Der Krake auf meinem Kopf
... un noyé pensif, parfois, descend ...
(Ein Toter, manchmal, bleich, gedankenvoll versinkt. )
Arthur Rimbaud, Das trunkene Schiff
9
»Nyktalopie bedeutet Nachtblindheit. Jemand, der nachtblind ist, könnte ein Nyktalope sein. Und wie bezeichnet man jemanden mit Tagblindheit? Oder jemanden, der nicht arbeitet? Jobalope?«
»Das wäre ein Ivy.«
»Wir sind beide schiefgewickelt. Wie wär’s mit Diurnalope?«
»Hätte ich nicht diese Sonnenbrille auf der Nase«, sagte Lavinia, »ich wäre glatt in die Friedhofsmauer gerauscht.«
Es war einer dieser Morgen, von denen wir in Kalifornien glauben, dass es sie nur in Kalifornien gebe – womit wir vielleicht sogar richtigliegen. Keine Feuchtigkeit, natürlich: null. Was bedeutet, dass es im Schatten frisch ist und warm in der Sonne. Kurz vor Tagesanbruch eine Kühle mit der begründeten Aussicht auf herannahende Wärme. Im Osten ein paar Schwaden Küstennebel, unbeirrt und aus freien Stücken dort verweilend, ein kleines Empfangskomitee für die sich ankündigenden Tangelo-Schattierungen des aufgehenden Zwergsterns. Die Blautöne des Himmels durchlaufen die Farbskala von Kornblumenblau als Hintergrundbeleuchtung für die Nebelschwaden über das Blau der Heidelbeeren, wenn er direkt über einem ist, bis Violett, sofern man sich Richtung Westen bewegt, auf den gequetschten Horizont zu, wo Himmel und Meer sich nicht dazu durchringen können, sich auf eine Farbe zu einigen. Der letzte Farbton ist ein verstörender, der einer Hautoberfläche, die im Laufe der Nacht heftigen Schlägen ausgesetzt war, und der uns vor Augen führt, dass wir in diesem Moment – wie in allen Momenten zuvor – keine Ahnung haben von der unberechenbaren Maschinerie, die seine Gegenwart garantiert.
Abgesehen von der halben Stunde Schlaf, die wir uns auf dem Rücksitz des Lexus gegönnt hatten, während Ivy mit seiner Entlassung aus dem Gefängnis beschäftigt gewesen war, und meinen zwanzig Minuten auf dem Boden seiner Küche, hatten Lavinia und ich die ganze Nacht im Wachzustand verbracht. Das Tageslicht malträtierte unsere Augen, ungeachtet der Sonnenbrillen, die ich ganz behutsam aus dem Handschuhfach gezogen hatte, an der schwarzen Neunmillimeter vorbei, die dort verharrte wie eine Giftschlange im Winterschlaf. Obwohl Lavinia recht zivilisiert durch die Seitenstraßen von Oakland fuhr, machte sich der Luftstrom an dem Loch zu schaffen, das einst ein Heckfenster gewesen war, und auch an den wenigen uns noch verbliebenen Kalorien. Wir waren noch keinen Block weit gefahren, als Lavinia die Heizung anschaltete. Dieser Lexus war schon ein Luxusschlitten. Alles an ihm lief leise. Wiewohl das Gebläse mit maximaler Leistung arbeitete, musste sich KCSM nicht sonderlich ins Zeug legen, um uns mit Cannonball Adderleys vorzüglicher Coverversion von Autumn Leaves zu umschmeicheln.
»Werden Menschen, die sich bei Tagesanbruch Zuckungen hingeben, gemeinhin als Musiker bezeichnet?«, fragte Lavinia, anscheinend nur, um Konversation zu machen.
»Dieser Typ hatte keine Schuhe an.«
»Welcher Typ?«
»Stepnowski. Im Lagerhaus.«
Lavinia runzelte die Stirn. »Hatte er nicht?«
»Die Socken, die er trug, waren weiß und nicht sehr schmutzig und schienen an manchen Stellen in Auflösung begriffen.«
»In Auflösung begriffen, an manchen Stellen ... «
»Wie zwei von Schrotkugeln getroffene Stoffpuppen.«
Sie ließ es sacken.
»Tut mir leid«, sagte ich. »Ich muss heute Morgen immerzu an Flinten denken.«
»Er lag auf dem Boden eines Lagerhauses ... «
Ich nickte mechanisch, denn mir ging etwas völlig anderes durch den Kopf, die Tatsache nämlich, dass wir uns um unser Geld gekümmert, uns aber nicht die Zeit genommen hatten, das Lagerhaus in der De Haro näher unter die Lupe zu nehmen. Aber ich sagte: »Das ist ein sehr interessanter Aspekt ... «
»... weil er den Schluss zulässt, dass Stepnowski woanders umgebracht wurde«, vervollständigte Lavinia den Satz.
»Und im Lagerhaus entsorgt wurde.«
Das ging uns wohl beiden durch den Kopf, als wir an einer roten Ampel hielten und direkt in die Sonne sahen. Lavinia stellte das Gebläse schwächer ein. »Er war nicht groß. Hätte eine einzelne Person ihn dorthin schaffen können? Allein?«
»Hundert Pfund sind hundert Pfund.«
»Er wog mehr als hundert Pfund.«
»Sehr wahrscheinlich.«
»Also haben ihn zwei Typen mit einem ... wie heißt so ’n Dingsda noch mal? ... dort abgeladen.«
»Sackkarre? Hubwagen? Gabelstapler?«
»Aber was ist mit der Blutlache?«
»Was soll damit sein?«
»Wie viel Blut hat so ein Erwachsener?«
»Um die zehn Pints.«
Sie sah mich verblüfft an.
»Woher weißt du das?«
Ich zuckte mit den Achseln. »Man kann ja nicht nur üben. Und da ich kein passionierter Trinker bin, nie fernsehe und mir ein gesellschaftliches Leben nicht leisten kann, lese ich.«
Lavinia musterte mich eine Zeit lang und wandte sich wieder der Windschutzscheibe zu. »Verstehe.«
»Die eigentliche Frage lautet doch, kann man erwachsen sein und zugleich Drummer?«
Die Ampel sprang auf Grün und Autumn Leaves war vorbei. Ich stellte das Radio ab. »Hätten wir uns doch nur umgesehen«, sagte Lavinia, als sie losfuhr.
»Genau das habe ich auch gerade gedacht.«
»Vielleicht hätten wir seine Schuhe gefunden.«
»Oder auch nicht.«
»Was kosten zehn Pints überhaupt?«
»Fünfzig Flocken, sofern es Guinness ist.«
Sie fuhr auf den Parkplatz von Safeway. Hoch über dem Laden, auf zwei Betonsäulen, thronte eine Leuchtreklame: 24 STUNDEN GEÖFFNET; mohnrote Buchstaben mit dem Blaugrün des Himmels als Hintergrund.
»Warum haben wir uns eigentlich nicht umgeschaut?«, fragte Lavinia, während sie einparkte.
»Wir hatten, was wir wollten, und es lag ein Toter auf dem Boden.«
»Stimmt.« Der Parkplatz war nahezu leer. Rund um den Supermarkt standen Lieferwagen jeglicher Größe und Beschriftung, von Bäckereifahrzeugen bis zu Safeways eigenen LKWs. »Schiss hatten wir jedenfalls nicht.«
»Nicht die Spur.«
»Genau. Wir hatten, was wir wollten, und sind gegangen.«
»Ganz meine Meinung.«
Die Türen zum Supermarkt glitten auseinander. Die Beleuchtung war grell. Lavinia schnappte sich einen Einkaufskorb vom Stapel neben der Tür und drückte mir das Ding in die Hand.
