Gerd Zipper
Der Übervater
Kriminalroman aus Schwäbisch Gmünd
Prolibris Verlag
Dieser Roman spielt in Schwäbisch Gmünd und im Ostalbkreis. Die Schauplätze sind also authentisch. Der Autor hat sich jedoch die Freiheit genommen, bei einigen »Spielstätten« von der Realität abzuweichen, wenn die Geschichte es erforderte.
Figuren, Namen, politische Parteien, Handlungen und Ereignisse entspringen allein der Fantasie des Autors. Übereinstimmungen oder Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen und tatsächlichen Begebenheiten sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.
Prolog
Rosemarie Hackstock wälzte sich auf der Chaiselongue hin und her, schreckte plötzlich auf und lauschte. Länger als eine Stunde in einer Stellung zu liegen, das ging mit Mitte siebzig und kaputten Rücken auf diesem alten Möbel einfach nicht mehr.
Sie rieb sich die Augen, der Fernseher lief noch. Ihr Blick auf die Wanduhr war überflüssig, denn ohne Brille konnte sie die Zeit sowieso nicht erkennen. Stöhnend richtete sie ihren Oberkörper auf. Die Brille lag auf dem Boden, sie hob sie auf und behielt sie in der Hand. Mühsam erhob sie sich vom Sofa, strich mit beiden Händen ihren Rüschenschlafanzug zurecht. Nachdem ihre Füße die Öffnungen der Hausschuhe gefunden hatten, schlurfte sie zum Fenster hinüber. Von hier hatte man aus ihrer Einliegerwohnung eine gute Sicht auf einen Großteil des Parks, den oberen Bereich der Zufahrt und den Hof. Sie setzte ihre Brille auf. Das Garagentor war geschlossen.
Es musste schon eine Weile her sein, als sie im Halbschlaf vernommen hatte, wie ein Wagen den Weg zum Anwesen heraufgekommen war. Wie immer hatten die Lichtkegel der Scheinwerfer die Wand hinter dem Fernsehapparat gestreift. Das Rolltor hatte sich gleich mit dem ihr vertrauten mahlenden Geräusch geöffnet.
Ein leises Wummern war zu hören. Sie öffnete das Fenster einen Spalt und lauschte. Kein Zweifel, das Geräusch kam aus der dunklen Parkkaverne. Das Blubbern hörte sich nach einem PS-starken Motor an. Sie spürte die Gänsehaut, die sie überkam, als sie sich langsam über die Unterarme strich. Dann griff sie nach ihrem Morgenmantel und schlüpfte hinein.
Plötzlich wurde sie unsicher, fürchtete sich weiterzugehen. Doch sie musste nachsehen, was los war. Sie war ganz allein auf dem Anwesen, das konnte ihr keiner abnehmen. Sie fühlte einen Druck auf der Brust, diese Beklemmung war sehr unangenehm. Unsicher schlurfte sie durch das Untergeschoss des Hauses, das durch einen Gang mit der gemeinsamen Garage verbunden war. Von der konnte man in das daneben liegende neue Flachdachhaus von Heiner und Anke Bamberger gelangen. Das Gebäude war zusammen mit der Parkkaverne vor ein paar Jahren neben das bestehende Anwesen der Bambergers in den Südhang gebaut worden.
Das Motorengeräusch wurde lauter. Kurz vor der Brandschutztür zur Garage wusste sie, dass es nur der Wagen des Hausherrn, des alten Bamberger sein konnte. Vorsichtig drückte sie die Tür auf. In der Dunkelheit war nichts zu erkennen. Nur der schwache Schein der Gangbeleuchtung fiel in die Garage.
»Herr Bamberger?«
Erster Tag – später Samstagabend
Das Kapuzenshirt war viel zu weit geschnitten und die Sturmhaube so tief in die Stirn hinuntergezogen, dass sie fast die Augen verdeckte. Langsam ging die Gestalt die enge, schummrig beleuchtete Gasse an den Häuserwänden entlang. In ihrer dunklen Kleidung war sie nur schemenhaft zu erkennen. Autos parkten in Reihe direkt hinter dem mehrstöckigen Gebäudekomplex in der historischen Altstadt von Schwäbisch Gmünd. Vom Glockenturm des nahen Heilig-Kreuz-Münsters schlug ein Glöckchen halb zwölf. Im Schein einer Straßenlaterne bewegte sich die Person direkt auf die Rückseite des Kulturzentrums Prediger zu, schlich zielstrebig und um sich schauend an den Wagen entlang. Vor einem der Holzfenster im Erdgeschoss blieb sie stehen und trat einige Schritte zwischen die parkenden Autos zurück. Prüfend schweifte ihr Blick an der vom schwachen Mondlicht beleuchteten weißen Westfassade umher, der braune und graue Farbverzierungen einen neobarocken Touch verliehen. Das Interesse der Person galt einem Fenster mit gerippten Milchglasscheiben neben dem Lieferanteneingang. Vorsichtig drückte sie gegen den Fensterflügel, der sich mit einem leisen Quietschen langsam nach innen bewegte.
In diesem Moment kam ein junges Pärchen laut lachend und Händchen haltend die Gasse entlang. Die Person zuckte zusammen. Gerade noch gelang es ihr, hinter einem Geländewagen in Deckung zu gehen. Allerdings hätten die beiden um sich herum ohnehin nichts wahrgenommen, sie hatten nur Augen füreinander.
Als sie außer Sicht waren, ging alles ganz schnell. Die Stoßstange und das Heck eines Wagens als Einstiegshilfe nutzend, zwängte sich der ungelenke Körper durch die Fensteröffnung. Die Gestalt zog die Sturmhaube über das ganze Gesicht. Nur noch die Augen in den beiden Schlitzen waren zu sehen. Im schwachen Schein der Notbeleuchtung durchschritt sie die Flure. Ihr Blick fiel auf ein rot blinkendes Lämpchen seitlich unter der Decke – der Bewegungsmelder einer Kamera, die den Großteil des überdeckten Innenhofes überwachte. Um ihn zu umgehen, schlich sie an den Wänden des Kreuzganges entlang, der das Atrium umschloss. Es gelang ihr, das Gebäude zu durchqueren, ohne einen Alarm auszulösen. Direkt unter der Kamera, in deren totem Sichtwinkel, trat sie in den mit Glas überdachten Innenhof des ehemaligen Dominikanerklosters. Dort deuteten hohe Stahlgerüste, die bis unters Dach reichten, und mit Kunststofffolien verhängte Leuchten und Kunstwerke auf Umbauarbeiten hin.
