Als der Fußball
modern wurde
Für Fabian und die Spieler vom FC Bowerham Juniors
eISBN 978-3-86789-582-8
1. Auflage
© 2014 by BEBUG mbH / Rotbuch Verlag, Berlin
Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin
Umschlagabbildung: picture-alliance / Sven Simon
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10178 Berlin
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Kapitel 1 Einleitung
Kapitel 2 WM und Politik
Hochrangige Gäste
Lateinamerika und Afrika
Kapitel 3 Vergabebedingungen und Kontexte
Vergabe an den DFB
Bundesligakrise und Bundesligaskandal
Konkurrenz mit München ’72
Hermann Neuberger
Kapitel 4 Organisation und FIFA-Politik
Die Organisation der WM
Sicherheitsvorkehrungen
Wahl João Havelanges zum FIFA-Präsidenten
Kapitel 5 Das deutsch-deutsche Duell
Der Stellenwert der DDR-Fußballnationalmannschaft
Der sportpolitische Kontext
Die DDR-Touristendelegation
Deutsch-deutsche Reaktionen
Aktion »Leder«
Kapitel 6 Akteure und nationale Identität
Mündige und reiche Profis, Stars und Prominente
Die Holländer
WM 1974 und deutsche nationale Identität
Kapitel 7 Fazit
Anhang Abkürzungen
Archive
Literatur und Filme
Whether the historians like it or not, football
cannot be taken out of the history of the modern
world and the history of the modern world is
unevenly, erratically, but indisputably etched
into the history of football.
David Goldblatt, The Ball is Round
Fußball ist unser Leben, / denn König Fußball
regiert die Welt. / Wir kämpfen und geben alles, /
bis dann ein Tor nach dem andern fällt.
Ja, einer für alle, alle für einen. / Wir halten
fest zusammen, / und ist der Sieg dann unser, /
sind Freud’ und Ehr für uns alle bestellt.
Diese Zeilen sangen die Nationalspieler um Franz Beckenbauer aus Anlass der zehnten Fußballweltmeisterschaft, der ersten, die in Deutschland ausgetragen wurde. Der vom ehemaligen Fußballer Jack White im Polkarhythmus komponierte Schlager stürmte damals die deutsche Hitparade. Der Fußball regierte die Welt zwar noch nicht im gleichen Maße wie heute, der Verweis auf die Freude im Liedtext stimmte aber ganz sicher. Den Spielern ging es nämlich wie allen Athleten in erster Linie um den Spaß an ihrem Sport. Die Vorstellung, dass die Mannschaft fest zusammenhielte und für die nationale Ehre spielte, passte allerdings 1974 schon nicht mehr in die Zeit. Man kann zwar davon ausgehen, dass solche Worte den etwas altbackenen Funktionären des Deutschen Fußball-Bunds (DFB) um Hermann Neuberger, den Cheforganisator der WM 1974, gefielen. Aber die Hauptaufgabe des munteren Songs war es – das war auch ihnen klar –, Geld für das WM-Organisationskomitee (WM-OK) zu verdienen (Körner 2006, S. 180). Mit Vicky Leandros’ Hit aus demselben Jahr, »Theo, wir fahr’n nach Lodz«, konnte man zwar nicht mithalten, aber mit fast einer halben Million verkauften Exemplaren hätte es beinahe zu einer Goldenen Schallplatte gereicht.
Der WM-Song von 1974 verweist auf eines der Hauptthemen dieses Buches, die zunehmende Kommerzialisierung des Fußballs in den 1960er und 70er Jahren und seinen Aufstieg zu einem wichtigen Teil der Unterhaltungsindustrie. Der Fußball wurde in der Tat modern. Nachdem Spieler wie Beckenbauer und Gerd Müller schon in den Sechzigern Schlager eingespielt hatten, war es 1974 bezeichnenderweise das erste Mal, dass die deutsche Fußballnationalmannschaft ein WM-Lied aufnahm. Aber auch andere damit zusammenhängende und mit Blick auf die Zukunft für den Fußball und sein wichtigstes Turnier bedeutende Aspekte lassen sich anhand der WM 1974 gut beobachten: etwa die zunehmende Rolle, die der Fußball für das Fernsehen spielte. Wer 1974 keine Lust auf den Besuch eines der Turnierstadien in Hamburg, Westberlin, Hannover, Gelsenkirchen, Dortmund, Düsseldorf, Frankfurt, Stuttgart und München hatte, konnte die WM ausführlich wechselweise in der ARD oder im ZDF sowie in den dritten Programmen verfolgen. Nie zuvor wurde so ausgiebig live und in Zusammenfassungen über ein Sportereignis berichtet, nicht einmal während der Olympischen Spiele 1972. Seit 1974 nahm dann die Sendezeit für den Fußball auch auf Kosten anderer Sportarten beständig zu, eine Entwicklung, die durch das Privatfernsehen seit den 1980er Jahren noch beschleunigt wurde.
Im Umkehrschluss steht die WM 1974 zudem für die steigende Bedeutung, die das Fernsehen für den Fußball spielte, sowie die immer größere Rolle, die Werbung, Sponsoring und Merchandising einnahmen. Dem Verkauf der Übertragungsrechte für Liga-, Pokal- und Länderspiele durch den DFB und bei der WM durch die FIFA kam seitdem eine enorme und stets wachsende wirtschaftliche Bedeutung zu. Das Gleiche gilt für Werbung und Sponsoring. Zwar verfügte der DFB 1974 noch nicht über einen Sponsorenpool wie heute, aber eine Firma wie Adidas war schon damals eng mit dem Verband verbunden. Und das Merchandising mittels einer von der Nationalmannschaft aufgenommenen Polydor-Schallplatte oder der WM-Maskottchen Tip und Tap spülte in der Tat bereits 1974 viel Geld in die Kassen des DFB.
