Heribert Treiß
Rudis Weltenfahrten 1936 – 1948
Ein Schiffsingenieur vor, im und nach dem 2. Weltkrieg – Band 76 in der maritimen gelben Reihe „Zeitzeugen des Alltags“
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Vorwort des Herausgebers
Widmung
Prolog
1936
‚Geheult wie ein Schlosshund‘ – der Trennungsschock (1936)
Erste Seebeine – eine Saison auf dem Kreuzfahrtschiff
Schulden beim Freilager – der Fotoapparat
Drei Polarforscher in Spitzbergen
Sonderfahrt Spanien in der Nachsaison
1937
Mit dem Frachter auf Trampschifffahrt
Oh wie schön ist Panama!
Eine Braut in Baltimore
1938
Der richtige Posten
Verliebt, verlobt – verheiratet?
Krisen auf der ‚EUROPA‘
Der Assistent in Geldnöten
Ausharren bis zur Schule
1939
Durchstarten ins Studentenleben
Missverständnisse mit tragischem Ausgang
Feiertage und Liebeskummer
Mobilisierung – Erntehelfer auf dem Gutshof
Zwischen Ost und West – die Qual der Wahl
Schwärmen von der weiten Welt
Organisieren geht vor Studieren
1940
Fliegeralarm und Prüfungsängste
Beten hilft weiter
Ein Leben voller Gefahren
1941
In festen Händen
Auf nach Italien!
Keine Apfelsinen aus Valencia
Zahnschmerzen vor dem Traualtar
1942
Ab aufs Katapultschiff!
Die ‚Kanallöwen‘ vom Geleit 2322
Familientreffen in Dünkirchen
Dunkle Gedanken – und wie man ihrer Herr wird
1943
Dienstverpflichtet bei der ‚Mittelmeer-Reederei‘
Irrfahrten in tückischen Gewässern
1944
Abschied ins Ungewisse
Auf falschem Kurs
1945
Geburtstag hinter Stacheldraht
1946
Hurra, wir leben wieder!
Dolmetscher im POW-Camp
Working Coy 3102/698
1947
Warten ohne Ende
Ein Traum wird Wirklichkeit
Heimkehr mit Seesäcken
Rudi ist wieder da!
1948
In den Startlöchern – Schwein gehabt
Hungrige Zeiten
Glückauf – Fortuna
Siedler im Rheinischen Braunkohlerevier
Währungsreform mit Kaffee und Kuchen
Weitere Informationen
Impressum
Vorwort des Herausgebers
Von 1970 bis 1997 leitete ich das größte Seemannsheim in Deutschland am Krayenkamp am Fuße der Hamburger Michaeliskirche, ein Hotel für Fahrensleute mit zeitweilig bis zu 140 Betten. In dieser Arbeit lernte ich Tausende Seeleute aus aller Welt kennen.
Im Februar 1992 kam mir der Gedanke, meine Erlebnisse bei der Begegnung mit den Seeleuten und deren Berichte aus ihrem Leben in einem Buch zusammenzutragen, dem ersten Band meiner maritimen gelben Reihe „Zeitzeugen des Alltags“: Seemannsschicksale.
Insgesamt brachte ich bisher über 3.800 Exemplare davon an maritim interessierte Leser und erhielt etliche Zuschriften als Reaktionen zu meinem Buch.
Reaktionen auf den ersten Band und die Nachfrage nach dem Buch ermutigten mich, in weiteren Bänden noch mehr Menschen vorzustellen, die einige Wochen, Jahre oder ihr ganzes Leben der Seefahrt verschrieben haben. Inzwischen erhielt ich unzählige positive Kommentare und Rezensionen, etwa: Ich bin immer wieder begeistert von der „Gelben Buchreihe“. Die Bände reißen einen einfach mit und vermitteln einem das Gefühl, mitten in den Besatzungen der Schiffe zu sein. Inzwischen habe ich ca. 20 Bände erworben und freue mich immer wieder, wenn ein neues Buch erscheint. oder: Sämtliche von Jürgen Ruszkowski aus Hamburg auch als schon veröffentlich hat. Alle Achtung!
In diesem Band 76 können Sie wieder den Bericht über einen ehemaligen Seemann lesen, der von seinem Sohn zu dessen 100. Geburtstag aufbereitet wurde. Weltweite Seefahrt vor dem 2. Weltkrieg – und während des schrecklichen Krieges – und das Überleben und neue Leben nach dem Krieg werden hier in einer einmaligen historischen Dokumentation von einem Fachmann (Geschichtslehrer) präsentiert.
Hamburg, Juli 2014 Jürgen Ruszkowski
Widmung
Meinem Vater
RUDI
gewidmet zum 100. Geburtstag am 17.04.2014
Prolog
Rudis Sohn geht in Pension. Da räumt er erst mal richtig durch und auf. Das hat er sich seit Jahren vorgenommen. Eines Tages ist auch der Schrank dran, in dem die Papiere, Fotos und Briefe seiner Eltern liegen. Kunterbuntes Durcheinander. Vergilbte Briefe und blasse Schwarz-Weiß-Fotos. Bekanntes und Unbekanntes. Alles, was damals, vor fast 25 Jahren, bei der Haushaltsauflösung so übrig geblieben ist –bewahrenswert erschien.
Eine Wunderwelt tut sich auf, von Schiffen und Weltmeeren: von den Kreuzfahrten der ‚GENERAL VON STEUBEN‘ durchs Mittelmeer, dem Geheimtransport in den Spanischen Bürgerkrieg auf der ‚BERLIN‘, über die Trampschifffahrt auf der ‚ERLANGEN‘ zwischen Australien und der Ostküste der USA bis hin zum Transatlantik-Dienst auf der ‚BREMEN‘ und der ‚EUROPA‘.