Ab und zu verschwand der schlanke Körper hinter den wuchtigen Pfeilern des Kreuzganges. Nach einem kurzen Blick auf den Zettel in ihrer Hand ging die Person zielstrebig auf das Treppenhaus zu. Jede der hölzernen Stufen knarrte beim Auftreten. Langsam arbeitete sie sich nach oben vor. Gelegentlich flackerte der schwache Lichtkegel ihrer Taschenlampe unruhig und Orientierung suchend hin und her. Der Geruch von Bohnerwachs lag in der Luft. Plötzlich ertönte ein kurzer Schmerzensschrei, die Person fuhr mit der Hand an ihr Schienbein, während ein Gegenstand die Stufen hinunterpolterte und auf dem nächsten Podest liegen blieb. Der Strahl der Lampe erfasste ihn. Es war eines der kniehohen gelben Klappschilder, die auf die frisch gebohnerten Holztreppen hinwiesen. Die Gestalt schnaufte erleichtert und setzte dann unbeirrt ihren Weg zum Dachgeschoss fort.
*
Draußen auf dem Johannisplatz drang die Geräuschkulisse der gut besuchten Straßencafés bis zur Ostseite des Predigers hinüber. Ein heller Kombi fuhr heran und hielt vor dem östlichen Seiteneingang. Ein kahlköpfiger, ganz in schwarz gekleideter Mann stieg aus. Er ging auf das Gebäude zu und machte sich am Türschloss zu schaffen. Auf der Rückseite seines T-Shirts war im schwachen Licht der Fassadenbeleuchtung der weiße Schriftzug »Schutz- und Wachdienst Staufen GmbH« zu lesen. Hinten an seinem Gürtel waren Handschuhe, Taschenlampe, Elektroschocker, Knüppel und Handschließen befestigt. Mehr hätte daran nicht Platz gehabt. An der Seite baumelte ein knallrotes Baseball-Cap mit der Aufschrift »Bud-Spencer-Bad«. Der Wachmann betrat den ausgedehnten Gebäudekomplex des Kulturzentrums, prüfte im Erdgeschoss Türschloss für Türschloss, beginnend mit der Ostseite im Kreuzgang, und arbeitete sich so an den Räumen vorbei in Richtung des Treppenhauses vor. Auf dem ersten Treppenpodest erregte ein umgekipptes Schild seine Aufmerksamkeit.
*
Die Gruppe gut gelaunter Männer war laut flachsend auf dem ehemaligen Bauernhof von Anton Hechts Eltern eingefallen. Erleichtert hatten sie sich nacheinander ihrer Tagesrucksäcke entledigt und die Walkingstöcke an die Scheunenwand gelehnt. Jedes Jahr traf sich die lustige Runde mindestens zwei Mal zu Ausflügen, Wanderungen oder Kegelabenden, die immer ein anderer Teilnehmer organisierte, diesmal war Hecht an der Reihe gewesen. Fast alle kannten sich schon aus der Schulzeit, waren Altherren-Fußballer oder Binokel- und Kegelbrüder und Anfang bis Mitte fünfzig.
»Des wäre fast noch in eine richtige Nachtwanderung ausgeartet«, hatte Hecht, seine laute Stimme an alle richtend, erleichtert festgestellt.
»Wenn Knolle nur ein klein wenig Kondition hätte, dann hätte ich jetzt schon lange keinen Durst mehr«, hatte einer der Wanderer gescherzt und auf den kleinen untersetzten Mann gedeutet, der schnaufend unter dem Applaus der bereits Anwesenden und ihren johlenden Anfeuerungsrufen zum Endspurt ins Ziel eingelaufen war. »Knol-le! Knol-le!« Warum er so genannt wurde, wusste man, wenn man ihm mitten ins Gesicht sah.
Auch alle anderen waren froh gewesen, endlich ihr Ziel, die Scheune von Hechts Vater, erreicht zu haben und das Fass Bier anstechen zu können. »Hebbe, des Fässle, des steht da drin. Und die Flaschen Kalte-Feld-Geist gleich daneben. Könntest du des übernehmen?«, hatte Hecht seinem schnauzbärtigen, rotbackigen Kumpel zugerufen und auf den Eingang zur ehemaligen Melkkammer gedeutet. Herbert hatte mit der flachen Hand an der Stirn seine Zustimmung signalisiert und auf dem Absatz kehrtgemacht, um in dem kleinen Raum zu verschwinden. Unter dem langgezogenen, stimmungsvoll beleuchteten Vordach hatte Hechts Frau Simone für ein gutes Dutzend Personen eine Tafel eingedeckt, die von seiner Tochter Marie-Luise liebevoll mit kleinen bunten Blumengestecken geschmückt worden war. Nach und nach hatten alle erleichtert auf den grob behauenen, rustikalen Holzbänken ihren Platz gefunden, nur Knolle hatte sich erst noch unter großer Anstrengung schnaufend seine Bergstiefel ausziehen müssen, was jemand mit Naserümpfen und Kopfschütteln quittierte. Zwei weitere fielen stichelnd in seinen Protest ein.
Die Schweißflecken unter Knolles Achseln hatten sich vorn auf der Brust zu einem großen Fleck vereinigt. Davon unbeeindruckt war er auf Simone zugelaufen und hatte sie überschwänglich abgebusselt. Nicht nur auf die Wangen. Sie machte gute Miene zum bösen Spiel.
»Hoch den Kolben, rein den Zinken, morgen müssen wir Wasser trinken«, prostete einer der Wanderer seinen Kameraden zu.
Hauptkommissar Hecht war ein wenig unruhig. Er hatte ausgerechnet an diesem Wochenende außerplanmäßig den Bereitschaftsdienst übernehmen müssen und hoffte nun, dass außer kleineren Routinefällen nichts Außergewöhnliches anfallen würde. Und die würde dann sein Kollege, Kriminalkommissar Sascha Obergfell, in den nächsten Stunden allein bearbeiten können. Vorsichtshalber begnügte er sich jedoch mit alkoholfreien Getränken und verzichtete auf seinen Vollkornsprudel, wie er sein geliebtes Hefeweizen nannte.
