Gencode J

Geheimdienst-Thriller

Udo Ulfkotte


ISBN: 978-3-944257-28-0
2. Auflage 2016, Altenau (Deutschland)
© 2013 Hallenberger Media GmbH, Altenau.

Umschlagabbildung unter Verwendung des Bildes 51674197 von Shutterstock (© tuulijumala). Dieses Buch folgt der alten Rechtschreibung.
Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt

Dieses Buch wurde im Jahr 2000 geschrieben. Damals waren die nachfolgend dargestellten Ereignisse nur ein Produkt der Fantasie des Autors.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen waren rein zufällig. Wenn sie trotzdem real erschienen, dann deshalb, weil die beschriebenen Ereignisse zwar frei erfunden, einer möglichen Wirklichkeit aber nur einen kleinen Schritt voraus waren. In vielen Labors auf der Welt wurde damals an der Herstellung einer biologischen Waffe geforscht, die mit genetisch manipulierten Viren oder Bakterien ausgewählte Menschengruppen töten soll. Es bestand also schon damals kein Zweifel daran, daß die ethnische Bombe in der nahen Zukunft Wirklichkeit werden würde. Inzwischen ist diese ethnische Bombe in den Arsenalen mehrerer Armeen Realität. Und die Vision des Autors, daß Fanatiker ein Flugzeug in ein Wahrzeichen steuern würde, ist mit dem 11. September 2001 ebenfalls Realität geworden. Dieses Buch ist in der gedruckten ursprünglichen Fassung am 1. September 2001 in den Buchhandel gekommen, als die Weltöffentlichkeit das alles noch nicht ahnte. Mit den Terroranschlägen des 11. September 2001 und der weltweiten Verwirrung um die Anthrax-Briefe wurde dann die Auslieferung gestoppt. Denn Realität und Fiktion schienen zu verschwimmen. Und es sollte nicht der Eindruck entstehen, daß mit dem Leid der Terroropfer Geld verdient würde. Nach über einem Jahrzehnt haben wir uns nun dazu entschlossen, die Originalfassung dieses Buches neu zu veröffentlichen. Reinhard Jahn hat den nachfolgenden Thriller damals im Krimi-Forum beschrieben und dem Autor Udo Ulfkotte einen Platz im Bücherregal neben Frederic Forsyth zugewiesen.

Prolog

Rückblickend schien es eine merkwürdige Art, einen Krieg zu beginnen. Am wenigsten ahnte wohl der alte Dorfpfarrer, welches Unheil sich zusammenbraute, als er an einem naßkühlen Novembertag auf der Straße von Naphill nach Aylesbury den Verletzten in dem weißen Volvo entdeckte. Er meldete den Unfall von einer Telefonzelle in Naphill, fuhr dann zurück und wartete im strömenden Regen auf die Rettungsfahrzeuge. Die Kühlerhaube des Volvos war zerschmettert, die linke Seite verschrammt und die Beifahrertür eingedellt. Die Wucht des Aufpralls hatte Nummernschild und Stoßstange in die harte Borke der Eiche gedrückt, vom linken Scheinwerfer war nur noch die mit Glasscherben gespickte Verankerung vorhanden. Durch das zersplitterte Seitenfenster sah der Pfarrer, daß der Körper des Fahrers von dem Sicherheitsgurt aufrecht gehalten wurde. Er sprach den Mann an, doch der reagierte nicht. Die rechte Hand, die am unteren Rand des Lenkrads lag, krampfte sich mechanisch immer wieder zusammen. Der Kopf des Mannes lag seitlich verdreht neben der Kopfstütze. Aus dem Mundwinkel quoll hellrotes Blut und versickerte in dem dunkelblauen Polster. Durch das dichte Blätterwerk der Eiche konnte der Pfarrer die reetbedeckten Dächer von Naphill sehen. Er horchte in die Stille des frühen Nachmittags. Die Windrose der kleinen Dorfkirche drehte sich schnell. Das metallene Klirren vermischte sich mit dem Surren im Motorraum des Volvos und dem immer stärker werdenden Prasseln des Regens. Da hörte er endlich in der Ferne die näher kommenden Sirenen.