Auch die Wahl eines smarten Geschäftsmanns zum Präsidenten des Fußballweltverbands FIFA am Vorabend der WM 1974 ist hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Kommerzialisierung des Fußballs kaum zu überschätzen. Während fast eines Vierteljahrhunderts an der Spitze der FIFA gelang es dem brasilianischen Anwalt und Transportunternehmer João Havelange, das Männer-WM-Turnier mittels Fernsehen und Sponsoren zum globalen »Mega-Event« (Roche 2000) und lukrativsten Sportereignis überhaupt zu machen (s. Kap. 4). Selbst die Olympischen Spiele müssen da inzwischen hintanstehen. Sein Nachfolger Sepp Blatter verfolgt bis heute die gleiche Strategie der Globalisierung und Kommerzialisierung. Die FIFA hat heute 209 Mitglieder, mehr als die Vereinten Nationen. Sie ist in den letzten 40 Jahren steinreich geworden und verfügte Anfang 2013 über Kapitalreserven von etwa 1,4 Milliarden US-Dollar (FIFA 2013). Und dies, obgleich sie einen Großteil ihres durch die WM erzielten Gewinnes an ihre Mitgliedsverbände ausschüttet sowie eine ganze Reihe von sport- und entwicklungspolitischen Initiativen und weiteren Wettbewerben finanziert – von der WM der Computerspieler über den FIFA Interactive World Cup bis zur immer populärer werdenden Frauen-WM. Allerdings ist der Weltverband in den letzten 40 Jahren auch immer unbeliebter und umstrittener geworden, nicht nur in England und Europa, von wo aus der Fußball seit dem 19. Jahrhundert seinen globalen Siegeszug antrat, sondern – das Beispiel der WM 2014 in Brasilien zeigt es – zunehmend auch in Schwellen- und Entwicklungsländern.
Das große Geld machte seit den Siebzigern auch nicht vor den Spielern in der Bundesliga halt, denn 1972 fielen dort die letzten Gehaltsschranken. Zwar war im deutschen Fußball, wie man von Nils Havemann (2013) und Ronald Reng (2013) weiß, schon seit den 1950er Jahren unter der Hand viel Bares geflossen, jedoch stieg in den Siebzigern im Zuge der WM eine ganze Generation von Spielern zu Großverdienern auf. Und der Fußball etablierte sich zudem als Berufsfeld, das auch nach dem Ende der aktiven Karriere gute Einkünfte und Beschäftigungsmöglichkeiten bot. Die meisten Weltmeister von 1974, Franz Beckenbauer, Uli Hoeneß, Paul Breitner, Sepp Maier, Jupp Heynckes, Berti Vogts, Günter Netzer, Rainer Bonhof, Bernd Hölzenbein und Wolfgang Overath, sind heute mindestens Millionäre und spielen auch 40 Jahre nach dem Turnier noch herausragende Rollen im deutschen und internationalen Fußball. Sie wirken (oder wirkten bis vor kurzem) als Manager, Trainer, Vereinspräsidenten, Verbandsfunktionäre, Rechtehändler und TV-Kommentatoren, wenn nicht als Multitalent und »Lichtgestalt« wie »Kaiser« Franz Beckenbauer, der Kapitän der siegreichen WM-Elf.
Zugleich erlebte in den 1970er Jahren der Typus des mündigen Fußballsportlers seinen Durchbruch. In »Rebellen« (Böttiger 1994) wie Netzer, Breitner und anderen bildeten sich die Liberalisierungs- und Demokratisierungstendenzen der Bundesrepublik der 1960er Jahre ab, die zugleich vorbildhaft auf die Gesellschaft zurückwirkten (s. Kap. 6). Ohne diese Spielerpersönlichkeiten wäre das selbstbewusste Auftreten der Generation der heutigen Profis und Nationalspieler in der Öffentlichkeit kaum denkbar.
Das WM-Turnier 1974 war auch in anderer Hinsicht stilbildend. Nach dem Schock des Terroranschlags auf die israelische Mannschaft während der Olympischen Spiele 1972 war es das erste überhaupt, das von umfassenden Sicherheitsmaßnahmen begleitet war. Zumindest bis zur WM 1998 in Frankreich orientierte man sich an 1974. Seit dem 11. September 2001 bewegt man sich wiederum in ganz neuen Dimensionen (s. Kap. 4). Überhaupt befand sich die WM in einem vielfältigen Abhängigkeits- und Spannungsverhältnis zu den Olympischen Spielen in München (s. Kap. 3). In der Erinnerung der meisten Zeitgenossen fließen die beiden Großereignisse nahezu nahtlos ineinander. Allerdings trügt die Erinnerung mitunter. Zwar schloss die WM 1974 an die Erfahrungen an, die man mit Olympia 1972 gemacht hatte, aber in vielem war sie das Gegenstück zu den Spielen in München. War Olympia von sehr viel Idealismus begleitet und diente unter anderem als symbolische Bestätigung der gleichberechtigten Rückkehr Deutschlands in die internationale Gemeinschaft, belud man die Fußball-WM in der Bundesrepublik, anders als in Lateinamerika, über den Sport hinaus mit wenig Bedeutung (s. Kap. 2).
