Pema Chödrön
Wenn alles zusammenbricht
Hilfestellungen für schwierige Zeiten
Aus dem Amerikanischen von
Thomas Geist
Mein aufrichtiger Dank gilt Lynne Van de Bunte, die nicht nur die Audiokassetten aufbewahrt hat, die das Ausgangsmaterial für die Beiträge dieses Buches waren, sondern die auch viele Stunden Freiwillige für die Transkription der Kassetten gesucht hat. Für diese Arbeit danke ich Heidi Utz, Rex Washburn, Ginny Davies sowie Aileen und Bill Fell (die auch alle Vorträge auf einem Computer zusammengeführt haben). Lynne selbst hat die Kassetten transkribiert, die schon so alt waren, dass niemand außer ihr sie noch verstehen konnte. Ein ganz besonderes Dankeschön schließlich meiner Freundin und Herausgeberin Emily Hilburn Sell, die einen Karton ungeschnittener Audiokassetten in ein Buch verwandelt hat. Ohne ihr Talent, ihre harte Arbeit und ihr liebevolles Engagement hätte ich niemals auch nur das Geringste veröffentlicht. Ich bin glücklich, dass wir auch weiterhin zusammenarbeiten.
Zentrale Lehre des Buddha und Inhalt der allerersten Unterweisung nach seiner Erleuchtung sind die Vier Edlen Wahrheiten: (1) Die Wahrheit vom Leiden: Das Leben ist von Leid geprägt. (2) Die Wahrheit von der Ursache des Leidens: Die Ursachen sind Gier, Hass und Unwissenheit. (3) Die Wahrheit vom Aufhören des Leidens: Das Leid kann überwunden und aufgehoben werden. Und (4) die Wahrheit vom Weg zum Aufhören des Leidens: Dieser Weg ist der Edle Achtfache Pfad, bestehend aus: rechter Erkenntnis, rechtem Entschluss, rechter Rede, rechtem Handeln, rechtem Lebenserwerb, rechtem Bemühen, rechter Achtsamkeit, rechter Sammlung. Die aktive Übung dieser acht Faktoren führt schließlich zur Befreiung vom Leiden.
Was haben diese auf den ersten Blick relativ nüchternen und unspektakulären Aussagen nun mit unserem ganz persönlichen und sehr konkreten Leiden und seiner Auflösung zu tun? Weil wir nicht wissen, wer oder was wir in Wirklichkeit sind, sind wir von einer tiefen Unsicherheit erfüllt. Im panischen Versuch, Sicherheit zu gewinnen, »frieren« wir einen kurzen Moment unserer Wahrnehmung ein und identifizieren uns damit. Ein Selbstbild ist entstanden und bildet als ›Ich‹ fortan den Nukleus für unser Erleben der Welt, das automatisch subjektiv und damit selektiv ausfällt: Alles, was unser Selbstbild bestätigt, wird als ›angenehm‹ empfunden – Begehren und Anhaftung sind die Folge. Alles, was unser Selbstbild in Frage stellt oder bedroht, ist »unangenehm« – Abneigung und Aggression entstehen. Unter dem Druck von Anhaftung und Abneigung versuchen wir nun, uns selbst und unsere Umwelt so zu manipulieren, dass das »Angenehme« zunimmt und das »Unangenehme« abnimmt. Diese Art selektiver Wahrnehmung und die aus ihr resultierenden Gedanken, Worte und Handlungen verdichten sich allmählich zu Gewohnheitsmustern. Die eingefahrenen Gewohnheitsmuster werden schließlich zu unserem Charakter, werden immer unausweichlicher, schicksalhafter. Die Fähigkeit zu spontanem, ungewohntem Handeln geht uns mehr und mehr verloren. Am Ende reagieren wir nur noch unter dem Diktat unserer Gewohnheiten. Das Ergebnis ist der beinahe völlige Verlust unserer Freiheit. Diese extreme Unfreiheit und die aus ihr resultierende Frustration sind gemeint, wenn der Buddha in der Ersten Edlen Wahrheit vom Leiden spricht.
