziehen könnte, und dass er deshalb zurückgewichen sei und zum ersten Mal in seinem Leben nicht auf seine Kraft vertraut habe.«
»Hört sich nicht an wie der alte Conrad.«
»In diesem Buch ist er anders. Er fühlt sich alt und schmutzig, und er sagt, dass er aufs Meer zurückkehren wolle, um wieder zu sich selbst zu finden. Um die Sonne und das Salz auf seiner Haut zu fühlen. Den Geruch von alten Büchern. Das Meer von Odysseus, das Meer von Sindbad und von Nemo …«
»Von Camões.«
»Von wem?«
»Camões, dem portugiesischen Nationaldichter. Die Portugiesen waren große Seefahrer.«
»Aha. Conrad bucht eine Kreuzfahrt auf einem Luxusdampfer. Die Erfahrungen in Makabres Ritual haben ihn tief erschüttert. Die Gestalt des Griechen bringt ihn auf eine unerklärliche Weise durcheinander. Nicht nur, weil es der erste Bösewicht war, dem er nicht vor der Seite 95 seine gerechte Strafe zukommen ließ, der erste, vor dem er zurückgewichen ist. Sondern, weil er gespürt hatte, dass er bei dem Griechen auf etwas Tieferes und Dunkleres gestoßen war, als einen verbrecherischen Hang, etwas Pathologisches oder einfach eine literarische Figur.«
Ich spürte, dass sich der Inspektor unbehaglich fühlte, dass er es offensichtlich nicht wünschte, in solche Tiefen verschleppt zu werden. Er hatte schlichtere Geschichten lieber. Schuld und Sühne. Nichts, was auf der letzten Seite noch offen blieb, unentwirrte Fäden, Zweifel oder gar philosophische Unruhe. Mist. Aber ich hatte seit Jahren nicht mehr soviel mit jemandem gesprochen. Ich berauschte mich am Klang meiner eigenen Stimme. Seit so langer Zeit!
»Verstehen Sie? Diese besonderen Ritualmorde. Ohne Motiv, aber gleichzeitig einem Schema entsprechend, einer schrecklichen Logik gehorchend, einem alten Trieb, der sich immer wieder geltend macht und … und … Verstehen Sie?«
Der Inspektor sah auf die Uhr, bevor er antwortete:
»Ja.«
»Conrad fühlt, dass er alt wird, und zum ersten Mal in seinem Leben denkt er über seine eigenen Motive nach. Er denkt an den Tod. Er, der dem Mord allein in meinen Büchern bereits Hunderte von Malen ins Auge geschaut hat, denkt zum ersten Mal ernsthaft an sein Ende.«
Es wird langsam dunkel. Der Inspektor schlägt ein Bein über das andere. Das falsche. Der Schuh ist kleiner als der des anderen. Ich erinnere mich nicht, ob ich schon wusste, dass es ein Bocksfuß war. An die Einzelheiten erinnere ich mich nicht. Ich gebe das Gespräch, das wir bei jenem ersten Treffen führten, natürlich nicht genau wieder. Viel davon entspringt der Phantasie. Der Inspektor wurde offensichtlich ungeduldig. Aber ich redete weiter.
»Auf demselben Schiff reist ein internationaler Waffenhändler namens Mabrik mit seiner Frau, einer schlanken, blonden Dänin, die, als sie das erste Mal zu Conrad hinübersieht, die Zunge aus streckt wie ein blaurotes Reptil und mit der Zungenspitze die eigene Nasenspitze berührt.«
»Na, so was!« bemerkte der Inspektor, sein Interesse war wieder erwacht.