Ein alter Mann in blauer Arbeitskleidung kam langsam in gebückter Haltung über den Hof und ging zum Wohnhaus von Anton Hecht hinüber. »Ja, Grüß Gott, Herr Hecht«, ertönte eine laute Stimme aus der Gruppe der fröhlichen, sich gut gelaunt unterhaltenden Mittfünfziger. Der Weißhaarige drehte sich um. Er blinzelte. Sein buschiger weißer Schnurrbart begann zu vibrieren. »Ja Bua«, er kniff seine Augen zusammen, »du bisch doch der, ähm … der Knolle.«
»Dass Sie mich noch kennen«, freute sich der Angesprochene. »Wie geht’s Ihnen denn so?«
»Ja mei, ich freu mi jeden Morga, wenn mir mal nix weh tut, mei Proschtata-Wert isch dreikommanull, und ich hab an ordentlicha Stuhlgang.«
»Ich sehe schon, Ihnen geht’s bestens«, rief ihm Knolle zu. Der Mittachtziger mit der wettergegerbten Haut spürte, dass diese Freude ehrlich gemeint war. Er lächelte. Dann lag ein breites Grinsen in seinem Gesicht. »An Gruß an dei Mutter und an schöna Obend noch«, wünschte er, drehte sich um und schlurfte langsam weiter in Richtung Wohnhaus.
Hätte Hecht am Nachmittag während der Rundwanderung über die Berge rund um seinen Wohnort Weiler zum Einsatz gemusst, so wären sofort Simone oder Marie-Luise mit dem Wagen zur Stelle gewesen und hätten ihn abgeholt. Es war alles ruhig geblieben, und so hatte er mit den anderen das Museum und Institut für Mikrofotografie im Schloss Weißenstein besichtigen und eine interessante exklusive Führung genießen können. Dann hatte der Rückmarsch nach Weiler begonnen. Vor allem die von Simone bestens mit Speis und vor allem Trank bestückten Boxenstopps hatten großes Lob bei den Teilnehmern gefunden.
Die fröhliche Runde prostete Hecht auf die gelungene Veranstaltung zu. Sie konnten es nicht lassen, ihn zu bedauern und zu sticheln, weil für ihn nur alkoholfreies Hefeweizen angesagt war. Tatsächlich kam er sich als einzig Nüchterner unter ihnen schon etwas merkwürdig vor. Lautstark und nicht ganz rein in den Tönen begann die Wandergruppe, das Lied »Der Paul und sein Gaul« anzustimmen.
»Was soll schon passieren in Gmünd, diesem Kaff?«, schrie einer der Teilnehmer gegen den Gesang an zu Hecht hinüber. Er stammte aus der Kreisstadt Aalen und war in den Augen der anderen ohnehin in ihrer Runde nur geduldet, woran die Gmünder ihn ständig scherzhaft erinnerten.
»Pass auf, nächste Woche läuft dein Visum ab«, frotzelte Knolle, der sich damit für dessen Naserümpfen beim Ausziehen seiner Schuhe rächte. Der Stimmung tat das keinen Abbruch.
»Es muss ja nicht gleich was Schlimmes sein.« Mord zum Beispiel, das war Hechts eigentliches Einsatzgebiet. Aber wenn er Bereitschaft hatte, war er für alle Delikte zuständig, bei denen die Kripo eingeschaltet werden musste. Weitere Erläuterungen gab er aber wegen des immer lauter werdenden Gesanges auf. Er fühlte sich wohl im Kreise seiner Freunde – bis jetzt war er nicht zu einem Einsatz gerufen worden und er hoffte auf eine ruhige, ungestörte Nacht.
*
Die Gestalt sah erneut kurz auf ihren Zettel, orientierte sich dann an der Beschilderung im Dachgeschoss und verschwand durch eine Tür, die sie aufgebrochen hatte und die sie nun offen stehen ließ. In den weitläufigen Ausstellungsräumen des dort untergebrachten Museums standen Skulpturen, Silbergerät, Schaukästen mit wertvollen sakralen Gegenständen, mit einem Teil des Kirchenschatzes aus dem Heilig-Kreuz-Münster und Exponaten aus der Stauferzeit.
Das Licht der Taschenlampe fiel auf eine Glasvitrine, die etwa die Größe eines Sarges hatte. Sie war leer! Die Person blieb stehen und überlegte. Nach einigen Sekunden blickte die Gestalt wieder auf ihren Plan und bewegte sich dann zielstrebig weiter, bis zu einer Tür am Ende des langgezogenen Raumes. Sie war nicht verschlossen.
*
Der Wachmann wunderte sich über das umgekippte gelbe Warnschild, stellte es wieder auf und ging weiter die Treppen hoch in Richtung Dachgeschoss. Unsicherheit überkam ihn, ihm war ein wenig mulmig zumute. Deswegen hatte er inzwischen die Beleuchtung des Innenhofes und die des unteren Treppenhausbereichs eingeschaltet. Während der Umbauarbeiten waren wegen der Staubentwicklung provisorische, mit einfachen Schlössern versehene Zwischentüren eingebaut worden, die die einzelnen Gebäudeteile voneinander trennten. Anders als sonst kontrollierte er jetzt deren Verschluss. Hektisch zuckte der starke Schein seiner Taschenlampe in den unbeleuchteten Ecken und Nischen des Gebäudes hin und her. Den Ehrgeiz, sich möglichst lautlos fortzubewegen, hatte er auf den knarrenden Holzstufen der Treppe längst aufgegeben.
*
Im Magazin des Museums standen dichtgedrängt mehrere offene Regalreihen aus Stahlblech, die bis unter die Decke reichten. Darin lagerten fein säuberlich archiviert und beschrieben die nicht ausgestellten Exponate. Helles Mondlicht drang durch ein halbes Dutzend Dachgaubenfenster in den Raum und warf schräge, helle Flecken auf Boden und Regale. Der Lichtkegel der Taschenlampe fiel auf einen Tisch. Die Person blieb davor stehen, hielt kurz inne und spitzte die Ohren. Zwischen dem Knarren der Treppenstufen nahm sie das feine Klirren eines Schlüsselbundes wahr, das immer näher kam. Sie klemmte die Lampe unter ihre Achsel, so dass der vor ihr liegende Behälter ausgeleuchtet war. Eine gewisse Hektik überkam den schlanken Körper. Rasch senkten sich die Hände auf die schmale, etwa zwei Meter lange Aluminiumbox hinunter und öffneten sie. Ein mit einem Tuch verhüllter, länglicher Gegenstand befand sich darin.