Die Zweite Edle Wahrheit sagt, dass unser Leiden Ursachen hat. Diese Ursachen sind, wie wir oben gesehen haben, Unwissenheit – besser Nicht-Erkennen (unserer wahren Natur) –, Begehren und Abneigung. Der ganze Prozess beginnt mit Nicht-Erkennen, aus dem sich Begehren und Abneigung zwangsläufig ergeben. Aber allein die Aussage, dass das Leiden Ursachen hat, ist an sich schon revolutionär, denn was Ursachen hat, ist weder Schicksal noch Zufall noch unergründlicher Ratschluss einer höheren Macht. Es ist schlicht und einfach Ergebnis, Wirkung. Das heißt, es ist veränderbar. Verändert man die Ursachen, verändert sich die Wirkung. Nach buddhistischer Vorstellung muss man sich also nicht fatalistisch in sein Schicksal ergeben, sondern man kann sein Leben, also jede Situation, gestalten und verändern.
Die Möglichkeit der Gestaltung der eigenen Wirklichkeit liegt in den eigenen Händen, in der eigenen Verantwortung. Erlöschen die Ursachen, erlischt das Leiden – die Dritte Edle Wahrheit. Mit anderen Worten: Ist das von uns selbst erschaffene und im Laufe unseres Lebens immer weiter verstärkte Ich als Wahn, als künstliches Konstrukt erkannt, bricht das gesamte darauf errichtete Gebäude aus Konzepten, Vorstellungen, Vorlieben und Abneigungen zusammen, und der Platz wird frei für die direkte Einsicht in die wahre Natur unseres Geistes. An Stelle der Unwissenheit tritt Weisheit. An Stelle des Nicht-Erkennens tritt Erkennen. Damit dieses Erkennen aber wirklich zum Aufhören des Leidens führen kann, muss es uns bis in unsere tiefsten Tiefen erschüttern. Eine rein intellektuelle Einsicht reicht nicht.
Die Vierte Edle Wahrheit schließlich umfasst im Achtfachen Pfad sämtliche Methoden, die angewendet werden müssen, um die Befreiung von jeder Wahnhaftigkeit zu erreichen. Diese Methoden teilen sich in äußere wie rechte Rede, rechtes Handeln und so weiter und innere wie rechte Achtsamkeit und rechte Sammlung. Die äußeren Methoden ließen sich unter dem Begriff Ethik zusammenfassen, die inneren Methoden unter dem Begriff Meditation. Erst das enge Zusammenwirken von ethischem Verhalten und meditativer Übung garantiert nach buddhistischem Verständnis, dass die Einsicht in die wahre Natur über die Ebene eines rein intellektuellen Verständnisses hinausgelangen und den Übenden zu einem wahrhaft freien, erwachten und gleichzeitig liebevollen Menschen, einem Buddha, machen kann. Durch die äußeren Faktoren stellen wir Harmonie in uns selbst und in unserer Umwelt her und sorgen so für die nötigen förderlichen Bedingungen, um mit Hilfe der inneren Faktoren die Einsicht in die tiefsten Schichten unseres Geistes vordringen und dort die Illusion eines von allem anderen entfremdeten Ichs und der mit ihr verbundenen Gewohnheitsmuster auflösen lassen zu können. Am Ende des Prozesses intensiver Übung, die alle Aspekte menschlichen Seins einbezieht, steht also Erwachen (zur endgültigen Wirklichkeit), Erleuchtung oder Buddhaschaft – alles Synonyme für einen Zustand, in dem jede Wahnhaftigkeit erloschen und unser Potenzial vollkommen entfaltet ist.
München 1998
Thomas Geist
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Buddhismus allgemein (Dachverband buddhistischer Gemeinschaften in Deutschland):
Deutsche Buddhistische Union
Amalienstr. 71
80799 München
Tel.: 0700-28 33 42 33, Fax: 0 89/28 10 53
E-Mail:
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Zentren in der Tradition von Chögyam Trungpa Rinpoche:
Shambhala Meditationszentrum Marburg
Auf dem Wehr 33
35037 Marburg
Tel.: 0 64 21/91 54 78
E-Mail:office@karmadzong.de
Wenn wir der Wahrheit näher kommen, ist
Angst eine natürliche Reaktion.
Wenn man sich auf die spirituelle Reise macht, besteigt man gewissermaßen ein winziges Boot und erforscht in dieser Nuss-Schale die Ozeane auf der Suche nach unbekannten Ländern. Zwar stellt sich mit ernsthafter Übung durchaus Inspiration ein, aber früher oder später begegnen wir auch der Angst. Das einzige, was wir wissen, ist: Wenn wir den Horizont erreichen, werden wir über die Kante der Welt stürzen. Wie alle Forscher, so drängt es auch uns, zu entdecken, was dort draußen auf uns wartet. Dabei wissen wir nicht, ob wir dann auch den Mut haben werden, uns dem Unbekannten zu stellen.
