Für Sombo, das Mädchen vom Fluss und die Fortsetzung der Geschichte von Sombo, Wie der Fluss in meinem Dorf, wurde Nasrin Siege mit dem Preis der Ausländerbeauftragten des Senats der Stadt Berlin ausgezeichnet.
Impressum
Ebenfalls lieferbar: »Sombo, das Mädchen vom Fluss« im Unterricht Arbeitsheft für Lehrer/-innen in der Reihe Lesen – Verstehen – Lernen
ISBN 978-3-407-62561-8
Beltz Medien-Service, Postfach 100565, 69445 Weinheim
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Dieses E-Book ist auch als Printausgabe erhältlich
(ISBN 978-3-407-78165-9)
www.gulliver-welten.de
© 1990, 2013 Beltz & Gelberg
in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Susanne Härtel
Neue Rechtschreibung
Einbandgestaltung: Max Bartholl
Einbandfoto: Joerg Heinemann-Bilderberg
E-Book: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-74440-1
Für Lena und Andreas
Mein Dank gilt Mununga, Kuvango, Manongo, Misozi, Kavemba, Sombo, Mutango, Lavina, Sumaili, Chilombo, Chinyundu und Samakweva, die mich mitgenommen haben in ihre Welt und ohne deren Hilfe ich dieses Buch nicht hätte schreiben können.
Über den Autor
Nasrin Siege, geboren 1950 in Teheran/Iran, lebte seit ihrem neunten Lebensjahr in der Bundesrepublik Deutschland, studierte Psychologie in Kiel und arbeitete als Psychotherapeutin in einer Suchtklinik. Danach hielt sie sich mit ihrer Familie für viele Jahre in Sambia und Tansania auf. Heute lebt sie mit ihrem Mann in Addis Ababa. Bei Beltz & Gelberg erschienen bereits mehrere Kinderbücher der Autorin: Wie der Fluss in meinem Dorf, Juma. Ein Straßenkind aus Tansania sowie Shirin und zuletzt Als die Elefanten kamen. Mehr zur Autorin und ihren Büchern unter http://nasrin-siege.com
1.
Ich mag den Morgen. Ich mag die Sonne, die dann wie ein roter Feuerball über dem Fluss aufgeht. Ich mag das Feuer am Morgen. Oft bin ich die Erste, die aufwacht. Ich halte meinen noch schlafenden kleinen Bruder an meinen Körper gedrückt. So geben wir einander etwas von unserer Wärme ab. In der kalten Zeit schlafe ich wenig und warte sehnsüchtig auf den Morgen. Sobald es hell ist, löse ich vorsichtig meinen Bruder von mir. Dann gehe ich Feuerholz holen und entfache das Feuer neu. Die Wärme ist nun wie eine Hand, die nach mir greift. Die Finger der Hand bedecken nicht den ganzen Körper und mir ist warm und kalt zugleich.
Meine Geschwister werden langsam wach. Auch Mutter höre ich leise sprechen. Ich laufe zum Fluss, um Wasser zu holen. Nebel liegt auf dem Fluss und ich kann das andere Ufer nicht sehen. Ich tauche meine Hände in das Nass und wasche mir das Gesicht. Das Wasser ist kalt und tut meinen Fingern weh. Schnell fülle ich die große Kalebasse und laufe zurück zu unserer Hütte. Meine Geschwister hocken schon alle am Feuer und wärmen sich daran. Mutter liegt noch auf ihrem Lager in der Hütte. Ich setze einen Topf mit Wasser auf und tröste meine Geschwister: »Gleich bekommt ihr euren Tee und dann wird euch warm.«
Ich bringe Mutter den heißen Morgentee, den sie langsam ausschlürft.
Wenn ich einmal eine Tochter habe, wird sie mir auch den Morgentee bringen, denke ich, und ich freue mich auf später.
Mutter lacht, wenn ich ihr das sage.
»Das wünschen sich alle Frauen«, sagt sie.
In unserem Dorf wohnt eigentlich nur meine Familie. Das sind zuerst einmal Mutter, Vater und wir vier Kinder: mein Bruder Chilombo und meine zwei Schwestern Kuvangu und Miji und ich, Sombo.