Nach dem Studium an der Ingenieur-Schule in Bremen will Rudi ordentlich Geld verdienen. Aber der 2. Weltkrieg bricht aus. Die ‚BREMEN‘ geht in Flammen auf, und der Dampfer ‚HANS SCHMIDT‘ muss im Mittelmeer als kärglicher Ersatz dienen. Rudi wird ‚Blockadebrecher‘ auf dem legendären Katapultschiff ‚SCHWABENLAND‘, später dann in Griechenland zum Nachschub der deutsch besetzten Inseln eingesetzt. Auf insgesamt sechs Schiffen fährt er durch die Ägäis, die allesamt versenkt werden. Das Lazarettschiff ‚GRADISCA‘, auf dem Rudi krank in die Heimat transportiert werden soll, wird Ende 1944 von der Britischen Navy gekapert, und er landet für die nächsten zweieinhalb Jahre in einem Gefangenenlager in der Suezkanal-Zone in Ägypten.
Aber auch die Briten können den Marine-Ingenieur brauchen: jetzt als ‚Chief‘ auf einem winzigen Fährprahm zur Munitionsversenkung vor Alexandria eingesetzt. Auf dem Truppentransporter ‚TUSCULUM VICTORY‘ geht es 1947 nach Deutschland zurück. Noch vor der Währungsreform wird er Schicht-Ingenieur auf einem Braunkohle-Kraftwerk. Gigantische Dampfer inmitten des Rheinischen Reviers. ‚FORTUNA‘ heißt das Dampfturbinen-Elektrizitätswerk. Nomen est omen. Ein Name, der das hielt, was er versprach.
1936
20. Januar: Der britische König Georg V. (1910-1936) stirbt. Sein Sohn Eduard/Edward VIII. wird sein Nachfolger.
Februar: Olympische Winterspiele in Garmisch-Partenkirchen.
7. März: Einmarsch der Wehrmacht in das bis dahin entmilitarisierte Rheinland, auch in Köln.
Mai: Ende des Abessinien-Krieges. Annexion Äthiopiens durch das faschistische Italien. Der italienische König wird zum Kaiser von Äthiopien proklamiert.
Juli: Beginn des Spanischen Bürgerkrieges. Militärputsch General Francos.
August: Olympische Sommerspiele 1. bis 16. August in Berlin.
November: Die ‚Legion Condor‘ wird für den Einsatz in Spanien aufgestellt.
Dezember: Eduard VIII., der als prodeutsch gilt, ist gezwungen abzudanken (Wallis Simpson).
‚Geheult wie ein Schlosshund‘ – der Trennungsschock (1936)
Er habe geheult wie ein Schlosshund, erzählt 25 Jahre später Vater Rudi dem 10jährigen Heribert, dem Erstgeborenen. Der hat gerade eine ‚Fünf‘ in Englisch verbockt, und der Sextaner braucht Trost und Zuspruch. Mutterseelenallein, fern der Heimat, sei ihm eine enge, kalte Kammer zugewiesen worden auf dem großen Schiff. Genau um 14:43 Uhr hatte er den D-Zug auf dem Kölner Hauptbahnhof bestiegen. Eltern und sein fünf Jahre jüngerer Bruder begleiten ihn bis auf den Bahnsteig, winken dem Zug nach Bremerhaven hinterher. Auch jetzt schon ein tränenreicher Abschied. Diese genaue Uhrzeit trägt Rudi in den kleinen grünen Taschenkalender ein, den er jetzt, da er sein Elternhaus verlassen, sich zu führen vorgenommen hat. Es ist ein Sonntagnachmittag – der 5. Januar 1936. Unmittelbar hinter der Hohenzollernbrücke, die den Rhein in Höhe des Doms überquert, überfällt ihn schon die erste Welle von Heimweh.
In den letzten Wochen war er noch voller Zuversicht gewesen, hatte wie jeden Morgen ab 7 Uhr Fisch ausgefahren, Bekannte besucht und war auch – na ja – am letzten Freitag um 8.30 Uhr zum Sturmappell bei der SA angetreten. Das soll jetzt alles vorbei sein? Ein lachendes und ein weinendes Auge. Die Fahrerei, das Chauffieren, das Asten im Lager, das muss jetzt ein Ende haben. Das bietet ihm überhaupt keine Perspektive! Zwei Jahre schon, und immer noch nicht weiter. Er fühlt, wie die Zeit verrinnt. Das mag ja Ende 1933, als die Arbeitslosigkeit noch hoch und die Stellen rar waren, in Ordnung gewesen sein. Ein Unterschlupf bei der ‚Transitus‘-Speditionsgesellschaft als Automechaniker und Fahrer. Eine Sackgasse, nagt es an ihm.
Dabei hat er doch die ‚Mittlere Reife‘ am Realgymnasium in der Kreuzgasse erlangt. Dass es nicht das Abitur war, das wurmt ihn noch immer. Halt die Zeiten! 1930 hatte die Wirtschaftskrise mit voller Wucht das Land erfasst. Gut, dass er bei der ‚Berlin –Anhaltischen Maschinenbau AG‘, Niederlassung Köln, eine Schlosserlehre antreten darf. Die väterlichen Beziehungen halfen. Aber auch das bitter genug. Wochenlang Klötzchen feilen neben zwei Jahre jüngeren Volksschülern. Eine raue Fortsetzung der Schulzeit. Sozusagen Rudis gymnasiale Oberstufe, nur diesmal im Blaumann. Ohne Schülermütze des altehrwürdigen Traditionsgymnasiums.