Wenn uns der Buddhismus zu interessieren beginnt und wir uns fragen, was er uns persönlich zu bieten hat, entdecken wir sehr bald, dass es verschiedene Wege gibt. Mit der Einsichts-Meditation beginnen wir, Achtsamkeit zu üben, das heißt, wir lernen, in all unseren Handlungen und Denkvorgängen vollständig präsent zu sein. In der Zen-Praxis hören wir die Lehren von der Leerheit und sind aufgefordert, uns mit der offenen, ungebundenen Klarheit des Geistes zu verbinden. Die Vajrayana-Lehren wiederum stellen eine Möglichkeit dar, mit sämtlichen Situationen zu arbeiten, indem man alles, was entsteht, als untrennbar vom erwachten Zustand erkennt. Jeder dieser Zugänge kann uns faszinieren und unseren Enthusiasmus zu weiterer Erforschung anstacheln. Wenn wir aber tiefer gehen und uns, ohne zu zögern, tatsächlich auf eine entsprechende Übung einlassen wollen, begegnen wir unvermeidlich irgendwann der Angst.
Angst ist eine universelle Erfahrung, die selbst das winzigste Insekt empfindet. Wenn wir im Meer tauchen und einen Finger in die Nähe des weichen, offenen Körpers einer Seeanemone bringen, schließt sie sich. Alles Leben reagiert unmittelbar auf diese Weise. Aber es ist nicht schlimm, dass wir, konfrontiert mit Unbekanntem, Angst empfinden. Es ist Teil des Lebendig-Seins, etwas, das wir alle miteinander teilen. Wir reagieren auf die Möglichkeit, dass Einsamkeit und Tod uns treffen und wir uns an nichts mehr festhalten können. Sobald wir der Wahrheit näher kommen, ist Angst eine natürliche Reaktion.
Wenn wir uns entscheiden, dabeizubleiben und nicht auszuweichen, wird unsere Erfahrung äußerst lebendig. Die Dinge werden sehr klar, wenn es keine Möglichkeit mehr zur Flucht gibt.
Während eines langen Retreats kam mir die, wie mir schien, erderschütternde Erkenntnis, dass wir nicht im gegenwärtigen Augenblick sein und gleichzeitig unser eigenes Drehbuch weiterverfolgen können! Ich weiß, das klingt ziemlich offensichtlich, aber eine derartige Tatsache wirklich selbst zu erkennen verändert uns. Vergänglichkeit wird nur im gegenwärtigen Augenblick lebendig, dasselbe gilt für Mitgefühl, Staunen und Mut – und ebenso für die Angst. Tatsächlich erlebt jeder, der an der Grenze zum Unbekannten steht und gleichzeitig ganz in der Gegenwart und ohne Bezugspunkte bleibt, Bodenlosigkeit. Das geschieht dann, wenn unser Verständnis tiefer geht, wenn wir begreifen, dass der gegenwärtige Augenblick ein recht schutzloser Ort ist und dass diese Erfahrung vollständig entnervend und gleichzeitig äußerst zart sein kann.
Wenn wir unsere Forschungsreise beginnen, haben wir die unterschiedlichsten Ideale und Erwartungen. Wir suchen nach Antworten, die endlich unseren ewigen Hunger stillen. Das, was wir uns am wenigsten wünschen, ist eine nähere Bekanntschaft mit dem schwarzen Mann. Natürlich versucht man, uns zu warnen. Ich erinnere mich noch gut an meine ersten Anleitungen zur Meditation. Eine Frau erklärte mir die Techniken und sagte zum Abschluss: »Glauben Sie nur ja nicht, Meditation sei ein Urlaub vom Ärger.« Aber sämtliche Warnungen der Welt können uns nicht vertreiben. In Wirklichkeit ziehen sie uns an.
