Über den Autor
Dan Svarre ist Psychologe und Gründer der ForældreSkolen (ElternSchule). Als Spezialist für Erziehung, Konfliktmanagement und Selbstentfaltung bietet er Eltern und Lehrern Beratung und Hilfe an.
Impressum
Titel der dänischen Originalausgabe: »Glade børn med højt selvværd – en forældreguide«
© JP/Politikens Forlagshus A/S 2008
Die Originalausgabe erschien erstmals 2011 beim Politikens Forlag, Kopenhagen.
Dieses E-Book ist auch als Printausgabe erhältlich
(ISBN 978-3-407-85960-0)
Die im Buch veröffentlichten Ratschläge wurden mit größter Sorgfalt und nach bestem Wissen von dem Autor erarbeitet und geprüft. Eine Garantie kann jedoch weder vom Verlag noch vom Verfasser übernommen werden. Die Haftung des Autors bzw. des Verlages und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- oder Vermögensschäden ist ausgeschlossen. Wenn Sie sich unsicher sind, sprechen Sie mit Ihrem Arzt oder Therapeuten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52 a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne eine solche Einwilligung eingescannt und in ein Netzwerk eingestellt werden. Dies gilt auch für Intranets von Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen.
www.beltz.de
Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe:
© 2013 Beltz Verlag, Weinheim und Basel
Umschlaggestaltung: www.anjagrimmgestaltung.de, Stephan Engelke (Beratung)
Umschlagabbildung: ©Andrew Rich / Getty Images
E-Book: Beltz GmbH Bad Langensalza, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-22348-7
Inhalt
Vorwort
Was ist Selbstvertrauen? Und was Selbstwert?
Ein Haus bauen
Leon reißt aus
Fähigkeiten machen Selbstvertrauen – Eigenschaften bilden Selbstwert
Fundament aus Eigenschaften
Simon, der Radprofi
Zu viel oder zu wenig Selbstwert?
Alinas Zeichnungen
Finn auf der Rutsche
Nele vertraut blind
Daniels Übermut
Weg mit dem Lob!
Emma zweifelt
Reise in die Vergangenheit
Emmas Mutter
Akzeptiere dich und andere
Röntgenblick
Paul legt Feuer
Die drei Grundpfeiler des Selbstwerts
Gemeinschaft
Präsenz
Authentizität
Schlusswort
Vorwort
Früher bin ich nie auf den Gedanken gekommen, dass es einen Unterschied zwischen Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl geben könnte. Ich hatte noch nicht erkannt, wie grundverschieden diese beiden Begriffe in Wirklichkeit sind. Ohne es zu wissen, hatte ich sie gleichgesetzt.
Heute habe ich erkannt, dass diese Verwechslung der beiden Begriffe – oder sagen wir, ihre Verschmelzung – ihren Ursprung in meiner Erziehung hatte, in der Einstellung der liebevollen Menschen, die für meine Erziehung verantwortlich waren. Denn auch sie hatten die Begriffe nicht unterschieden und waren ebenfalls davon ausgegangen, dass sie ein und dasselbe bedeuten würden. Der Preis dafür sollte sich als hoch erweisen: einige tiefe Wunden in meinem Selbstwertgefühl, die zu einer massiven Beeinträchtigung meiner Lebensqualität führten.
Dafür aber wurde ich mit einer ordentlichen Portion Selbstvertrauen ausgestattet. In einigen Bereichen mehr als in anderen. Und das in so ausreichendem Maße, dass ich die meisten Klippen umfahren konnte. Meine »Grundstimmung« aber war nicht gut. Ich lebte immer im Gefühl, dass ich etwas erfüllen, etwas darstellen müsste, mehr leisten und mehr können sollte, noch mehr erreichen müsste, um mich gut zu fühlen. Meine Seele hatte keine Ruhe, ich empfand eine permanente diffuse Unsicherheit, ohne herausfinden zu können, woher diese rührte. Vieles gelang mir, nur hatte ich keinerlei Erfahrungen damit gesammelt, dass etwas auch richtig schiefgehen konnte. Ich kam ganz gut zurecht, trotzdem ließ meine innere Unruhe nicht nach, sosehr ich mich auch anstrengte.