Ehrfürchtig schlug die Gestalt den weichen Stoff beiseite und trat einen Schritt zurück. Ihr Kopf fuhr herum, sie lauschte. Das hölzerne Knarren hatte plötzlich aufgehört. Ihre Augen begannen ängstlich zu flackern. Dann starrten sie auf das Objekt, das in roten Samt gebettet war.
*
Langsam arbeitete sich der Wachmann durch die Ausstellungsräume in Richtung Magazin vor. Seine Schritte waren jetzt kaum mehr wahrnehmbar, sie wurden vom sich gerade eingeschalteten Gebläse der Klimaanlage übertönt.
Einen kurzen Augenblick streifte der zuckende Lichtschein des Wachmannes den Zugangsbereich zum Magazin. Die Gestalt darin hatte es wohl bemerkt, machte schnell die Lampe aus und wich hinter die schweren Stahlregale zurück. Hektisch suchend fuhr ihr Kopf hin und her. Ihre Hand ertastete ein schweres Exponat, ein mit Ornamenten verziertes, tönernes Gefäß in Form einer Schüssel mit zwei Griffen.
Vorsichtig lugte der Wachmann in das vom Mondlicht schwach erhellte Magazin hinein. Sein Blick fiel auf die offen stehende Aluminiumkiste. »Hallo? Herr Caspari, sind Sie das?«, rief er und ging langsam weiter. Ein Geräusch hinter ihm veranlasste ihn, sich umzudrehen. Noch ehe es vollständig dazu kam, sauste das Gefäß auf seinen Nacken hinunter, streifte ihn jedoch nur. Trotzdem taumelte er, hakte sich reflexartig mit seinem Arm an einem leeren Regal ein, das bedrohlich zu schwanken begann. Ein weiterer, gezielter Schlag auf den Hinterkopf verfehlte seine Wirkung nicht. Diesmal war die Wucht so groß, dass der Gegenstand in unzählige Scherben zerbarst. Das immer noch schwankende Stahlregal kippte nun endgültig und begrub den Wachmann unter sich. Regungslos blieb der Security-Mann liegen.
*
Es war bei den Männern bereits lustig zugegangen, als Marie-Luise endlich unter lautem Gejohle den Polo ihrer Mutter bis zur Scheune vorgefahren und ihn neben Hechts Dienstwagen geparkt hatte.
»Auf geht’s, Hebbe, beweg deinen Arsch!«, hatte Knolle gerufen. Mit Hilfe von Herbert hatte sie die schweren Warmhalteboxen mit dem Essen aus dem Kofferraum geladen. Das Essen war schnell verteilt. Alle hatten genüsslich die kroatischen Krautwickel mit handgestampftem Kartoffelbrei der Mondscheinwirtin verdrückt, die sie für die Keglergruppe zubereitet hatte, und Hecht hatte für diese Sarmas regelrecht geschwärmt: »Oh Mann, zwischen die zwei Krautwickel, da könnt ich mich glatt hineinlegen.«
Nach dem Essen war mit jeder Schnapsrunde das Gelächter größer und der Gesang lauter geworden. Und trotz alkoholfreiem Hefeweizen gab Hecht den Ton vor und freute sich über die ausgelassene Feier bis spät in die warme Sommernacht. Doch gerade als Knolle zum vierten Mal »Schwarzbraun ist die Haselnuss« anstimmte, schrillte plötzlich ein Handy.
Hecht erstarrte und blickte vorwurfsvoll auf sein rechtes Hosenbein. »Des darf doch nicht … Ausgerechnet!«, entfuhr es ihm. Enttäuscht blies er seinen Atem hinaus, fingerte das Telefon aus der Tasche seiner Trekkinghose und betrachtete das Display.
»Zifixaberauch! Ausgerechnet jetzt rufen die an«, grummelte er, stand auf und entfernte sich ein paar Schritte von seinen Kameraden. »Was gibt’s denn, Sascha?«, wollte er von seinem jungen Kollegen wissen, mit dem er sich die Rufbereitschaft teilte.
»Hätte der Ganove nicht bis morgen warten können?«, rief Knolle kopfschüttelnd zu ihm hinüber und warf ihm einen bedauernden Blick zu.
»Ne, ne, lass gut sein, Sascha, ich komme selbst«, sagte der Kriminalhauptkommissar, verzog das Gesicht und zuckte mit den Schultern.
*
Der Oldtimer fuhr durch die laue Sommernacht in Richtung Weiler. Der Mond hatte fast seine volle Größe erreicht. Am Steuer des Audi 100 C1, Baujahr 1968, saß Rechtsmediziner Dr. Krautschneider. Daneben streckte Mona Hering ihre Hand durch das offene Wagenfenster hinaus und genoss den sternklaren Himmel. So sah sie nicht das Zucken eines Blaulichtes in der Ferne, das rasch näherkam.
»Sie trinken nur wenig Alkohol?«, wandte sich Hering an den Rechtsmediziner. Nach dem Konzert der Europäischen Kirchenmusik im Gmünder Heilig-Kreuz-Münster hatte er den ganzen Abend nur an einem Radler genippt.
»Schon«, erwiderte er knapp und überlegte einen Moment. »Nur nicht, wenn ich so kostbare Fracht an Bord habe«, formulierte er sorgfältig und warf ihr ein kurzes Lächeln zu.
Sie errötete wie ein Schulmädchen und rutschte etwas unruhig auf ihrem Sitz herum. Vielleicht lag es an den Vierteln Rotwein, die sie noch im »Unicorn House«, der Gmünder Szenekneipe Nummer eins, getrunken hatte.
Ein silberfarbener Daimler mit einem seitlich auf dem Wagendach aufgesetzten Blaulicht rauschte mit hoher Geschwindigkeit an ihnen vorbei. »Das muss der Hecht sein, der hat dieses Wochenende Bereitschaft«, sagte Hering.
