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FORSCHUNGEN ZUR DDR-GESELLSCHAFT
Peter Bohley (Hg.)
Erlebte DDR-Geschichte

Peter Bohley (Hg.)

Erlebte DDR-Geschichte

Zeitzeugen berichten

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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Bundesstiftung
zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
www.dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-86284-285-8

Inhalt

Peter Bohley

Erlebte DDR-Geschichte

Vorlesungen im Studium generale an der Universität Tübingen

Peter Bohley

Gründung und Militarisierung der DDR

Inge Jens

Reisen in der DDR

Michael Beleites

Landleben zwischen LPG, Braunkohle und Uran

Hans-Peter Gensichen

Christen und Kirchen in der DDR

Curt Stauss

Junge Gemeinden in der DDR

Christine Zarft

Schülerin in der DDR

Burkhard Baltzer

Lehrer in der DDR

Karl Corino

Stasi-Spitzel mit deutscher Dogge

Erfahrungen eines westdeutschen Kulturjournalisten mit der DDR

Peter Bohley

Der 17. Juni 1953 in Halle

Christiane und Hartmut Ebeling

In Gefängnissen der DDR

Peter Bohley

»Operative Zersetzung«

Jens Reich

Wie wir das Neue Forum gründeten

Christoph Bergner

Das Ende der DDR

Anhang

Chronik der DDR-Geschichte

Abkürzungen

Autorinnen und Autoren

Peter Bohley

Erlebte DDR-Geschichte

Vorlesungen im Studium generale
an der Universität Tübingen

Gerhard Fichtner und Jürgen Peiffer veranstalteten 1994, also vor fast zwei Jahrzehnten, an der Universität Tübingen eine Studium-generale-Reihe »Erlebte Geschichte«.1 Sie beide und mehr als die Hälfte der damaligen Redner sind inzwischen verstorben. Wir denken an sie alle mit hohem Respekt. Doch noch gibt es Zeitzeugen, die uns aus dem vorigen Jahrtausend berichten können, darunter als die Älteste Inge Jens (die damals zu den jüngsten Beteiligten gehörte) und jetzt als Jüngste in unserer Reihe Christine Zarft, die damals noch keine dreißig Jahre alt war. Mit meinem Vortrag »Erlebte DDR-Geschichte« war ich 1994 der jüngste Referent, heute, im Sommer 2013, bin ich mit 77 Jahren der Zweitälteste.

Zunächst hatte ich nur einen Vortrag über den Arbeiteraufstand in der DDR sechzig Jahre nach diesem denkwürdigen Tag für den 17. Juni 2013 geplant. Nachdem ich aber eine Einladung unserer damaligen Prorektorin Stefanie Gropper erhalten hatte, die mich bat, eine Studium-generale-Reihe in eben diesem Sommersemester 2013 zu organisieren, begann ich mit Anfragen und bald darauf mit Einladungen zu einer Studium-generale-Reihe »Erlebte DDR-Geschichte«. Zu meiner Freude sagten alle Geladenen sofort zu, und wir konnten vom Beginn an stets mehr als 200 Zuhörer in unserem Hörsaalzentrum »Kupferbau« in der Hölderlinstraße 5 in Tübingen begrüßen. Es war ein gutes Sommersemester 2013, zu dem ich nur sehr gute Freunde und Bekannte eingeladen hatte.

Besonderer Dank gilt unserem Mitveranstalter, der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Mit ihrer Unterstützung konnten wir diese Reihe finanzieren und organisieren, auch eine Posterausstellung im Kupferbau wurde von der Bundesstiftung gestaltet (Stefan Wolle zeichnet für den Text, Ulrich Mählert für die Bildauswahl und die Gestaltung verantwortlich).

In der Studium-generale-Reihe »Erlebte DDR-Geschichte« sollten im Sommersemester 2013 Zeitzeugen ihre jeweils persönlichen Erlebnisse in der DDR und mit der DDR schildern. Noch immer, über zwanzig Jahre nach dem Ende der DDR, finden wir erschreckend viel Unkenntnis, krasse Fehlurteile und nostalgische Verklärungen der Geschichte dieses Staates, der sich selbst in seiner Verfassung bescheinigte, er habe »auf seinem Boden Nazismus und Militarismus ausgerottet«. Wenn 2012 bei Befragungen von Schülern der Klassenstufen 9 und 10 fast die Hälfte der Schüler kaum Unterschiede zwischen Nationalsozialismus und der DDR (und der Bundesrepublik!) sieht und nur ein Drittel die DDR als diktatorisches System bezeichnet, wird die Dringlichkeit unseres gemeinsamen Anliegens deutlich.

Von allen Referenten hatte ich mir vorab einige Sätze zu ihren Vorträgen erbeten:

Frau Dr. Inge Jens, die man in Tübingen nicht gesondert vorstellen muss, sprach über »Reisen in der DDR«, sie schrieb dazu:

Mein Vortrag ist weder Analyse von DDR-Problemen noch maßt er sich an, Grundsätzliches über das Land und seine Bewohner – in der damaligen Nomenklatur »unsere Brüder und Schwestern drüben« – beizutragen. Er ist, wenn Sie so wollen, ein Reisebericht, der aus einer sehr subjektiven Perspektive heraus Erlebnisse festhält, die uns – meinen Mann und mich (wir sind vorwiegend, wenn auch nicht ausschließlich zusammen gereist) – aus sehr verschiedenen Gründen beeindruckt und unser hiesiges Leben und Denken entscheidend mitbestimmt haben. Dass sich die während der Teilung des Landes gewonnenen Verbindungen und Kenntnisse später dann auch in politicis auswirken konnten, war nicht vorauszusehen.

Michael Beleites berichtete über das Landleben zwischen landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG), Braunkohle und Uran; für den vorliegenden Band steuerte er Fotos mit ausführlichen Bildunterschriften bei. Er hatte noch zu DDR-Zeiten den Mut, auf die Gefahren des Uranbergbaus in der DDR aufmerksam zu machen, und er war von 2000 bis 2010 Sächsischer Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen.

Dr. Hans-Peter Gensichen war zu DDR-Zeiten in Wittenberg Schlosskirchenprediger und Leiter des Kirchlichen Forschungsheimes, das er zum geistigen Mittelpunkt der Umweltbewegung in den Kirchen der DDR umgestaltete. Er schrieb mir: »Als 1961 die Berliner Mauer gebaut wurde, war der ostdeutsche Sozialismusversuch schon gescheitert. Nach dem Prager Frühling von 1968 entstand dann noch ein neues Wachstum in den kleingemachten Kirchen des Landes – nach innen und nach außen.« Er sprach in Tübingen über »Christen und Kirchen in der DDR«.

Dann folgte der Vortrag von Curt Stauss über »Junge Gemeinden in der DDR«. Er war von 1980 bis 1986 Landesjugendpfarrer in Magdeburg und ist seit 2011 Studienleiter für Versöhnung an der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt in Wittenberg. Zu seinem Vortrag schrieb er mir: »Terrororganisation des CIA? Schwerter zu Pflugscharen? Zukunft der Kirche? Die Junge Gemeinde in der DDR – schwache Institution mit starker Ausstrahlung«.