Mittlerweile hat jedes Puzzlestück seinen Platz gefunden und ich verfüge heute über die wertvolle Erkenntnis, was in meiner Kindheit versäumt wurde (wobei es sich um keine vorsätzliche Unterlassung handelte). Mir ist klar geworden, dass meine Bemühungen lange Zeit nur dazu geführt haben, mein ohnehin ausgezeichnetes Selbstvertrauen zu stärken. Das ist schließlich nicht wenig! Mein Selbstwert, das Gefühl, wertvoll zu sein, blieb aber schwach. In dieser Hinsicht war mein ganzer Elan nur »heiße Luft«! Unbewusst hatte ich jene Strategien fortgesetzt, die ich von meinen familiären Wurzeln her kannte, hatte immer neue und bessere Wege gesucht, meine Fähigkeiten zu verbessern, zum Beispiel klüger und erfolgreicher zu werden. Mein eigentlicher Antrieb war, Lob und Anerkennung zu erhalten – die Wertschätzung meiner Taten durch andere oder mich selbst. Um meinem Selbstvertrauen seine regelmäßige und notwendige Dosis Lob zu verschaffen, spielte ich ewig dieselbe Leier.
Im Laufe meiner klinischen Arbeit habe ich erkannt, welch unschätzbare Bedeutung aufrichtige Akzeptanz und echte Bestärkung für die Entwicklung und den Erhalt unseres Selbstwertgefühls haben. Die Tiefe dieser Erkenntnis und das Verständnis für deren enorme Reichweite habe ich unter anderem den vielen verantwortungsvollen, mutigen und tatkräftigen Müttern und Vätern zu verdanken, die im Laufe der Jahre den Weg in meine ElternSchule (ForældreSkolen) gefunden haben. Die psychologische Zusammenarbeit mit diesen engagierten Menschen und – direkt oder indirekt – mit ihren Kindern hat mir immer wieder gezeigt, dass meine Geschichte kein Einzelfall ist: Mangelnder Selbstwert bei Erwachsenen und Kindern aufgrund der Verwechslung von »Selbstvertrauen« und »Selbstwert« bildet eher die Regel als die Ausnahme.
Es liegt mir sehr am Herzen, mein Wissen, meine Erkenntnisse und Erfahrungen weiterzugeben, die ich im Laufe der Arbeit mit vielen Eltern und deren Kindern in Sachen Selbstwert gewonnen habe. Darum dieses Buch, das auf die fundamentale Bedeutung des Selbstwerts für Kinder wie für unsere eigene Lebensqualität hinweisen will.
Das Gefühl, wertvoll zu sein, ist das Kernstück dieses Buches. Dem Selbstvertrauen wird – wie Sie sehen werden – eine eher zweitrangige Rolle zugewiesen.
Anhand einer Reihe alltäglicher Fälle können Sie sich grundlegendes Wissen über die Unterscheidung von Selbstvertrauen und Selbstwert aneignen. Darüber hinaus möchte ich Ihnen in diesem Buch nahelegen, warum Sie sich bei der Erziehung auf den Selbstwert konzentrieren sollten – und nicht auf das Selbstvertrauen. So erhält Ihr Kind eine optimale Ausrüstung für das ganze Leben.
Ich möchte die Erfahrungen aus meiner therapeutischen Arbeit mit Ihnen teilen, um Ihre Sensibilität für das Selbstwertgefühl zu intensivieren, was einfach und kompliziert zugleich ist. Sie werden eine Reihe von Kindern und Erwachsenen kennenlernen und eine Reihe von Geschichten lesen, von denen Ihnen manche vermutlich bekannt vorkommen werden.
Bei diesen Fallgeschichten handelt es sich um authentische Konstellationen von Erwachsenen und deren Kindern, bei denen sämtliche Namen geändert wurden. Meine Intention bei diesen Fällen ist es, Kompliziertes zu vereinfachen und psychologische Zusammenhänge so verständlich und nachvollziehbar zu machen.
In meiner therapeutischen Arbeit habe ich immer wieder erlebt, welchen erstaunlichen Effekt es auf Selbstwahrnehmung und Selbstwert hat, wenn Eltern in Wort und Tat Folgendes verinnerlichen:
Kinder aufrichtig bestärken,
statt sie zu bewerten.