»Ich dachte, der Stoll hat Dienst.«
»Normal ja, aber Hecht ist für ihn eingesprungen. Und das, obwohl er heute seine Wanderung mit den Kegelbrüdern hatte«, legte Hering nach.
Krautschneider nickte anerkennend. »Das macht nicht jeder.«
»Wenn der jetzt in den Einsatz fährt, dann, dann muss es was Größeres sein«, mutmaßte sie. »Etwas, was Obergfell nicht, hicks«, erschrocken hielt sie ihre Hand vor den Mund, »Verzeihung, was er nicht alleine stemmen kann.«
Krautschneider sah kurz zu seiner blonden Beifahrerin. »Wird doch nicht noch Arbeit für mich geben«, murmelte er vor sich hin.
Hering, zwar leicht beschwipst, aber dennoch ganz Chefin der Gmünder Kriminalpolizei, öffnete ihre Handtasche und kramte umständlich darin herum. Sie holte ihr Smartphone heraus und begann, es zu bearbeiten. Dann zögerte sie, sah auf das Display, und ließ das Handy wieder in ihrer Tasche verschwinden. Was vorgefallen war, hätte sie natürlich schon interessiert. Wegen des Schluckaufs beschloss sie jedoch schweren Herzens, heute von einem Anruf bei Hecht abzusehen.
»Na ja, dann lass ich ihn, hicks«, sie legte ihre Finger an den Mund, wartete auf den nächsten Anfall, »dann lass ich ihn erst mal in Ruhe bis er, hicks, selbst Näheres weiß.« Sie wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht, versuchte eine Weile, die Luft anzuhalten, um damit den Schluckauf einzudämmen.
Krautschneider warf ihr einen verständnisvollen Blick zu, den sie erfreut zur Kenntnis nahm. Sie blies ihren Atem aus und klappte die Sonnenblende so weit herunter, bis der Schminkspiegel voll zum Vorschein kam. Prüfend sah sie hinein und fuhr langsam mit den Fingern über ihr Gesicht. Sie bildete sich immer ein, ihre wenigen Sommersprossen im Gesicht würden nach einer gewissen Menge Wein stärker hervortreten.
»Was ist denn?«, fragte Krautschneider besorgt.
»Ich prüfe nur meine Haut, meine Sommersprossen.« Sie sagte es leichthin, als wenn es das Selbstverständlichste auf der Welt wäre.
»Wie, ob sie noch alle da sind?«
Hering sah ihn an, dann brach ein Lachen aus ihr heraus, das in einem unrhythmischen Glucksen endete. Dabei kippte ihr Kopf nach vorne und ihre langen Haare verdeckten ihr Gesicht.
Einen Augenblick herrschte Stille zwischen den beiden. Sie hielt erneut den Atem an, ging in sich, ob nicht ... »Hicks.« Da war es immer noch.
»Die Luft so lange wie möglich anhalten. Oder nachher ein Glas Wasser in einem Zug austrinken, das hilft bestimmt.«
»Geht wieder«, sagte sie und atmete ein paar Mal tief durch.
»Wirklich?«
Sie antwortete nicht, sah ihn nur mit leicht verklärtem Augenausdruck an. Dann starrte sie stur geradeaus und wunderte sich, dass es am Ortseingang des kleinen Dörfchens anstatt zwei plötzlich vier Fahrspuren zu geben schien. Krautschneider nahm das Gas zurück, als sie das Ortschild von Weiler in den Bergen passierten.
»Ein Gesicht ohne Rossmucken, ähm, ich meine Sommersprossen, das ist, das ist ...«, er beugte sich ein wenig nach vorn und warf einen kurzen Blick durch die Windschutzscheibe nach oben, »wie ein Nachthimmel ohne funkelnde Sterne.«
Trotz des kühlenden Fahrtwindes stieg langsam eine wohlige Wärme in Hering auf. Wie reizend er sich ihr gegenüber benahm. Das war anfangs nicht so gewesen, als sie vor einiger Zeit vom Landeskriminalamt Kiel als Leiterin der Kriminalpolizei nach Schwäbisch Gmünd gewechselt war. Die beiden Morde auf den Baustellen des Einhorn-Tunnels waren die ersten großen Fälle gewesen, die sie zusammen mit Kriminalhauptkommissar Hecht aufgeklärt hatte. An der damaligen Anweisung der Polizeidirektion Aalen, zu der die Gmünder Kripoaußenstelle gehörte, hatte sich seither nichts geändert: Sie als Kripochefin musste sich, was unüblich war, neben ihren Führungsaufgaben auch an Mordermittlungen beteiligen.
Dabei war sie anfangs oft mit Hecht wegen dessen ungewöhnlichen und manchmal hemdsärmeligen Methoden und ihrer unterschiedlichen Dienstauffassung aneinandergeraten. Mit der Zeit und in dem Maße, in dem sich ihre Sicht auf so manche Begebenheiten in ihrer neuen Heimat änderte, wurden diese Vorkommnisse immer weniger.
Langsam fuhr der Wagen die Auffahrt zum Gasthof Mondschein hinauf. Ein halbes Dutzend Wagen parkten vor dem wuchtigen dreistöckigen Gebäude, an das ein Flachbau mit Dachterrasse angebaut war, deren Geländer mit Blumenkästen geschmückt war.
Krautschneider fiel sofort das Oldtimer-Motorrad mit niederländischem Kennzeichen ins Auge, das direkt neben dem Eingang stand. Er stieg aus dem Wagen und ging darauf zu. Dabei knöpfte er sein dunkelgraues Jackett zu, rieb seine feuchten Hände an seiner Jeans und bewunderte das feuerrote Prachtexemplar von allen Seiten.
»Mensch, das ist, das ist doch …«, entfuhr es ihm.
»Eine Harley Davidson?«, fragte Hering. Sie war ihm mit unsicherem Schritt gefolgt. Im Schatten des Gebäudes konnte sie die Typenaufschrift nicht erkennen.