Die Gesellenprüfung schafft er mit der Gesamtnote ‚fast gut‘ drei Jahre später im Mai 1933. Da sind die Nazis schon an der Macht und haben den langjährigen Oberbürgermeister Konrad Adenauer aus dem Kölner Rathaus vertrieben. Sogar bleiben darf er, Rudi, noch ein halbes Jahr bei der Firma auf väterliche Intervention hin. Dann ist endgültig Schluss. „Wir wünschen Herrn Treiß, der heute infolge der schlechten Wirtschaftslage aus unseren Diensten scheidet, für die Zukunft das Beste“, schreibt die Maschinenbau-AG in ihrem Lehrzeugnis vom 4. November 1933.
Vater Josef hatte wie so oft die rettende Idee, um der drohenden Arbeitslosigkeit zu entgehen. Rudi machte den Führerschein und trat in die Spedition ein, in der auch der Vater arbeitete. Vorübergehend, versteht sich. Bis die mauen Zeiten sich zum Besseren wenden mögen. Rudi und sein Vater halten Ausschau. Köln und das heimische Umland die erste Wahl, aber wenn sich nichts bewegt? Dann darf es auch Bremen und Bremerhaven sein, und dort trifft Rudi dann um 21 Uhr am 5. Januar 1936 ein, um jene besagte Kammer, eng und kalt, angewiesen zu bekommen.
Am nächsten Morgen, die Tränen getrocknet, mustert er dann offiziell auf dem Dampfer ‚GENERAL VON STEUBEN‘ an.
Dampfer ‚GENERAL VON STEUBEN‘
Der Norddeutsche Lloyd expandiert in jenen Jahren, nachdem das wirtschaftliche Tal durchschritten ist und die Rüstungsindustrie mächtig gefördert wird. Während der vorangegangenen Wirtschaftskrise hatte der Lloyd Tausende von Stellen abgebaut. Nun suchen die Herren Reeder dringend Ersatz. Da nehmen sie auch Binnenländer, gar Kölner, die das Meer das erste Mal zu Gesicht bekommen.
Rudi wird, da er eine abgeschlossene Maschinenbaulehre und auch Praxis vorweisen kann, als Ingenieur-Assistent eingestellt. Gleich darf er in das Innere der ‚STEUBEN‘ eintauchen und die ganze Woche lang Kondensatorrohre dichten. Arbeit gibt es zu Hauf. Da es reichlich zu essen gibt, schon zum Frühstück Graupensuppe, Brot und Brötchen, Spiegel- und gekochte Eier und das in großen Mengen, scheint der Hänfling, der ‚Rögel‘, wie man in Köln sagt, über den ersten Kummer, das Heimweh, hinweg getröstet zu sein. Aufgekratzt berichtet er den Eltern in einem der zahlreichen Briefe: „Gestern hatten wir zum Beispiel Fleischsuppe, Weißkohl und Frikadellen.“ Etwas ganz Besonderes in Zeiten wie diesen. 70 Reichsmark, vielleicht auch 100 mit Überstunden, netto wird er im Monat verdienen (Brief 1/36). Das müsse eisern gespart werden, denn das Ziel sei ja klar: Nach den drei Jahren geforderter Fahrenszeit will er unbedingt die Ingenieur-Schule in Bremen besuchen. Im Augenblick müsse er sich nur einkleiden – eine blaue und eine weiße Uniform und natürlich auch die passenden Mützen. Das koste erst mal. Der Rest, die Decken, Kissen, aber auch die Arbeitsanzüge, sollen ihm die Eltern mit einem Expresspaket schicken. Dieses trifft auch pünktlich am Samstagmorgen mit der Post ein (Brief 1a/36). Der Bootskurs ist dann für die nächste Woche angesetzt.
Da kommt Rudi dann dem Salzwasser noch näher, wenn es auch nur das Hafenbecken ist. ‚Fieren‘ und ‚pullen‘ sind die beiden Königsdisziplinen des Bootfahrens. „Dann werden wir fies getriezt, wenn was Besonderes los ist, heißt es immer: der Kölner ran. Dann wühle ich, dass die Funken fliegen.“ (Brief 2/36). Donnerstags gibt es dann schon 20 Mark Vorschuss und samstags die Schlussprüfung im Bootskursus. Wohlgelaunt vermerkt er im Tagebüchlein am 18. 01.: „Gut bestanden.“ Und abends gibt es als Dreingabe einen „Flottenabend“. Die ‚BREMEN‘ liegt gleich nebenan. Da sind die ersten beiden Wochen auch schon um, und er zieht, vom Trennungsschock erholt, eine erste Bilanz: „Ich habe mich bald an alles gewöhnt. Es sind ganz nette Leute hier. Der 1. und der 2. Ingenieuroffizier sind ganz ruhige Leute. Mit denen kann man ganz gut auskommen.“ (Brief 1/36).