Dem gewandelten Zeitgeist folgend, traten an die Stelle der optimistischen Münchner Visionen von Heiterkeit und Völkerfreundschaft nun Sachlichkeit und Nüchternheit. Der »kurze Sommer der konkreten Utopie« (Ruck 2000) der Sechziger mit seinem optimistischen Zukunftsglauben und seiner Planungs- und Modernisierungseuphorie war im Weltmeisterschaftsjahr definitiv zu Ende. Die Bundesrepublik war mit der Ölkrise von 1973 in eine neue historische Epoche »nach dem Boom« (Doering-Manteuffel und Raphael 2008) eingetreten. Ab jetzt hatte man es mit deutlich niedrigeren Wachstumsraten, starken Konjunkturschwankungen und struktureller Arbeitslosigkeit zu tun. 1974 verdoppelte sich die Arbeitslosigkeit gegenüber dem Vorjahr auf 582 000 Menschen ohne Job und wurde seit den 1930er Jahren erstmals wieder zu einem bedeutenden Problem für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in der Bundesrepublik. Die Zeit des stabilen Wachstums und der Vollbeschäftigung war vorbei. Zur Charakterisierung der jetzt beginnenden Post-Boom-Epoche sprechen Historiker von einer Zeit der »großen Ernüchterung« (Schanetzky 2007) und dem »Ende der Zuversicht« (Jarausch 2008). Die WM spiegelte diesen nüchternen, skeptischen Blick auf die Dinge wider.
Dementsprechend wurde der WM seitens der bundesdeutschen Politik auch kaum Relevanz für das Deutschlandbild im Ausland beigemessen – außer freilich, dass man ein Debakel wie die gescheiterte Geiselbefreiung unter allen Umständen verhindern wollte. Dies führte dazu, dass man mehr Mittel für Sicherheitsmaßnahmen aufwandte und sich auch nicht scheute, durch sichtbare Polizeipräsenz das 1972 intendierte Bild vom friedlichen und gewaltfreien Deutschland zu konterkarieren (Pfeil 2006, S. 420). Anders als die Olympischen Spiele stand die WM trotz der damit verbundenen Mehrausgaben aber unter dem Vorzeichen der Sparsamkeit. Die Baumaßnahmen an allen WM-Stadien zusammengenommen kosteten nur einen Bruchteil der Summe, die die Olympiabauten verschlungen hatten. Wo München, das selbst auch WM-Spielort war, durch die olympische Architektur beeindruckte, strahlten die übrigen Stadien vor allem Sachlichkeit und Funktionalität aus.
Andere Unterschiede stechen ebenfalls ins Auge. Dem erstmaligen Auftreten einer DDR-Mannschaft in München 1972 unter eigener Flagge und mit eigener Hymne hatte man nach langen Jahren der deutsch-deutschen Querelen mit Spannung entgegengesehen. Er wurde zum symbolischen Ausdruck des Durchbruchs der Entspannungspolitik der sozialliberalen Koalition unter Kanzler Willy Brandt. Im Vergleich dazu umgab das legendäre Spiel zwischen DDR und Bundesrepublik während der ersten Finalrunde der WM trotz seiner politischen Brisanz fast schon so etwas wie Normalität (s. Kap. 5). Die Spieler der DDR-Elf schienen sich von ihren Kollegen im Westen kaum zu unterscheiden und wurden in der Bundesrepublik mit großer Sympathie aufgenommen. Auch in anderer Hinsicht war die WM politisch kaum bedeutsam. An die internationale Ausrichtung der Münchner Spiele anknüpfend und diese fortsetzend, spielte das Turnier keine Rolle für die Stärkung des deutschen Nationalgefühls. Als man im Finale die Holländer schlug, gab es in der Bundesrepublik anders als in den Niederlanden keine großen nationalen Gefühlsausbrüche. An die Welle der nationalen Euphorie anlässlich des »Wunders von Bern« 1954 erinnerte nichts, und auch vom »Patriotismus light« des »Sommermärchens« von 2006 war man noch meilenweit entfernt (s. Kap. 6).
Wie die nachfolgenden Ausführungen zur WM 1974 verdeutlichen, sind die Verbindungen von Geschichte und Sportgeschichte vielfältig und aufschlussreich. Daran, dass die Sportgeschichte inzwischen ein »legitimes Kind der Geschichtswissenschaft« ist, hat der Fußball einen großen Anteil (Pyta 2010, S. 380). Dies gilt nicht nur, weil der Autor dieser Zeilen wie die anderen gegenwärtigen deutschen Sporthistoriker ein »Kind der Bundesliga« ist und in einer Epoche der stets expandierenden Sportberichterstattung aufgewachsen ist, sondern auch deshalb, weil sich anhand der Geschichte des Fußballs und seines wichtigsten Turniers auch andere Veränderungen in der modernen Welt gut darstellen lassen. So soll dieses Buch zeigen, dass David Goldblatt recht hat mit seiner Beobachtung, dass die Geschichte der modernen Welt sich in die Geschichte des Fußballs eingeschrieben hat, mitunter sprunghaft und ungleichmäßig, aber immer klar erkennbar. Ebenso stimmt umgekehrt, dass man den Fußball nicht aus der Geschichte der modernen Welt herauslösen kann.
Auf nationaler Ebene war die politische Situation in der Bundesrepublik im Frühjahr 1974 vor allem durch den Rücktritt von Bundeskanzler Willy Brandt geprägt. Seines Amtes schon seit geraumer Zeit müde, trat Brandt am 7. Mai zurück, weil er glaubte, infolge der Affäre um den vom DDR-Auslandsgeheimdienst im Bundeskanzleramt platzierten Spion Günter Guillaume aus persönlichen Gründen erpressbar geworden zu sein. Auch wenn er noch im März 1974 gemeinsam mit seinem damals zwölfjährigen Sohn, dem heutigen Schauspieler Matthias Brandt, ins »Aktuelle Sportstudio« kam, interessierte sich der Kanzler nicht sonderlich für Fußball und verstand auch nicht viel davon (11 FREUNDE, 5/2012). Sein Nachfolger Helmut Schmidt im Übrigen auch nicht.