Schon an dieser Stelle möchte ich betonen, dass die Anerkennung und Bestärkung unserer Kinder nicht bedeutet, zu allem Ja und Amen zu sagen. Weit gefehlt. Es bedeutet, zu ihnen Ja zu sagen – zu all dem, was und wer sie sind. Was das konkret und im Einzelnen bedeutet, darauf werde ich im Laufe der nächsten Kapitel immer wieder zurückkommen.
Es ist fast so, als hätte man magische Kräfte verliehen bekommen, wenn man beobachtet, wie offensichtlich einfache Anleitungen und Gedanken das Bewusstsein verändern und einen tiefgreifenden Wandel auslösen. Geschieht dies, kann man getrost von einem Leben »davor« und »danach« sprechen.
Allerdings darf nicht vergessen werden, dass es nicht immer leicht ist, sich das Einfache zu erarbeiten. Es ist nicht zu übersehen, wie tief alte, kulturell überlieferte Denk-, Gefühls- und Verhaltensmuster in uns verankert sind. Aber glauben Sie mir: Wie bei anderen Dingen wird es immer leichter und einfacher, je mehr Routine man entwickelt. Sie werden Gefallen daran finden, sobald sich die ersten Ergebnisse zeigen. Und noch mehr Mut gewinnen Sie, wenn Sie Ihr Kind beobachten, wie es innerlich wächst, weil sein Selbstwert und sein Selbstrespekt immer mehr zunehmen. Wenn es immer mehr Ruhe ausstrahlt, wenn es Halt findet in sich und der Gemeinschaft, wenn Sie spüren, dass ihre Verbundenheit stärker wird und damit auch Vertrauen, Freundschaft und gegenseitiger Respekt. Mit einfachen Mitteln wird es Ihnen gelingen, die Lebensfreude Ihres Kindes zu steigern und Ihnen beiden eine Menge Konflikte, Schmerzen, Ängste und Sorgen zu ersparen. Und das Ergebnis? Starker Selbstwert – starkes Kind!
Was ist Selbstvertrauen?
Und was Selbstwert?
Ein Haus bauen
Ich möchte mit einem anschaulichen Beispiel beginnen.
Stellen Sie sich vor, Sie bauen ein Haus, in dem Sie sich wohl und sicher fühlen, wo es ruhig und friedlich ist – ein perfektes Zuhause. Es ist ein Ort, zu dem Sie immer wieder gerne zurückkehren, wenn Sie unterwegs waren, um die Welt zu erobern. Sehen Sie dieses Haus vor sich? Sind Sie vielleicht schon dabei, sich Gedanken zu machen über die Fassade, über das Grundstück, die Wohnlage, die Größe, das Baumaterial, die Einrichtung, den Schnitt der Zimmer, wie viele Stockwerke es geben soll usw.? Können Sie sich das Haus vorstellen, wie es da steht und von außen aussieht, wie Sie es einrichten werden?
Und jetzt: Hand aufs Herz – galt Ihr erster Gedanke dem Fundament? Dass Sie in erster Linie für eine solide Grundlage sorgen müssen, um darauf etwas Stabiles und Beständiges zu errichten? Nein, oder? Weil es für uns schlicht selbstverständlich ist, dass ein Haus ein sicheres Fundament hat.
Möglicherweise verhält es sich mit dem Selbstwert genauso. In der Regel gehen wir (so wie es unsere Eltern getan haben) davon aus, dass er sich von alleine entwickeln wird, sobald das Haus steht. Wir müssen es nur solide genug bauen.
Versuchen Sie mal, diesen Gedanken zu Ende zu denken: Je schöner und stabiler das Haus, desto solider ist sein Fundament … Eine solche Konstruktion trägt aber nicht, denn das Fundament geht der Fassade voraus, es festigt sich nicht von alleine.
Niemand wird bezweifeln, wie notwendig ein stabiles, solides und gut gebautes Fundament ist. Denn es ist klar, was mit einem Haus passiert, das auf einem schwachen oder schlimmer noch: nicht existierenden Fundament errichtet wurde. Und je größer, massiver und schwerer das Haus ist, umso verheerender sind die Folgen.