Dann wohnen hier aber auch noch Vaters ältester Bruder mit seiner Frau Linongo und den Kindern, seine zwei jüngeren Brüder und die Großeltern.
Früher wohnten noch die Schwestern meines Vaters in unserem Dorf. Aber sie haben geheiratet und jetzt leben sie bei ihren Männern. Nur Vaters kleine Schwester ist in die Stadt gezogen.
Mutter warnt uns jeden Tag vor der Stadt. »Dort kommt das Böse her«, sagt sie dann mit drohender Stimme.
»Das Böse ist doch im Fluss«, habe ich ihr einmal geantwortet.
Da hat sie gelacht und gesagt: »Das Böse aus dem Fluss, das ist uns vertraut. Aber das Böse aus der Stadt kennen wir nicht und deshalb hat es Macht über uns.«
Ich weiß nicht. Manchmal denke ich, dass auch die älteren Leute nicht alles wissen. Wie können sie wissen, dass etwas böse ist, wenn sie es nicht einmal kennen? Ich habe das Mutter gesagt. Da hat sie mich ausgeschimpft.
»Sag bloß nicht, dass du in die Stadt willst! Sonst kannst du was erleben!«, hat sie geschrien.
Manchmal, wenn Mutter mich haut, weine ich, denn es tut weh. Manchmal haut sie mich aber auch leicht, und ich tue nur so, als ob es mir wehtut.
Unser Dorf liegt an einem Fluss. In der heißen Zeit, wenn die Sonne auf die Haut brennt und die Luft vor den Augen flimmert, baden wir gerne in seinem kühlen, frischen Wasser. Und bald vergessen wir die Krokodile, die uns fressen könnten. Heute ist es kalt, und der Gedanke, ich sollte im Fluss schwimmen, lässt mich für einen Augenblick schaudern.
Mutter ruft mich und drückt mir Miji in die Arme. Meine kleine Schwester lacht und kneift mich in die Brust. Ich werde böse und schreie sie an. Da fängt Miji an zu weinen.
Mutter schimpft mit mir. »Du sollst sie zum Lachen bringen und nicht zum Weinen«, sagt sie.
Ich strecke Miji die Zunge raus und mache Grunzlaute wie ein Wildschwein. Da fängt sie an zu lachen und mit ihr auch die anderen Kinder.
Mutter kocht uns den Maisbrei. Schon seit langem haben wir keinen Zucker mehr und müssen ihn ungesüßt essen. Statt Zucker tun wir nun etwas Salz hinein.
Vielleicht kommt Vater heute von der Jagd zurück. Dann werden wir Fleisch haben, und ich werde so viel essen, dass man mich durch das Dorf rollen kann. Bei dem Gedanken an Fleisch knurrt mir der Magen. Miji guckt sich erstaunt um und will wissen, was so laut geknurrt hat.
Vater ist schon vor vielen Tagen mit seinen Brüdern und einigen anderen Männern in den Busch gegangen. Sie haben ihre Pfeile und Bögen mitgenommen. Vater ist ein guter Jäger. Immer bringt er uns Fleisch mit. Die Männer aus den umliegenden Dörfern gehen gerne mit ihm auf die Jagd.
Wir sitzen am Feuer und essen unseren Maisbrei. Ich habe Hunger und lange kräftig zu. Mutter sagt, ich soll auch Miji füttern. So halte ich meine kleine Schwester auf dem Arm und stecke abwechselnd ihr und dann mir den Brei in den Mund.
Auch die anderen aus meinem Dorf sind nun aufgewacht. Mutter scherzt mit Linongo. Linongo ruft mich und hält mir ihr Baby Kasumbi hin. Ich soll es auf meinem Rücken tragen. Sie sagt, dass Kasumbi krank ist und die ganze Nacht nicht geschlafen hat.
»Hast du ihn nicht schreien hören?«, fragt sie mich.
Ich schüttle den Kopf. »Ich habe auch nicht geschlafen, weil es so kalt war. Aber Kasumbi habe ich nicht gehört!«
Linongo lacht und meint, dann hätte ich wohl nur geträumt, dass ich nicht geschlafen habe.