Der Gedanke an Krieg war den Sanitätern nicht in den Sinn gekommen, als sie den schwerverletzten Mann aus dem Wrack des Volvos bargen, ihn notfallmedizinisch versorgten und wegen der Kopfverletzungen den Rettungshubschrauber zum Abtransport riefen. Um 14.36 Uhr wurde das Unfallopfer mit einem Blutalkoholwert von 1,4 Promille in die Notaufnahme des Krankenhauses in Aylesbury eingeliefert. Es war der dritte schwere Unfall, der sich in kurzer Zeit auf der ruhigen Landstraße ereignete. Bei nebligem Wetter unterschätzten ortsfremde Fahrer die scharfe Kurve kurz nach dem Wegweiser Richtung Aylesbury, verloren auf der nassen Fahrbahn die Kontrolle über den Wagen und prallten auf die mächtige, alleinstehende Eiche, die dort am Straßenrand stand.

Wie immer bei solchen Unfällen schalteten die Sanitäter die Polizei ein. Diese stellte fest, daß der weiße Volvo in London von einem gewissen Harold Wilson angemietet worden war. Dann fanden sie im Rucksack des Mannes fünf auf verschiedene Namen lautende Ausweise. In diesem Moment wurde klar, daß es sich nicht um einen gewöhnlichen Unfall handelte. Die Polizisten dachten nicht an Krieg, sie vermuteten, daß hier ein Attentat der IRA vorbereitet werden sollte. In einem Großeinsatz durchsuchten sie Mietwagen und Hotelzimmer des vermeintlichen Harold Wilson. Sie fanden einen dunkelgrauen Hartschalenkoffer mit über hunderttausend Dollar in gebrauchten Scheinen, eine Sammlung topographischer Landkarten der Grafschaft Buckinghamshire und ein hochmodernes, mobiles Kühlaggregat, wie es für den Transport von Medikamenten verwendet wird.

Kaum waren die fünf Personenanfragen über die Fahndungscomputer der Polizei von Aylesbury gelaufen, wurde Harold Wilson zu einem Fall für den britischen Geheimdienst. Bei den folgenden Ermittlungen erkannte man schnell, welch gefährlicher Auftrag den angeblichen Harold Wilson auf die Landstraße zwischen Naphill und Aylesbury geführt hatte. Doch auch für die Geheimdienstagenten deutete nichts daraufhin, daß hier ein Plan in Bewegung gesetzt worden war, der nur Wochen später die Welt an den Rand eines Krieges bringen würde.

Teil 1

Kapitel 1

Für Benjamin Levy herrschte von Berufs wegen immer Krieg. Daran änderten weder Friedensabkommen noch Waffenstillstände etwas. Er bekam seine Befehle, er kannte seine Feinde, er wußte, wann er losschlagen mußte. Benjamin Levy war nie ohne Waffe unterwegs. Seine Artillerie umfaßte schwere Maschinengewehre ebenso wie die unscheinbare Dose mit dem Aufdruck einer ägyptischen Deomarke, die er eben aus dem Kühlbehälter genommen hatte. Levy sah sich die Dose genau an, er betastete den Sprühmechanismus, wobei er sorgfältig darauf achtete, daß er keinen noch so kleinen Tropfen der Chemikalie an die Finger bekam. In einem Lederwarengeschäft hatte er ein Paar dünne schwarze Nappahandschuhe erstanden. Der Verkäufer, ein grauhaariger Jordanier im Nadelstreifenanzug, hatte ihm zugestimmt, ja, die Nächte in der Wüste um Amman waren mitunter recht frisch. Außerdem könne ein Gentleman nie ein Paar Handschuhe zuviel haben, hatte der Verkäufer hinzugefügt und die ausgezeichnete Qualität und Verarbeitung des Leders gelobt. Levy hatte genickt. Die Rolle des reichen Weltenbummlers, distinguiert und maskulin, mit innerer Gelassenheit und beeindruckender Präsenz, füllte er perfekt aus. Niemand würde in dem braungebrannten, gutaussehenden Mittvierziger einen der berüchtigtsten Todesengel des Mossad vermuten.