Christine Zarft, Schauspielerin und Dozentin für Liturgische Prägnanz und Rhetorik an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, an der Universität Rostock, an den Predigerseminaren Wittenberg und Brandenburg, sprach zum Thema »Schülerin in der DDR«. Sie schrieb mir vorab:

Mein Schüler-Sein in der DDR der siebziger und achtziger Jahre lehrte mich etwas Wesentliches für meinen Zugriff ins Leben, für mein In-der-Welt-Sein: Eine feine, vielleicht sogar schnurgerade Bildungsbiografie kann Türen öffnen – doch die Verantwortung, Türen zu finden, sich möglicherweise selbst zu zimmern, diese Verantwortung ist unabhängig von Bildungschance und Bildungsbiografie und ist in meinem Leben ein wesentliches Moment zur Identität.

Darauf folgte Burkhard Baltzer als »Lehrer in der DDR«. Er war von 1975 bis 1980 Lehrer für Deutsch und Musik an einer polytechnischen Oberschule (POS) in Berlin, und er schrieb Folgendes: »Allgemeinbildende Schulen der Deformation. – Und nun im Chor: ›We-h-her mööch-te nicht im Leben bleiben. Die Sonne und den Mond besehn …‹« Nach seinem Berufsverbot (1980 bis 1985) arbeitete er auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee als gärtnerische Hilfskraft und als Totengräber, 1985 erfolgte seine Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR und die Übersiedlung nach West-Berlin. Seit 2001 ist er Chefredakteur der kulturpolitischen Gewerkschaftszeitung kunstundkultur.

Karl Corino berichtete über die Erfahrungen eines Kulturjournalisten mit der DDR. Seinem Beitrag gab er den Titel »Stasi-Spitzel mit deutscher Dogge«. Er brachte eine Fülle hochinteressanter, zum Teil so noch nie publizierter Erlebnisse zu Gehör. Bereits 1973 entwickelte er das Kulturmagazin »Transit – Kultur in der DDR«, das bis Dezember 1990 regelmäßig in Stundenlänge ausgestrahlt wurde und das einzige derartige Magazin im Hörfunk der ARD war. Da er damit viele namhafte DDR-Autoren unterstützte, überwachte ihn das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) jahrelang und versuchte ihn mit »Zersetzungsmaßnahmen« zum Aufgeben zu zwingen, was gründlich misslang.

Am 17. Juni 2013, genau sechzig Jahre nach dem Volksaufstand, als wir aus dem Hinterhalt beschossen worden waren, schilderte ich in meinem Tübinger Vortrag meine Erinnerungen wie auch die meiner Brüder und Freunde an diesen denkwürdigen Tag.

Christiane und Hartmut Ebeling berichteten über ihre Stasi-Haft von 1976 bis 1978. Hartmut Ebeling schilderte seine Erlebnisse in der MfS-Untersuchungshaftanstalt »Roter Ochse« in Halle und den Gefängnissen Cottbus, Waldheim und dem Haftkrankenhaus Leipzig-Meusdorf; Christiane Ebeling erinnerte sich an die Zeit im Stasi-Frauengefängnis Hoheneck bis zur Überstellung nach Gießen und an den »legalen Menschenhandel«.

Die Versuche der »Operativen Zersetzung« des großen Familienverbandes der Bohleys – wir waren immerhin sieben Brüder – durch Offiziere des MfS schlugen sich in insgesamt über 20 000 Seiten Stasi-Akten nieder. Über diese höchst grotesken Vorgänge erzählte ich in meinem Vortrag, den ich mit »Operative Zersetzung« überschrieb.

Prof. Dr. Jens Reich aus Berlin, der 1994 für die Bundespräsidentschaft kandidierte und von 2001 bis 2012 Mitglied des Deutschen Ethikrates war, schilderte die Gründung des Neuen Forums in Grünheide bei Berlin im Spätsommer 1989 aus seiner persönlichen Sicht. Er schrieb mir:

Die Grundidee für das Neue Forum ist im frühen Sommer 1989 von Bärbel Bohley und Erika Drees entwickelt worden – beide heute nicht mehr am Leben. Die Idee war sehr einfach: Man muss die sogenannten Normalbürger aus dem Schneckenhaus des verdrossenen passiven Widerstandes herausholen und zur Einmischung in unmittelbar interessierende eigene Angelegenheiten ermutigen.

Wenn diese schweigende Mehrheit sich zur Wehr setzt, dann können die Machthaber nicht Katze und Maus mit den wenigen Oppositionellengruppen spielen. – Ich selbst wurde als »Normalbürger« sehr früh zum Mitmachen eingeladen und kann deshalb über den Aufstieg des Neuen Forums zur Massenbewegung und (nach dem 9. November) sein Aufgehen in der dann auf Abschaffung und nicht mehr auf Reform der DDR und schließlich auf die Vereinigung drängenden Volksbewegung berichten.

Dr. Christoph Bergner – er war 1993/94 Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt und ist jetzt Abgeordneter im Bundestag und parlamentarischer Staatssekretär im Innenministerium – beendete die Studium-generale-Reihe mit dem Vortrag »Das Ende der DDR«. Er schrieb mir:

Unter den Demonstranten, die im Herbst 1989 für Demokratie und Überwindung der SED-Diktatur auf die Straße gingen, waren auch solche, die sich weiterhin für eine eigenständige und reformierte DDR einsetzten. Andere wollten nicht nur die SED-Herrschaft, sondern auch das staatliche Gebilde »DDR« überwinden. Warum führte der Sieg der Friedlichen Revolution zum raschen Ende der DDR?

Dieser Frage ging Christoph Bergner nach, indem er Ereignisse schilderte und Zusammenhänge suchte.

Obwohl ich die Publikation der Vorträge von Anbeginn an geplant hatte, gab es zunächst keine große Resonanz von den Verlagen, nur Christoph Links schrieb mir sofort zurück und erklärte unumwunden, dass er bereit sei, dieses Buch in seinem Verlag zu publizieren. Und so liegt schon ein halbes Jahr nach der letzten Vorlesung dieses Buch vor. Dafür danke ich allen Beteiligten, besonders den Autorinnen und Autoren und unserem Verleger Christoph Links sowie der Lektorin Jana Fröbel.

Tübingen, im Dezember 2013

1Siehe Jürgen Peiffer, Gerhard Fichtner (Hg.): Erlebte Geschichte. Zeitzeugen berichten in einer Tübinger Ringvorlesung, Tübingen 1994.

Peter Bohley

Gründung und Militarisierung der DDR

Ich bin der Älteste von sieben Brüdern,1 die zwischen 1935 und 1945 geboren wurden. Unser Vater fiel am 18. April 1945, also in den letzten Kriegstagen, in Halle an der Saale beim Einmarsch der Amerikaner, und unsere Mutter erzog ihre sieben Söhne konsequent pazifistisch. Pazifismus war in den Anfangszeiten der SBZ noch kein Schimpfwort, dazu wurde es erst später in der DDR.