»Wir wollen hier nur so ein Eidingens kaufen«, erinnerte ich sie.
»Meine Güte!«, sagte sie. »Wann hast du das letzte Mal was gegessen?«
Ich dachte nach. »Ich kann mich nicht erinnern.«
»Und, was fällt dir spontan ein?«
»Orangensaft, Kaffee, Kartoffelpuffer, Toast, Butter, Marmelade und ... Eier.« Ich sah sie an, sie sah mich an und wir beide sagten: »Pochierte Eier.«
»Hört sich gut an, und dabei frühstücke ich gar nicht.«
»Fragt sich nur, wofür Ivy den Eipochierer braucht.«
»Zur Not können wir sie braten.«
»Wetten, dass er nicht mal ’ne Bratpfanne hat? Außerdem müsste man Salz, Pfeffer, Zucker, Pappteller, Becher, Gabeln und auch Löffel besorgen. Er besitzt zwei Messer.«
»Wie wär’s mit einer Kaffeemaschine?«
»Wie wär’s mit sprudelndem Wasser?«
Lavinia machte kehrt und kam mit zwei Flaschen Wasser zurück, die sie in den Korb stellte.
»Gas«, sagte ich. »Ich weiß, dass er Gas hat.«
»Wetten, dass ein Gasherd die einzige Bedingung war für Ivys Unterschrift unter den Mietvertrag?«
»Und den Blick von der Veranda auf das Unvermeidliche gab’s obendrauf.«
»Da hat er nicht lange gefackelt.«
Ich bewegte mich in Lavinias Schlepptau, während sie ein Pfund Speck, ein Dutzend Eier, einen viertel Liter Milch und verschiedene Picknickartikel zusammensuchte. Als sie auch noch Papierhandtücher in den Korb legte, meinte ich: »Vielleicht sollten wir einfach frühstücken gehen.«
»Willst du mich verarschen? Ich werde zunehmend häuslicher.«
Am Ende des Ganges umrundeten wir Tortillas, die einen Meter fünfzig hoch gestapelt waren.
»Mais oder Mehl?«
»Mais.«
»Was hältst du von Mettwurst anstelle von Speck?«
Ich zuckte mit den Achseln. Es war mir herzlich egal. Obwohl wir durch drei geteilt hatten, verfügte ich über so viel Bares wie schon lange nicht mehr. Wie vielleicht seit Jahren nicht mehr. Warum also nicht gleich ein Steak?
Das Zusammensammeln von Lebensmitteln versetzte Lavinia geradezu in Hochstimmung. Sie durchquerte den hinteren Gang, ging zu einer Kühlwand mit Fleischprodukten und nahm ein Pfund Mettwurst heraus.
»Mach dich auf die besten huevos rancheros deines Lebens gefasst. Dafür brauchen wir aber Salsasauce.«
»Die steht hier. Ich habe den Eindruck, dass diese Kids aus Mexiko jedes Mal ein Stückchen Kultur zurücklassen, wenn sie abgeschoben werden.«
»Und im Gegenzug haben wir ihnen nur NAFTA anzubieten. Entschuldigen Sie, Sir.«
Ein Mann in Schürze, einen Staubwedel in der Gesäßtasche und ein Hüftholster umgeschnallt, worin eine Auszeichnungszange steckte, ließ sich vom Aufbau einer Pyramide aus Konservendosen mit Erbsen nicht ablenken.
»Ja, Ma’am?«
»Haben Sie so ein Teil, das man Eipochierer nennt?«
Der Mann war groß, hatte Wurstfinger, die aus den Konservendosen, die er stapelte, Miniexemplare machten. »Gang sechs.« Sein Daumen schnellte über die Schulter, während der Mann sich gleichzeitig umdrehte und uns ansah. Die blutunterlaufenen Augen und die raue Stimme waren untrügliche Anzeichen für die ganz spezielle Müdigkeit, die jemanden am Ende einer Nachtschicht und kurz vor Antritt des Zweitjobs überfällt. Es war nicht zu übersehen, dass der Mann erschöpft war. Wir hätten ihm helfen sollen statt umgekehrt. Lavinia bemerkte es ebenfalls. »Danke, Sir«, sagte sie sanft.
Ich warf einen Blick auf ein Schild über unseren Köpfen. »Hier ist Gang vier.«
Der Mann quittierte Lavinias Anteilnahme mit einem matten Lächeln und wandte sich wieder der Pyramide zu. »Betreten Sie Gang sechs vom Haupteingang aus«, lautete sein Ratschlag. »Nehmen Sie Ihren Eipochierer und gehen Sie denselben Weg zurück. So vermeiden Sie den Kontakt mit dem Typen, der beim Schulbedarf kackt.«
Lavinia war peinlich berührt; ein seltener Moment. »Schulbedarf?«
»Am anderen Ende von Gang sechs.«
»Äh ... «, ich zögerte, »ein Stammkunde?«
»Und ob er ein Stammkunde ist!«, sagte der Angestellte.
»Und wo ist euer Sicherheitsdienst?«, fragte Lavinia.
»Die wollen nichts mit ihm zu tun haben.«
»Und die Cops?«
»Die Cops müssen sich um richtige Verbrechen kümmern.«
»Und wo steckt der Chef?«
»Weint in seinem Büro.«
Wir marschierten zum Kassenbereich im vorderen Teil des Ladens, gingen hinüber zu Gang sechs und linsten vorsichtig um die Ecke, die fast nur aus Ananas bestand.
»Das war kein Scherz«, sagte Lavinia.
»Habe ich auch nicht so aufgefasst. Da sind die Küchenartikel. Nur ein paar Meter weiter.«
Aus einem Lautsprecher über uns ertönte Hello, goodbye von den Beatles.
»Gehen wir.«
Wir waren gezwungen, das Regal zu inspizieren. Salzstreuer. Messersets. Rechauds. Dosenöffner. Töpfe. Fonduegabeln. Barbecue-Bratenwender mit Holzgriffen. Kühlschrankmagneten. »Nimm Topflappen mit«, schlug ich vor.
»Grundgütiger Himmel«, sagte Lavinia und warf entrüstet zwei Topflappen in den Korb, »was hat der Typ nur konsumiert?«
»Billigen Wein, vermutlich.«
»Woher willst du das wissen?«
»Da gibt es nichts zu wissen. Man ist, was man isst.«
»Schau mal. Da haben wir ja so ’nen beknackten Eipochierer.« Sie deutete auf eine Plastikverpackung, darin eine Kasserolle mit Deckel, fünf flache halbrunde Metallbecher und ein platter Ring mit fünf ausgestanzten Löchern.
»Sieht wie ’ne Radkappe aus.«
»Die Eier kommen in die Becher und werden per Wasserdampf gegart.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um an die Verpackung zu gelangen. »Die Becher kommen in die Radkappe, die wiederum kommt in die Kasserolle, die man zur Hälfte mit Wasser füllt, dann auf den Herd stellt ... «
»Ich hab’s verstanden, hab’s verstanden — ich versteh’s.«
»Ich komm nicht ran ... «
Aus vielleicht neun Meter Entfernung drangen Töne zu uns herüber, nicht unähnlich denen, die Spucke auf einem heißen Backblech erzeugt, hier nur unterbrochen von dem einen oder anderen Stöhner.