Benjamin Levy beschattete Khaled Nabi Natsheh schon seit den frühen Morgenstunden. Der Führer einer radikalen Palästinensergruppe, die von Jordanien aus operierte, ging jetzt keine fünfzig Meter weit von ihm entfernt auf dem Gehweg. Er kam direkt auf ihn zu. Nabi Natsheh war auf dem Weg zu seiner Limousine, die er einige hundert Meter weiter geparkt hatte. Die Bodyguards hielten sich hinter ihm, die Straße war voller Menschen und Autos. Eine Gruppe junger Männer ging an Levy vorbei, und er setzte sich sofort in Bewegung, hielt sich dicht hinter ihnen. Die Handschuhe hatte er schon übergestreift, die Sprühdose steckte in der Seitentasche des Jacketts. Dann war der Palästinenserführer direkt vor ihm, die Gruppe wich etwas zur Seite, die Bodyguards kamen näher. Levy zog die Dose aus der Tasche und sprühte Nabi Natsheh im Vorbeigehen einen winzigen Strahl ans Ohr.

Levy drehte sich nicht um, sondern ging mit den Männern weiter bis zur nächsten Ecke. Dort trat er aus dem Pulk und schaute sich um. Nabi Natsheh war weitergegangen und hatte schon fast die Parkgarage erreicht. Beim Gehen schüttelte er immer wieder den Kopf, als sei ihm etwas ins Ohr geflogen. Levys Mund verzog sich zu einem Grinsen. Er trat um die Ecke und machte sich auf den Weg ins Hotel. Beim Gehen streifte er sich vorsichtig die Lederhandschuhe ab, wobei er sorgsam darauf achtete, die Spitzen der Fingerkuppen nicht zu berühren. Vor einem Straßenimbiß standen ein paar Stehtische, um die sich eine dichte Menschenmenge scharte. Levy quetschte sich durch die Körper. Mit einer kaum merklichen Bewegung schob er dabei die zusammengeknüllten Handschuhe tief in einen Abfalleimer.

Sein Flug nach Deutschland ging in knapp vier Stunden, und davor wollte er noch einmal ausgiebig die jordanische Küche genießen.

Kapitel 2

Mit einer Falafeltasche in der Hand trat Salomon Rosenstedt aus der Frankfurter S-Bahn, die ihn vom Rhein-Main-Flughafen direkt bis in die Innenstadt gebracht hatte. Sofort wurde ihm klar, daß er für das trübe Spätherbstwetter viel zuleicht angezogen war. In seinen Leinenschuhen, der Tweed-Hose und dem dunkelblauen T-Shirt, über das er die schwarze Lederjacke gezogen hatte, würde er sich bald eine Erkältung zuziehen. In Tel Aviv war ihm selbst die Lederjacke noch zu warm erschienen. Doch die Falafel war nicht zu verachten. Jedenfalls schmeckte der Imbiß Rosenstedt um einiges besser als das koschere Menü, das ihm im Flugzeug serviert worden war.

Ein Blick auf die komplizierten Bus- und Straßenbahnfahrpläne überzeugte ihn, daß er mit einem Taxi zu seinem neuen Einsatzort fahren würde. Er lief die Kaiserstraße entlang, auf die ihn die Unterführung aus der S-Bahn geleitet hatte, bog dann in eine breitere Seitenstraße ab, in der er einen Taxistand entdeckte. Der Riemen der Reisetasche, in der sich sein gesamtes Gepäck befand, drückte ihm auf die Schulter. Dankbar übergab er dem bulligen Taxifahrer die Tasche, der sie scheinbar problemlos in den Kofferraum hievte. Seine Waffe hatte Rosenstedt unsichtbar für Zivilisten im Schulterholster stecken.

»Zur Guiolletstraße 154, bitte«, sagte er und erinnerte sich an die vielen Stunden, in denen sich eine Sprachlehrerin des Mossad bemüht hatte, sein ansonsten fehlerfreies Deutsch von dem starken hebräischen Akzent zu befreien.

Der Fahrer ließ die Zündung an. »Westend, was?« brummte er mit einem fragenden Blick in den Rückspiegel. Rosenstedt nickte und lehnte sich in die leicht abgeschabten Polster des Taxis zurück.