Mentales Fundament unseres Lebens und des Lebens unserer Kinder ist der Selbstwert. Alles, was wir fühlen, denken und tun, beruht darauf – so wichtig und bedeutsam ist er. Und das Selbstvertrauen? Das befindet sich in allen Teilen des Baus, der auf dem Fundament des Selbstwerts entsteht.
Vereinfacht gesagt:
Selbstwert ist das Fundament unserer
Selbstwahrnehmung – Selbstvertrauen
und Selbstwert unterscheiden sich fundamental.
Selbstvertrauen und Selbstwert sind so verschieden wie Tag und Nacht. Sie sind so konträr wie Spinne und Elefant.
Das eine hat seinen Ausgangspunkt in dem, was wir tun. Der andere in dem, was wir sind. Wie sich zeigen wird, ist dieser Unterschied voller Spannungen.
Um einen Überblick zu bekommen, habe ich die Bedeutungen der beiden Begriffe in einer Tabelle zusammengefasst:
Selbstvertrauen |
Selbstwert |
Es geht um das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. |
Es geht um das Erleben und die Erkenntnis, wertvoll zu sein. |
Es geht um das eigene Tun. |
Es geht um das eigene Sein. |
Es geht darum, was wir können. |
Es geht darum, was wir sind. |
Es geht darum, die eigenen Möglichkeiten auszuschöpfen. |
Es geht darum, die eigenen Eigenschaften anzuerkennen. |
Wenn die beiden Begriffe aber so grundverschieden sind, warum werden sie dann so leicht verwechselt?
Bei der Beantwortung dieser Frage kann uns die Geschichte von Leon und seinen Eltern helfen. Begleiten wir sie ein Stück auf ihrem gemeinsamen Weg.
Leon reißt aus
Leon ist neun Jahre alt und geht in die 3. Klasse. In der Schule kommt er gut mit und wird oft von den Lehrern gelobt, die ihn als pflichtbewussten, angenehmen und charmanten Schüler wahrnehmen, der in fast allen Fächern gute Leistungen erzielt. Seine Mitschüler mögen ihn auch, sowohl die Jungen als auch die Mädchen. Sie finden ihn lustig. Das Telefon zuhause klingelt oft, weil Klassenkameraden sich mit Leon verabreden wollen. Manchmal ist ihm das fast zu viel.
Brav und ordentlich
Auch Leons Eltern halten ihn für ein einfaches Kind. Er macht praktisch alles, worum er gebeten wird. Ohne zu nörgeln setzt er sich zum Beispiel hin und erledigt seine Hausaufgaben. Er will nicht unvorbereitet in die Schule gehen. Im Haushalt hilft er viel, deckt den Tisch, räumt ab und stellt das Geschirr in die Spülmaschine. Darüber freuen sich seine Eltern und loben ihn. Auch sein Zimmer ist selten unordentlich.
Wenn er Besuch von Freunden hatte, räumt er hinterher unaufgefordert auf, seine Spielsachen stehen alle in Reih und Glied im Regal oder liegen in Kisten. Sogar seine Donald-Duck-Hefte sind ordentlich übereinandergestapelt und nach Nummern und Jahrgängen sortiert. Er kann es nicht leiden, wenn seine Freunde diese Ordnung durcheinanderbringen. Das macht ihn nervös und verdirbt ihm schnell die Laune. Seine Stimmung kippt auch leicht, wenn er beim Computerspielen verliert, manchmal rastet er auch völlig aus. Leon hasst es zu verlieren, was selten vorkommt. Denn am Computer ist er der Beste in seiner Klasse.
Mia, die kleine Schwester
Leon versteht sich gut mit seiner zweieinhalb Jahre jüngeren Schwester Mia. Das war nicht immer so. Immer wieder erzählt seine Mutter die »lustige« Geschichte, wie sie mit Mia aus der Klinik nach Hause kam. Leon wurde zornig, als er begriffen hatte, dass die kleine Schwester für immer in der Familie bleiben würde. Aber so etwas sei ganz normal, wenn man von heute auf morgen »entthront« wird, erklärt die Mutter. Seither haben beide Elternteile das Verhältnis der Kinder als ausgeglichen wahrgenommen. Sie spielen viel zusammen und streiten sich nicht häufiger als andere Geschwister.