»Grundgütiger Himmel.«
Als die Kassiererin den Eipochierer über den Scanner zog, sagte sie: »Seit Langem das erste Mal, dass wir was aus Gang sechs verkaufen.«
Ich nickte. »Kein Wunder, dass der Chef in seinem Büro weint.«
»Er hat gesagt, er würde den Laden völlig ummodeln.« Sie scannte die Wurst. »Jetzt modelt der Laden ihn um.«
»Schau mal, Curly.«
Lavinia zeigte auf einen San Francisco Examiner in einem Ständer mit Boulevardblättern und Modemagazinen gleich neben dem Kassenbereich. Die Schlagzeile lautete:
BERÜHMTER SCHLAGZEUGER ERMORDET
»Berühmt?!«, entfuhr es mir. »Dieser Typ war so berühmt wie Teer an der Unterseite eines x-beliebigen Kotflügels. Er – «
Lavinia stieß mir ihren Ellbogen in die Rippen. »Ich hab gehört, die machen jetzt voll auf Boulevard.« Sie zog ein Exemplar heraus. »Tatsache! Widerlich! Erst letztens hab ich gehört«, sie hielt die Zeitung so, dass ich einen Blick darauf werfen konnte, »dass sie samstags und sonntags nicht mehr erscheint.«
»Die hatten nie ’ne Sonntagsausgabe«, sagte die Kassiererin. »Und wenn sie nicht mehr am Tropf von Hearst hängen, werden sie auch Montag bis Freitag nicht mehr erscheinen. Warten Sie’s ab.«
Lavinia faltete die Zeitung zusammen. »Aber der Typ, der für das neue Erscheinungsbild des Examiner verantwortlich ist, hat auch das Wall Street Journal neu gestaltet.«
»Und was wollen Sie jetzt damit sagen?«, konterte die Kassiererin überraschend giftig. »Dass Scheiße stinkt, egal wie sie verpackt wird?«
Lavinia lachte laut auf, doch die Kassiererin war alles andere als amüsiert. »Ich werd nie vergessen, dass dieser Lappen von Wall Street Journal Bill Clinton gekreuzigt hat. Jeden einzelnen Tag, acht Jahre lang.«
»Auch die haben keine Wochenendausgabe«, stellte Lavinia klar.
Die Kassiererin betätigte mit Verve die Summe-Taste. »Mein ungekrönter König.«
Draußen, auf dem Parkplatz, breitete Lavinia den Examiner auf der Haube des Kofferraums aus.
Aufgrund eines anonymen Hinweises entdeckte die Polizei heute am frühen Morgen die Leiche von Tenesmus-Schlagzeuger Stefan Stepnowski in einem Lagerhaus des Potrero Districts.
Bei Drucklegung waren nur wenige Einzelheiten bekannt. Mit Verweis auf Zurückhaltung in Hinblick auf eine laufende Ermittlung teilte eine Sprecherin der Polizei lediglich mit, dass auf einen männlichen Weißen mindestens ein Schuss aus kurzer Distanz abgegeben worden sei, was den unmittelbaren Tod des Opfers herbeigeführt habe. Man habe die Leiche um 00:41 Uhr in einer Blutlache hinter der unverschlossenen Tür eines Lagerhauses in der De Haro Street entdeckt.
Zwar lehnte die Polizeisprecherin die Weitergabe von Informationen zur Identität des Opfers ab, da die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen noch ausstehe, dennoch gelang es der Nachtredaktion des Examiner dank informierter Quellen zu recherchieren, dass es sich bei dem Getöteten zweifelsfrei um Stefan Stepnowski handelt, dem berühmten Schlagzeuger der Trash-Metal-Band Tenesmus. Obwohl die Gruppe nur eine CD veröffentlicht hatte und sich dann wegen Differenzen über die kreative Ausrichtung auflöste, hielt der Einfluss von Tenesmus weit über die zehn Monate ihrer Existenz hinaus an. So unterschiedliche Bands wie Pocono Harris, Star Chamber, Robohammer und Unclaimed Deceased beziehen sich häufig auf den bahnbrechenden Sound der Band. Ein Mitarbeiter der Nachtredaktion des Examiner und gleichzeitig Fan weiß zu berichten, dass ungeachtet ihres Anfangserfolges keines der Mitglieder von Tenesmus Nutzen aus der Popularität der ersten und einzigen Veröffentlichung der Band – »Scarred By Chains« – ziehen konnte. Aufgrund von Vertragsstreitigkeiten, so der Fan, sei das Album in den letzten zehn Jahren nicht wieder aufgelegt worden. Zudem habe Stepnowski weithin als das einzig überlebende Bandmitglied gegolten.
»Der Mist zieht einen richtig runter«, sagte Lavinia und ließ den Wagen an. »Und was ist mit der armen Ehefrau?«
Ich stellte die Lebensmittel in den Fußraum des Beifahrersitzes. »Ich habe noch nie etwas von Unclaimed Deceased gehört.«
»Drei Typen verkleiden sich als Kunden eines Leichenschauhauses bis hin zum Make-up für Untote, besingen, wie man mit Formaldehyd, Nekrophilie und dem Duft weißer Lilien high wird, machen daraus geschickt eine Metapher für die Gier der Amerika GmbH und du hast nie von ihnen gehört? Was hast du getrieben?«
»Ich habe ein zweites Mal Der Octopus von Frank Norris gelesen.«
Lavinia riss ihren Kopf hoch. »Ist das, wo –?«
»Ich vermute mal, sie haben das über die conditio humana verbreitet, was verbreitet werden musste«, fiel ich ihr ins Wort.
»Sie haben Millionen von Alben verkauft, Curly!«
»Manchmal funktioniert der Mist, manchmal nicht«, bemerkte ich unwirsch.
Wir fuhren vom Parkplatz.
»Mein Gott«, sagte ich nach einer Weile, »was war der Examiner für eine anspruchsvolle Zeitung.«
»Das war einmal und ist nicht mehr. Hör auf zu heulen.«
Die Sonne war aufgegangen, doch es war noch früh am Tag. Wir hielten an einer roten Ampel. Über uns, auf einer Stromleitung, hockten zwei rosafarbene Finken; sie blickten in verschiedene Richtungen und zwitscherten munter.
»Ich komm einfach nicht darüber hinweg, dass sie behaupten, der Typ sei berühmt gewesen«, motzte ich, als wir über die Kreuzung fuhren. »Er war ein Niemand.«
»Ein Niemand in einer Blutlache«, sagte Lavinia.