Dies war sein erster Einsatz in einer europäischen Metropole. Seine Kolleginnen und Kollegen hielten es für eine große Auszeichnung, daß er so eng mit dem berühmten Abraham Meir zusammenarbeiten würde. Rosenstedt war sich dagegen nicht ganz sicher, ob er glücklich darüber sein sollte, daß er der Schaltzentrale des Mossad zugeteilt worden war. Er hatte in den letzten beiden Jahren an einigen gefährlichen Einsätzen in Ägypten und Kuwait teilgenommen und sich durch Tapferkeit und Besonnenheit ausgezeichnet. Rosenstedt wußte, daß die Leitung des Mossad ihn aufbauen wollte, als Nachwuchstalent mit einer großen Zukunft in der Organisation. Deshalb auch die Versetzung in die Nähe von Meir, bei dem er all das lernen sollte, was eine Führungskraft brauchte, um in der Welt der Geheimdienste zu bestehen.

Abraham Meir galt als genialer Kopf. Er schien fast über magische Fähigkeiten zu verfügen. Wann immer er Ereignisse vorhersagte, trafen sie später tatsächlich ein. Selbst den Fall der deutsch-deutschen Mauer, den die fähigsten Analytiker der westlichen Geheimdienste in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts nicht einmal im Traum in ihr Kalkül einbezogen hatten, prognostizierte Abraham mit scheinbar hellseherischem Geschick schon zwei Jahre zuvor. Während andere noch über die Gegenwart philosophierten, sah Abraham schon die übernächsten Schritte von Geo-Politik, Weltwirtschaft, Finanzsystemen, Demographie, Arbeitsmärkten und technischen Trends vorher.

Rosenstedt wurde ein wenig flau im Magen bei dem Gedanken, in wenigen Minuten den berühmten Mann persönlich zu treffen. Er starrte hinaus auf die Straße. Das Taxi bremste an einer roten Ampel und kam direkt vor dem Eingang eines Einkaufszentrums zum Stehen. Ein alter Mann mit einer unförmigen, offenbar schweren Plastiktasche trat aus der Glastür und überquerte die Straße vor dem Taxi. Unwillkürlich überlegte Rosenstedt, ob der Mann wohl eine Waffe trug oder ein Sprengsatz in der Plastiktasche versteckt war.

Irgendwo hatte er das Gerücht aufgeschnappt, Abraham Meir habe 1967 nach dem Sechstagekrieg im Sinai die skelettierten Überreste eines israelischen Soldaten gefunden und durch die Augenöffnungen des Schädels geblickt. Seither verfüge er über eine Weitsicht, mit der sich niemand messen könne. Die Geschichte hatte Rosenstedt tiefer beeindruckt als die zurückhaltende Bewunderung, die er aus den Aussagen von Leuten, die Meir kannten, heraushörte. Sein professionelles Training sagte ihm, daß ein solches Gerücht vom Mossad, wenn nicht gar von Meir selbst, in Umlauf gebracht worden sein mußte. Die Organisation liebte es, ihre Mitarbeiter mit einem derart metaphysischen Nimbus zu umgeben. Trotzdem konnte er sich der Magie der Geschichte nicht entziehen. Das kopflose Skelett, an dem noch die Fetzen der israelischen Uniform hingen, der fleischlose Schädel mit den tiefen Höhlen, in denen die Augen des Mossad-Mannes glühten - es waren solche Bilder, die Rosenstedt Angst einjagten und die ihn bis in seine Träume verfolgten.

»Nummer 154. Wir sind da«, sagte der Taxifahrer. Rosenstedt schreckte hoch und griff instinktiv zur Waffe. Glücklicherweise bemerkte der Fahrer die Bewegung nicht, sondern war damit beschäftigt, den Zähler abzulesen.

»Welches Haus ist es?« fragte Rosenstedt.

»Über die Straße, das weiße Geschäftshaus.«

Salomon Rosenstedt schaute durch das Wagenfenster hoch zu seinem neuen Arbeitsplatz. Niemand würde auf die Idee kommen, daß der imposante Bau aus der Gründerzeit etwas anderes beherbergte als die auf den vornehmen Messingschildern ausgewiesenen Repräsentanzen renommierter Auslandsbanken. Die Mossad-Zentrale befand sich im sechsten Stockwerk, das offiziell an ein Computerunternehmen vermietet war. Rosenstedt konnte nur weiße Lamellenvorhänge erkennen und zwei riesige, leere Pflanzenkübel auf einem der drei Balkone mit schmiedeeisernem Geländer. Die Räume schienen zu klein für den europäischen Sitz des israelischen Geheimdienstes, aber Rosenstedt wußte, daß die Büroflucht weitläufiger war, als man es der schmalen Fassade des Gebäudes nach vermuten würde.