Ich nehme Kasumbi und binde ihn mir in einer Chitenge, einem Tragetuch, auf den Rücken. Kasumbi atmet schwer und grüner Schleim läuft aus seiner Nase.
Meine Freundin Wime aus dem Nachbardorf kommt mich besuchen. Auch sie trägt ihre kleine Schwester auf dem Rücken und hat noch den jüngeren Bruder dabei.
»Heute Nacht war es kalt, nicht wahr?«, sagt sie. »Trotz der Decke, die mir Vater aus der Stadt mitgebracht hat, habe ich gefroren.«
Ich habe Wime schon seit langem um die neue Wolldecke beneidet. Vater hat mir nur eine alte Decke gegeben, die er von den Missionaren billig gekauft hat. Sie ist inzwischen noch dünner geworden und Löcher hat sie auch.
Doch nun steht die Sonne hoch und bald vergessen wir die Kälte der Nacht.
Am Abend kommt Vater von der Jagd zurück. Er strahlt. Sie haben zwei Antilopen erlegt. Das meiste Fleisch ist noch im Lager im Busch. Die Jäger haben so viel sie tragen konnten mit ins Dorf geschleppt. Sie sind müde. Sie sagen, dass sie das restliche Fleisch später auf zwei Fahrrädern holen wollen.
Das ganze Dorf lärmt vor Freude. Nun werden wir wieder für einige Zeit Fleisch haben.
Die Männer haben auch getrocknetes Fleisch mitgebracht; es ist Fleisch von den Tieren der ersten Jagdtage. Ich schneide mir ein Stück aus einer Keule heraus und kaue darauf herum. Doch Miji lässt es mich nicht alleine essen. Mit ihren kleinen Fingerchen greift sie danach und steckt sich das Fleisch schließlich in ihren fast zahnlosen Mund.
Vater lacht und kneift sie in die Backe.
Alle Frauen sind heute mit dem Zubereiten der Jagdbeute beschäftigt. Die Hauptarbeit, nämlich das Zerlegen der Tiere, haben die Männer bereits im Busch erledigt. Nun sitzen und liegen sie am Feuer im Zango, der Versammlungshütte der Männer, die wir Frauen und Mädchen nicht betreten dürfen, und erzählen von der Jagd.
Ich bin neugierig und stelle mich einfach in ihre Nähe. So kann ich ihren Geschichten zuhören.
Viele Tage und Nächte waren die Männer im Busch, wo sie ein festes Lager aufgeschlagen haben. Von dort sind sie jeden Morgen in der Frühe losgezogen.
»Es war wie verhext«, berichtet mein jüngerer Onkel. »Wir haben in den ersten Tagen überhaupt kein Wild gesehen, nicht einmal einen Vogel!«
So mussten sie im Busch nach essbaren Blättern und Pflanzen suchen, die sie mit dem mitgenommenen Maismehl verzehrten.
Die Männer bekamen jeden Tag mehr Hunger auf Fleisch. Aber dann haben sie in einer ihrer Fallen ein Wildschwein gefangen.
»Das Fleisch war zart und gut und es gab uns neue Kräfte«, sagen sie.
Nur Vater schweigt und hört den anderen mit aufmerksamen Augen zu, wie sie ihre Jagdgeschichten erzählen, die ja auch die seinen sind.
Er spricht meistens nicht viel.
2.
Chisola ist in unser Dorf gekommen. Sie ist die jüngste Schwester von Vater. Wir freuen uns, denn wir haben gern Besuch. Sie gibt mir ihr Baby und ich darf es auf dem Rücken tragen.
»Du bist ein großes Mädchen geworden, Sombo«, sagt Chisola.
Mutter lacht und sagt: »Ja, das ist sie, und du solltest sehen, wie gut sie mir bei der Arbeit im Haus hilft!«
Ich höre ihre Worte, freue mich und weiß trotzdem nicht, wohin ich schauen soll. Wenn sie mich tadeln, tun sie mir weh. Aber wenn sie mich loben, habe ich ein ähnliches Gefühl, nur dass ich mich dazu noch freue.