»Willst du das jetzt wieder aufwärmen?«
»Wenn man ihn woanders erschossen und anschließend ins Lagerhaus verfrachtet hat, warum war da so viel Blut?«
Ich rollte den Examiner zusammen und stopfte ihn in die Einkaufstüte. »Das habe ich mich bei seinem Anblick auch gefragt.«
»Wenn man aus kurzer Distanz auf ihn geschossen hat, so zielsicher, dass er sofort tot war, ist es nur logisch, dass er das Blut da verloren hat.«
»Er lungerte also im Lagerhaus herum, ohne Schuhe, jemand hat ihn gefunden und umgebracht. Und nun?«
»Ich wünschte, wir hätten nach seinen Schuhen gesucht.«
»Warum? Was erzählst du da überhaupt? Dass Stepnowski woanders umgebracht wurde, der Mörder sein Blut aufgefangen hat, dann die Leiche transportiert und das Blut darum herum verteilt hat, und alles nur, um die Polizei hinters Licht zu führen? Für mich hört es sich nach ’ner Menge Einsatz an. Und wofür das Ganze?«
»Genau.« Lavinia klopfte mit einem Fingernagel gegen das Lenkrad. »Der Mörder wollte verhindern, dass jemand dahinterkommt, wo der Mord geschah. Er oder sie wollte sogar verhindern, dass jemand Verdacht schöpft, es könnte woanders geschehen sein. Also hat er oder sie ’ne Menge Einsatz gezeigt.«
»Aber nicht so viel wie deinem kleinen Hirn abverlangt wird. Wie soll man zum Beispiel das Blut aus einer Schusswunde sammeln? Hebt man den Typ hoch und hält ihn über einen leeren Eimer?«
»Klar. Warum nicht?«
»Weil Tote zu viel wiegen. Schon mal den Begriff totes Gewicht gehört?«
»Mann, Curly, du nimmst immer alles so wörtlich. Mich hat das Ganze Drumherum gar nicht interessiert, bis du entschieden hast, das was faul ist an der Sache. Jetzt bist du genervt und meinst, es wäre auf meinem Mist gewachsen. Sei nicht so eine Mimose.«
Ich sah aus dem Fenster. Ich hatte nie etwas dagegen gehabt, die Nacht durchzumachen, sofern die Beweggründe stimmten. Aber durchzumachen aus falschen Beweggründen – die die richtigen zahlenmäßig bei Weitem übertrumpfen – ist absolut ärgerlich.
Wir fuhren über die nächste Kreuzung. »Nebenbei bemerkt«, sagte Lavinia, »Stepnowski war klein, richtig klein.«
Als wir zehn Minuten später um die Ecke der Garage bogen und zu Ivys Treppe gingen, sagte sie: »Es hat was, so eine Theorie zu entwickeln.«
»Was mich betrifft, ich versuche zu vergessen, wie der Typ mit dem Gesicht in seinem Blut lag.«
»Vielleicht war es gar nicht sein Blut.«
»Vielleicht waren es nicht seine Socken.«
»Vielleicht war es auch nicht sein Geld.«
»Es war nicht sein Geld. Es war unser Geld.« Sie blieb stehen. »Du meinst, man hat ihn dorthin gebracht und das Geld bei ihm deponiert? Weil – Moment, lass mich raten –, weil sie gewusst haben, wir sind auf der Suche nach ihm, und sollten wir ihn finden, würden wir uns das Geld schnappen, verschwinden und niemandem etwas erzählen, uns dadurch selbst in den Mord verwickeln und obendrein die Spur zum wahren Mörder verwischen.«
»Genau.«
Lavinia blieb mit einem Fuß auf der ersten Treppenstufe stehen, drehte sich halb zu mir, hielt inne, drehte sich wieder nach vorn und hielt erneut inne. Dann stieg sie kurzerhand die Treppe hinauf.
»Vielleicht war er gar nicht tot.« Sie nahm die nächste Stufe. »Vielleicht war er nicht einmal da.« Sie nahm noch eine Stufe. »Vielleicht war er ein Hologramm.«
»Jetzt hast du deine Theorie ... «
10
Ivy saß genauso da, wie wir ihn zurückgelassen hatten, starrte ins Leere und klopfte mit den Enden seines Strohhalms auf die Plastikoberfläche des Tisches, indem er den Strohhalm zwischen jedem Tippen um seine Achse drehte.
»Hi, Ivy«, begrüßte ihn Lavinia gut gelaunt.
»Scheiße, wo seid ihr gewesen?«
»Einkaufen.« Sie nahm mir die Tüte ab, holte den Eipochierer heraus und hielt ihn Ivy unter die Nase. »Dämmert’s?«
Er nahm ihr das Ding ab. »Ihr wart so lange weg, ich könnte theoretisch schon ’nen Affen schieben.«
»Hey, Spaßbremse, bedenk mal die Alternative.« Lavinia befreite die Lebensmittel aus der Tüte und stellte sie auf den Küchentresen. »Wir hätten alle hierbleiben und verbluten können, weil sich Glassplitter in unseren Kieferhöhlen eingenistet haben.«
Ivy betrachtete die Lebensmittel mit einer Mischung aus Abscheu und Misstrauen.
Ich rollte den Examiner auseinander. »Hier, zieh dir das mal rein.«
Ivy schob die Zeitung beiseite. »Ich lese keine Zeitungen.« Er zog sein Taschenmesser aus dem Holster an seinem Gürtel, schlitzte die Plastikverpackung des Eipochierers auf und schüttete den Inhalt in die Spüle.
Lavinia sortierte unterdessen die Lebensmittel auf dem bescheidenen Platz, den der Küchentresen bot.
»Also, wie wär’s mit einem schönen, herzhaften Frühstück?«
»Räum lieber das Zeug aus dem Weg.«
»Komm schon, Ivy. Curly und ich haben Hunger. Wann hast du zuletzt was gegessen?«
»Ich esse nicht. Mach Platz da.«
Lavinia verzog das Gesicht. In diesem Moment dachte ich, wir könnten uns auf die Neuauflage einer ihrer häuslichen Streitigkeiten gefasst machen, die so typisch gewesen waren für die zwei Jahre, die Lavinia und Ivy zusammengelebt hatten. Die Voraussetzungen waren perfekt. Keinem von beiden gefiel es, wenn man ihnen sagte, was sie zu tun hätten, aber beiden gefiel es, anderen zu sagen, was die zu tun hätten. Doch Lavinia erkannte, dass die Sache es nicht wert war, und Ivy war es egal. Sie schob die Lebensmittel auf dem Küchentresen nach hinten und räumte das Feld.
Anders als es den Anschein hatte, war Ivy während unserer Abwesenheit nicht untätig gewesen. Zunächst einmal hatte er vorsichtig unsere Speedball-Vorspeise über den Rand des Tisches auf die blaue Untertasse verlagert. Als Nächstes dann ein zirka zwanzig mal zwanzig Zentimeter großes Stück aus einem sauberen T-Shirt herausgeschnitten, es über die Öffnung eines leeren Glases gespannt und, nachdem er ihn mit dem Daumen leicht eingedrückt hatte, den Stoff mit einem Gummi fixiert.
Jetzt füllte er die Kasserolle zur Hälfte mit Wasser, setzte vier der fünf Becher in die dafür vorgesehenen Löcher im Kranz des Eipochierers und stellte die Kasserolle auf den vorderen Brenner. Den fünften Becher füllte er ebenfalls zur Hälfte mit Wasser.
»Sag mal, wird das jetzt deine persönliche Kochshow?«, kommentierte Lavinia den Vorgang.
»Das klingt nach Arbeit«, sagte Ivy. »Also gib dich keinen Hoffnungen hin.«
»Stimmt«, sagte Lavinia. »Arbeit ... «
Mit der Klinge seines Messers schabte er einige Zentimeter von dem Speedball in den fünften Becher, bewegte ihn dann in der Flamme des zweiten Brenners hin und her und rührte gleichzeitig die Lösung mit der Messerspitze um. »Dreh mal einer ’n bisschen runter.«
Zu dritt standen wir am Herd und verfolgten, wie sich der Becher erhitzte. Ivy hielt ihn an dem flachen kleinen Griff, der sich am Rand befand. »Mann, ist das heiß!« Er fluchte, stellte den Becher auf den Herd, wedelte mit den Händen in der Luft, pustete, hielt sie schließlich unter den Wasserhahn und beobachtete gedankenverloren, wie das kalte Wasser über seine Hände lief.