Alpträume
Etwa anderthalb Jahre nach Mias Geburt beginnt Leon, unter Alpträumen zu leiden. Fast jede Nacht schreckt er panisch auf, meistens vom selben Traum. Starr vor Schreck wacht er auf, weint und bekommt kaum Luft, weil er glaubt, dass er »gleich von Kobolden aufgefressen« wird. Wenn seine Eltern ihn zu sich ins Bett holen, beruhigt er sich bald und schläft wieder ein. Dieses Prozedere wiederholt sich Nacht für Nacht.
Einige Jahre kehren die Alpträume in regelmäßigen Abständen wieder, stellen in den Augen der Eltern aber kein großes Problem dar. Sie mögen es sogar ganz gerne, wenn Leon bei ihnen im Bett schläft.
Peinliche Geschichten
Ein paar Jahre später beobachten Leons Eltern, wie ihr Sohn, ausgerüstet mit einem kleinen Koffer und seinem Lieblingsteddy, das Haus verlässt und zum Gartentor geht. Er ist drauf und dran »wegzugehen«. Das ist eine der vielen »niedlichen« Geschichten, die Leons Mutter zum Besten gibt, wenn Verwandte und Freunde zu Besuch sind. Leon findet das überhaupt nicht witzig. Er fühlt sich bloßgestellt, wenn die Mutter solche Sachen erzählt. Wenn er sie hin und wieder bittet, damit aufzuhören, tut er es aber nur ganz leise und zaghaft. Die Mutter wischt seine Proteste mit Bemerkungen beiseite wie »Ach, du verstehst überhaupt keinen Spaß« oder »Das war doch so süß«. Leon sieht das nicht so. Er findet es peinlich und fühlt sich vorgeführt. Er hat das Gefühl, sich damals dumm und falsch verhalten zu haben. Er hat den Eindruck, als wäre etwas nicht richtig mit ihm, wenn er immer wieder solche Geschichten vorgehalten bekommt. Aber er schluckt seinen Unmut runter.
Probleme in der Schule
In letzter Zeit hat Leon Schwierigkeiten bei den Hausaufgaben. Er glaubt, dass er sie einfach nicht lösen kann, und gerät vollkommen außer sich. Dann wirft er das Mathematikbuch in die Ecke, sodass die Seiten zerknicken. Hinterher tut es ihm leid und er versucht, die Sache wiedergutzumachen. Ein paar Mal sagt er, dass Mia viel besser in Mathematik sei als er. Das stimmt natürlich nicht, denn Mia geht erst in die 1. Klasse.
Eines Tages ruft die Schule bei den Eltern an und erzählt, dass Leon aus der Mathematikstunde weggelaufen sei. Er habe laut herumgeschrien und dann die Tür hinter sich zugeschlagen. Die Mathematiklehrerin habe das sehr überrascht, denn so ein Verhalten passe gar nicht zu dem sonst so ruhigen und besonnenen Leon. Kurz darauf habe sie ihn bei den Fahrradständern gefunden. Er habe geweint und einfach nicht mehr damit aufgehört. Dabei habe er vor sich hin gestammelt: »Ich bin der Dümmste auf der ganzen Welt. Ich kann nichts. Alle anderen sind viel besser als ich. Auch egal. Ich hasse die Schule und die anderen. Ich kann genauso gut ganz verschwinden. Mich mag sowieso niemand. Das merkt eh keiner, wenn ich weg bin. Die freuen sich sogar. «
Die Grenze ist erreicht
Leons unmittelbare Reaktion und seine spontanen Worte sind typisch für Kinder und Erwachsene mit einem ernsthaft geschädigten Selbstwert. Leon hat Gedanken dieser Art schon unzählige Male gehabt und hat die Gefühle unterdrückt, die dabei in ihm hochkamen. Unbewusst war es für ihn wichtiger – und das trifft für die meisten Kinder zu –, seine Eltern nicht zu enttäuschen. Darum hat er sich immer wieder zusammengerissen und seine Verzweiflung und Ohnmacht heruntergeschluckt. So lange, bis die emotionale Belastung und Speicherung negativer Energie einen kritischen Punkt erreicht hatten und das Fass zum Überlaufen brachten. Ein einziger Tropfen reichte aus.