Nach dem Tod unseres Vaters sagte unsere Mutter zu mir: »Als Ältester musst du nun auch Vater für deine kleinen Brüder sein.« Das verstand ich gut, weil wir ja nun allein waren. Sobald ich aber darüber nachdachte, bekam ich Angst, eine dumpfe, hilflose Angst. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wie ich im Alter von nur neuneinhalb Jahren jetzt auf einmal so etwas wie ein Vater sein sollte. Unsere Mutter musste zunächst im Sommer 1945 als Landarbeiterin Naturalien für uns verdienen, später arbeitete sie als Stenotypistin, dann als Sekretärin und schließlich als Sachbearbeiterin. Trotz ihrer Bemühungen war das Geld bei uns immer knapp, für jeden der sieben Söhne gab es nur 35 Mark Halbwaisenrente im Monat.

Der Sommer 1945 war für uns schulfrei, das fanden wir wunderbar … Als Ende Juni 1945 die amerikanische Besatzungsmacht abzog und gleich darauf die Sowjetarmee, die »Rote Armee«, auch in Halle einzog, hatten wir zwar anfangs viele höchst beängstigende Erlebnisse mit Offizieren und Soldaten. Aber selbst daran gewöhnten wir uns allmählich, und erst als wir zwangsweise aus unserer Wohnung mit dem schönen Garten in eine viel kleinere Wohnung »umgesiedelt« wurden, weil »die Russen« die Räume brauchten, erinnerten wir uns mit Grauen an all das Widerwärtige, das wir mit »unseren Freunden und Befreiern« erlebt hatten. Erst viel später wurde mir klar, dass es tatsächlich auch diese Sowjetarmee war, die uns vom Faschismus befreit hatte, und dass ohne diese Befreiung entsetzliche Zeiten für die ganze Welt und also auch für Deutschland angebrochen wären. Die uns in der Schule ständig eingebläute Pflicht zur großen Dankbarkeit gegenüber der Sowjetunion aber empfand ich, wie fast alle meine Mitschüler, schon aus Trotz nie so, wie ich sollte.

Die Gründung der DDR

Doch es gab eine Ausnahme: Die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik am 7. Oktober 1949 bedeutete, wie wir freudig lernten, dass ebenso wie zuvor die Bundesrepublik nun auch die DDR ein souveräner demokratischer Staat war. Unsere Lehrer ließen uns freie und geheime Wahlen zu einem Klassenparlament mit einem hauptverantwortlichen Sprecher veranstalten. Damals ahnte wohl keiner, dass die Sowjetarmee noch für 49 Jahre, bis 1994, mit über 500 000 Soldaten in der DDR stationiert bleiben sollten. Wir waren, so wie unsere jungen, begeisterten Neulehrer, für Frieden, Demokratie, Sozialismus und die Einheit Deutschlands, das war doch selbstverständlich … Wir lernten die Nationalhymne der DDR:

Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt,

laß uns dir zum Guten dienen, Deutschland, einig Vaterland.

Alte Not gilt es zu zwingen, und wir zwingen sie vereint,

denn es muß uns doch gelingen, daß die Sonne schön wie nie

über Deutschland scheint, über Deutschland scheint.

Glück und Friede sei beschieden Deutschland, unserm Vaterland.

Alle Welt sehnt sich nach Frieden, reicht den Völkern eure Hand.

Wenn wir brüderlich uns einen, schlagen wir des Volkes Feind.

Laßt das Licht des Friedens scheinen, daß nie eine Mutter mehr

ihren Sohn beweint, ihren Sohn beweint.

Laßt uns pflügen, laßt uns bauen, lernt und schafft wie nie zuvor,

und der eignen Kraft vertrauend steigt ein frei Geschlecht empor.

Deutsche Jugend, bestes Streben unsres Volks in dir vereint,

wirst du Deutschlands neues Leben. Und die Sonne schön wie nie

über Deutschland scheint, über Deutschland scheint.2

Drei Tage nach der Gründung der DDR hatte nämlich ihr erster Präsident Wilhelm Pieck an den Dichter und späteren Kulturminister Johannes R. Becher geschrieben:

Lieber Freund Becher!

10. Oktober 49

Mir ist in dieser Nacht, wo ich vor neuralgischen Schmerzen nicht schlafen konnte, folgender Gedanke über eine Hymne der Republik gekommen:

Der Hymnus sollte 3 Verse mit je einem Refrain enthalten. Der 1. Vers sollte die Demokratie in Verbindung mit der Kultur haben. Der 2. Vers die Arbeit in Verbindung mit dem Wohlstand des Volkes. Der 3. Vers die Freundschaft mit den Völkern in Verbindung mit dem Frieden. Der Refrain sollte die Einheit Deutschlands zum Inhalt haben. Überlege Dir einmal diesen Gedanken. Wenn Du einen besseren hast, um so besser. Mit den besten Grüßen

W. Pieck3

Von diesem Brief wussten wir 13- oder 14-jährigen Schüler natürlich nichts, und wir ahnten nicht, wie bald die guten Ziele der Nationalhymne der DDR von der eigenen Regierung verraten werden sollten, auch nicht, dass später sogar das Singen dieser Nationalhymne verboten werden sollte, weil die Machthaber von »Deutschland, einig Vaterland« nichts mehr wissen wollten. Aber 1989 lebten noch hinreichend viele DDR-Bürger, die diese Hymne in der Schule gelernt hatten und sie nun der SED auf den Straßen Leipzigs und anderer Städte laut und deutlich in die sonst so gründlich verschlossenen Ohren riefen oder brüllten. Nur die von Hanns Eisler komponierte Melodie war die ganze DDR-Zeit über zugelassen, sie war in den Sportstadien der Welt oft genug nach den Siegen von DDR-Sportlern zu hören.