Es geht hier darum, die Angst kennen zu lernen und mit ihr vertraut zu werden, ihr direkt ins Auge zu blicken – nicht damit wir unsere Probleme lösen, sondern um den Weg zu finden, der zur völligen Aufhebung alter Seh-, Hör-, Riech-, Tast-, Schmeck- und Denkgewohnheiten führt. Wenn wir mit dieser Haltung tatsächlich Ernst machen, werden wir kontinuierlich gedemütigt. Für die Arroganz, die das Festhalten an Idealen nach sich ziehen kann, ist dann nicht mehr viel Raum. Der sich unvermeidlich immer wieder einschleichende Stolz wird durch unseren Mut, uns stets noch ein kleines Stückchen weiter vorzuwagen, jedesmal wieder vertrieben. Die Entdeckungen, die wir dank unserer Übung machen, haben nichts damit zu tun, an irgendetwas zu glauben. Es geht vielmehr um den Mut zu sterben – den Mut, kontinuierlich zu sterben.
Die Anleitungen zur Achtsamkeit, zur Leerheit oder zur Arbeit mit Energie sagen alle dasselbe: dranbleiben, exakt am Punkt bleiben, das nagelt uns fest. Es legt uns auf genau den Kreuzungspunkt von Raum und Zeit fest, an dem wir uns jetzt befinden. Wenn wir genau hier innehalten und die Impulse nicht ausagieren oder unterdrücken und weder anderen noch uns selbst die Schuld geben, dann treffen wir auf eine offene Frage, auf die es keine schematische Antwort gibt. Wir treffen auf unser Herz. Wie ein Meditationsschüler es einmal ausgedrückt hat: »Geschickt als Angst verkleidet, tritt uns die Buddha-Natur in den Hintern, damit wir uns endlich öffnen.«
Ich habe einmal einen Vortrag gehört, in dem ein Mann über seine spirituellen Erlebnisse im Indien der sechziger Jahre berichtete. Er sagte, er sei fest entschlossen gewesen, seine negativen Emotionen loszuwerden. Er kämpfte gegen Zorn und Begierde; er kämpfte gegen Faulheit und Stolz. Aber am dringendsten wollte er seine Angst loswerden. Sein Meditationslehrer ermahnte ihn immer wieder, mit dem Kämpfen aufzuhören, aber er verstand auch diese Ermahnung als Aufforderung zur Überwindung seiner Widerstände.
Schließlich schickte der Lehrer ihn zur Meditation in eine kleine, in den Ausläufern des Gebirges gelegene Hütte. Dort angekommen, schloss er die Tür und setzte sich zur Praxis nieder. Als es dunkel wurde, entzündete er drei kleine Kerzen. Gegen Mitternacht hörte er ein Geräusch und entdeckte in einer dunklen Ecke des Raumes eine riesige Schlange. Sie sah aus wie eine Königskobra und wiegte sich ganz in seiner Nähe gemächlich hin und her. Die ganze Nacht über blieb er hellwach und behielt die Schlange im Auge. Vor lauter Angst war er wie gelähmt. Es gab nur noch die Schlange, ihn selbst und die Angst.
Als kurz vor Dämmerungsbeginn schließlich auch die letzte Kerze ausging, begann er zu schluchzen. Er weinte nicht aus Verzweiflung, sondern vor lauter Zärtlichkeit. Er empfand die Sehnsucht aller Tiere und Menschen in der ganzen Welt; er wusste um ihre Entfremdung und ihren Kampf. Seine ganze bisherige Meditationspraxis war nichts anderes gewesen als weitere Trennung und zusätzlicher Kampf. Aufrichtig und von ganzem Herzen nahm er nun seinen Zorn und seine Eifersucht, seine Widerstände und sein ewiges Kämpfen und auch seine Angst an. Er konnte ebenfalls akzeptieren, dass er selbst über alle Maßen kostbar war – weise und töricht, reich und arm und ganz und gar unergründlich. Eine so tiefe Dankbarkeit erfüllte ihn, dass er in der völligen Dunkelheit aufstand, auf die Schlange zuging und sich vor ihr verneigte. Dann schlief er auf dem Fußboden ein. Als er wieder erwachte, war die Schlange verschwunden. Er fand nie heraus, ob es sie tatsächlich gegeben oder ob er sie sich nur eingebildet hatte. Letztlich war es auch nicht wichtig. Am Ende seines Vortrages sagte er, dass er es seiner großen Angst verdanke, dass seine persönlichen Dramen endlich zusammengebrochen waren und die reale Welt zu ihm vordringen konnte.