Bedeutsam für die WM war der Kanzlerwechsel in zweifacher Hinsicht. Zum einen wurde die Begegnung zwischen den beiden deutschen Staaten in der Gruppenphase in der Wahrnehmung des Publikums nun nicht mehr von der Guillaume-Affäre überschattet, zum anderen passte der Wechsel vom politischen Visionär und Idealisten Brandt zum Pragmatiker und Krisenmanager Schmidt gut zum allgemeinen Stimmungswandel in der Bundesrepublik. Aber nicht nur der Kanzler wurde ausgetauscht, sondern turnusgemäß auch der Bundespräsident, immerhin Schirmherr des WM-Turniers. Auch dies verweist auf den bereits erwähnten vergleichsweise geringen politischen Stellenwert der WM in der Bundesrepublik. Es ergab sich die kuriose Situation, dass Bundespräsident Gustav Heinemann die WM als Staatsoberhaupt am 13. Juni eröffnete, der WM-Pokal an den Kapitän der bundesdeutschen Mannschaft Franz Beckenbauer drei Wochen später jedoch von Walter Scheel übergeben wurde.
Der in jenen Jahren neben Willy Brandt auch in den Medien der Bundesrepublik am stärksten präsente Politiker war Henry Kissinger, heute eine der umstrittensten Persönlichkeiten des Kalten Kriegs. Als US-Außenminister war Kissinger permanent unterwegs und stellte im Rahmen der »Shuttle-Diplomatie« die Weichen für den globalen politischen Dialog und die Entspannungspolitik. Der Friedensnobelpreisträger von 1973, in Franken geboren und während der NS-Zeit als Kind jüdischer Eltern in die Vereinigten Staaten emigriert, war Fan der SpVgg Fürth, einer der herausragenden deutschen Mannschaften der Zwischenkriegszeit. Als großer Fußballliebhaber ließ sich der »Popstar der Politik« während seiner Jahre im State Department jeden Samstag die Bundesligaergebnisse von der Deutschen Botschaft in Washington durchgeben. Obgleich ein enormes Arbeitspensum abspulend, nahm der Lebemann Kissinger jede sich ihm bietende Gelegenheit wahr, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden, so auch bei der WM 1974. Die Arbeit waren in der Hauptsache Gespräche mit seinem westdeutschen Gegenüber Hans-Dietrich Genscher, der vom Innenressort als Nachfolger Scheels ins Außenamt gewechselt war. Am 3. Juli besuchte Kissinger das für den Einzug ins Finale entscheidende Spiel zwischen den Niederlanden und Brasilien in der zweiten Finalrunde in Dortmund, und am darauffolgenden Wochenende war er Gast beim Spiel um den dritten Platz und beim Finale.
Wie die bereits vor der Veröffentlichung durch WikiLeaks 2011 nicht mehr geheimen Botschaftsdepeschen des US-Außenministeriums zeigen, ging es in den Gesprächen mit Genscher um eine ganze Palette von Politikfeldern: von der Energiepolitik über Kissingers Anstrengungen um den Frieden in Nahost nach dem Jom-Kippur-Krieg zwischen Israel und den arabischen Staaten im Oktober 1973 bis hin zur Entspannungspolitik mit dem Ostblock. Schließlich fiel das Jahr 1974 in die Hochphase der Entspannung zwischen den globalen Machtblöcken. Kurz vor der Weltmeisterschaft und nicht lange vor seinem Rücktritt wegen des Watergate-Skandals im August 1974 kam Richard Nixon mit Leonid Breschnew zu einem Gipfeltreffen im Kreml und auf der Krim zusammen. Zugleich liefen bei der NASA und der sowjetischen Raumfahrtbehörde die Planungen für eine weitere, ebenfalls nicht fußballerische Begegnung auf Hochtouren: das im Juli 1975 stattfindende Rendezvous im All zwischen Apollo- und Sojus-Kapseln.
Inzwischen aus dem Amt geschieden, hatte Kissinger vier Jahre später bei der WM 1978 wesentlich mehr Zeit, um Spiele zu besuchen. Als Ehrengast der argentinischen Militärjunta trug er entscheidend dazu bei, den Generälen einen internationalen Propagandaerfolg und einen kurzen Moment der Legitimität im eigenen Land zu verschaffen. Angeblich soll er auch gemeinsam mit Juntachef General Jorge Videla die Kabine der Peruaner beim verschobenen Spiel in der zweiten Finalrunde zwischen Argentinien und Peru (6:0) besucht haben, das die Argentinier unbedingt mit vier Toren Unterschied gewinnen mussten, um ins Finale zu kommen (Kistner 2012, S. 322 f.). Als Kolumbien, das 1974 als Ausrichterland der WM 1986 ausgewählt worden war, aufgrund einer schweren Wirtschaftskrise 1982 seinen Verzicht erklären musste, bewarb sich der US-Fußballverband mit tatkräftiger Unterstützung Kissingers sowie auch der früheren Spieler von New York Cosmos Pelé und Franz Beckenbauer um die Ausrichtung. Dazu kam es jedoch nicht. Die WM 1986 ging, wie schon das Turnier von 1970, an Mexiko, während sich die USA noch bis 1994 gedulden mussten. In den Vereinigten Staaten konnte Kissinger mangels Popularität des Fußballs aus seinem Besuch von WM-Spielen kein politisches Kapital ziehen. Als ernannter und daher nicht dem Wählerwillen ausgesetzter Minister musste er das allerdings auch nicht. Die North American Soccer League (NASL), in der im Laufe der Siebziger auch prominente europäische Profis und Spieler bei der WM 1974 wie Gerd Müller, der Holländer Johan Cruyff und der Italiener Giorgio Chinaglia eine neue Heimat finden sollten, war erst 1968 gegründet worden. Und auch im Jugendbereich war Fußball in den 1970er Jahren in den USA im Gegensatz zu heute nach wie vor Randsportart.