»Ja, eben«, sagte ich zustimmend. »Immer wenn Conrads Augen denen der Blonden begegnen, macht sie ihn mit demselben Trick auf sich aufmerksam, benutzt die Zunge wie einen Zeigefinger. Auf dem Schiff darf gespielt werden, und Mabrik ist ein leidenschaftlicher Spieler. Er gewinnt und verliert Nacht für Nacht Tausende von Dollars. Die Blondine begleitet ihn nicht in den Spielsaal. Sie bleibt in der Bar, unter Aufsicht von Mabriks Mutter, einer Alten mit Damenbart, die immer schwarz trägt und ständig einnickt. Wenn es eine andere Geschichte wäre, würde Conrad keine Zeit damit verlieren, darüber nachzudenken, welcher Versuchung er zuerst nachgeben soll: Mabrik, dem Todeshändler, ein paar mit menschlichem Leid gewonnene Dollars im Spiel abzunehmen oder die Einladung anzunehmen, die Zunge der Blondine zu kosten, wie sie tief in seinen Schlund hinabgleitet, oder sich wie eine blaurote Schlange um seinen Pfahl windet. Aber Conrad ist nicht mehr derselbe.«
Der Inspektor machte wieder einen gelangweilten Eindruck. Ich dachte in dem Moment sogar, dass er vielleicht gar kein Inspektor sei, dass er sich die ganze Geschichte nur ausgedacht habe, um an mich heranzukommen, in meine Abgeschiedenheit einzudringen und mich wegen des wenig überzeugenden Schlusses von Makabres Ritual zur Rechenschaft zu ziehen. Lediglich ein unzufriedener Leser. Jetzt war er offensichtlich auch ein unzufriedener Zuhörer.
»Conrad war aufs Meer zurückgekehrt, um wieder zu sich selbst zu finden, wie jemand, der zu seinen Quellen zurückkehrt, um sich zu erneuern, aber das Gegenteil war geschehen. Das Meer, die See der Wikinger und der Seeräuber, von Drake und von Sabatinni …«
»Von Vasco da Gama«, warf der Inspektor ein und beugte sich ein wenig vornüber, um auf die Uhr zu sehen, denn es wurde jetzt schnell dunkler.
»Das Meer wirkte dies Mal ganz anders auf Conrad. Als ein weiteres Geheimnis, das nicht mehr die tröstliche Vertrautheit einer Wiege vermittelte. Das Meer war jetzt eine weitere Erscheinungsform jener namenlosen Angst, die er fühlte, jenes bedrückenden Schreckens, den weder er noch der Autor in Worte fassen konnten. Das Meer tröstet ihn nicht mehr, eher verstärkt es noch seinen Schrecken, seinen Eindruck, dass ein böses Geschick hinter allem stehe, hinter den Menschen wie hinter der Natur. Das war es, wovon ich erzählen wollte. Der Grieche hatte mit seinen Ritualmorden jenen Schrecken in Conrads Brust entfesselt. Bei keinem seiner früheren Abenteuer hatte Conrad einem Verbrecher wie dem Griechen gegenübergestanden, und dennoch unterschied sich der Grieche nur dadurch von den anderen Bösewichtern, dass seine Verbrechen keine Untaten waren, die Conrad hätte rächen können, vergängliche Geschwüre, die Conrad hätte ausbrennen können, bevor er zur nächsten Stadt und zum nächsten Abenteuer weiterzog, sondern dass sie in einem anderen Code verschlüsselt waren, einem Palimpsest. Alle Geschichten Conrads waren immer dieselbe Geschichte, und nun entdecken er und der Autor auf einmal, dass ihrer Geschichte eine andere unterlegt war, eine Geschichte, die sich ebenfalls wiederholte wie bei einer Litanei. Die Worte, die der Grieche mit dem Blut seiner Opfer auf Griechisch an die Wand geschrieben hatte, sind wie Fetzen jener anderen Geschichte, die zum Vorschein kommen, Bruchstücke einer Offenbarung. Conrad entdeckt, dass er, ohne es zu ahnen, die ganze Zeit von seinem ersten Abenteuer an einem Ritual teilgenommen hat. Verstehen Sie?«
Der Inspektor erhob sich aus seinem Stuhl. Er war nicht hierher gekommen, um sich so etwas anzuhören. Palimpseste kauft man nicht an Kiosken. Er sagte, dass er leider gehen müsse, dass er sich für meine Freundlichkeit bedanke, aber … Ich hielt ihn zurück.