Wir wurden von wenigen alten Lehrern, die uns nun nicht mehr schlagen durften, und von vielen jungen Lehrern mit großer Begeisterung für Einheit, Frieden, Demokratie und Sozialismus erzogen. Die »Neulehrer« trugen oft noch verschlissene Uniformjacken ohne alle Ehrenzeichen, sogar die Knöpfe waren gegen zivile Knöpfe ausgetauscht worden. Weil sie uns nicht prügelten wie manche unserer Lehrer aus der Nazi-Zeit, vertrauten wir ihnen und ihrer Begeisterung für den neuen Staat DDR anfangs nahezu blindlings. Sie lehrten uns, wie entsetzlich es im Krieg war, und erzogen uns (anfangs), so wie unsere Mutter, konsequent zu Pazifisten. Wir lernten, dass es für die Nazi-Lehrer keinen Platz mehr an der neuen Schule geben dürfe (viele von denjenigen, vor denen wir uns wegen ihrer Prügelattacken am meisten gefürchtet hatten, waren nicht mehr an unserer Schule – vielleicht »in die BRD geflohen«?). Die BRD sei immer noch faschistisch, erklärte man uns, die DDR aber sei antifaschistisch.4

Die Verfassung

Auch Richter und Staatsanwälte, Großgrundbesitzer und »Junker« hatten die DDR verlassen. Wir lernten, dass die DDR die einzig legitime Erbin der Aufstände in der deutschen Geschichte – von den Bauernkriegen über die »bürgerlich-demokratische Revolution von 1848« bis zur »Novemberrevolution 1918« – und die BRD der Hort von alten Nazis und Kriegstreibern sei, in dem die Arbeiter und Bauern weiterhin von den Ausbeutern unterdrückt wurden. Wir lernten, dass der von Karl Marx und Friedrich Engels begründete und von Lenin und Stalin weiterentwickelte »historische Materialismus« die einzige wissenschaftliche Geschichtsauffassung sei. Die Entwicklung der Menschheit von der Urgesellschaft über die Sklaverei, den Feudalismus, den Kapitalismus und den Sozialismus müsse schließlich gesetzmäßig zum Kommunismus fortschreiten. Damit hätten wir das Glück, in der DDR stets auf einer historisch höheren Entwicklungsstufe leben zu dürfen. Das sei nur zu erreichen, weil »die Diktatur des Proletariats die höchste Form der Demokratie« sei, und auch die BRD müsse notwendig diese Entwicklung nehmen. Insofern würde, sobald auch die BRD vom Sozialismus zum Kommunismus historisch bedingt fortgeschritten wäre, die Einheit Deutschlands wieder herzustellen sein.

Das alles kam uns im Laufe der Zeit ziemlich seltsam vor, und unsere Verehrung für die Neulehrer schwand allmählich. Sie war fast völlig weg, als urplötzlich viele der früheren Pazifisten uns so belehrten: »Der Friede muss bewaffnet sein!« Aber das kam erst später, zunächst war die Verfassung der DDR vom 7. Oktober 1949 zu bewundern. Ich zitiere aus einigen Artikeln:

Artikel 1: (1) Deutschland ist eine unteilbare demokratische Republik […] (4) Es gibt nur eine deutsche Staatsangehörigkeit.

Artikel 3: […] (5) Die Staatsgewalt muß dem Wohl des Volkes, der Freiheit, dem Frieden und dem demokratischen Fortschritt dienen. (6) Die im öffentlichen Dienst Tätigen sind Diener der Gesamtheit und nicht einer Partei. Ihre Tätigkeit wird von der Volksvertretung überwacht.

Artikel 8: (1) Persönliche Freiheit, Unverletzlichkeit der Wohnung, Postgeheimnis und das Recht, sich an einem beliebigen Ort niederzulassen, sind gewährleistet. […]

Artikel 9: (1) Alle Bürger haben das Recht, innerhalb der Schranken der für alle geltenden Gesetze ihre Meinung frei und öffentlich zu äußern und sich zu diesem Zweck friedlich und unbewaffnet zu versammeln. Diese Freiheit wird durch kein Dienst- oder Arbeitsverhältnis beschränkt; niemand darf benachteiligt werden, wenn er von diesem Recht Gebrauch macht. (2) Eine Pressezensur findet nicht statt.

Artikel 10: […] (3) Jeder Bürger ist berechtigt, auszuwandern. Dieses Recht kann nur durch Gesetz der Republik beschränkt werden.

Artikel 12: (1) Alle Bürger haben das Recht, zu Zwecken, die den Strafgesetzen nicht zuwiderlaufen, Vereine oder Gesellschaften zu bilden.

Artikel 14: […] (2) Das Streikrecht der Gewerkschaften ist gewährleistet.

Artikel 24: (1) Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch darf dem Gemeinwohl nicht zuwiderlaufen. […] (5) Der private Großgrundbesitz, der mehr als 100 Hektar umfaßt, ist aufgelöst und wird ohne Entschädigung aufgeteilt. (6) Nach Durchführung dieser Bodenreform wird den Bauern das Privateigentum an ihrem Boden gewährleistet.

Artikel 41: (1) Jeder Bürger genießt volle Glaubens- und Gewissensfreiheit. Die ungestörte Religionsausübung steht unter dem Schutz der Republik. […]

Artikel 44: (1) Das Recht der Kirche auf Erteilung von Religionsunterricht in den Räumen der Schule ist gewährleistet. […]

Artikel 51: (1) Die Volkskammer besteht aus den Abgeordneten des deutschen Volkes. (2) Die Abgeordneten werden in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl nach den Grundsätzen des Verhältniswahlrechts auf die Dauer von vier Jahren gewählt. (3) Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes. Sie sind nur ihrem Gewissen unterworfen und an Aufträge nicht gebunden.

Artikel 54: (1) […] Wahlfreiheit und Wahlgeheimnis werden gewährleistet.5

Wir teilten die Begeisterung unserer Neulehrer, denn das war doch wahrlich eine gute Verfassung. Wieder konnten wir nicht ahnen, wie es weitergehen würde: Die DDR verstieß ab ihrer Gründung unermüdlich gegen alle hier nur beispielhaft angeführten Artikel, wie auch unsere Familie bald am eigenen Leib erfahren musste. Bereits am 26. September 1955 wurde diese Verfassung um die »Pflicht zur Verteidigung der DDR« (Artikel 5) ergänzt.6 Schließlich wurde im Jahr des Prager Frühlings, 1968, eine neue, in vielen Artikeln gewaltig verschlechterte Verfassung mit angeblich fast 95 Prozent Ja-Stimmen angenommen, in der Artikel 1 nun lautete: »Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat deutscher Nation. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land, die gemeinsam unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei den Sozialismus verwirklicht.«7 Schon sechs Jahre später, am 7. Oktober 1974, wurde die Verfassung erneut geändert.8 Nun fällt sogar »deutscher Nation« weg und wurde durch »Arbeiter und Bauern« ersetzt, in der Präambel taucht sogar erstmals der »Kommunismus« als Staatsziel auf.

Schulzeit

Zurück in die Zeit, als wir in vieler Hinsicht unseren Lehrern vertrauten, besonders dann, wenn sie uns mehr oder weniger deutlich zu verstehen gaben, wo auch sie Bauchschmerzen mit der SED-Herrschaft hatten. Doch auch unsere Lehrer kannten den Ausspruch Walter Ulbrichts aus dem Frühjahr 1945, den Wolfgang Leonhard in seinem Buch »Die Revolution entläßt ihre Kinder« zitiert, noch nicht: »Es ist doch ganz klar. Es muß demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.«9 Meine Hauptsorge seit der Gründung der DDR war, ob ich nach der achten Klasse einen Platz an der Oberschule bekommen würde. Weil unser Vater Lehrer gewesen war, zählten wir Bohleys nicht zur Arbeiterklasse (für die über 60 Prozent der EOS-Plätze reserviert waren), und nur mit ausgezeichneten Noten war deshalb für uns der Besuch der erweiterten Oberschule möglich. Manche der angeblichen »Arbeiterkinder« waren die Kinder von Parteifunktionären oder »Angehörigen der bewaffneten Organe«, die sich selbst als Arbeiter einstufen durften.