Nur äußerst selten begegnen wir einem Menschen, der uns auffordert, nicht mehr vor der Angst davonzulaufen. Noch viel seltener lädt uns jemand ein, ihr doch näher zu kommen und einfach nur da zu sein, um mit ihr vertraut zu werden. Ich habe den Zen-Meister Kobun Chino Roshi einmal gefragt, wie er mit Angst umgehe. Er hat gesagt: »Ich bin mit ihr einverstanden.« Meistens bekommen wir jedoch den Rat, uns die Angst zu versüßen, sie zu überdecken, eine Pille zu nehmen oder uns abzulenken, sie aber um jeden Preis zu vertreiben.
Diese Art von Ermutigung brauchen wir im Grunde nicht, denn wir meiden die Angst ganz von allein; das ist unser natürliches Verhalten. Ganz gewohnheitsmäßig wenden wir uns ab oder drehen durch, wenn sich auch nur die leiseste Spur von Angst zeigt. Sobald wir fühlen, dass sie kommt, melden wir uns ab. Wenn wir uns der Angst aussetzen, tun wir das nicht, um uns noch zusätzlich zu strafen, sondern um bedingungsloses Mitgefühl zu entwickeln. Es kann uns das Herz brechen, wenn wir begreifen, wie wir uns selbst ständig um das Hier und Jetzt betrügen.
Manchmal allerdings werden wir erwischt; alles bricht zusammen, und uns gehen die Fluchtmöglichkeiten aus. Zu diesen Zeiten sind selbst die tiefsten spirituellen Wahrheiten plötzlich ziemlich direkt und gewöhnlich. Es gibt kein Versteck mehr. Das sehen wir genauso gut wie alle anderen – besser als alle anderen. Früher oder später verstehen wir: Die Angst wird zwar niemals in einem angenehmen Licht erscheinen, aber sie bringt uns in lebendigen Kontakt mit allen Lehren, die wir je gehört oder gelesen haben.
Wenn Sie das nächste Mal der Angst begegnen, freuen Sie sich über die günstige Gelegenheit. Hier kommt Mut ins Spiel. Normalerweise glauben wir, mutige Menschen hätten keine Angst. In Wahrheit sind sie mit der Angst zutiefst vertraut. Mein früherer Mann hat mir einmal gesagt, ich sei der mutigste Mensch, den er kenne. Als ich ihn fragte, warum, antwortete er, weil ich immer vorwärts gehen und die Dinge zum Abschluss bringen würde – obwohl ich eigentlich ein totaler Feigling sei.
Der Trick liegt darin, immer weiter zu forschen und nicht abzuspringen, selbst wenn deutlich wird, dass etwas nicht unseren Erwartungen entspricht. Das genau ist es, was wir immer wieder entdecken: Nichts ist so wie erwartet. Das kann ich mit tiefer Gewissheit behaupten. Leerheit ist nicht so, wie wir sie erwarten, ebenso wenig wie Achtsamkeit oder Angst. Mitgefühl, Liebe, Buddha-Natur, Mut – all dies sind Chiffren für Dinge, die man nicht intellektuell verstehen, die aber jeder von uns erleben kann. Diese Begriffe weisen darauf hin, was das Leben in Wirklichkeit ist, und darauf, was wir finden können, wenn unsere Welt zusammenbricht und wir uns im gegenwärtigen Moment, im Hier und Jetzt, festnageln lassen.
Wenn alles zusammenbricht und wir am Abgrund stehen, dann ist es der Prüfstein für jeden von uns, auf dieser Kippe stehen zu bleiben und nichts zu verfestigen. Der spirituelle Weg führt nicht in den Himmel. Es geht nicht darum, an einen Ort zu kommen, an dem endlich alles vollkommen ist.
Gampo Abbey ist ein Ort von großer Weite, in der Meer und Himmel ineinander fließen. Der Horizont erstreckt sich ins Unendliche, und Möwen und Raben bevölkern den weiten Raum. Die ganze Gegend gleicht einem riesigen Spiegel und unterstreicht das Gefühl, dass es unmöglich ist, sich zu verstecken. Und da Gampo Abbey auch noch ein Kloster ist, sind die Fluchtmöglichkeiten ohnehin recht eingeschränkt – kein Lügen, kein Stehlen, kein Alkohol, kein Sex – kein Ausweg.