Das Gefühl, nicht zu genügen
Leon hat seine ersten neun Lebensjahre damit verbracht, das einfache, angepasste, fleißige und freundliche Kind zu sein. Das war sozusagen ein Teil seiner Überlebensstrategie, die ihm auch gut gelungen ist. Er hat fast alles, was von ihm erwartet wurde, gemeistert. Da er zweieinhalb Jahre Vorsprung zu seiner kleinen Schwester hatte, konnte er seine Fertigkeiten immer an ihr messen – entsprechend groß war sein Selbstvertrauen. Aber mittlerweile ist der Altersunterschied nicht mehr so bemerkbar und Mia überholt ihren großen Bruder bereits in einigen Dingen. Auch nehmen in der 3. Klasse die Anforderungen zu und es macht Leon Angst, dass er seine Aufgaben nicht mehr mit derselben Leichtigkeit meistern kann wie früher. Genau das verlangt er aber von sich selbst und geht davon aus, dass auch die anderen es von ihm erwarten. Allmählich begreift er, dass seine bisherige Strategie nicht mehr funktioniert.
Seine Reaktion ist eine Äußerung der schmerzhaften Empfindung, nicht genügen zu können. Daraus resultiert das Gefühl, es nicht wert zu sein, geliebt zu werden. Leon glaubt, dass mit ihm etwas Grundlegendes nicht in Ordnung ist, was für ein Kind eine beängstigende Situation darstellt. Er ist buchstäblich in seinen Grundfesten erschüttert, was sich mehr als deutlich in seinem Verhalten widerspiegelt.
Die Suche beginnt
Leons Reaktion ist – abgesehen von seiner tatsächlichen Verzweiflung über die eigenen schulischen Leistungen – ein unbewusster Versuch, seine Eltern aufzurütteln. Glücklicherweise ist ihm das gelungen. Seine Eltern erkennen den Ernst der Lage und sind bereit, zuzuhören und umzudenken. Sie haben nicht vor, die Episode abzutun und darauf zu vertrauen, dass sich die Sache schon von alleine lösen wird.
Als Erstes nehmen sie sich vor, sich in die Vorgänge in seinem Inneren hineinzuversetzen. Ihnen ist klar geworden, dass gar nicht alles so einfach für ihn war, wie sie immer angenommen hatten. Schließlich musste in seinem Inneren etwas vorgefallen sein, worauf sie nicht ausreichend geachtet hatten, sonst hätte sie seine Reaktion nicht so überrumpeln können. Leons Eltern sind bestürzt darüber, dass er unter einem so gravierenden Selbstzweifel leidet und seine Existenzberechtigung und Liebenswürdigkeit infrage stellt. Gleichzeitig weckt die Situation aber auch ihre Neugierde.
Sie suchen nach Antworten und tauschen sich mit anderen Eltern aus, lesen Bücher über Kindererziehung und entschließen sich eines Tages auf Anraten eines befreundeten Paares für eine Therapie. Hier eröffnet sich ihnen eine vollkommen neue Welt. Erst jetzt wird ihnen die Bedeutung des Selbstwertgefühls in seiner ganzen Vielfalt bewusst.
Ein schwacher Selbstwert
Im Verlauf des Prozesses erkennen Leons Eltern, wie schwach sein Selbstwert ist und dass er jahrelang versucht hat, diesen Mangel durch Stärkung seines Selbstvertrauens auszugleichen. Das ist ihnen aber nicht aufgefallen. Beide waren der Auffassung, ihren Sohn gut zu kennen. Sie hatten ihn als ein freundliches und fröhliches Kind wahrgenommen, das alle gernhatten, die meisten Aufgaben ohne größere Probleme meisterte und selten trotzig war. Sie waren der Überzeugung, er sei zufrieden, ruhe in sich und vertraue auf seine Fertigkeiten und Fähigkeiten. Das tat Leon auch – ein gutes Stück des Weges zumindest. Aber sein Verhalten hat den Eltern aufgezeigt, dass ein solides Selbstvertrauen nicht ausreicht, um ein Fundament zu bilden. Auch ein starkes Selbstvertrauen kann nicht verhindern, dass ein schwacher Selbstwert zum Einsturz des ganzen Gebäudes führt. Wie hätten sie aber diese Mechanismen erkennen können, zumal sie beide Begriffe als identisch aufgefasst hatten?