»Wahnsinn! Toll! Schönes Ding, gell?«
»Ja doch«, entgegnete sie und amüsierte sich, dass jemand so einen Gefallen an einem Bike finden konnte. Sie hatte zwar auch eine Schwäche für Oldtimer, aber die bezog sich auf Autos. Ihr metallicbrauner Käfer Cabriolet stand am gegenüberliegenden Ende des Parkplatzes.
»Eine Flathead, eine WL 750«, schwärmte Krautschneider und konnte es nicht fassen. »Dass so was noch rumfährt. Und so gepflegt.«
Die Turmuhr von St. Michael ließ die beiden kurz aufhorchen, es schlug Mitternacht.
»Das könnte ich mir glatt als nächstes Projekt vorstellen. Mein Luco Record, mein dreirädriges Lastenfahrrad mit Hilfsmotor, das ist jetzt fertig.«
»Prima«, sagte Hering und gähnte verhalten.
In seinem Eifer bemerkte er ihre müde Reaktion gar nicht, sondern konzentrierte sich ganz auf den Oldtimer, der vor ihm stand. »Wurde von Ende der Vierziger- bis Anfang der Fünfzigerjahre gebaut.«
»Neunzehnhundertachtundvierzig«, ertönte es mit leichtem holländischem Akzent von der Dachterrasse über der Gaststube.
Krautschneider hielt die gekrümmte Hand muschelförmig an sein Ohr. »Bitte?«
»Achtundvierziger Baujahr.« Ein Mann mit kahlgeschorenem Kopf – Hering schätzte ihn auf etwa Mitte vierzig – lehnte über die Brüstung gebeugt und sah zu ihnen hinunter. Seine schwarze Lederjacke war offen, ein rotes Tuch schlang sich locker um seinen Hals. Er blies den Rauch eines Zigarillos in die laue Landluft.
Zwischen den beiden einzelnen, unterschiedlich hohen Sitzen des Motorrades befand sich ein separater Haltegriff. Das Hinterrad wurde von zwei Seitentaschen in schwarzem Leder flankiert, die mit Reihen von Nieten besetzt waren. Über dem Lenker befand sich ein hoher Windschild. Die Schutzbleche und der Tank glänzten auf einer Seite blutrot hell im fahlen Licht, das aus den Fenstern der Gaststube auf den Parkplatz fiel. Genussvoll sog Krautschneider den Mischgeruch aus Sprit und Öl ein und kniete sich neben der Maschine nieder. Langsam, fast zärtlich strich er mit der flachen Hand über den Tank. Er spürte und genoss die angenehme Restwärme, die der Motor abstrahlte. Dann blickte er zu Hering auf.
Die stand nur daneben und beobachtete das Ganze. Sie fand es rührend, wie er sich für dieses seltene Stück begeistern konnte – wie ein kleiner Junge, der sich über ein neues Spielzeug freute.
Der Mann auf der Dachterrasse nahm einen tiefen Zug. Er hustete leicht.
»Die muss ich mir …«, begann Krautschneider.
»Wollen Sie die haben? Sie ist zu verkaufen … Leider«, unterbrach ihn der Mann. Seine Stimme verriet ihnen, dass er dies nicht aus freien Stücken tun wollte, sondern musste. Ansonsten sprach er zwar mit leichtem Akzent, aber in korrektem Deutsch. Er stützte sich mit beiden Händen auf der Brüstung ab und sah erwartungsvoll zu den beiden hinunter.
Krautschneider stutzte, war über das Angebot erstaunt. »Ich überleg es mir«, rief er einen Moment später zu der Dachterrasse hoch und lachte dabei.
Der Husten des Mannes wurde stärker, sein Atem schwerer. Aus seiner Lederjacke fingerte er ein kleines Sprayfläschchen, jagte sich zwei Stöße in den Rachen und schnaufte ein paar Mal.
»Ich schlafe noch mal eine Nacht drüber, dann sage ich Ihnen, ähm …« Krautschneider schaute verblüfft nach oben, der Besitzer des Motorrades war nicht mehr zu sehen, war grußlos hinter der Brüstung verschwunden.
Verständnislos schüttelte Hering den Kopf. »Asthma, und dann noch qualmen wie ein Fabrikschlot.«
»Der ist auch nicht von Schwätzhausen«, murmelte Krautschneider vor sich hin.
»Bitte?«, entfuhr es Hering. Sie sah ihn fragend an. In ihren Augen war eine leichte Müdigkeit zu erkennen.
»Der redet nicht viel.«
Jetzt hatte sie es kapiert und sie fragte sich, wie lange es wohl noch dauern würde, bis sie diese Schwaben ganz verstehen würde.
Zweiter Tag – Sonntag, kurz nach Mitternacht
Der Leopard-2-Panzer jagte durch das wellige, mit Buschwerk durchsetzte Gelände. Während der schaukelnden Fahrt suchte der drehende Turm mit der sich ausbalancierenden Kanone gnadenlos sein Ziel. Rings um ihn explodierten Granaten in dichter Folge. Doch sie konnten dieser Kampfmaschine nichts anhaben. Dann preschte hinter einem dichten, hohen Gebüsch ein gegnerischer Kampfpanzer in Flecktarnanstrich hervor.
Blitzartig fixierte die Zieleinrichtung des Leopards das Fahrzeug und feuerte automatisch. Mit orangefarbenen, birnenförmigen Feuerbällen peitschten Schüsse aus der Kanone. Treffer! Der gegnerische Panzer kippte zur Seite und explodierte.
»Jaaaa!«, jubelte Torben und warf seine Arme nach oben. Auf seinem Laptopbildschirm wurde sein Sieg mit einem in Englisch geschriebenen Glückwunsch dokumentiert. Er stand auf, drehte sich um und zuckte zusammen.
Mona Hering stand hinter ihm.
»Boah!« Torben griff sich an die Brust. »Mensch Mona, du hast mich vielleicht erschreckt.«
Wegen des Schlachtenlärms hatte er gar nicht bemerkt, dass seine Mutter das Zimmer betreten hatte. Sie hatte den Schluss des Spieles mitbekommen und nur mit saurer Miene verständnislos den Kopf geschüttelt. Noch nie hatte sie einen Hehl daraus gemacht, wie sehr sie diese Computerspiele hasste. Vor allem diejenigen, die Gewalt verherrlichten.