Gampo Abbey war der Ort, nach dem ich mich immer schon gesehnt hatte. Eines Tages bat Trungpa Rinpoche mich, die Leitung des Klosters zu übernehmen, und so fand ich mich schließlich hier wieder. In der Folge sollte meine Vorliebe für jede echte Herausforderung auf die Probe gestellt werden. Im ersten Jahr fühlte ich mich, als würde ich bei lebendigem Leibe gekocht.
Als ich ankam, brach alles über mir zusammen. Alle Verteidigungsmechanismen, mit denen ich mich abgeschirmt hatte, alle meine Täuschungen, alle Strategien, mit denen ich mein schön poliertes Selbstbild aufrechterhalten hatte – alles brach zusammen. Gleichgültig, wie sehr ich mich auch anstrengte, es gelang mir nicht, die Umstände zu manipulieren. Mein Arbeitsstil machte alle verrückt, und ich konnte auch nicht das kleinste Versteck finden.
Ich hatte mich stets für einen flexiblen, gefälligen und von allen wohl gelittenen Menschen gehalten. Irgendwie war es mir auch gelungen, diese Illusion während meines ganzen bisherigen Lebens aufrechtzuerhalten. Während meiner ersten Jahre im Kloster musste ich begreifen, dass ich mit einem Missverständnis gelebt hatte. Nicht, dass ich keine guten Qualitäten gehabt hätte, nur war ich nicht die goldene Maid, für die ich mich immer gehalten hatte. Ich hatte viel in dieses Selbstbild investiert, und nun ließ es sich nicht mehr aufrechterhalten. All meine unerledigten Angelegenheiten kamen quicklebendig und ungeschönt in leuchtenden Farben ans Licht und wurden nicht nur für mich selbst, sondern auch für alle anderen deutlich sichtbar.
Alles, was ich bisher an mir selbst nicht hatte wahrnehmen können, wurde plötzlich dramatisiert. Und als wäre das nicht schon genug, waren die anderen auch noch äußerst großzügig mit ihrer Kritik an mir und meiner Handlungsweise. Es tat so weh, dass ich mich ernsthaft fragte, ob ich wohl jemals wieder glücklich sein würde. Ich hatte das Gefühl, als würden andauernd Bomben auf mich fallen und meine Selbsttäuschungen aufsprengen. An einem Ort, der so intensiv von Studium und Praxis durchdrungen war, konnte ich mich nicht in den Versuch flüchten, mich selbst zu rechtfertigen und den anderen die Schuld zu geben. Selbst dieser Ausweg war mir verschlossen.
Während dieser schweren Anfangszeit kam eine Lehrerin zu Besuch, und ich erinnere mich, dass sie sagte: »Wenn du dich mit dir selbst angefreundet hast, erscheinen auch die äußeren Umstände in einem freundlicheren Licht.«
Ich hatte diese Lektion schon einmal lernen müssen und wusste, dass das die einzige Möglichkeit war. Damals hatte ich mir folgende Notiz an die Wand gehängt: »Nur in dem Maße, in dem wir uns wieder und wieder der Vernichtung anheim geben, können wir das Unzerstörbare in uns entdecken.« Schon bevor ich mit den buddhistischen Lehren in Kontakt gekommen war, hatte ich den wahren Geist des Erwachens gekannt: Es geht darum, alles loszulassen.
Wie dem auch sei, wirklich den Boden unter den Füßen zu verlieren und sich an nichts mehr festhalten zu können, tut verdammt weh. Das Motto des Naropa-Instituts lautet: »Liebe zur Wahrheit bringt dich auf den Punkt.« Das mag romantische Vorstellungen in uns auslösen, aber wenn uns die Wahrheit wirklich festnagelt, leiden wir. Wir blicken in den Badezimmerspiegel und sehen uns mit all unseren Pickeln, unserem alternden Gesicht, unserem Mangel an Güte, unserer Aggression und Ängstlichkeit – all dem ganzen Mist.
Hier wird Zärtlichkeit wichtig. Wenn die Dinge wackelig werden und nichts mehr funktioniert, erkennen wir, dass wir an der Kante von irgendetwas stehen. Wir merken vielleicht, dass dies ein sehr schutzloser und empfindlicher Punkt ist und dass diese Zartheit in zwei Richtungen gehen kann. Wir können uns verschließen und in Selbstmitleid versinken, oder wir können uns auf die pulsierende Qualität der Situation einstimmen. Bodenlosigkeit hat eindeutig immer etwas Zartes und Pulsierendes.