Plötzlich verließ er die Küche und stieg die Stufen der Treppe hinunter. Lavinia und ich sahen einander an. Zwei Minuten vergingen, dann waren es schon drei. Lavinia drehte das Wasser ab. Die Kasserolle fing an zu klappern und Lavinia stellte die Flamme niedriger.
Ivy kam wieder zur Tür herein, in der Hand den geraden Ast einer Kiefer, vielleicht fünfzehn bis siebzehn Zentimeter lang und mit einem Durchmesser von etwa zwei Zentimetern. Sofort machte er sich daran, über der Spüle die Borke mithilfe seines Messers zu entfernen, und ritzte anschließend eine ein Zentimeter lange Kerbe in eines der beiden Enden.
Mit der Messerspitze löste er einen Becher aus dem Kranz, beförderte ihn in die Spüle und ließ kaltes Wasser darüber laufen. Als der Becher sich so weit abgekühlt hatte, dass man ihn wieder berühren konnte, schob Ivy den kleinen Griff in die Kerbe am Ende des Astes und schon bildeten Ast und Becher eine Schöpfkelle. Er hielt das Ding in die Höhe, damit wir es bewundern konnten.
Lavinia nickte anerkennend.
»Hast du nicht in der Navy ein Überlebenstraining absolviert?«
»101st Airborne Division«, korrigierte ich sie.
»Als könnte er uns das jemals vergessen machen«, erwiderte sie scharf.
Ivy schüttete die Mischung aus Dope und Wasser in die improvisierte Schöpfkelle, steckte den ursprünglichen Becher zurück in den Kranz und begann von vorn.
Er bewegte die Schöpfkelle über der Flamme vor und zurück und rührte die Mixtur mit der Messerspitze um. Am Boden des Bechers bildeten sich kleine Blasen und bald darauf begann das Heroin-Kokain-Gemisch sich aufzulösen.
Lavinia und ich sahen wie gebannt zu.
»Du, Ivy ... « sagte Lavinia.
Ivy stöhnte leise auf.
»Willst du den Stoff drücken?«
»Ich drücke nicht«, erwiderte Ivy.
»Genau wie ich«, verkündete ich, nur für den Fall, dass jemand zuhörte.
Ivy schüttelte herablassend den Kopf. »Du und Nadeln! Du bist wahrscheinlich nicht mal geimpft.«
Ich deutete auf meinen Kopf. »Und was ist hiermit?«
»Ein Punkt für dich.«
Lavinia kicherte. »Mir ist klar, dass du nicht drückst«, sagte sie ungeduldig. »Deshalb ja meine Frage.«
»Also, warum kochst du’s auf?« Lavinia blieb beharrlich.
»Ruhe. Erst mal sehen, ob’s funktioniert.«
Ein letzter von der Klinge erzeugter Wirbel und die festen Bestandteile im Becher lösten sich völlig auf. »Okay.« Ivy nahm die Schöpfkelle aus der Flamme und platzierte sie auf den Rand der Spüle. »Und was haben wir hier?«
»Einen großen Löffel, das haben wir hier«, stellte ich fest.
»Stimmt. Auf den ersten Blick.« Wir verfolgten, wie sich die Wirbel in der relativ klaren Lösung verlangsamten, bis sie so gut wie verschwunden waren. »Da.« Ivy richtete sein Messer auf die Oberfläche. »Seht ihr die kleinen Punkte?«
Punkte, winzig wie Sandkörner, schwebten in der leicht bewegten Flüssigkeit.
»Seht mal, da!«, sagte Ivy.
Lavinia beugte sich näher heran. »Wo?«
»Es kommt und geht ... dort ... erkennst du’s?«
Was kaum mehr als ein Glitzern zu sein schien, glitt im Kielwasser weiterer, zweifarbiger Partikel dahin.
»Glas«, konstatierte Lavinia. »Das andere sieht aus wie Sand.«
»Sand und Glas sind miteinander verwandte Stoffe, oder?«, sagte ich. »Ich frage mich, welcher von beiden den größeren Schaden anrichtet.« Lavinia zuckte augenblicklich zurück.
»Hey, ich habe nicht mal mikroskopische Bestandteile erwähnt, geschweige denn lösliche.«
Ivy richtete sich auf. »Dieser Splitt kann alles sein – inklusive Splitt. Aber wir müssen vorliebnehmen mit dem, was der Herrgott uns gegeben hat.«
»Ich hasse es, wenn er Gott ins Spiel bringt«, sagte Lavinia.
Jetzt leerte Ivy die improvisierte Schöpfkelle über dem Stoff aus, der die Öffnung des Glases bedeckte. Die Flüssigkeit sammelte sich in der Mulde, um kurz darauf langsam durch den Stoff zu sickern. Am Ende bedeckte eine klare Lösung den Boden des Glases und in der Mulde des Stoffes sah man die winzige Menge eines Gemisches aus Körnern und Glas.
»Voilà«, sagte Ivy.
»Ich fass es nicht!«, entfuhr es Lavinia.
»Nicht schlecht«, bemerkte ich anerkennend. »Und so willst du mit der gesamten Ladung verfahren?«
»Du sagst es, Curly.«
Binnen fünfzehn Minuten hatte Ivy eine Menge von zwei Bechern Wasser in der Kasserolle zum Köcheln gebracht, sie vorsichtig mit dem restlichen Speedball unter Umrühren zu einer Mixtur vermischt, die er dann auf seinen Stofffilter kippte. Als er fertig war, befanden sich auf dem Boden der Kasserolle größere Glasscherben und in der Vertiefung des Stoffes feste Bestandteile; ein Häufchen von etwa einem halben Teelöffel, das das Durchsickern der Flüssigkeit um einiges verlangsamte.
Als Nächstes nahm er den Stoff vom Glas und goss etwas von der Flüssigkeit in einen der Becher. Diesen Becher setzte er in den Kranz des Eipochierers, den wiederum in die Kasserolle, die er dann mit dem Deckel verschloss. Er stellte die Flamme größer ein und starrte auf die Kasserolle. »Ich kannte mal einen Typ«, sagte er nachdenklich, »bei dem setzten irgendwann Kopfschmerzen ein. Als sie heftiger wurden, bezeichnete er sie als Migräne. Nach einer Weile sah er es im Dunkeln immer blitzen. Für ihn waren diese Blitze sehr real, wie Gewitterblitze, draußen, vor seinem Fenster. Nur dass seine Blitze in seinem Kopf erzeugt wurden.« Die Kasserolle fing an zu grummeln. Ivy wartete. Als zwischen dem Rand des Deckels und dem Rand der Kasserolle Dampf entwich, reduzierte er die Hitze, bis das Wasser nur noch leise köchelte.
»Tja«, fuhr Ivy fort, »mein Freund war ein Junkie, logisch, aber er war auch gut betucht und konnte sich mit seinem Geld eine Krankenversicherung leisten. Außerdem hatte er einen sehr verständnisvollen Arzt, einen von der Sorte, die wegschaut, wenn es um die wahren gesundheitlichen Probleme geht, und der einfach nur das macht, was man ihm sagt. Dieser Arzt schickte ihn von einem Kollegen zum anderen, bis mein Freund bei einem Neurochirurgen landete, der bereit war, ihn am Kopf zu operieren.« Ivy berührte seine Stirn oberhalb des rechten Auges, oben, am Haaransatz. »Hier.«
»Und?«, fragte Lavinia.