Jetzt packt ihn die Abenteuerlust, und er möchte endlich auf Fahrt gehen, die Welt besichtigen: „Wenn ich hier auf der STEUBEN bleibe, werde ich viel Schönes zu sehen bekommen.“ (Brief 2/36). Ach ja – da war doch noch ein Problem zu erledigen. Er bittet die Eltern: „In der SA nehmt mir bitte noch einen Monat Urlaub. Alles andere später.“ (Brief 1/36)
Erste Seebeine – eine Saison auf dem Kreuzfahrtschiff
Es könnte mal losgehen, denkt Rudi in seiner dritten Woche auf dem Passagierdampfer ‚GENERAL VON STEUBEN‘, der immer noch in Bremerhaven liegt. Die beiden Uniformen sind angeschafft, das Sparkonto auf der Bank eingerichtet. Rudi wundert sich selbst über sein schmuckes Äußeres und über den gepflegten Umgang, der in der Assistentenmesse herrscht. In großer Uniform müssen sie zum Essen erscheinen, der weiße Kragen, der Schlips und auch die tägliche Rasur sind obligatorisch. „Wat es nit all gitt“ versucht er sich auf Niederdeutsch. First Class Bedienung durch Messejungen und eine sagenhafte Karriere „vom dreckigen Chauffeur zum Unteroffizier der Handelsmarine“ (Brief 2/36). Viel Geld wird er verdienen eines Tages, wenn es so weiter steil nach oben geht. Der Zweite Ingenieur, das hat er in Erfahrung gebracht, verdient immerhin 450 Mark im Monat. „Das ist Sache!“ (Brief 2/36), aber davon kann er vorerst nur träumen und muss vor allem viel lernen. Die guten Ratschläge an seinen kleinen Bruder lauten dann auch: Schön auf das Gymnasium gehen, zu Hause bleiben und dort etwas werden.
Besatzung auf dem Passagierdampfer ‚GENERAL VON STEUBEN‘
So ganz wohl ist ihm noch immer nicht hier im hohen Norden an Bord, bei aller Prahlerei. Viel zu tun gibt es: Die Feuerlöschventile, die Pumpen ausbauen, neue Ventile einschleifen, den Not-Dynamo bedienen – und dann ist es auch schon wieder Samstag. Es geht aber immer weiter mit den Reparaturen und Wartungsarbeiten. Die vierte und auch die fünfte Woche. Rudi bereitet sich auf seine erste Saison vor. Das mit seiner SA-Mitgliedschaft glaubt er jetzt endgültig geregelt zu haben: „An die SA habe ich ein Austrittsgesuch gerichtet. Es hat ja doch keinen Zweck mehr; denn Bordstürme gibt’s hier nicht und den Beitrag umsonst bezahlen kommt nicht in Frage.“ Bei so viel Prinzipientreue in Geldangelegenheiten, da bleibt einem die Spucke weg. Seine Eltern weist er an: „Wenn einer kommt von der SA und will die Uniform holen, gebt ihm nur ja nichts. Man kann nie wissen, wie man’s braucht.“ Wohl wahr – vor allem hat er das khakibraune Zeug ja aus eigener Tasche bezahlt. In die Kirche geht er sonntags auf Geheiß der Mutter, auch wenn das katholische Gotteshaus in dieser norddeutschen Diaspora ganz weit draußen liegt (Brief 3/36).
So entschlossen und gestärkt sticht dann Rudi in der zweiten Februarwoche in See zu einem Kurztrip über den Kanal nach London. Ob dann denn auch alles klappt zum Saisonauftakt, bevor die erste Runde der Mittelmeerreisen beginnt? Nach einer Woche inklusive Stadtbesichtigung London per Bus sind Schiff, Passagiere und Mannschaft wieder in Bremerhaven.
Seit der letzten Saison 1935 wird die ‚GENERAL VON STEUBEN‘ nur noch für Kreuzfahrten eingesetzt, nicht mehr im Liniendienst nach New York. Fast 500 Kreuzfahrtpassagiere werden von einer Mannschaft so um die 350 auf dem Mittelmeer hin und her geschippert.
Drei Ingenieur-Assistenten der ‚STEUBEN’
Wird denn Rudi als Binnenländer überhaupt nicht seekrank, das erste Mal so auf hoher See? Kein Wort darüber, man wird‘s oder auch nicht! In Lissabon ist Karneval, so wie in Köln, und das Wetter ist noch prächtig (Brief 4/36). Ganz im Gegensatz zu dem „schrecklichen Sturm“ (Brief 6/36) vor Gibraltar. Bei diesem Orkan in den Hafen zu kommen ist unmöglich. Nur ein Boot muss unbedingt zu Wasser gelassen werden, um die Post zu holen. Nicht umsonst betitelt sich die ‚STEUBEN‘ auf der Rückseite ihrer Bordkarte als „Doppelschrauben-Postdampfer“. Außer der Bootsbesatzung muss auch immer einer von der Maschine mitfahren, um den Motor zu bedienen. Warum sich gerade Rudi freiwillig meldet, ist unerfindlich. Von oben sehen die Wellen eben viel niedriger und beinahe harmlos aus. Er berichtet seinen Eltern: „Ich habe mich gemeldet. Aber das Boot war noch nicht unten, da hat es mich schon gereut, so was habe ich noch nicht erlebt. Haushohe Wellen warfen das Boot durcheinander…“ (Brief 6/36).
Die Passagiere und auch die Besatzung wohnen diesem Spektakel bei. Neugierig-mitleidig, aber auch sensationslüstern, schauen sie von der sicheren Reling aus. Jetzt hat Rudi eine ‚große Nummer‘ beim Ersten Offizier, der ihm 10 Zigarren als Anerkennung spendiert. Als Belohnung für „sein tapferes Verhalten vor dem Feinde“ – sprich der stürmischen See – darf er dann von Palermo aus an einem Auto-Ausflug der Passagiere nach Segesta teilnehmen und die antiken Tempel Siziliens bewundern. Wohl dem, der ‚Seebeine‘ hat!
Über Neapel geht es nach Genua, wo die erste Reise dann endet und die Passagiere das Schiff verlassen und mit dem Zug ins kalte Deutschland zurückfahren.