Nimmt man Kissinger aus, fällt auf, wie wenige hochrangige ausländische Politiker zur WM in die Bundesrepublik kamen. Die Zurückhaltung der Bundesregierung, anlässlich dieses Ereignisses überhaupt Einladungen auszusprechen, zeigte, wie wenig Bedeutung man ihm anders als den Olympischen Spielen zwei Jahre zuvor beimaß. Ein Runderlass des Auswärtigen Amts unterstrich bereits am 12. März 1973, »daß die Bundesregierung hochrangige Besucher aus dem Ausland aus Anlass der Fußballweltmeisterschaft 1974 weder einlädt noch betreut« (BAK B145 10187). Lediglich zwei weitere Besuche sind neben dem des US-Außenministers überhaupt aktenkundig geworden: eine Stippvisite des britischen Premierministers Harold Wilson beim neuen Kanzler Schmidt und ein bereits langfristig geplanter Empfang des Staatsoberhaupts Jugoslawiens, Marschall Tito. Bei beiden gehörte der Besuch der WM dann ins Rahmenprogramm der politischen Konsultationen. Im Gegensatz hierzu war bei den Olympischen Spielen 1972 zahlreiche politische Prominenz gesichtet worden, die eigens wegen der Spiele angereist war. Neben mehreren gekrönten Häuptern (Haile Selassie, Elizabeth II. und Prinz Philip, Carl Gustav von Schweden, Konstantin von Griechenland), die das gesellschaftliche Ereignis nicht missen wollten, war in München ein Großteil der Elite der westlichen Politik (Kissinger, Ted Heath, Georges Pompidou, Olof Palme, Bruno Kreisky, Kurt Waldheim) anwesend (Schiller und Young 2012, S. 309).
Der britische Premier Wilson war im Februar 1974 wiedergewählt worden, führte eine Labour-Minderheitsregierung und hatte bereits während seiner ersten Amtsperiode die WM 1966 im eigenen Land und später die von 1970 in Mexiko für publikumswirksame Auftritte zu nutzen versucht – Letztere jedoch mit wenig Erfolg. Es ist sicher übertrieben, seine Niederlage gegen den Konservativen Heath bei den Parlamentswahlen am 18. Juni 1970 in ursächliche Verbindung mit dem Ausscheiden der englischen Mannschaft im Viertelfinale von Mexiko gegen die DFB-Elf zu bringen. Allerdings fand das Spiel nur vier Tage zuvor statt, und beide Niederlagen kamen ziemlich überraschend, da die »Three Lions« bereits mit 2:0 geführt hatten und Wilson in den Meinungsumfragen vorn gelegen hatte. Bei seinem Besuch in der Bundesrepublik im Juni 1974 verband der britische Premier einen Gedankenaustausch mit dem neuen Bundeskanzler mit einer Stippvisite bei der schottischen Mannschaft und ihrem Gruppenspiel gegen Brasilien. England war bereits im Oktober 1973 in der Qualifikation an Polen gescheitert. Falls Wilson also überhaupt glaubte, politisches Kapital aus dem Aufenthalt schlagen zu können, dann nur bei den zahlreich im Stadion vertretenen Soldaten der britischen Rheinarmee sowie im traditionell Labourfreundlichen Schottland. Die vorgezogenen Parlamentswahlen im Oktober 1974 bescherten ihm jedenfalls eine neue Mehrheit im Unterhaus.
Protokollarisch weit höher rangierte der Besuch von Marschall Josip Broz Tito. Der 82-Jährige, nach Franco Europas dienstältester Staatschef, kam zu einem schon lange überfälligen und für die deutsch-jugoslawischen Beziehungen herausragend wichtigen ersten Staatsbesuch überhaupt in die Bundesrepublik. Obgleich Jugoslawien als erstes kommunistisches Land bereits 1952 diplomatische Beziehungen zur Bundesrepublik aufgenommen hatte, war Tito bislang nie in offizieller Funktion in Westdeutschland gewesen. Als junger Mann und kommunistischer Aktivist hatte er 1912 für ein paar Monate in Mannheim gelebt und gearbeitet. Als Repräsentant der blockfreien Staaten suchte er 1974 den Austausch über Fragen der Entspannungspolitik. Daneben ging es in den Gesprächen mit der Bundesregierung um weitere deutsche Entschädigungen für die Lasten der Vergangenheit, die Verbesserung der wechselseitigen Handelsbeziehungen und die Situation der 600 000 jugoslawischen Arbeitnehmer in der Bundesrepublik nach der Verhängung des sogenannten Anwerbestopps vom November 1973.
Die Jugoslawen gehörten zu den inzwischen in der Bundesrepublik fest ansässigen Ausländern, deren Zahl von 1,2 Millionen 1964 auf über vier Millionen 1974 angestiegen war (Rödder 2004, S. 27). Die Bundesrepublik war in den Sechzigern zum Einwanderungsland geworden. Zwar war man von der Integration der Einwanderer noch weit entfernt, dass viele deutsche Städte einen hohen Anteil an Ausländern und Gastarbeitern hatten, war aber nicht mehr zu übersehen. Bei der WM kamen die jugoslawische Mannschaft in Frankfurt und die italienische in Stuttgart deshalb in den Genuss der lautstarken Unterstützung durch Scharen von Landsmännern. Die Situation der ausländischen Arbeitnehmer hatte sich allerdings durch den Anwerbestopp stark verschlechtert. Für die Jugoslawen bedeutete er, dass sie, wenn sie arbeitslos wurden und eine neue Stelle in der Bundesrepublik suchten, nicht einmal zeitweise in ihr Herkunftsland zurückkehren konnten, denn dort durften sie nun nicht mehr von deutschen Firmen angeworben werden. Als Grund für die Maßnahme hatte man im Krisenjahr 1973 die schwächelnde Wirtschaft und die steigende Arbeitslosigkeit nach der Erhöhung der Rohölpreise durch die OPEC-Länder vorgeschoben. In Wirklichkeit war sich die Politik der sozialen Probleme und Integrationsschwierigkeiten bewusst geworden, die die offiziell nicht vorgesehene, aber seit langem vorhersehbare Verfestigung der Einwanderung von Millionen von Arbeitsmigranten vor allem aus den Mittelmeerländern mit sich brachte. Anlässlich der WM glaubten wohlmeinende Sozialwissenschaftler wie der Osnabrücker Psychologe Meinhart Volkamer, dass die Identifikation mit ihren Mannschaften es den in der Bundesrepublik ansässigen Italienern und Jugoslawen ermöglichte, kurzzeitig aus ihrer Isolation und ihrem Ghettodasein zu entfliehen und sich als gleichwertig mit den Deutschen zu fühlen (SZ, 22./23.6.1974, S. 3).