»Ich schätze mal, Verunreinigungen ... «, sagte ich.
Ivy reckte seinen Zeigefinger in die Höhe. »In einem Kapillargefäß seines Gehirns hatte sich irgendein Körnchen abgelagert. Klitzeklein und doch groß genug, um in dieser Gegend der Hirnrinde stecken zu bleiben und dem armen Arschloch Kopfschmerzen und Blitze zu bescheren.«
»Wirklich?!«, sagte Lavinia. »Da gibt es einen Teil des Gehirns, der – «
Ivy winkte ab. »Wer kann schon sagen, wie das Gehirn arbeitet. Man hat meinem Freund den Schädel aufgesägt, ihn wieder nach Hause geschickt und – Hokus Pokus ... «
»Fidibus?«
»Er war geheilt?«
Ivy nickte. »Nix mehr mit Kopfschmerzen, mit Blitzen und Ohnmachtsanfällen. Allerdings ... «
»Allerdings?«, fragten Lavinia und ich wie aus einem Munde.
»Allerdings hatte er jetzt epileptische Anfälle, und zwar bis an sein Lebensende. Man untersagte ihm das Autofahren und irgendwann konnte er nicht mal mehr allein bleiben. Es wurde immer heftiger, bis er gut zwei Jahre später verstarb.«
»Er starb wegen der Anfälle.«
»Nein.« Ivy zog Luft zwischen die Zähne. »Er starb an einer Überdosis.«
»Genau das lag mir auf der Zunge«, sagte ich angewidert.
»Krass!«, rief Lavinia aus.
»Der Eingriff hat ein Durcheinander bewirkt, weniger eine Heilung«, mutmaßte ich. »Er hat nur nicht bewirkt, dass der Idiot von seiner Sucht lässt.«
»Was soll das werden, Curly?« Ivy hob leicht den Deckel an und linste darunter. »Eine Moralpredigt?«
»Moralpredigt?«, erwiderte ich. »Welche Lehren ziehst du denn aus der Geschichte?«
»Ganz einfach: Das Gehirn ist ein fragiles Gebilde. Legt man sich mit seinem Gehirn an, zahlt es sich aus, alle Unbekannten auszuschalten.«
Ich schüttelte schuldbewusst den Kopf. »Unbekannte wie Sand und Glas in deinem Blutkreislauf?« Wir versuchten alle drei, unter den Deckel zu schauen. »Hat er sich die Überdosis mit Absicht verpasst?«
»Möglich wär’s. Er war ziemlich im Arsch.« Ivy zuckte mit den Achseln. »Und wenn nicht, dann hat es eben so sein sollen.«
Lavinia und ich wechselten Blicke.
»Tja«, Ivy lächelte und drehte die Flamme aus. »So oder so, wir werden alle sterben.«
»Man muss nur hier hinten rausschauen«, sagte ich leise.
Ivy nahm den Deckel ab.
»Seht ihr den weißen Stoff?«
»Reiner Speedball«, stellte ich fest.
»Zu einhundert Prozent«, stimmte mir Ivy zu.
»Mein Gott«, hauchte Lavinia und nahm das Glas mit der Flüssigkeit ins Visier. »So viel zum Probelauf.«
Zwanzig Minuten später, als alle fünf Becher zur Hälfte mit gefilterter Speedball-Mixtur gefüllt waren, der Deckel auf der Kasserolle lag, die ihrerseits auf dem Herd stand, klingelte mein Mobiltelefon.
»Ach du lieber Himmel, das gibt’s doch nicht.« Ich sprang auf und fummelte an meinem Gürtel herum. »Seit der Französischen Revolution hat mich niemand mehr angerufen.«
»Ist vermutlich für mich«, sagte Ivy leise und drehte die Flamme unter der Kasserolle kleiner.
»Hallo?«, sagte ich gereizt.
Das Telefon knurrte zurück: »Musstest du den Mistkerl wegen lumpiger siebentausendfünfhundert Mäuse abknallen?«
»Sag ihm, ich bin beschäftigt.« Ivy beobachtete die Flamme. »Sag ihm, er soll später noch mal anrufen.«
»Entschuldigung?«, sagte ich zum Telefon.
»Hast du den verdammten Schotter wenigstens bekommen?«, antwortete das Ding.
»Wer ist da?«
»Ich schätze mal, das ist nicht Ivy Pruitt«, sagte das Telefon, und in einer Lautstärke, dass es im ganzen Raum zu hören war, fügte es hinzu: »Der Wichser weiß nämlich, wer ich bin!«
»Mr. Pruitt ist in einer Besprechung«, erwiderte ich pikiert. »Kann ich ihm etwas ausrichten?«
»Seit wann ist ein Arsch auf dem Scheißhaus und kann nicht ans Telefon gehen?«
Ivy hob den Deckel und linste in die Kasserolle.
»Was denn nun?«, schrie das Telefon. »Braucht er beide Hände, um sich den Arsch abzuwischen?«
»Die Frage kann ich ganz gewiss nicht beantworten, Sir.«
Ivy legte den Deckel zurück auf die Kasserolle.
»Gib mir Pruitt«, verlangte das Telefon. »Es ist wichtig!«
»Ein Anruf von Mr. Wichtig.« Ich hielt Ivy das Telefon hin. »Er besteht darauf, Beleidigungen mit dir persönlich auszutauschen.«
Ivy nahm mir das Gerät ab. »Ja, Sal – «, setzte er an. »Was?« Er hörte zu. »Moment mal, warum hätten wir den Jungen umbringen sollen? Er hat das Geld abgedrückt. Wir sind wieder gegangen.« Zu uns gewandt, fragte er: »Habt ihr beide diesen Stepnowski erschossen?« Ich schüttelte den Kopf. Lavinia verdrehte die Augen. »Nein«, sagte Ivy ins Telefon, »sie haben ihn nicht erschossen. Offensichtlich ist dieser Scheiß später passiert.« Er hörte weiter zu. Dann sagte er: »Wie viele Geschäfte habe ich – Nein, nein, nein, Sal, entschuldige, aber es waren mehr als zwanzig. Ja. Und wurde irgendjemand weggepustet – Wer? Das war nicht mein Ding, du Depp, das war Tonys Ding. Ja, dein Neffe. Der sich hat umbringen lassen, wenn ich es recht erinnere, letzte Weihnachten. So viel zur Vetternwirtschaft – Klar war’s Bargeld. Cops? Wie das – ? Eine Quittung ...?« Ivy runzelte die Stirn. Dann sagte er zu niemand Bestimmtem: »Die Cops haben eine Quittung von World of Sound in Stepnowskis Gesäßtasche gefunden.« Ich sah Lavinia an, die biss sich auf die Lippe. »Scheiße!«, sagte Ivy und drehte wütend die Flamme unter der Kasserolle aus. »Nein, Sal, nicht du. Ich versuch hier gerade, was zum Frühstück zu kochen. Natürlich esse ich. Er hat dir was erzählt? Was kann ein Cop schon wissen. Oh. Aua! Wie? Alles Hunderter. Sicher ... Ich schicke Curly vorbei. Watkins. Ja, der Curly Watkins.« Ivy zwinkerte mir zu. »Klar kennst du ihn. Wahrscheinlich gehört er auch zu denen, die dir Geld schulden.« Ivy zuckte mit den Achseln und richtete den Blick gen Himmel. »Okay, Sal, dann kennst du ihn eben nicht. Was macht das verdammt noch mal für einen Unterschied? – Illegal? Seit wann? Oh. Ja. Sicher, ja, natürlich verstößt Mord gegen das Gesetz.« Ivy machte eine ungeduldige Handbewegung in Richtung Kasserolle.