Viele Stationen und Landgänge – Lissabon, Madeira, Casablanca, Malaga, Sizilien, Neapel hat er gesehen und mitgemacht. Die Liegezeiten auf einem Kreuzfahrer sind eben ausführlich. Das alles das erste Mal – die weite Welt.
Will er die Eltern, den jüngeren Bruder lediglich trösten, wenn er immer ein Haar in der Suppe finden will? „Heiß ist es hier durchaus nicht. Es ist noch richtig Winter.“ (Brief 6/36) Die Fotos zeigen „zwei kölsche Seemänner“ und ihre aufgekrempelten Hemdärmel in Casablanca. Die heimwehgetränkte Perspektive verengt sich in der Ferne: „Rosenmontag waren wir in Madeira, dort war der Karneval ganz groß“ (Brief 6/36).
Dann kommt er zu einem krassen Urteil: „Um landschaftliche Schönheit braucht Ihr mich gar nicht zu beneiden, denn schön ist es hier gar nicht.“ (Brief 6/36) Das Heimweh überkommt ihn wieder, und der 22jährige möchte wieder das „Rudimännchen“ seines Vaters sein, der stets auf ihn aufgepasst hat (Brief 5/36). „Am schönsten ist es doch in Deutschland“ (Brief 6/36). Dieses wird er aber so schnell nicht wiedersehen, denn die zweite Reise geht ins östliche Mittelmeer, ebenso wie die dritte.
Abreise-, Ankunfthafen ist stets Genua oder auf der anderen Seite Venedig, wo die Passagiere mit Sonderzügen aus Deutschland eintreffen oder dorthin fahren. Ab RM 250, das absolute Sonderangebot – so werden die Lloyd-Reisen nach dem Süden auf Plakaten beworben (Dirk J. Peters, S. 52). Weit über dem durchschnittlichen Monatslohn. Eine märchenhafte Sonne beleuchtet die Karte des gesamten Mittelmeers. Eine Gruppe von romantisch gewandeten Arabern verleiht dem Ensemble die exotische Würze.
Insgesamt fünf dreiwöchige Mittelmeer-Fahrten wird Rudi in diesem Frühjahr 1936 absolvieren, bis er Anfang Juni nach Bremerhaven zurückkehren darf. Ausgereist war er am 18. Februar. Seekrankheit war nie ein Thema, aber ein „kleines Heimweh“ (Brief 5/36) hatte ihn nie verlassen während dieser vier Monate.
Literatur: Dirk J. Peters, Der Norddeutsche Lloyd, Von Bremen in die Welt“, „Global Player der Schifffahrtsgeschichte, Bremen 2007
Schulden beim Freilager – der Fotoapparat
„Wenn es geht, werde ich mir auf See, wenn alles zollfrei ist einen Fotoapparat kaufen“ (Brief 2/36). Das schreibt er an seine Eltern schon im Januar, bevor die erste Reise angetreten ist. Es wird schon etwas ganz Besonderes werden, das Jahr 1936 auf dem Kreuzfahrer. Nicht nur ins Mittelmeer im Frühjahr und im Herbst wird es gehen, sondern auch nach Skandinavien, durch die Ostsee und als Höhepunkt jeder Kreuzfahrt-Saison die traditionsreiche Lloyd-Veranstaltung: die Polarfahrt.
Das muss unbedingt auf den üblichen 6 x 8 Rollfilm gebannt werden – ein Herzenswunsch. Immerhin drei dieser Filme mit jeweils acht Aufnahmen wird Rudi von Februar bis zum Abschluss der Polarfahrt verknipsen. „Auf See Fotoapparat gekauft“ vermerkt er an einem Donnerstag, dem 20. Februar, in seinem Taschenkalender, als er durch die Biskaya kommend auf die portugiesische Küste nach Lissabon einschwenkt. Wie das, mitten auf See? „Hier“ – in Bremerhaven – „gibt es nämlich Freilager wo man alles billig ohne Zoll bekommt.“ (Brief 2/36)
Da erhält man bei Vorlage des Seefahrtsbuchs die Zigaretten etwa für die Hälfte. Aber unter anderem auch einen Fotoapparat, eine Billy Record. Die Standard-Kamera mit ausziehbarem Balg. 34 RM kostet dieser ab 1934 von Agfa herausgebrachte Apparat. Etwa die Hälfte seiner monatlichen Bezüge. Ein wenig billiger geht es denn doch! „Ich kann die Sachen vorher an Land bestellen, sie werden unter Verschluss an Bord gebracht, und auf hoher See bekomme ich sie ausgehändigt.“ (Brief 2/36) So auch den nagelneuen Fotoapparat und einige der roten 6x8 Rollfilme.
In Casablanca posieren er und seine Kollegen vor Palmen. „Zwei kölsche Seemänner“, so die launige Bildbeschriftung, oder als „3 von der Tankstelle“. Der populäre Film mit Heinz Rühmann war 1930 in den Kinos uraufgeführt worden. „Ein Freund, ein guter Freund…“ möchte man sofort losschmettern. Anschließend dann einen halben Film (vier Bilder) allein in Stockholm rund um den schwedischen Reichstag.
Stockholm – schwedischer Reichstag
Prachtvolles Gebäude in Bergen / Norwegen
Straßenszenen, die eigentlich wenig aussagekräftig sind. Aber einmal in Stockholm, das ist die Botschaft! Ich war hier und will mich zukünftig erinnern, das ist die Absicht!