Dass Tito sich über die finanziellen Transfers hinaus, die seine Landsleute nach Jugoslawien leisteten, stark für ihre Lebensbedingungen in der Bundesrepublik interessierte, mag getrost bezweifelt werden. Vor allem war er gekommen, um sich einen 700-Millionen-DM-Kredit von der Bundesregierung zu sichern, denn die jugoslawische Staatskasse war leer (Der Spiegel 26/1974). Er hatte sich eigentlich zum Eröffnungsspiel des Titelverteidigers Brasilien gegen Jugoslawien in der jugoslawischen »Hochburg« Frankfurt angesagt. Zu seiner Verärgerung, die – so wichtig war ihm der Fußball offensichtlich – beinahe zur Absage des Besuchs insgesamt geführt hätte, wurde er aus Sicherheitsgründen gebeten, erst ein paar Tage später in die Bundesrepublik zu kommen. Die deutschen Sicherheitsorgane und die WM-Organisatoren fürchteten gewaltsame Proteste, wenn nicht einen Anschlag auf Titos Leben, seitens der 600 radikalen Exilkroaten in der Bundesrepublik und wollten unbedingt eine negative Beeinträchtigung des Turniers gleich zu Beginn verhindern (BAK B136 17241). Allerdings konnte man ihm den Stadionbesuch schlecht verbieten.
So besuchte Tito letztlich die jugoslawische Mannschaft und anschließend ihr Spiel gegen Schottland in Frankfurt. Sich den im Stadion zu Zehntausenden anwesenden jugoslawischen Fans und dem heimischen Publikum an den Fernsehern als Fußballanhänger im Stadion zu zeigen, wenn auch nicht in der Begegnung mit dem amtierenden Weltmeister, war seiner Popularität in Jugoslawien sicher nicht abträglich. Schließlich hatte sich die jugoslawische Nationalmannschaft nach den zwei verpassten WMs 1966 und 1970 endlich wieder für das Turnier qualifiziert. Das Resümee des Besuchs in der Bundesrepublik fiel jedenfalls überwiegend positiv aus. Ein Protokollvermerk der Bundesregierung vom 26. Juni verzeichnet, dass »Tito und seine Begleiter sich sehr wohl gefühlt hätten. Sie seien mit allem zufrieden außer dem Fußballergebnis« (BAK B136 17239). Das Schottland-Spiel war 1:1 unentschieden ausgegangen. Aber der Fußball war hier offenkundig zweitrangig.
Das Umgekehrte galt für das Finale, wo der Fußball im Vordergrund stand. Ihm wohnten neben vielen Stars und Prominenten der Prinzgemahl Bernhard der Niederlande und fast das gesamte niederländische Kabinett unter Ministerpräsident Joop den Uyl sowie die meisten Mitglieder der Bundesregierung bei. Mit politischer Bedeutung erheblich aufgeladen war eigentlich nur das Spiel der Gruppe 1 der beiden deutschen Mannschaften in Hamburg am 22. Juni. Alles in allem jedoch stand die Politik dem Fußball in Europa noch relativ fern. Im Gegensatz zu heute, da der Fußball in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, glaubte man nicht, viel politisches Kapital aus dem Abhalten einer Fußball-WM oder aus den Erfolgen der eigenen Nationalmannschaft schlagen zu können. Der Fußball diente noch nicht als Bühne der Politik, und europäische Politiker suchten auch noch nicht auf so penetrante Weise den Schulterschluss mit der Nationalmannschaft – ein Trend, der in Deutschland spätestens mit dem Kabinenbesuch Helmut Kohls nach dem Gewinn des WM-Titels 1990 begann.
Ganz anders sah das in Lateinamerika und in Afrika aus. Zwar kamen von dort anlässlich der WM keine Politiker zu Besuch in die Bundesrepublik, aber wohl vor allem, um nicht während ihrer Abwesenheit aus dem Amt geputscht zu werden. Und schließlich hatte die Bundesregierung keine Einladungen ausgesprochen. Der politische Stellenwert des Fußballs war dort aber um einiges höher, insbesondere in den Diktaturen. Wie der Historiker Georg Ismar hervorhebt, hatte sich in Südamerika das Muster ergeben, »daß je autoritärer ein Regime sich entwickelte, die Verbindung zwischen Politik und Fußball umso deutlicher hervortrat« (2007, S. 247). Von den fünf lateinamerikanischen Teilnehmern kamen, Haiti mitgerechnet, vier aus Diktaturen. Einzig in Argentinien war die seit 1966 währende Militärdiktatur vor kurzem beendet worden und der charismatische Juan Domingo Perón wieder an der Macht. Jedoch holten sich die Militärs um General Videla diese bereits zwei Jahre später erneut zurück. Wie bereits erwähnt, gelang es der Junta, die WM 1978 in einen politischen Erfolg umzumünzen. Die Generäle konnten das erfolgreiche Abhalten der WM im eigenen Land und den Enthusiasmus über den Titelgewinn 1978 kurzfristig zur Stabilisierung der eigenen Herrschaft nutzen (Archetti 2006, S. 145 f.).