In der Schule fiel mir alles sehr leicht, aber meine Hauptangst richtete sich auf die Konfirmandenprüfung im März 1950. Das Auswendiglernen hatte ich zwar gut gelernt (ja, Lernen muss man lernen!), weil unsere Mutter sich von jedem ihrer sieben Söhne jeden Sonntag zum Frühstück ein auswendig gelerntes Gedicht aufsagen ließ. Aber den großen Katechismus Luthers mit allen Erklärungen, mehr als 20 Kirchenlieder mit allen Versen und mehr als zehn Psalmen auswendig parat zu haben, fiel mir wesentlich schwerer als der Schulstoff. Nur gemeinsam mit meinem Freund Hinner Kiehne nahm ich diese schwere Hürde.

Nach der Konfirmation und dem Schulabschluss unternahm ich mit meinen Brüdern Jochen und Eckart (damals 13 und elf Jahre alt) eine große Radtour zu vielen unserer Verwandten in der Bundesrepublik – in dieser Zeit war es noch möglich, einen »Interzonenpass« genehmigt zu bekommen. Wir wurden mit Liebkosungen und Nahrungsmitteln überhäuft und nahmen in den sechs »Westwochen« viele Kilogramm zu. Auch 1951, 1952, 1954 bis 1957 waren solche Reisen für uns selbstverständlich. Wir waren wochenlang mit Rad und Zelt in Thüringen, im Schwarzwald, in der Pfalz, in Bayern, im Ruhrgebiet und in Niedersachsen, an der Saale, dem Main, dem Neckar, dem Rhein, der Weser, der Donau und der Isar unterwegs, und erst allmählich wurde uns klar, dass wir uns dabei auch von der DDR erholten. Aber »rübermachen« – so hieß das damals in der DDR – wollten wir nicht, denn unsere Mutter sagte immer wieder: »Wir gehen alle oder keiner!«, und daran hielten wir uns treu und brav. Auf unseren Westreisen fiel uns auf, dass man in der Bundesrepublik viel weniger Uniformen als in der DDR sah, obwohl auch dort die Besatzungsmächte nach wie vor eine große Rolle spielten.

Laut der DDR-Verfassungspräambel von 1968 war es ja sogar eine »geschichtliche Tatsache, daß der Imperialismus unter Führung der USA im Einvernehmen mit Kreisen des westdeutschen Monopolkapitals Deutschland gespalten hat, um Westdeutschland zu einer Basis des Imperialismus und des Kampfes gegen den Sozialismus aufzubauen«. Das konnten wir auf unseren Radtouren so nicht sehen, uns fielen Polizisten fast nur als Verkehrsregler und nie als Imperialisten auf.

Die viel stärker allgegenwärtige Deutsche Volkspolizei (DVP) und die in den schönsten Straßen und Villen der »Militärstädtchen« isolierte Sowjetarmee erschienen uns im DDR-Alltag als ganz und gar normal, erst »im Westen« war es für uns deutlich anders, es war eben viel weniger Militär sichtbar. Wir lernten in der Schule zwar gründlich und immer wieder, dass in der Bundesrepublik das »Amt Blank« bereits 1950 mit den Vorbereitungen zur Remilitarisierung der BRD begonnen habe und die Einführung einer Wehrpflicht anstrebe, von einer Remilitarisierung der DDR aber erfuhren wir nichts.

»Freiwilliger« Wehrdienst

Heute wissen wir, dass am 3. Juli 1948 ein Befehl der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) die Bildung von Kasernierten Bereitschaften der DVP anordnete.10 In diesen paramilitärischen Verbänden wurden für zwei oder drei Jahre verpflichtete Freiwillige unter Anleitung sowjetischer Berater ausgebildet und politisch geschult; am 1. Juli 1952 wurde sogar offiziell die Kasernierte Volkspolizei (KVP) gebildet. Die Mannschaften erhielten sowjetische Waffen und neue Uniformen, die aber so sehr denen der Sowjetarmee glichen, dass man die KVPler heimlich auch »Russenknechte« nannte. Am 1. März 1956 wurde die Nationale Volksarmee (NVA) als »Reaktion auf die Militarisierung der BRD« gegründet; am 7. Juni 1956 wurde das Amt Blank in Bonn mit seinen damals 1366 Mitarbeitern in das Bundesministerium für Verteidigung umgewandelt.

Die ersten Einheiten der NVA bestanden aus Verbänden der KVP, die nur umbenannt werden mussten; am 31. Dezember 1956 wurde folgerichtig die KVP aufgelöst. Die NVA erhielt neue Uniformen, deren Schnitt sich an die »besten Traditionen« anlehnte und dem der Hitler-Wehrmacht ziemlich ähnelte. Und nun ging es zu unserem Schrecken sehr rasch voran mit der Militarisierung der DDR. Schon zuvor waren immer wieder Offiziere der KVP in den Schulen zur Werbung »Freiwilliger« aufgetaucht. Die Schüler wurden jeweils einzeln in einen eigens dafür eingerichteten Raum bestellt, in dem jeder mindestens eine Stunde lang den Unterricht versäumen musste, um nun zum »Ehrendienst« in der bald zu gründenden NVA geworben zu werden (Mädchen wurden damals noch verschont). Das Werbungsgespräch begann überfreundlich, der ältere Offizier schob mir eine Schachtel mit guten Bonbons (ich war 17!) herüber und fragte nach meinen sportlichen und anderen Interessen.

Mit mir ging dieser Offizier besonders gemein um: Es sei doch meine Pflicht, unserer Mutter möglichst bald auch finanziell unter die Arme zu greifen. Er wisse genau, dass ihr Gehalt bei den Halleschen Röhrenwerken knapp sei und dass es »überhaupt erstaunlich« sei, wie sie uns sieben Söhne »durchbrächte«. Bei der Armee stünde mir eine sehr gut bezahlte Offizierslaufbahn bevor, so wie bei unserem Vater: »Wir wissen genau, dass dein Vater ein tapferer deutscher Major war!«; er sei überhaupt gründlich über unsere Familie informiert. Dann dürfte ich Medizin studieren, bekäme bereits als Student ein sehr gutes Gehalt, damit könne ich die ganze Familie unterstützen und unsere Mutter entlasten. Als ich mich trotzdem weigerte, wurde er immer drängender, und als ich standhaft blieb, fing er mit finsteren Drohungen an. Erst als er seine Schachtel mit den Bonbons wieder über den Tisch zu sich heranzog, wusste ich, dass diese Quälerei nun bald ein Ende haben würde. Sie endete mit dem Vorwurf, ich würde mich an unserer Mutter und an meinen Brüdern schuldig machen. Nachdem er mich zuvor mehrmals übel angebrüllt hatte, wechselte er nun den Ton und sprach nur noch leise durch die Zähne: Er drohte mir mit sehr harten Folgen für die gesamte Familie. Auf meine Frage, worin die denn bestünden, hieß es: »Das werdet ihr dann schon sehen!« Diese dumpfe Drohung sollten wir später noch oft zu hören bekommen, so wie auch: »Wir können auch noch ganz anders!« Diese Drohungen bescherten mir viele schlafarme Nächte und entsetzliche Träume. Einige dieser Träume habe ich bis heute: Ich hocke eingeklemmt und verängstigt vor einem machtbesessenen Uniformierten und ahne dunkel, dass gleich etwas Entsetzliches geschehen wird: Ich werde erwürgt!