Obwohl der Norddeutsche Lloyd die 16tägige Fahrt als ‚Ostsee-Fahrt‘ vermarktet, so schifft die ‚STEUBEN‘ dann doch zunächst von Bremerhaven in zwei Tagen nach Bergen/Norwegen am Atlantik, wo sie dann pünktlich am frühen Morgen um 6 Uhr eintrifft. Geschicktes Timing ist in der Kreuzschifffahrt das A und O, denn die Passagier-Touristen möchten den Tag in der alten Stadt mit der Hanse-Niederlassung verbringen. Gegen 20 Uhr verlässt das Schiff den Hafen, um wiederum am Morgen die malerische Landschaft des Eidfjords bei Tageslicht zu präsentieren. Nach einem Tag in Oslo geht es dann wirklich nach einem Aufenthalt in Kopenhagen in die Ostsee.
Sieben Tage hat das Schiff jetzt schon in Nordsee und Nordatlantik sozusagen verbummelt, wenn man die Ostsee sehen möchte. In 1½ Tagen pflügt der Dampfer dann nach Zoppot/Danzig, um pünktlich in der Frühe einzutreffen. Nachts wird gefahren, am Tag besichtigt. Der Ort gehört auf Grund der Bestimmungen des Versailler Vertrags seit 1920 zur ‚Freien Stadt Danzig‘. Das Gebiet wird vom Völkerbund verwaltet und gehört nicht zum Reich. Zwischen den Kriegen legen hier die Schiffe des Seedienstes an, die Ostpreußen über den ‚Polnischen Korridor‘ hinweg mit dem Deutschen Reich verbinden. Zoppot ist ein äußerst exklusives Seebad mit Kurhotels und kilometerlangem feinkörnigen Strand, Seebrücke, Pferderennbahn und was alles so zum Mondänen dazugehört.
Ein Spielcasino dazu ab 1919, um die Einnahmen des Freistaates sprudeln zu lassen. Casinotourismus heißt das Geschäft: „So ähnlich wie Bad Ems nur noch größer“, schreibt Rudi seiner Mutter, die selbst in Erholung weilt und der er 50 M per Postanweisung schickt. „Du wirst sie gut gebrauchen können.“ (Brief 13/36) Woher dieses generöse Geschenk? Hat Rudi das Geld etwa in der Spielbank von Zoppot gewonnen? Er gibt zwar zu, dort „70 Danziger Gulden“ in einer Stunde gewonnen, behauptet aber, diese sofort wieder verspielt zu haben. „…gewonnen und wieder verspielt. Also verloren habe ich nichts. Es hat nur allen viel Spaß gemacht.“
Überhaupt scheint vor und während seiner Ostsee-Fahrt Rudi in bester Sommerlaune zu sein. „Die ganze Zeit hatten wir das prachtvollste Wetter.“ (Brief 11/36) Er malt seine Zukunft in den prächtigsten Farben – geradezu märchenhaft: „Wenn ich mal Schiffsingenieur bin, dann werde ich sparen, dass Mutter mal mitfahren kann. Die Ostseereise dauert 16 Tage und kostet rund 400 M.“ (Brief 11/36) Nicht gerade wenig, insbesondere, wenn das für seine „beiden alten Herrschaften“ sich auf das Doppelte summieren würde. „Das wäre doch zu schön …“ Ein Sommermärchen fürwahr, als Passagiere auf dem Traumschiff. Nur dass der Spaß für die Eltern etwa vier Monatsgehälter eines Durchschnittsverdieners beträgt. Bei aller mittsommerlichen Euphorie – das gibt zu denken.
An Land ist Rudi doch notorisch klamm: „Das Allerschönste aber ist, dass ich jetzt völlig blank bin.“ (Brief 7/36). Bei seinen Abrechnungen bekommt er nichts mehr ausbezahlt, weil er Schulden beim Freilager hatte, – u. a. der Fotoapparat und natürlich Zigaretten – erhöhte Heimatzahlungen geleistet hatte und natürlich die ewigen gesetzlichen Abgaben: „Ich will Euch mal eine Lohntüte mitschicken, da könnt Ihr mal sehen, was ich für hohe Abzüge habe“ und beklagt sich dann im Folgenden bitterlich und irgendwie überrascht bei seinen Eltern: „Wenn ich den Friseur und den Wäscher und die Post bezahlt hatte, war das Geld alle.“ Dann fährt er fort, nachdem er so auf die Tränendrüsen gedrückt hatte, und kommt zur Sache: „Vielleicht könnt Ihr mir mit ein paar Mark aushelfen. Ich kann ja nicht mal am Sonntag essen gehen…“ (Brief 7/36) Na ja – die Mark, die R-Mark, entspräche nach heutiger Kaufkraft € 4,51 (Wikipedia: Reichsmark).
Aber wie gesagt: „Das Wetter ist einfach prachtvoll“ in jenem Olympia-Sommer 1936. Es geht bergauf. Die Aufrüstung fegt den Arbeitsmarkt leer. Gute Zeiten für Ingenieur-Assistenten. „Der Lloyd weiß gar nicht mehr, wo er seine Leute hernehmen soll. Das ist natürlich für uns sehr günstig. Vielleicht bekommen wir dadurch noch mal mehr Gehalt.“ (Brief 9/36)
Und zum Schluss das „Allerschönste“, eine Fahrt durch den Nord-Ostsee-Kanal. 8 ½ Stunden braucht das Schiff von Kiel-Holtenau nach Brunsbüttel. Und wieder bewahrheitet sich für Rudi, dass es in Deutschland am schönsten sei: „Rechts und links des Kanals sind Felder und riesige Weiden mit den fetten holsteinischen Kühen. Es war einfach herrlich.“ (Brief 13/36)
Drei Polarforscher in Spitzbergen
Ein Kollege hatte Anfang des Jahres mächtig geflucht, als ihm mitgeteilt wurde, dass er als Ingenieur-Assistent dem Flaggschiff des Lloyd, der ‚BREMEN‘, zugeteilt worden war. Warum das? „…auf den Schnelldampfern fährt niemand gern. Es ist immer dasselbe, Bremen – New York und zurück.“ (Brief 3/36) Immer nur den Nordatlantik, wie öd! Und die Liegezeiten in New York sind kurz genug. Mit der ‚GENERAL VON STEUBEN‘, da hat Rudi schon einen Trumpf gezogen: ein Kreuzfahrer. Besichtigung der schönsten Orte rund um das Mittelmeer mit den klangvollen Namen.