Im Frühjahr und Sommer 1974 war Argentiniens Präsident allerdings viel zu krank, um sich mit Fußball beschäftigen zu können. Er starb während der WM am 1. Juli. Der argentinische Verband Asociación del Fútbol Argentino (AFA) bat deshalb um die Verlegung der Begegnung Argentiniens gegen die DDR in der zweiten Finalrunde. Der Antrag der AFA, teils aus Pietätsgründen, teils aus Rücksicht auf die Trauer der Spieler gestellt, wurde von den WM-Organisatoren aus terminlichen Gründen abgelehnt. Aber er zeigt, wie wichtig der Sport und der Fußball auch für den Peronismus waren.
Bereits in den späten 1940er und 50er Jahren hatte es in Argentinien eine enge Verbindung zwischen charismatischer Herrschaft und Sport gegeben. Unter Perón, der sich, wie Benito Mussolini im faschistischen Italien, als erster Sportsmann seines Staates und Symbol von dessen viriler Stärke verstand, hinter dem sich die Nation vereinen sollte, profitierte im Fußball insbesondere Racing Buenos Aires von der Patronage der Politik. Racing ist mit Boca Juniors, Independiente, River Plate und San Lorenzo einer der großen fünf Vereine im argentinischen Fußball. 1951 baute Perón für den Verein eines der seinerzeit größten Stadien Argentiniens, das noch heute seinen Namen trägt. Racing wurde dreimal hintereinander argentinischer Meister, 1949, 1950, 1951 sowie 1958, 1961 und 1966, und gewann 1967 den Südamerikapokal Copa Libertadores sowie den Weltpokal. Bei der WM ’74 schaffte es die argentinische Mannschaft noch in die zweite Finalrunde, wurde dort nach Niederlagen gegen die Niederlande (4:0) und Brasilien (2:1) und einem Unentschieden im Spiel gegen die DDR (1:1) aber nur Letzter in ihrer Gruppe.
Eine ähnliche Verknüpfung von Fußball und Politik lässt sich in Brasilien beobachten. Nach der WM 1970 in Mexiko deklarierten dort die Militärs den Gewinn des Titels zum Zeichen für den Fortschritt der brasilianischen Nation. Die »Seleção« mit ihrem Superstar Pelé wurde direkt vom gewonnenen Finale in Mexiko-Stadt in die Hauptstadt Brasilia geflogen, um den Staatspräsidenten zu treffen. Das Land, das noch kurz zuvor von wochenlangen Streiks und Unruhen erschüttert worden war, war inzwischen in einen kollektiven Freudentaumel ausgebrochen, und von einer Staatskrise war keine Rede mehr. Als Pelé, obwohl immer noch auf der Höhe seines fußballerischen Könnens, 1971 mit 31 Jahren seinen Rückzug vom internationalen Fußball erklärte, wurde er als Vaterlandsverräter beschimpft und geriet unter enormen Druck seitens der brasilianischen Regierung, diese in der Öffentlichkeit äußerst unpopuläre Entscheidung rückgängig zu machen. Er wurde sogar von der Tochter des Staatspräsidenten General Ernesto Geisel angerufen und bekniet, seinen Rücktritt vom Rücktritt zu erklären (Rodrigues 2007, S. 153). Obwohl er zunächst weiter für den FC Santos spielte und mitunter vom Publikum mit seiner Entscheidung konfrontiert wurde, hielt Pelé stand. Während der WM 1974 hatte er eigentlich mit dem Fußball bereits abgeschlossen und war als Geschäftsmann und Markenrepräsentant, unter anderem von Pepsi-Cola, in der Bundesrepublik. Er spielte eine zeremonielle Rolle bei der WM-Eröffnungsfeier und war auch ein allseits gefragter Interviewpartner. Drei Monate nach der WM erhielt er dann ein sehr lukratives Angebot von New York Cosmos, so dass er beschloss, noch einige Jahre mit dem Profifußball weiterzumachen.
Das enge Verhältnis zwischen Diktatur und Fußball und die finsteren Seiten des Sports zeigten sich im Vorfeld der WM auch in Chile. Dort war im September 1973 mit verdeckter Hilfe der US-Regierung und der Zustimmung Kissingers die Unidad-Popular-Regierung Salvador Allendes durch einen Coup gestürzt worden. Der aus diesem Staatsstreich hervorgegangene neue Machthaber Augusto Pinochet übte während seiner fast 20-jährigen Herrschaft einen starken Einfluss auf die Organisation und Finanzierung der chilenischen Liga und den Topclub Colo-Colo aus, der bei der WM 1974 die meisten Nationalspieler stellte. Er war Colo-Colos Ehrenpräsident und spendierte dem Club in Santiago auch ein Stadion. Vor allem aber instrumentalisierte Pinochet die Affäre um das Ausscheidungsspiel zwischen Chile und der Sowjetunion um die WM-Teilnahme nur wenige Wochen nach dem Putsch geschickt zur Zementierung seiner Macht.
In der Auseinandersetzung ging es vor allem um den berüchtigten Austragungsort des Spiels. Dazu kam es folgendermaßen. Die beiden Vertreter der südamerikanischen und europäischen Konföderationen CONMEBOL und UEFA, Chile und die Sowjetunion, mussten zwischen sich den letzten verbleibenden Startplatz bei der WM ausspielen. Nach einem 0:0 im Hinspiel am 26. September 1973 in Moskau weigerte sich die Sowjetunion, zum Rückspiel im November im Estadio Nacional de Chile von Santiago anzutreten. Als Begründung führten die Sowjets an, dass in den Wochen nach dem Staatsstreich Chiles berühmtestes Stadion, in dem schon das Finale der WM 1962 ausgetragen worden war und wo Allende im November 1970 seine Antrittsrede als Präsident gehalten hatte, zum Konzentrationslager umfunktioniert worden war. Nun wurden im »Todesstadion« (Der Spiegel 46/1973) Tausende Anhänger Allendes, Sozialisten, Kommunisten und Gewerkschafter interniert. Eine große Zahl wurde in den Umkleideräumen und Duschen gefoltert und vergewaltigt, Hunderte ermordet.