Ganz zum Schluss schickte er leise den Hinweis hinterher: »Glaube nur ja nicht, dass wir jemals auch nur einen von euch studieren lassen werden!«, und mit ölig-milder Stimme folgte: »Wenn du aber doch noch Vernunft annimmst und dich für uns entscheidest, sind wir immer für dich da, wende dich dann an deinen Direktor, es wird dein Schaden nicht sein!«

Unsere Mutter tröstete mich mit ihrer Zustimmung zu meiner Entscheidung, und sie sagte: »Den Kerl vergessen wir ganz schnell, den vergessen wir einfach!« Das aber gelang mir nur für kurze Zeit … Übrigens durften wir alle (außer unserem Bruder Karl, der später wegen »Staatsverleumdung« ein halbes Jahr in Stasi-Haft sitzen musste) schließlich doch studieren, unsere Schulnoten waren gut genug dafür, obwohl wir keine Arbeiterkinder waren.

Unsere Mutter übte ein gütiges Matriarchat aus und duldete Widerspruch nicht nur, sondern forderte ihn oft heraus. Weil wir daheim so sein durften, wie wir eigentlich waren, ertrugen wir die Außenwelt viel leichter. Diese matriarchalische Erziehung führte auch dazu, dass wir unsere Gefühle zu zeigen wagten. Damit waren wir, zumal wir alle schreckliche Choleriker sind, für die Umgebung und den Staat viel leichter einzuordnen. So erfuhren wir einerseits sehr heftige Antipathien und andererseits starke Sympathien, lau verhielt sich uns gegenüber selten jemand.

Unsere Mutter arbeitete viele Jahre sehr engagiert im Elternbeirat der Thomas-Müntzer-Oberschule in Halle. Als aber von ihr verlangt wurde, sich an der Werbung von Schülern für die Armee zu beteiligen, beendete sie diese Arbeit: »Meine eigenen Söhne habe ich nach dem Tod meines Mannes bewusst pazifistisch erzogen. Das tat ich ebenso, wie es in den ersten Jahren nach diesem schrecklichen Krieg auch die Lehrer hier getan haben. Ich kann doch nicht bei anderen Schülern für die Armee werben, nur weil die DDR ihre Haltung dazu inzwischen geändert hat!«

Einberufungen

Erst nach dem Mauerbau am 13. August 1961 wurde in der DDR, am 24. Januar 1962, die Wehrpflicht, die es in der Bundesrepublik bereits seit dem 21. Juli 1956 gab, ausgerufen – vorher wären wohl viel zu viele junge Männer aus der DDR sofort nach ihrer Einberufung einfach nach West-Berlin oder in die BRD geflohen. Noch vor Ostern 1962 wurde mein Bruder Dietrich (er war damals 20 Jahre alt) zur NVA einberufen. Seiner Weigerung folgte ein langes Gespräch im Wehrbezirkskommando Halle, bei dem wir – ich durfte ihn »ausnahmsweise« begleiten – von hochdekorierten Offizieren belehrt wurden: »Seit 1956 gibt es in der BRD die Wehrpflicht, bei uns erst seit diesem Jahr, das wurde gegen den wiedererrichteten aggressiven Militarismus in der BRD nötig!« Ein »ziviler Friedensdienst«, was auch immer das sei, »kommt für die DDR überhaupt nicht in Frage«. Immerhin sagte der Älteste dieser Offiziere, so etwas wie eben von uns habe er von Leidensgenossen im KZ auch gehört. Wir wurden trotzdem mit der Gewissheit, dass Dietrich nun ins Gefängnis müsse, entlassen. Einige Tage später wurde er mit seinem Einberufungsbefehl ins Wehrkreiskommando bestellt und musste diesen dort abgeben – Erklärungen dazu gab es nicht. Wir alle waren überglücklich, weil er nun weder zur NVA noch ins Gefängnis musste.

Achtzehn Jahre später wurde Dietrich erneut einberufen (da war er 38 Jahre alt) und wegen »Wehrdienstverweigerung« inhaftiert und verurteilt, dann aber »auf Bewährung« vorläufig entlassen.11

Ab 1964 gab es in der DDR für diejenigen, die eine Ausbildung an der Waffe verweigerten, endlich den Dienst bei den mit Spaten ausgerüsteten »Bausoldaten«,12 zu denen unsere Brüder Eckart (Jahrgang 1939) und Karl (Jahrgang 1942) einberufen wurden. Auch dort gab es große Probleme, wenn zum Beispiel der Bau von Panzerfahrschulstrecken oder gar von Schießplätzen erzwungen werden sollte. Wir alle waren heilfroh, als unsere Brüder nach 18 Monaten endlich zumindest am Leib gesund wieder bei ihren Frauen und Kindern, unserer Mutter und uns ankamen.

Sieger der Geschichte?

Als besonders große Erfolge verbuchte die DDR immer wieder den Mauerbau (»die Errichtung des antifaschistischen Schutzwalls«!) und die nachfolgende Einführung der Wehrpflicht. Bald hieß es: »Wir sind die Sieger der Geschichte«, und am 21. August 1968 wurde der Prager Frühling, der »einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz« angestrebt hatte, mit Militärgewalt durch die Sowjetunion unter Leonid I. Breschnew und unter Beteiligung der »sozialistischen Bruderstaaten«, auch der DDR, aber nicht Rumäniens, gewaltsam beendet. Die NVA kam nicht bis Prag, sie war nur in einigen grenznahen Gegenden, so auch in der Nähe von Cheb (Eger), eingesetzt, wie mir Medizinstudenten später unter vier Augen berichteten. Schon Monate vor dem Einmarsch in die ČSSR waren die dafür vorgesehenen NVA-Einheiten völlig von der Außenwelt isoliert in streng bewachten Militärlagern ohne jede Informationsmöglichkeit eingesperrt, sie durften kein Radio hören, bekamen keine Zeitungen, durften keine Post empfangen und wussten in der Nacht vom 20. zum 21. August 1968 überhaupt nicht, wohin sie transportiert worden waren. Manche nahmen an, sie seien »beim Klassenfeind in der BRD«, und erst als sie von der tschechischen Bevölkerung mit Steinen beworfen und als »Nazischweine« beschimpft wurden, wussten sie, dass sie nun doch in der ČSSR »ihren solidarischen Kampfauftrag« zu erfüllen hatten. Sie waren heilfroh, dass man sie nicht zum Kampf gegen den Imperialismus in die Bundesrepublik transportiert hatte.