Im Hochsommer in die entgegengesetzte Richtung, nach Norden. Höhepunkt der Kreuzfahrtsaison die sündhaft teure ‚Polarfahrt‘ des Lloyd. Etwas für Leute mit reichlich Einkommen. Da wird dem Normalverdiener ganz schwindlig. Die rund 350 Mann der Besatzung sind sozusagen unerlässliche Zaungäste, notwendig zur Bedienung des Schiffs und für den übrigen Service. So ganz nebenbei eine exklusive Reise bis fast zum Nordpol und die Heuer obendrauf. Gewiss, Maschinenwache gehen auf See ist angesagt, aber das ist ja das reinste Vergnügen gegenüber den Mittelmeerfahrten vor Afrika im Sommer. „In der Maschine hatten wir nur 50 Grad“, und ein flotter Spruch gegenüber seinem ‚kleinen‘ Bruder Karlheinz, den er liebevoll als ‚Heinzelmännchen‘ anredet, folgt auf dem Fuß: „Da war man noch zu faul umzufallen, sonst wären wir alle eingeschlafen.“ (Brief 10/36)
Auf der Polar-Kreuzfahrt im Juli/August des Sommers 1936 hingegen herrschen wohltemperierte Verhältnisse. Es ist schnuckelig warm im Maschinenraum, im Gegensatz zur windigen Nordsee vor Edinburgh.
Eisenbahnbrücke über den Firth of Forth
Passagiere und Besatzung bestaunen die bizarr geformte Eisenbahnbrücke über den Firth of Forth und fotografieren auch eifrig. Weiter geht es auf den Nordatlantik hinaus nach Kirkwall auf den Orkneys und Thorshaven auf den Färöer, winzige Flecken im kühlen Nordmeer auf dem halben Weg nach Island. Der Archipel der Westmänner-Inseln taucht etwa 30 km vorher auf, ein seltsamer Name, der daran erinnert, dass ihre frühen norwegischen Besiedler Sklavenjäger waren und ihre Opfer auf den britischen Inseln einfingen. Eben die Westmänner im Gegensatz zu den Nordmännern.
Eine Gegend, bestaunt, bewundert und auch zuweilen gefürchtet wegen ihrer aktiven Lava speienden Vulkane. Nach Reykjavik, dem letzten städtischen Zivilisationsposten auf Island, den ganzen Weg an der ca. 650 km nordöstlich gelegenen Insel Jan Mayen vorbei. Gletscher und Vulkane in trauter Eintracht, Feuer und Eis, die gesamte Region ein Hotspot des Vulkanismus. Hier herrscht im mildesten Monat August eine Mitteltemperatur von 5° Celsius.
Und weiter in nördlicher Richtung auf die Inseln von Spitzbergen zu. Von hier aus sind es lediglich 1.000 km bis zum Nordpol. Die letzten ständig besiedelten Flecken im Grönlandmeer. Kohle wird in Ny-Alesund gefördert, einem der beiden zu nennenden Orte. In der Königsbucht geht das Schiff vor Anker, und schaulustige Passagiere und Crewmitglieder betreten den lavaschwarzen Geröllstrand. Dies ist der Ausgangspunkt für zahlreiche Nordpol-Expeditionen. In den 1920ern soll endlich der Nordpol von Spitzbergen nach Alaska im Flug erobert werden. 1909, so behauptete Robert Peary, habe er den Nordpol erreicht, aber das glaubte fast keiner.
Ankunft in Spitzbergen
Jetzt versucht Roald Amundsen, der Bezwinger des Südpols, auch der Erste am Nordpol zu sein. Er scheitert aber mit seiner Dornier-Flugboot-Expedition 1925. Dann bittet er den Luftschiff-Pionier Umberto Nobile um Hilfe.
Fußspuren auf dem Gletscher sprechen eine deutliche Sprache: Schneematsch
Als ‚N 1-Norge‘ wird das halbstarre Luftschiff, in Italien erbaut, auf der Nordpol-Überquerung am 11./12. Mai 1926 eingesetzt. Gesteuert von einer 16köpfigen Besatzung, darunter Nobile und Amundsen sowie Lincoln Ellsworth, ein US-amerikanischer Millionär, der Hauptfinanzier der Expedition ist. Eine dramatische Fahrt, gebeutelt durch die Wetterkapriolen der Arktis. Sie waren die ersten, die zweifelsfrei den Nordpol erreichten. Ein historisches Datum in der Chronik der Entdeckungen (vgl. Wikipedia: ‚Norge‘, ‚Umberto Nobile‘).
Da sitzt Rudi zehn Jahre später vor den Überresten von Nobiles Luftschiffhalle. Die seitliche Holzbeplankung der nach oben offenen Konstruktion ist verschwunden, aber die halbrunden Metallbögen zu jeder Seite sind noch vorhanden.