»Ich verstehe dich nicht«, sagte sie besorgt, »dauernd hockst du vor der Kiste. Ständig das Geballere, der Kampf dieser Hightech-Krieger, hicks, Explosionen, Gessschi …« Sie erschrak, als sie ihr eigenes verunglücktes Wort vernahm, und hielt einen Moment inne, um sich zu konzentrieren. »Ge-zisch-e und Gedudel«, formulierte sie langsam und unterstrich das Gesagte sanft mit den Händen.
»Mona?« Torben sah seine Mutter eindringlich an. Er ahnte, was mit ihr los war und wagte daher eine Bemerkung, die ihm normalerweise, also mit weniger Alkohol im Blut seiner Mutter, Ärger eingebracht hätte. »Jetzt mach dich doch mal locker.«
Hering drehte sich zur Garderobe hinüber, an der Torbens Jacke hing. Sie hob die Nase und schnüffelte mehrmals kurz daran. »Du hast schon wieder geraucht.«
»Nur zwei«, gestand der Fünfzehnjährige mit reumütigem Blick und verschwand im Bad.
»Ich glaube, ich muss dir das Taschengeld kürzen«, rief sie ihm nach.
Hering war klar, dass weitere Ermahnungen und Androhungen heute nichts mehr bringen würden. Den bisher schönen Abend wollte sie sich ohnehin nicht verderben lassen. Beim Verlassen von Torbens Zimmer fiel ihre Aufmerksamkeit auf einige Farbausdrucke, die neben seinem Laptop lagen. Sie nahm die Blätter vom Tisch und betrachtete sie nacheinander. Ihre Miene wurde zunehmend skeptischer, verfinsterte sich schließlich. Die unterschiedlichsten Motive auf menschlichen Armen und Schultern wie Löwenköpfe, Adler, keltische Ornamente, aber auch schöne Frauen waren darauf zu sehen. Als sie realisierte, um was es dabei ging, lief es ihr kalt den Rücken hinunter.
»Willst du dir etwa ein Tattoo stechen lassen?«, schoss es aus ihr heraus. In ihren Augen stand das blanke Entsetzen, noch bevor Torben antworten konnte.
»Alle Seeleute und fast jeder in meiner alten Klasse in Kiel haben so was«, tönte es aus dem Bad, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt.
Von Hering war ein kurzes, wütendes Knurren zu vernehmen. »Und von welchem Geld bezahlst du das?«
»Da wollte ich noch mit Eike reden.«
»Dein Vater wird dir was husten.«
»Dann verlange ich halt Vorschuss auf meinen nächsten Geburtstag.«
»Verlangen? Wie oft denn noch? Ich glaube, ich muss dir das Taschengeld ganz streichen!« Das hatte gesessen. Hering spitzte die Ohren. Einen Moment lang kam kein Laut mehr aus dem Bad.
»Mensch Mona, jetzt mach bloß keinen Scheiß, nur nichts Unüberlegtes«, sagte der Junge und streckte vorsichtig, die Lage peilend, seinen Kopf aus der Badezimmertür. »Wollte mich nur mal informieren, was es so gibt«, versuchte er zu beschwichtigen.
»Und natürlich, was es so kostet«, legte Hering sofort mit einem Überlegenheitsgefühl in der Stimme nach.
Torben nickte nur.
»Ich glaube, darüber müssen wir noch reden. Morgen. Und zwar ausgiebig.«
»Im Norden ist es doch besser, die Menschen sind toleranter, vor allem Eike sieht das lockerer«, ertönte es nochmals aus dem Bad.
Sie erschrak. Das versetzte ihr einen Stich. Als sie sein Zimmer verließ, spürte sie ein leichtes Kribbeln in ihren sich schwer anfühlenden Beinen. Auf dem Flur blieb sie stehen, hob den Kopf an, schloss die Augen und atmete tief durch. Sie konnte es kaum erwarten, sehnte nichts mehr herbei, als dass endlich die Schule wieder begann. Dann würde ihr Sohn ein aufgeräumtes Leben und einen geregelten Tagesablauf haben. »Wie wird das wohl noch enden?«, fragte sie sich. Auf dem Smartphone suchte sie eine Telefonnummer heraus. Die ihres Ex-Mannes Eike Schweizer in Kiel. Sie zögerte kurz, dann drückte sie sie doch weg.
Torbens letzter Satz hing ihr nach. Er hatte seine Wirkung nicht verfehlt. War das ein unterschwelliger Hinweis von ihm oder gar eine Drohung, zurück in den Norden zu gehen? Damit konnte er sie kleinkriegen. Aber das durfte sie ihn nicht spüren lassen. Würde sie jetzt auch noch ihn verlieren – endgültig? Sie fühlte sich so oft allein.
*
Hecht telefonierte über die Freisprechanlage mit Kommissar Sascha Obergfell, der als erster diensthabender Kriminalbeamter am Tatort gewesen war und ihm bereits die wichtigsten Informationen übermittelt hatte.
»Danke Sascha, bin gleich da.«
In dem silbernen Mercedes mit schräg aufgesetztem Blaulicht schlängelte Hecht sich zwischen promenierenden Spaziergängern und eng umschlungenen Pärchen die Bocksgasse hinauf bis zum Johannisplatz und stoppte vor dem Haupteingang auf der Ostseite des Predigers.
Den Besuchern der nur noch spärlich besetzten Straßencafés in der Nähe wurde eine solche Szene nicht alle Tage geboten. Mehrere Streifen- und zwei Notarztwagen standen seitlich des Eingangs. Ihre Blaulichter zuckten im Nachthimmel und wurden an den Fensterfronten der umliegenden Altstadthäuser reflektiert. Rettungssanitäter schoben eine fahrbare Trage mit einem Verletzten, der eine Sauerstoffmaske trug, zum Notarztwagen. Hecht quälte sich mit schmerzenden Beinen aus dem Mercedes und ging auf den Patienten zu. Doch der regte sich nicht.
»Hecht, Kripo Gmünd.« Er hielt dem Notarzt seinen Ausweis hin. »Wie geht es dem Mann?«
»Nicht gut«, sagte der Arzt und bedeutete Hecht von der Trage wegzutreten.
»Ist er ansprechbar?«
Der Mediziner schüttelte den Kopf.