Es handelt sich um einen Test – die Art von Prüfung, die spirituelle Krieger oder Bodhisattvas brauchen, um ihr Herz zu erwecken. Manchmal sind es Krankheit oder Tod, die uns an diesen Ort bringen. Wir erleben einen Verlust, den Verlust unserer Lieben, den Verlust unserer Jugend, den Verlust unseres Lebens.
Einer meiner Freunde stirbt an AIDS. Einmal habe ich mich mit ihm unterhalten, bevor ich auf eine längere Reise ging. Er sagte: »Ich wollte diese Krankheit nicht, ich habe sie gehasst und hatte Angst. Aber nun erweist sich mein Zustand als großes Geschenk. Jetzt ist jeder Augenblick unendlich wertvoll geworden. Alle Menschen in meinem Leben sind unschätzbar wertvoll. Mein ganzes Leben bedeutet mir sehr viel.« Irgendetwas hatte sich wirklich verändert, und er war bereit zu sterben. Etwas Erschreckendes und Grauenhaftes war zu einem großen Geschenk geworden.
Wenn die Dinge über uns zusammenbrechen, dann ist das eine Prüfung und gleichzeitig ein Heilungsprozess. Wir glauben, es ginge darum, die Prüfung zu bestehen und das Problem zu überwinden, aber in Wirklichkeit gibt es gar keine Lösung. Die Dinge kommen zusammen und fallen wieder auseinander. Dann kommen sie wieder zusammen und fallen wieder auseinander. So einfach ist es. Die Heilung stellt sich ein, wenn wir allem Geschehen Raum lassen: Raum für Trauer, Raum für Linderung, Raum für Elend, Raum für Freude.
Wir glauben, dass etwas uns Freude bereiten wird, aber wir haben keine Ahnung, wie es wirklich ausgehen wird. Wir glauben, etwas würde uns Leid bringen, aber wir wissen nichts. Dem Nicht-Wissen Raum zu geben ist das Wichtigste. Ständig versuchen wir Dinge zu tun, von denen wir annehmen, dass sie uns helfen werden, aber Gewissheit haben wir nicht. Niemals wissen wir, ob wir auf den Hintern fallen oder auferstehen. Auch wenn wir eine große Enttäuschung erleben, können wir nicht wissen, ob das tatsächlich das Ende der Geschichte ist. Vielleicht ist es der Anfang eines großen Abenteuers.
Irgendwo habe ich von einem Ehepaar gelesen, das nur einen Sohn hatte. Sie waren sehr arm. Ihr Sohn war ihr größter Schatz, und sie erwarteten von ihm, dass er sie später finanziell unterstützen und der Familie Ansehen verschaffen würde. Dann fiel er vom Pferd und war behindert. Für die Eltern schien das Ende der Welt gekommen zu sein. Zwei Wochen später kamen die Soldaten in ihr Dorf und zogen alle gesunden, kräftigen jungen Männer zum Kriegsdienst ein. Nur der verkrüppelte junge Mann durfte zu Hause bleiben und sich um seine Eltern kümmern.
So ist das Leben. Wir wissen nichts. Wir sagen, etwas sei gut oder schlecht. Aber in Wirklichkeit wissen wir nichts.
Wenn alles über uns zusammenbricht und wir am Abgrund stehen, dann ist es der Prüfstein für jeden von uns, auf dieser Kippe stehen zu bleiben und nichts zu verfestigen. Der spirituelle Weg führt nicht in den Himmel. Es geht nicht darum, an einen Ort zu kommen, an dem endlich alles vollkommen ist. Tatsächlich ist es genau dieses Denken, das uns im Elend gefangen hält. Der Glaube, dass sich dauerhafter Genuss finden ließe und dass Schmerz vermeidbar wäre, wird im Buddhismus Samsara genannt, ein endloser Teufelskreis, der uns großes Leiden beschert. Die Erste Edle Wahrheit des Buddha besagt, dass Leiden für uns Menschen so lange unvermeidlich ist, wie wir glauben, die Dinge seien dauerhaft, sie würden sich nicht auflösen und wir könnten uns in unserem Hunger nach Sicherheit auf sie verlassen. Von diesem Standpunkt aus gibt es nur eine einzige Möglichkeit für uns zu erkennen, was tatsächlich los ist: wenn uns der Teppich unter den Füßen weggezogen wird und wir keinen Haltegriff finden. Diese Situationen können wir entweder nutzen, um wach zu werden oder um uns einzuschläfern. Genau in diesen Augenblicken der Bodenlosigkeit findet sich der Same der Fürsorge für diejenigen, die unsere Fürsorge brauchen, und der Same der Entdeckung unserer Vollkommenheit.