Horst Sindermann, Präsident der Volkskammer bis März 1990, behauptete später, die NVA habe sich nur innerhalb der DDR bereitgehalten, sei aber nie in die ČSSR einmarschiert. Dagegen sprechen all die Zeugen, die nach 1968 davon erzählten.

Wir Brüder fielen, wie auch schon 1961 beim Mauerbau, in eine hilflose Mischung aus Angst und Wut. Und nun war die Wut noch viel stärker, auch die Wut auf den Westen, der wieder einmal seine eigenen Probleme für wesentlich wichtiger hielt und eine recht dürftige Solidarität zeigte. Rudi Dutschke war da eine Ausnahme, zum Glück nicht die einzige. Leider waren gerade in dieser Zeit die westdeutschen Studenten intensiv mit dem Kampf gegen ihre Autoritäten beschäftigt.

Unser Bruder Reiner, der in diesen bitteren Augusttagen als Reichsbahn-Stellwerksmeister am Güterbahnhof Halle arbeitete, war nur mit großen Mühen davon abzuhalten, über seine Lautsprecheranlage aus der Verfassung der DDR zu zitieren: »Kein Bürger darf an kriegerischen Handlungen teilnehmen, die der Unterdrückung eines Volkes dienen.«13

Noch Monate nach diesem schrecklichen August 1968 liefen einige von uns Brüdern mit schwarzen Armbinden als Trauerflor durch Halle. Wir grüßten viele andere derart Trauernde, auch wenn sie uns bis dahin völlig unbekannt waren. Wir kamen uns mutig vor und glaubten, beim MfS dafür registriert worden zu sein. Wie wir nun aus unseren MfS-Akten (insgesamt über 20 000 Seiten) wissen, war das aber gar nicht der Fall; es wurde auch niemand darüber verhört, um wen er denn trauere. Heute wissen wir, dass viele, die mehr Mut als wir hatten und zum Beispiel Flugblätter gegen den Einmarsch verfasst und verteilt hatten, lange Haftstrafen für ihren offenen Protest bekamen. Es war dem MfS gelungen, bei der überwiegenden Mehrzahl der DDR-Bürger eine hinreichend starke Angst und einen vorauseilenden Gehorsam zu erzeugen, und das war wohl auch eine der Ursachen dafür, dass nur so wenige nach dem Einmarsch in die ČSSR irgendetwas wagten.

Wahlen

Das entsprach der allgemeinen Angst auch bei den »Volkswahlen«, bei denen man ohne irgendeine Alternative seine Zustimmung zu den Kandidaten der »Nationalen Front des demokratischen Deutschland« durch einfaches Falten und Einwerfen des Wahlzettels mit den Namen dieser Kandidaten erteilen sollte – da gab es nichts zu wählen. Niemand wusste genau, was als Gegenstimme gezählt wurde. Es gab sogar Wahlkabinen, obwohl sich zuvor viele Arbeitskollektive zur »offenen Stimmabgabe« verpflichtet hatten. In unseren Wahllokalen standen anfangs vor diesen Kabinen große, kräftige Männer, die uns zwar grimmig anblickten, dann aber doch zögernd den Weg zur Kabine freigaben. Sie und die Wahlhelfer sorgten für die anfangs 97-prozentigen und schließlich fast nur noch über 99-prozentigen Erfolge beim »Falten«, wie dieser »Wahl«-Vorgang von der Mehrzahl gehandhabt und in beschämender Selbstverspottung auch oft genannt wurde. Dieser aus der Sowjetunion übernommene Wahlmodus wurde auch als »Erleichterung bei der Entscheidungsfindung« bezeichnet. Weil angeblich alle Kandidaten erst nach einer gründlichen Vorstellung und Prüfung in ihren Betrieben »ausgewählt« worden seien, sei dies die eigentlich demokratische Wahl, so hieß es. Manche wollten das gern (nur zu gern) glauben, aber die Mehrzahl wusste natürlich, dass sie auch diese Lüge zu schlucken hatte, und verachtete sich selbst dafür ein wenig. Je mehr die Menschen ihre Selbstachtung verlieren, desto leichter sind sie zu beherrschen.

Dem MfS wurde natürlich gemeldet, wer in die Wahlkabine gegangen war – damit musste man rechnen und auch mit den Folgen: keine Beförderung, keine Reisegenehmigung, keine Oberschulplätze für die Kinder, viel längeres Warten auf eine Wohnung und manch andere Schikane. Viele der verdienten alten Genossen meinten das alles nur gut. Sie waren fest davon überzeugt, »unsere Menschen« nun endlich auf den guten Weg in eine sozial gerechte Zukunft zu führen und ihnen dabei unermüdlich zu helfen. Die dabei angewandten Mittel waren oft sehr grausam, aber eines wussten die Funktionäre genau: So grausam wie zuvor die Nazis waren sie bei weitem nicht. Das stimmte, und das rechtfertigte in ihren Augen ihr Vorgehen. Sie wollten und konnten die fatale Ähnlichkeit ihrer Fahnenappelle, Fackelzüge, Uniformen, Militärparaden und öffentlich mit Stiefelgetrampel absolvierten Wachablösungen mit der deutschen Militärvergangenheit gar nicht wahrnehmen, denn sie hatten ja den deutschen Militarismus »auf dem Boden der DDR ausgerottet«.

Nun möchte ich zu meinem Lebenslauf noch ergänzen: Ich durfte Medizin in Halle studieren; wir sieben Brüder sind alle der Freien Deutschen Jugend (FDJ) beigetreten, sonst hätte keiner von uns studieren dürfen. Mein Lehrer und späterer Doktorvater Horst Hanson hatte mich so für die Biochemie begeistert, dass ich nach der Hilfsassistentenzeit (1955 bis 1958) und der medizinischen Approbation ab 1960 bei ihm blieb, dort den Facharzt für Biochemie erwarb und mich nach meiner Habilitation im Lehrbetrieb engagierte. Zugleich hatte ich gemeinsam mit vier meiner Kollegen (Heidrun Kirschke, Siegfried Ansorge, Jürgen Langner und später auch Bernd Wiederanders) das große Glück, in einer großen Arbeitsgruppe (wir waren oft mehr als 20 Leute einschließlich der Diplomanden, Doktoranden und technischen Mitarbeiter) zwei neue zelluläre (lysosomale) Proteasen (Cathepsin H und Cathepsin L) entdecken, isolieren und gründlich charakterisieren zu können – das hat mich vor dem Gefängnis bewahrt (»die Inhaftierung des B. würde dem internationalen Ansehen der DDR Schaden zufügen«).