Der Zweck dieses Hangars war es, das Luftschiff vor den zerstörerischen Stürmen der Polarregion zu schützen. Der Bug des fragilen Gefährts war an einem Ankermast vertäut. Die ganze Geschichte der ‚Norge‘ und auch die der ‚Italia‘ zwei Jahre später im Mai 1928 ist den Ingenieur-Assistenten wohl vertraut. Das Scheitern der zweiten Expedition und die anschließenden dramatischen Rettungsbemühungen, bei denen Amundsen unter ungeklärten Umständen ums Leben kam, waren Titelstorys der Presse über Wochen. 1929 war gar ein Hörspiel im deutschen Rundfunk ‚SOS … rao rao … Foyn – „Krassin rettet Italia“ ausgestrahlt worden. Eine rege Buchproduktion hatte ebenfalls eingesetzt. Titel wie ‚Sieben Wochen auf der Eisscholle‘ oder ‚SOS in der Arktis – die Rettungsexpedition der ‚Krassin‘ legen Zeugnis davon ab (vgl. Wikipedia: ‚Nobile‘).
Weiter geht’s zur Magdalenenbucht, dem Highlight einer jeden Polarfahrt. Gletscher ragen von allen Seiten bis ins Meer. Wie die ‚3 von der Tankstelle‘ vor wenigen Monaten in Casablanca, stellen sich nun die ‚3 Polarforscher‘ in Pose. Sie kamen zwar erst um 18 Uhr dort an, aber das steht einem Landausflug nicht im Wege. Hell ist es auch noch um Mitternacht, als das Schiff wieder ablegt. Die Temperaturen sind Ende Juli/Anfang August recht angenehm über Null. Die Fußspuren auf dem Gletscher sprechen eine deutliche Sprache: Schneematsch.
Dann geht es nur noch nach Süden. In 1 ½ Tagen die 700 km bis zum Nordkap. Für die einen der letzte Außenposten Europas, für den von Norden Kommenden das Einfallstor zur Zivilisation. Wie die Postdampfer der legendären ‚Hurtigruten‘ fährt die ‚GENERAL VON STEUBEN‘ in einer achttägigen Fahrt alle Sehenswürdigkeiten der nord-norwegischen Küste an. Bis weit in den Süden, nach Bergen. Da sind sie schon im Machtbereich der mittelalterlichen Hanse. Da kann dann Bremen und Bremerhaven nicht mehr weit sein. Und schon winkt wieder das blaue Mittelmeer.
Innerhalb von 14 Tagen wird Rudi in der Altstadt von Casablanca (25.08.) und Algier (28.08.) stehen. Er schaut den verhüllten Einheimischen beim Einkaufen im Basar mit der Kamera über die Schulter. Im Oktober, auf seiner abschließenden Sommer/Herbstreise ins Mittelmeer, finden sich Spuren von Rudi dann wieder auf einem Ausflug nach Tétouan (Marokko), vor der Sommerresidenz des Königs in den Bergen.
Casablanca Markt
Die gemischte Passagier/Crew-Ausflugsgruppe steht vor dem Haupttor in Busstärke. Einheimische Guides begleiten die in Anzüge gewandeten Deutschen. Zum Teil tragen sie Dreiteiler mit Weste. Hat nicht einer von ihnen sogar das Eiserne Kreuz am schwarzen Rock?
Rudi jedenfalls, der Weitgefahrene, außen links, an Körpergröße und Brille zu identifizieren, trägt lässig den hellen Trenchcoat über die rechte Schulter geschlagen. Wohlan – ein Mann von Welt.
Ausflug nach Tétouan (Marokko)
Sonderfahrt Spanien in der Nachsaison
Einmal ist auch die längste Saison eines Kreuzfahrers zu Ende. Dann, wenn es beginnt zu regnen am Mittelmeer. Insgesamt zwölf Fahrten hat Rudi in diesem Jahr gemacht; angefangen bei der Stippvisite in London, den fünf Mittelmeer-Fahrten im Frühling und Frühsommer, über Ostsee- und Polarfahrt bis hin zu den vier sogenannten Sommerfahrten, die erst im Spätherbst endeten. Ende Oktober liegt das Schiff über Winter in Bremerhaven – es ‚liegt auf‘ bis zur nächsten Saison 1937.
1936 war für Rudi persönlich ein spannendes und erlebnisreiches Jahr. Aber lebte Rudi auf einer Insel, pardon, einem Schiff, der ewig Seligen? In den zahlreichen Briefen an seine Eltern spiegelt nichts die Dramatik der politischen Ereignisse wider. Gewiss, es gibt weniger Arbeitslose in Deutschland und mehr Arbeitsplätze an Land, das nimmt Rudi mit Genugtuung zur Kenntnis: „Die meisten Leute laufen weg und arbeiten an Land. Als die ‚COLUMBUS’ (ein Schnelldampfer im Liniendienst nach New York) gestern hier ankam, gingen von der Maschine allein 49 Mann weg. Der Lloyd weiß gar nicht mehr, wo er seine Leute hernehmen soll.“ (Brief 9/36) Er freut sich über seine persönlichen Karriereaussichten. Jedoch kein Wort, keine Erwähnung zu dem Einmarsch in das entmilitarisierte Rheinland. Am 7. März 1936, am Samstag vor dem ‚Heldengedenktag‘, treffen in Köln Deutz die ersten Einheiten der Wehrmacht ein. Die Flak mit Geschützen und Fahrzeugen. Die Kölner sind begeistert und drängen sich auf der Hohenzollernbrücke, jubeln den Marschierenden zu und werfen den Soldaten Blumen und kleine Geschenke in die Fahrzeuge (vgl. Adolf Klein, Köln im Dritten Reich, S. 213-217).