»Das macht dann dreizehn Euro und vierzig Cents«, sagte der Taxifahrer.

Rosenstedt zog hastig die Börse aus der Innentasche seiner Lederjacke. »Natürlich.«

Er zahlte und ließ sich von dem Taxifahrer die Reisetasche aus dem Kofferraum holen. Zügig überquerte er die Straße und trat vor die Eingangstür. Ohne zu zögern, drückte er den runden Messingknopf, neben dem in scharf gestochenen Lettern NetStar Computers stand.

Kapitel 3

Michael Fleischmann parkte sein rotes Mercedes-SLC-Cabrio direkt neben dem flaschengrün schillernden Eingang von ReHu Information Technologies. Die ellipsenförmig gerundeten Türen gingen automatisch auf, als ein Mitarbeiter das Gebäude verließ. Er winkte dem Juniorchef zu, aber Michael fiel sein Name nicht ein. Irgend etwas mit S, einer der Lakaien seines Vaters aus der Personalabteilung. Michael nahm die verspiegelte Ray-Ban ab und verstaute sie im Handschuhfach. Wenn das Gespräch gleich mit dem alten Streit über die Sonnenbrille anfing, würde er den Alten nie dazu kriegen, die Miete für das Loft-Apartment herauszurücken, in das er mit Tamara einziehen wollte. Michael schaute kurz in den Rückspiegel und kontrollierte die sorgsam gestutzten Koteletten. Einen Moment überlegte er, ob er die Ringe, ebenfalls Anlaß etlicher Diskussionen, von den Fingern streifen solle, entschied sich aber dagegen. An manche Dinge mußte sich auch Herbert Fleischmann gewöhnen.

Michael stieg aus und trat neben das leuchtendblaue Firmenschild, das zwischen immergrünen Bodendeckern am Eingangsbereich in der Erde verankert war. Der postmoderne Büro- und Entwicklungskomplex war erst vor wenigen Jahren auf einem freigewordenen Areal in der Nähe des Stammhauses der Firma in Bad Homburg errichtet worden. Michael erinnerte sich noch gut an den früheren Eingang mit den flachen schwarzgesprenkelten Marmorstufen und die mit englischem Messing eingefaßten Glastüren, die er als Kind kaum hatte bewegen können.

Michael studierte im zweiten Semester im erst vor kurzem eingerichteten Studiengang Produktdesign an der Uni Frankfurt. Obwohl er bis jetzt das Studium ziemlich locker hatte angehen lassen, bewunderte er mit Kennerblick das neue ReHu-Logo, das im Zuge des Neubaus entworfen worden war. Der Agentur war es gelungen, das alte Logo, das sich aus dem Vornamen von Michaels Großvater Hugo Fleischmann und dessen Bruder René zusammensetzte, in eine neue Corporate Identity zu integrieren. Dabei hatte sich die Agentur gegen den ReHu-Aufsichtsrat und Herbert Fleischmann persönlich durchsetzen müssen, die den neuen ReHu-Schriftzug gerne »irgendwie techno, Sie wissen schon, so eine Computerschrift« gestaltet hätten. Die Agentur dagegen, und vor allem ihr Chefdesigner Wolf Jenninger, hatte sich für eine Anlehnung an das alte Fünfzigerjahredesign stark gemacht und letztlich durchgesetzt. Auch das klassische firmenblau war nur minimal geändert worden. Inzwischen war selbst Herbert Fleischmann von der schlichten modernen Geradlinigkeit des neuen Logos überzeugt. Wolf Jenninger hatte vor ein paar Jahren das Produktdesign der ReHu übernommen. Der knapp dreißigjährige Designer, der nebenbei noch eine Gastprofessur an der Kunsthochschule Düsseldorf innehatte, war so ziemlich der einzige Mensch, für den sich Michael im Geschäft seines Vaters interessierte. Wegen Wolf war Michael überhaupt auf die Idee gekommen, Design zu studieren. Immer, wenn er sporadisch bei der ReHu vorbeischaute - meistens, um den Vater um Geld anzupumpen -, ging er im Büro des Chefdesigners vorbei. Michael faszinierte die Mischung aus erfolgreichem Businessman und kreativem Genie, das sich weder an vorgeschriebene Arbeitszeiten noch an mittelständische Höflichkeitsrituale hielt, sondern im Gegenteil oft nachts und am Wochenende arbeitete und mehr als einen Kleinkunden der ReHu irritiert zurückgelassen hatte. Bei internationalen Präsentationen aber brillierte Jenninger. Er sprach mehrere Sprachen fließend, und seine lockere, spontane Art hatte der ReHu schon manchen Deal mit internationalen Großkunden eingebracht. Michael studierte Design, weil er zu der Welt gehören wollte, in der Wolf Jenninger scheinbar so mühelos verkehrte. Dazu gehörten auch seine farbige amerikanische Freundin Sue, der Jaguar, die Anzüge von Armani und Brillen von Swatch. Nur eines würde Michael anders machen als Wolf: Er würde nicht in so einem Betrieb wie der ReHu enden, in dem man sich mit dem provinziellen Mief einer deutschen Kleinstadt herumschlagen mußte. Michael Fleischmann wollte etwas sehen von der Welt, und ohne Wissen seines Vaters hatte er sich schon für einen Studienaufenthalt an der Londoner Central Saint Martin`s nach der Zwischenprüfung im nächsten Sommer beworben.