Ich nehme Chisolas Baby auf den Rücken und gehe schnell weg.
Die kleine Chisengo ist erst ein paar Monate alt. Seit ihrer Geburt wird ihre Mutter Nyachisengo, Mutter-Chisengo, gerufen. Nyachisengo hat nicht geheiratet. Aber für Chisengo sind ja sowieso ihre Onkel, nämlich mein Vater und sein älterer Bruder, verantwortlich. Das ist der Brauch hier bei meinen Leuten.
Unser Lehrer hat gesagt, dass bei den Weißen der Vater für seine Kinder sorgen muss. Bei uns sorgt der Bruder der Mutter für ihre Kinder.
Die Brüder meiner Mutter leben in dem Dorf, in dem auch sie früher gewohnt hat. Der ältere Onkel kommt uns manchmal besuchen. Er ist gut und streng zu mir. Einmal hat er mich gehauen, weil ich nicht auf Mutter gehört habe und in der Dunkelheit zum Fluss hinuntergegangen bin.
»Im Fluss leben Schlangen. Wenn sie deinen Schatten fressen, dann stirbst du«, hat er mit drohender Stimme gesagt.
Ich weiß von diesen Schlangen und ich weiß auch von den Krokodilen. Die Schlangen sind eigentlich noch gefährlicher als die Krokodile, weil sie bösen Zauberern gehören.
Nyachisengo will nicht mehr zurück in die Stadt. Bei dem Wort Stadt fängt mein Herz an zu klopfen.
»Was hast du in der Stadt gemacht?«, frage ich sie.
»Ich habe Arbeit gesucht. Aber glaube nicht, dass das einfach ist. Ich habe lange herumgefragt und viel gesucht.«
»Ja, und dann? Hast du dann gearbeitet?«, frage ich sie.
Nyachisengo schaut mich mit ihren großen schwarzen Augen an. »Ja, schließlich habe ich Arbeit gefunden, bei einer weißen Frau.«
»Was hast du da gemacht, für diese Frau?«
Nyachisengo lacht und nimmt ihr Baby in die Arme. »Ich habe ihre Kinder gehütet.«
»Aber warum bist du von der weißen Frau fortgegangen?«, frage ich sie schließlich.
»In der Stadt habe ich niemanden«, erklärt sie.
In der Nacht kann ich wieder nicht schlafen. Meine Gedanken sind wie bunte Bilder aus dem Buch, das uns der Lehrer manchmal zeigt. Ich beneide ihn und ich beneide meine Tante. Sie sind herumgekommen, sie haben fremde Städte und Menschen kennen gelernt. Die weiße Frau hat Kinder, und Nyachisengo hat sie so herumgetragen, wie ich Chisengo herumtrage. Sie haben zusammen gelacht und gescherzt, sie haben zusammen gegessen wie zwei Schwestern. Wie gut hat Nyachisengo es doch gehabt, denke ich. Aber warum hat sie mit der Arbeit aufgehört?, frage ich mich immer wieder. Ob die weiße Frau traurig gewesen ist, als sie wegging? Und die Kinder? Haben die Kinder da geweint?
Mir tun die Kinder Leid und die weiße Frau, und ich nehme mir vor, meine Tante am nächsten Morgen danach zu fragen.
In der Schule erzähle ich dem Lehrer von meiner Tante.
»Warum ist sie nicht in der Stadt geblieben?«, fragt er.
»Ich weiß nicht«, sage ich. »Sie hat gesagt, dass sie in der Stadt niemanden hat. Aber ich verstehe das nicht. Sie hat doch die weiße Frau gehabt.«
Auch Wime kann sich das nicht erklären.
»Warum bist du von der weißen Frau weg?«, frage ich meine Tante.
»Du bist noch zu klein, um das zu verstehen«, sagt sie.
»Hast du es nicht besser gehabt bei ihr als hier bei uns im Dorf?«, frage ich weiter.
Nyachisengo schaut mich überrascht an und lacht plötzlich laut los: »Ich sehe schon, du lässt nicht locker.«