Die US-Botschaft schätzte seinerzeit, dass im Land mehrere Tausend Menschen in den ersten Tagen nach dem Putsch ums Leben kamen, viele davon im Estadio Nacional, dem größten, aber nicht dem einzigen Fußballstadion, das zum politischen Gefängnis und Folterkeller und zur Hinrichtungsstätte gemacht worden war. Der schwedische Botschafter in Chile, Harald Edelstam, ging sogar von insgesamt 15 000 Getöteten und 7 000 Inhaftierten aus (Hachleitner 2005, S. 270). Als sich FIFA-Generalsekretär Helmut Käser und der brasilianische Vizepräsident der FIFA, Abílio d’Almeida, am 24. Oktober 1973 zur Untersuchung der Sachlage in Santiago aufhielten, in deren Folge sie feststellten, dass das Spiel dort ordnungsgemäß würde durchgeführt werden können, dienten Bereiche des Stadions, wie selbst die FIFA-Offiziellen in ihrem Bericht eingestehen mussten, noch immer als Gefangenenlager. Nach Schätzungen von Amnesty International hielten sich zu diesem Zeitpunkt vor den Augen Käsers und d’Almeidas verborgen noch etwa 2 000 Gefangene dort auf (Amnesty International 1974, S. 16). Die FIFA-Offiziellen vertrauten chilenischen Zusagen, nach denen das Stadion spätestens Anfang November wieder bespielbar sein würde und somit dem Rückspiel am 21. November nichts im Weg stünde.
Um das Gesicht nicht zu verlieren, weigerte sich der chilenische Verband, dem Vorschlag der Sowjets nachzugeben, das Spiel an einem anderen Ort abzuhalten. Die FIFA und ihr damaliger Präsident Sir Stanley Rous hätten in dieser Richtung leicht Druck ausüben können, zumal es in der WM-Qualifikation für 1974 sogar einen Präzedenzfall gab. Ein Spiel Bulgariens gegen Nordirland wurde aus Sicherheitsgründen vom durch bürgerkriegsähnliche Zustände erschütterten Belfast ins englische Sheffield verlegt. Unter der auch heute in Zürich noch immer wieder ins Feld geführten Maßgabe, sich als »unpolitischer« Sportverband in politische Fragen nicht einmischen zu wollen, hielt man sich jedoch bei der FIFA zurück, stellte sich damit aber de facto hinter den chilenischen Verband. So »geriet die … Handlungsmaxime ›no politics‹ zum politischen Offenbarungseid« (Eisenberg / Lanfranchi / Mason und Wahl 2004, S. 287).
Zwar kam die FIFA durch die internationale Öffentlichkeit unter einigen Druck, aber sie änderte ihre Entscheidung nicht mehr. Ihr Generalsekretär Käser erhielt zahlreiche kritische Zuschriften, darunter auch vom Chefredakteur des Kicker, Karl-Heinz Heimann, der noch einmal bekräftigte, was er in der Zeitschrift zum Thema geschrieben hatte, nämlich dass das »Terrain für ein unmittelbar bevorstehendes WM-Qualifikationsspiel ›disqualifiziert‹ war«. Der angesehene SZ-Journalist Ernst Müller-Meiningen, dem man keine Sympathien für die Sowjetunion nachsagen konnte, drückte sich in einem Kommentar noch wesentlich deutlicher aus:
Es gehört schon die Mentalität eines Fleischerhundes dazu, in einer Arena Fußball spielen zu wollen und Gastmannschaften das Fußballspielen zuzumuten, wo kurz zuvor Tausende von Gefangenen eingekerkert waren und unzählige wehrlose Menschen geschlagen, gefoltert und ermordet wurden (FIFA-Archiv).
Pinochet jedenfalls wusste die Steilvorlage aus Zürich zu nutzen. Nach dem Unentschieden im Hinspiel wurde die sowjetische Weigerung, zum Rückspiel anzutreten, in der nationalistischen chilenischen Presse mit der Angst der Sowjets vor einer Niederlage begründet. Schließlich hatte Chile die sowjetische Mannschaft in einem WM-Spiel 1962 mit 2:1 geschlagen, und die eigene Mannschaft war trotz der dort herrschenden politischen Verhältnisse in die Sowjetunion gereist. Als die Sowjets, die in jenen Tagen zu Testspielen in Brasilien und Mexiko antraten, dann wirklich nicht zum vereinbarten Termin kamen, wurden sie vom Exekutivkomitee (ExCo) der FIFA vom Turnier ausgeschlossen.
Das nicht zustande gekommene Rückspiel wurde in Chile nach allen Regeln der politischen Propaganda als nationales Ereignis ausgeschlachtet, denn man hatte für den Fall, dass die Sowjets nicht in letzter Minute doch noch auftauchten, vorgesorgt. Statt der Sowjetunion trat der FC Santos zu einem Freundschaftsspiel im Estadio Nacional an. Santos gewann ohne den verletzten Pelé standesgemäß mit 5:0. Zuvor jedoch erzielte Chiles Kapitän Francisco Valdés just zu dem Zeitpunkt, als das Spiel gegen die Sowjetunion angesetzt war, mit einem Schuss ins leere Tor den vielbejubelten 1:0-Sieg Chiles gegen die nicht angetretene Sowjetelf und sorgte damit für die Qualifikation zur WM.
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