Ich nahm den Deckel mit einem der neuen Topflappen ab und legte ihn auf den Herd. Jeder der fünf Becher in den ausgestanzten Löchern des Kranzes war innen wie mit Raureif bedeckt, sagen wir mal, so wie Windschutzscheiben von fünf UFOs an einem frostigen Wintermorgen – doch in Wirklichkeit sahen sie eher aus wie die Lederhäute eines fünfäugigen Drachens.
Eine echte Delikatesse.
»Sal, dir geht Stepnowski doch am Arsch vorbei, also hör auf damit. Die Knete ist hier, du kriegst sie heute Nachmittag. Wann? Wo ist das Problem? Curly ist nicht dort, er ist hier. Sicher. Hier ist Oakland, aber – Okay. Okay! Du mich auch. Und zwar richtig.«
Ivy hielt das Telefon auf Armlänge von sich weg, verzog das Gesicht und warf mir das Telefon zu. Ich fing es mit dem Topflappen auf und legte es ab. »Eine beschissene Quittung«, murmelte Ivy angewidert. »Ich bin davon ausgegangen, dass ihr seine Taschen durchsucht habt.«
»Curly hat die Taschen durchsucht«, erklärte Lavinia, als wolle sie sich verteidigen. »Ich berühre nur Männer, die noch am Leben sind.«
»Tasche«, stellte ich nun meinerseits klar. »Das Geld steckte gleich in der ersten Tasche, die ich durchsucht habe, und das war’s dann.«
Ivy hörte nicht einmal zu. »Was ist nur aus dem Geschäft per Handschlag geworden?«, maulte er. »Ist das Wort eines Mannes überhaupt nichts mehr wert? Alles wird festgeklopft, mit Brief und Siegel ... «
Sein Blick fiel auf den Eipochierer und augenblicklich hob sich seine Stimmung. Nach einer genauen Begutachtung der sich allmählich abkühlenden Kasserolle rieb er sich in freudiger Erwartung die Hände.
»Ich bin nun mal fürs Ätherische«, sagte er. »Immer und zu jeder Zeit.«
11
Sal »The King« Kramer’s World of Sound liegt an der Kreuzung Folsom Street und 6te, vis-à-vis vom Brainwash, einem Laden, wo man seinen Klamotten dabei zusehen kann, wie sie hinter einer schalldichten Glaswand durch den Trockner wirbeln, während man selbst bei Cheeseburger und Bier in einem bequemen Stuhl sitzt und vorgibt, einer Dichterlesung beizuwohnen, obwohl man in Wahrheit die Sexanzeigen im BayGuardian studiert.
Der Schriftsteller Jim Carroll merkte einst an, dass er seine Auftritte als Frontmann einer Rock-’n’-Roll-Band genossen, nach einem Gig aber immer das Bedürfnis nach Ruhe verspürt habe. Die Jungs in seiner Band hingegen seien nach Hause gegangen und hätten Musik gehört. Das könne er nicht nachvollziehen.
Ich für meinen Teil kann nicht nachvollziehen, dass Schlagzeuger um zehn Uhr morgens bei Kramer’s World of Sound aufschlagen und so tun, als wollten sie das teuerste Drumset testen, das der Laden zu bieten hat, nur um ihre Paradiddles zu üben. Mich verwundert zudem, wie es Sal Kramer fertigbringt, um diese Zeit seine Billigzigarre zu paffen – oder von mir aus auch jede andere. Der Verkehr war erstaunlich mäßig und als wir westlich der Bay Bridge die Ausfahrt an der 5ten hinunterfuhren, erzählte ich Lavinia, was mir durch den Kopf ging.
»Ist doch ganz einfach«, sagte sie. »Es hängt miteinander zusammen – Drummer, die üben, und Sals Zigarren, meine ich. Installateure rauchen Zigarren, um den Geruch von Scheiße zu überdecken, oder?«
»Ich muss zugeben, dass ich das noch nie so gesehen habe.«
Sie tippte sich an die rechte Schläfe. »Vassar.«
»Klar. Eliteschule. Ich hab noch ’ne Frage.«
»Raus damit!«
»Was ist mit dem Heckfenster?«
Als sie auf der 7ten rechts abbog, gerieten die Scherben des Sicherheitsglases auf der Ablage in Bewegung und es gab Geräusche wie von einem Perkussionsinstrument, das man Regenmacher nennt.
»Zahlt die Versicherung. Nächste Frage.«
»Okay, wie viel Stoff ist noch da, wenn wir nach Oakland zurückkommen?«
»Genau die Menge, wenn man in null Anteile aufteilt, denn so wie Ivy teilt, bleibt null Stoff übrig.«
»Vassar«, schlussfolgerte ich.
Sie nickte.
»Meinst du, es war Sals Idee, darauf zu bestehen, dass wir ihm das Geld unverzüglich vorbeibringen?«
»Weil Sal sonst gezwungen wäre, den Cops gegenüber einzuräumen, dass er Ivy auf Stepnowski angesetzt hat?«
»Woraufhin die Cops gezwungen wären, sich – so enttäuschend es auch sein mag – einzugestehen, dass Ivy zu dem Zeitpunkt, als Stepnowski getötet wurde, in ihrem Loch hinter Schloss und Riegel gesessen hat?«
»Aber wurde die Zahlung an den Kautionsagenten nicht in bar abgewickelt?«
»In Hundertern, in der Tat.«
»Von denen zwölf Exemplare in Stepnowskis Jeans steckten, als man ihn fand.« Lavinia sah mich an. »Richtig?«
Ich zuckte mit den Achseln.
»In der Zeitung stand nichts darüber.«
»Was verdient so ein Cop eigentlich?«
»In etwa diese Summe, pro Woche, vermute ich mal. Aber mach dir keine Hoffnungen.«
»Ich denke, das finden wir heraus«, sagte Lavinia und packte das Lenkrad mit beiden Händen. »So, wir sind da.«
Richtig ist vielmehr, dass wir bereits hinreichend lange auf dem Parkplatz von World of Sound gewesen waren, sodass Lavinia inzwischen hatte einparken und den Motor abstellen können. Links von uns drang ein dumpfes Wummern durch eine etwa zwei Stockwerke hohe lilafarbene und mit gelben Blumen und grünen Blättern bemalte Mauer aus Betonziegeln.
»War verdammt großzügig von Ivy, dass er jedem von uns zwei fette Lines zugestanden hat, bevor er uns an die Luft gesetzt hat«, sagte Lavinia. »Ich war echt müde.«
»Ich gebe zu, mir ging’s genauso«, sagte ich. »Der Stoff als solcher interessiert mich nicht.«
»Aber du fühlst dich besser dadurch, nicht wahr?«
»Sicher.«
»Wesentlich besser.«
»Ja. Blöd nur, dass wir uns keine Zeit mehr zum Frühstücken genommen haben.«
Lavinia zuckte mit den Achseln. »Was kann man schon in der Küche eines Mannes veranstalten, der behauptet, Essen mache ihn paranoid?«
»Auch noch sein Frühstück essen.«
»Wird das eine Predigt, die auf Geschäfte abzielt?«
»Du stellst mir Fragen nach Geschäften?«
Das Wummern hörte auf. Die nächste Minute verstrich friedvoll. Jenseits der Motorhaube, am Fuße eines Maschendrahtzauns, blühte orangefarbene Kapuzinerkresse.