Horst Hanson war Generalsekretär der ältesten deutschen Naturforscherakademie Leopoldina in Halle, mit seiner Hilfe konnten wir 1973 die internationale Symposienreihe »Intracellular Protein Catabolism« gründen und 1977 und 1981 fortsetzen. Während ich für mehr als zehn Jahre diese Arbeitsgruppe leitete, kamen zu unseren Symposien anfangs über 100, später über 200 Biochemiker aus aller Welt (Europa, Japan, USA) nach Schloss Reinhardsbrunn im Thüringer Wald. Zu vielen von ihnen ergaben sich auch private Kontakte, und sie besuchten uns vor oder nach dem Symposium in Halle. Sie haben uns beispielhaft geholfen, unter anderem mit teuren Biochemikalien, Geräten, Literatur, und so fühlten wir uns auch in den Teilen der Welt, die uns so lange verschlossen blieben, zu Hause.

(Aus-)Reisen

Auf der Tagung der Federation of European Biochemical Societies (FEBS) hatte ich in Warschau 1966 unsere ersten Ergebnisse auf dem Gebiet des zellulären Eiweißabbaus vorgestellt, dann wurde ich für den Juni 1967 an die Universität Uppsala in Schweden eingeladen. Zuvor hatte ich mich in Berlin, »Hauptstadt der DDR«, einem entwürdigenden Verhör zu unterziehen. Einfach und leicht wolle man mit mir beginnen, hieß es da: Ob ich vor meinen Studenten erklären würde, dass mich nichts mit den BRD-Imperialisten, aber alles mit unserer DDR verbinde? Als ich es wagte, darauf zu verweisen, dass ich in der Oberpfalz, also in Bayern, in Sulzbach-Rosenberg nämlich, geboren sei, und dass dies doch eine untilgbare Verbindung sei, hatte ich mich bereits als völlig ungeeignet zum »Reisekader« erwiesen, und von da an wurden all meine Reiseanträge, die ich nach den vielen ehrenvollen Einladungen stellte, abgelehnt. Auf diese Einladungen sollte ich stets antworten, ich sei leider erkrankt. Das tat ich nie, und in einigen Fällen musste ich erst 1984 erfahren, dass die Kollegen meine Antworten auf ihre freundlichen Einladungen nie erhalten hatten. Obwohl ich sie immer in anderen Städten in die Briefkästen geworfen hatte, wurden sie vom MfS offenbar einfach konfisziert, und ich stand von 1967 bis 1984 vor vielen Kollegen dank dieser MfS-Zersetzungstätigkeit als ein unhöflicher, womöglich sogar arroganter Trottel da. Das war das Ziel des MfS – es gelang aber nur bis 1984, bis ich meinen Kollegen erklären konnte, wie das MfS der DDR seine »Operative Zersetzung« gegen ihre Bürger handhabte.

Wenn in der studentischen Lehranalyse meine Arbeit als verdienstvoll mit hoher politisch-erzieherischer Wirkung eingeschätzt wurde, mussten sich die Studenten vom Prorektor für Erziehung und Ausbildung der Martin-Luther-Universität (MLU) in Halle im Auftrag des MfS belehren lassen, dass es sich bei »Dr. Bohley um einen Dozenten handelt, der politisch negativen Einfluss im studentischen Bereich ausübt« und, noch viel schlimmer: »Dr. Bohley macht auch keinen Hehl daraus, Sympathien für die polnische ›Solidarność-Bewegung‹ offen zu bekunden.«14

Am 11. April 1983 wurde mir wegen eines einzigen Satzes ein Lehrverbot erteilt.15 Jeglicher Kontakt mit den Studenten wurde mir verboten, die Leitung der Biochemiepraktika, meine Vorlesungen und Seminare wurden mir entzogen, auch Prüfungen durfte ich nicht mehr abnehmen, und das Betreten des Hörsaales wurde mir strengstens untersagt. Später erfuhr ich, dass in einem Nebenraum dieses Hörsaals MfS-Leute postiert worden waren, die mich, falls ich es trotzdem gewagt hätte, daran hindern sollten. »Richtige Schlägertypen, widerliche, große starke Kerle«, wurde mir berichtet.

Der Satz, den ich seit zehn Jahren gesagt und im März 1983 lediglich wiederholt hatte, bezog sich auf den Einsatz teurer medizinischer Geräte: Die Ärzte sollten sich auch für die Anschaffung dieser Geräte zum Wohl ihrer Patienten einsetzen, und das sei doch auch berechtigt, wenn man bedenke, wie viel Geld für das Militär ausgegeben werde. Daraufhin sollte ich gleich auch aus dem Bereich Medizin der MLU eliminiert werden, und nun erst wurde uns klar, dass wir gezwungen werden sollten, einen Ausreiseantrag zu stellen. Bis zum September 1983 haben wir uns dagegen mit vielen Eingaben zu wehren versucht, unsere Schwägerin Bärbel Bohley schrieb an den Rektor der MLU, unser Bruder Reiner schrieb an Erich Honecker und Bischof Krusche an den Staatssekretär für Kirchenfragen, Klaus Gysi. Aber alles war vergebens, und so stellten wir am 5. September 1983 den Ausreiseantrag, der bereits drei Tage später vom MfS befürwortet wurde. Das aber erfuhren wir erst über zwei Monate später. Offenbar wollte das MfS die bei uns installierten Mikrofone (»Wanzen«) noch weidlich nutzen, um uns und unsere Gäste gründlich auszuhorchen. Zu diesen Gästen gehörten Inge und Walter Jens aus Tübingen, die uns von da an ebenso wie Helga und Dietrich Fabricius, Christiane und Matthias Beinhoff, Christine Dreyer und der Direktor des Physiologisch-Chemischen Instituts, Prof. Dr. Dieter Mecke, wunderbar unterstützten. Ihnen allen verdanken wir es, dass wir in Tübingen eine Zuflucht gefunden haben, in der wir so arbeiten, lehren und leben dürfen, wie wir es uns vorstellen.

Ende November 1983 teilte uns die Abteilung Inneres beim Rat der Stadt Halle mit, dass wir die DDR nun unbedingt noch vor Weihnachten verlassen sollten. Nachdem ich um Aufschub gebeten hatte, sollte unsere Ausreise »dann wenigstens noch vor dem Jahresende stattfinden!«, schließlich einigten wir uns auf den 6. Januar 1984. Vielleicht hätte ich auch als Friedhofsgärtner und Totengräber wie Burkhard Baltzer noch weiterhin in der DDR bleiben können. Aber ich hatte vor dem Gefängnis Angst, ohne damals zu wissen, wie fein das bereits für mich mit den Paragrafen 106 »Staatsfeindliche Hetze« mit bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe und 107 »Staatsfeindliche Gruppenbildung« mit drei bis zwölf Jahren Freiheitsstrafe (»Der Versuch ist strafbar«) vom MfS vorbereitet worden war. Die Cathepsine H und L retteten mich auch in dieser Hinsicht. Heutzutage arbeiten weltweit über 100 biochemische Arbeitsgruppen über diese von uns vor vier Jahrzehnten entdeckten Enzyme.