»Ich muss ihn aber befragen«, versuchte es Hecht mit mehr Bestimmtheit in der Stimme.
»Nicht jetzt. Sie sehen doch … Wir melden uns, wenn Sie mit ihm reden können.« Er ließ Hecht stehen, stieg in den Notarztwagen und wandte sich dem Patienten zu. Hecht wollte noch etwas erwidern, doch ein Rettungssanitäter schloss von innen die Türen.
Vor dem Hauptportal des Kulturzentrums stand ein uniformierter Beamter und hinderte einige neugierige Passanten am Zutritt. Hecht ließ er durchgehen, man kannte sich in Schwäbisch Gmünd. In einem Vorraum zum Innenhof verschaffte Hecht sich an einer großen Tafel einen Überblick über die Aufteilung der einzelnen Stockwerke.
Der Prediger war die gute Stube der Stadt, in der sich ein Großteil des kulturellen Lebens abspielte. Die Säle des Südflügels betrat Hecht nur selten, wenn er Simone zuliebe eine Theateraufführung, ein Konzert oder einen Vortrag besuchte. Es mochte schon mehr als zehn Jahre her sein, dass er mit seiner Familie eine Ausstellung im Museum angeschaut hatte, das in den beiden obersten Stockwerken untergebracht war. Der Gemeinderat hatte einen Umbau des Gebäudes beschlossen, das zuletzt vor über vier Jahrzehnten restauriert worden war. Er würde zehn Millionen Euro kosten und ein paar Jahre dauern. Teile des Prediger-Komplexes waren deshalb seit einigen Wochen zu einer Baustelle geworden, die Umgestaltung des Innenbereiches war in vollem Gange.
Hecht trat durch den Kreuzgang, blieb stehen und sah sich kurz um. Alles war hell beleuchtet. Ihm fielen die Malereien auf den weiß marmorierten Wandflächen, die barocken Freskengemälde an den lachsfarbenen Deckengewölben und die kunstvollen Stuckarbeiten ins Auge. Doch für deren genaue Betrachtung blieb ihm keine Zeit. Obergfell kam ihm in Bermudashorts und eng geschnittenem, seinen athletischen Körper betonendem Shirt aus dem überdachten Innenhof entgegen.
»Wo ist es passiert?«, fragte Hecht.
»Unterm Dach«, sagte Obergfell und deutete mit dem Kopf nach oben.
»Im Museum?«
»Ja.«
»Ist Hecki schon da?«
»Jau.«
»Hier gibt es doch sicher einen Hausmeister.«
»Ist unterwegs.«
»Was ist mit dem Museumsleiter?«
»Auf einem Seminar, kann erst am Montagmittag da sein.«
»Hhm. Wie ist der Täter bis ins Dachgeschoss gekommen?«
»Na hier.« Obergfell zeigte auf die provisorischen Holzwände und Bautüren. »Die trennen während der Bauzeit die einzelnen Stockwerke und Gebäudeteile voneinander ab.« Er blieb kurz stehen und sah seinen Chef von der Seite an. »Die Schlösser sind einfach zu knacken.«
Hecht schüttelte nur den Kopf.
»Die hat der Täter ohne Mühe geöffnet, ohne Spuren zu hinterlassen«, fuhr Obergfell fort.
»Hat draußen jemand was beobachtet? In den Cafés, den Kneipen und so.«
»Die Schutzpolizei befragt die Leute, die noch in den Straßencafés sitzen«, berichtete der junge Kommissar. »Aber wenn der Einbrecher von der Rückseite, vom unbelebten Predigergässle, aus eingestiegen und da nicht zufällig jemand vorbeigekommen ist, dann können wir das vergessen.«
Langsam stiegen die beiden nebeneinander das barocke Treppenhaus hinauf, dessen Wände mit aufwändig gestalteten Verzierungen versehen waren. Ein eigenartig muffiger Geruch von altem, ausgebrochenem Mauerwerk durchzog das Gebäude.
»Wann genau ist es denn passiert?«, wollte Hecht wissen.
»Irgendwann nach elf.«
Hecht sah ihn ungläubig an. »Was heißt des? Geht des nicht genauer?«
»Hhm, der Notruf ist …, also, wann der beim Revier eingegangen ist, das checke ich noch.« Obergfell hatte erkannt, dass er sich noch mehr ins Zeug legen musste. »Der Wachmann war eine Zeit lang bewusstlos. Und als er wieder zu Bewusstsein gekommen ist, konnte er sich an die genaue Tatzeit nicht mehr erinnern. Kurz drauf, nachdem der Notarzt ihm was gespritzt hat, war er gar nicht mehr ansprechbar.«
»Und was ist mit den Leuten draußen?« Hecht deutete in Richtung der Cafés auf dem Johannisplatz. »Vielleicht wissen die noch, wann der vorgefahren ist. Dann könnten wir des besser eingrenzen«, sagte er etwas außer Atem, als sie im Dachgeschoss angekommen waren.
»Ich kümmere mich drum«, versprach der junge Kommissar.
Insgeheim hatte sich Hecht mehr und genauere Vorarbeit von seinem Kollegen gewünscht. Der hatte aber offensichtlich Hechts Unzufriedenheit bemerkt, und fühlte sich unbehaglich.
Die beiden Kriminalbeamten gingen durch Räume, in denen religiöse Kunst, liturgische Geräte, Gold, Silber und Schmuck gezeigt wurden. Besondere Aufmerksamkeit war den Arbeiten von Johann Michael Maucher, einem Gmünder Büchsenmacher und Elfenbeinschnitzer aus dem 17. Jahrhundert gewidmet. Schließlich betraten sie das Magazin, in dem sich die eingelagerten Exponate befanden. Rechts gegenüber von den Regalen stand eine geöffnete, mit Samt ausgeschlagene Aluminiumkiste auf einem Tisch.
»War sie da drin?«, fragte Hecht.
»Ja.«
Hecht machte Anstalten, darauf zuzugehen.
»Halt!« Obergfell hielt seinen Chef am Arm zurück und deutete mit dem Kopf auf den Boden, auf dem tönerne Scherben verstreut lagen.
»Damit ist der Wachmann niedergeschlagen worden«, vermutete Hecht.
Obergfell nickte. »Das Gefäß stand da drüben im Regal.«