Ich erinnere mich noch gut daran, wie eines schönen Vorfrühlingstages meine gesamte Welt zusammenbrach. Obwohl ich zum damaligen Zeitpunkt noch nichts vom Buddhismus wusste, würden manche mein Erlebnis wohl als echte spirituelle Erfahrung bezeichnen. Es geschah, als mein Mann mir gestand, dass er eine Affäre hatte. Wir lebten in New Mexico. Ich stand vor unserem Adobe-Haus und trank eine Tasse Tee. Ich hörte das Auto vorfahren und die Tür zuschlagen. Dann kam mein Mann um die Ecke und sagte mir ohne jede Vorwarnung, dass er eine Affäre habe und die Scheidung wolle.
Ich erinnere mich noch genau an den Himmel, daran, wie riesig er war. Ich erinnere mich an das Rauschen des Flusses und an den Dampf, der von meiner Teetasse aufstieg. Es gab keine Zeit, keine Gedanken, es gab nichts – nur das Licht und eine tiefe, grenzenlose Stille. Dann fasste ich mich, hob einen Stein auf und warf ihn nach meinem Mann.
Wenn mich jemand fragt, warum ich mich dem Buddhismus zugewendet habe, dann sage ich immer, weil ich so sauer auf meinen Mann war. Die Wahrheit ist, dass er mein Leben gerettet hat. Als unsere Ehe in die Brüche ging, habe ich sehr, sehr hart darum gekämpft, wieder etwas Bequemlichkeit und Sicherheit zu finden. Ich wollte mir wieder einen Rückzugsort schaffen. Zum Glück für mich ist es mir nie mehr gelungen. Instinktiv war mir klar, dass die Vernichtung meines alten, anhängigen, klammernden Selbst meine Chance war. Zu dieser Zeit hängte ich mir die oben erwähnte Notiz an die Wand.
Das Leben ist ein guter Lehrer und ein guter Freund. Wenn wir nur realisieren würden, dass die Dinge sich in einem ständigen Übergang befinden. Nichts ergibt sich und bleibt so, wie wir es gern hätten. Der Zwischenzustand ist eine ideale Situation, eine Situation, in der wir nicht feststecken und die es uns erlaubt, unser Herz und unseren Geist grenzenlos zu öffnen. Die Ungewissheit ist ein sehr zarter, gewaltfreier und offener Zustand.
In diesem wackeligen Zwischenzustand zu bleiben – mit einem gebrochenen Herzen zu leben, mit Schmetterlingen im Bauch, mit dem Gefühl von Hoffnungslosigkeit oder dem Wunsch nach Revanche – ist der Pfad wahren Erwachens. Bei der Unsicherheit zu bleiben, den Bogen rauszukriegen, wie man sich inmitten des Chaos entspannt, zu lernen, nicht in Panik zu verfallen – das macht den spirituellen Pfad aus. Zu lernen, uns selbst zu erwischen, uns zärtlich und mitfühlend selbst zu erwischen, das ist der Pfad des spirituellen Kriegers. Wir erwischen uns millionenfach dabei, dass wir uns wieder einmal in Bedauern, Bitterkeit, selbstgerechter Entrüstung verhärten – ob wir wollen oder nicht. Wir frieren immer wieder fest, selbst in Gefühlen der Erleichterung oder Inspiration.
Wir können an die tägliche Aggression in der Welt denken, in New York, Berlin, Taiwan, Beirut, Kuwait, Somalia, Irak, überall. Auf der ganzen Welt schlägt ständig jemand nach dem Feind, und der Schmerz eskaliert endlos. Jeden Tag können wir darüber nachdenken und uns fragen: »Trage ich zur Aggression in der Welt bei?« Jeden Tag, sobald uns etwas auf die Nerven geht, können wir uns fragen: »Übe ich Gewaltlosigkeit, oder führe ich Krieg?«