»Sag mal, Curly, entsinnst du dich, was Augustinus von Hippo gesagt hat?«
»Scheiße, nein.«
»Wenn du es verstehst, ist es nicht Gott.«
Eine Minute verstrich.
»So ein Speedball ist schon klasse.«
»Ja.«
»Ich mach dir einen Vorschlag.«
»Was immer du willst.«
»Wenn es uns gelingt, den Tag zu umschiffen, ohne festgenommen zu werden, sollten wir das mit einem kleinen Speedball feiern.«
»Gute Idee.«
»Nur ein klein wenig.«
»Ja.«
»Zwei Hits für jeden von uns.«
»Klar.«
»So überstehen wir die Nacht.«
»Ja.«
»Wir könnten sogar Sex haben.«
»Wie bitte?«, fragte ich reserviert.
»Los, auf geht’s.«
Sal »The King« saß in einem Glaskasten im hinteren Teil des Ladens am Schreibtisch, in einer Atmosphäre, die nach einem Kabelbrand roch, den man mit Sojasauce gelöscht hatte. Und es sah auch genauso aus. Rechnungen, Pappen, Becken und Schlagzeugfelle, unverpackt oder in Kartons, Drumsticks und Spiralkabel, Packungen mit Gitarrensaiten und Kaffeebecher aus Styropor standen oder lagen auf allen zur Verfügung stehenden Flächen. Das Faxgerät flutete einen bereits überfluteten Papierkorb mit Faxen. An der Wand hinter dem Schreibtisch, zwischen gerahmten und mit Autogrammen versehenen Konzertplakaten und Fotografien diverser Bands hing eine Goldene Schallplatte. Alles lag kreuz und quer, hing schief und war mit Staub bedeckt.
»Scheißfaxe!«, sagte Kramer, der eine Seite studierte, die das Gerät gerade ausgespuckt hatte. »›Reparieren Sie Standuhren zu Hause in Ihrer Freizeit. Bargeld lacht!‹« Er warf das Blatt auf den Boden. »Es ist mein Papier, mein Toner, meine Telefonleitung, womit sie Schindluder treiben – ich soll den Mist bezahlen und auch noch lesen? Ich bezahle eine Recyclingfirma, damit sie die Faxe wegkarrt, ich bezahl einen Jungen, damit der mir noch mehr Kartons mit Toner und Papier ranschafft ... am liebsten würde ich diesem Uhrentypen den Federal Tax Code in den Arsch faxen. Dieser Kerl mit den Standuhren kostet mich Geld! Was haben wir hier?« Er schnappte sich ein anderes Blatt vom Boden. »›Disney-Urlaub! Nur neunundneunzig Dollar!‹ Schwachsinn! Sieh an, eine 800er-Nummer. Klein gedruckt, nicht wahr? Pech für dich. Schaff dir ’ne Brille an. Da steht: ›Wenn Sie der Ansicht sind, dieses Fax irrtümlich erhalten zu haben, wählen Sie bitte 1-800-HIY-ASAP und teilen Sie uns mit, wenn Ihr Name aus unserer Datenbank gelöscht werden soll.‹ Genau!« Er warf das Blatt auf den Boden. »Nun schau sich das einer an!« Er richtete seine Zigarre auf den Papierkorb. »Wie viele Faxe, glaubst du, sind da drin? Tausend? Eine Million? Es ist eine Brandgefahr! Hab ich Zeit, all diese Wichser anzurufen? Nein! Die sollten mich anrufen. Und mich anflehen und darum betteln, sie keinen Kopf kürzer zu machen, wenn ich sie in die Finger kriege, diese Arschlöcher. Ich schnapp mir jetzt den Hörer – « Er stieß mit der Zigarre in die Luft, dorthin, wo halb verdeckt unter zusammengerolltem Audiokabel ein Telefon auf seinem Schreibtisch stand. »Und in diesem Augenblick«, er schnippte mit den Fingern, »ist der Kerl Geschichte.« Er schnippte wieder mit den Fingern. »Der Standuhrentyp ist ein toter Standuhrentyp.« Doch plötzlich zügelte er sich. »Was rede ich eigentlich? Sitze hier und echauffier mich über Junkfaxe – um Himmels willen – Junkfaxe! Ich und jemanden umbringen? Wegen eines Junkfax? Dabei stehen zwei Musiker in meinem Büro, zwei Abgesandte des sensibelsten Stammes auf diesem Planeten.« Er wedelte mit der Zigarre. »Meine Kinder, ignoriert die nichtigen Belange der Alltagswelt und holt tief Luft. Geht in euch. Jetzt.« Er atmete aus und ein stinkender Schwall Rauch waberte Lavinias Brüsten entgegen. »Verratet mir, was für Zeug ihr braucht und wo’s mit der Finanzierung hapert. Und ... «, er tippte mit dem Zeigefinger der Hand, die die Zigarre hielt, auf seine Brust, »Sal Kramer zeigt euch, wie ihr euch das leisten könnt. Nicht umsonst spricht man von Sal ›The King‹ Kramer. Meine Güte, ich kannte noch Joe Ellis, als er nicht mal mehr die vielen Kerzen auf seiner Geburtstagstorte auspusten konnte, ganz zu schweigen von seiner Zeit als erster Trompeter im Orchestergraben von Andrew Lloyd Webbers Größten Hits – diese Show lief im Orpheum wie lange? Zwölf Jahre. Joe hatte noch Haare, als er dieses Engagement angenommen hat.« Er zeigte mit der Zigarre in Lavinias Richtung. »Schon mal von Joe Ellis gehört?« Lavinia schüttelte den Kopf. Kramer langte nach Lavinias Hand, die Zigarre zwischen den Fingern, die wie ein rauchspuckender Zeppelin nach oben wies. »Joe Ellis hat nicht mal ’ne Uhr besessen, als ich ihm die Trompete verkauft habe. Auf Kredit. Zu einhundert Prozent! Denn ›The King‹ hat an Joe geglaubt. Ohne auch nur die geringste Anzahlung hat ›The King‹ – «
Ich fiel ihm ins Wort: »Joe Ellis hat diese Trompete nicht von dir gekauft.«
»Er – wie bitte?« Kramer blinzelte Lavinia durch den Zigarrenrauch hindurch an. »Wer hat den da reingelassen?«
»Lambert Deutschen hat sein Horn an Joe Ellis verhökert, 1988, im Keller der Great American Music Hall, für genug Bares, um sich eine Unze Koks leisten zu können, tausend Flocken, etwa ein Sechstel dessen, was das Horn wert war. Es ist ein dunkles Kapitel in der Geschichte des Jazz. Aber wenn er sie nicht an Joe verkauft hätte, dann womöglich an jemand anderen, dem gar nicht bewusst gewesen wäre, was er da kauft. Aber soll ich dir mal was sagen, Kramer?«
Kramers Blick klebte an Lavinias Brüsten. »Schick ihn nach Hause, Schätzchen.«
Lavinia befreite ihre Hand. »Schieß los, Curly«, sagte sie.
»Würde Lambert Joe jemals darum bitten, ihm die Trompete zurückzugeben, Joe würde es tun.«