Er ließ den Autoschlüssel in die Seitentasche seiner beigen Schlagjeans gleiten und ging auf die abgerundete Tür zu, die sich geräuschlos öffnete. Kein Mitglied der Familie Fleischmann dachte je daran, Fahrzeuge, die auf dem Firmengelände parkten, abzuschließen. Rund um die Uhr wurde jeder Firmenbereich von Sicherheitskräften bewacht, die zu den Besten in ihrem Gewerbe zählten. Zudem waren Büros, Werk und Labors mit der computergestützten Sicherheitstechnologie ausgerüstet, für die ReHu weltweit bekannt war. ReHu-Technik wurde in Flughäfen und Firmenbüros ebenso selbstverständlich eingesetzt wie bei Polizei und Geheimdiensten.

Michael trat in das mit bläulichem Kunstlicht beleuchtete Foyer und ging an der Sicherheitsplattform vorbei nach rechts in den Gang, der zum Büro des Firmenchefs führte. Heute saß die scharfe Blondine am Empfang und lächelte ihn zuckersüß an. Michael war sein Leben lang von scharfen Blondinen zuckersüß angelächelt worden. Er wußte genau, daß die Geste dem Juniorchef und nicht ihm als Person galt. Dennoch lächelte er zurück und rief ein »Hallo, Lisa« hinüber. So wie die Blondine aussah, konnte er sie sicher einmal zu einem kleinen Abenteuer verführen. Er ging in den Gang und blieb vor der fast unsichtbar in der linken oberen Ecke installierten Überwachungskamera stehen. Michael war fast ein Meter neunzig groß, und er mußte sich nur ein wenig auf die Zehenspitzen stellen, damit sein Gesicht direkt in die Kamera blickte. Er grinste, legte die Daumen hinter die Ohren und wackelte mit den Händen. Dann streckte er langsam und genüßlich die Zunge heraus. Hinter sich hörte er das helle Lachen von Lisa.

»Habt ihr auch Spaß da oben?« rief er dem unsichtbaren Wachmann zu. Dann duckte er sich aus dem Bereich der Kamera, auch wenn ihm klar war, daß er sofort ins Sichtfeld einer anderen Kamera eintauchte. Ohne Zweifel war sein Eintreffen auch ohne dieses kleine Ritual dem Vater angekündigt worden.

Der neue Bürokomplex der ReHu war so aufgebaut, daß sich auf jedem Stockwerk der Gang in der Mitte öffnete, wobei auf der zum Hof gewandten Seite das Sekretariat mit Empfang lag gegenüber mit bis zum Boden reichenden Fenstern eine Art Aufenthaltsraum, der für informelle Besprechungen genutzt werden konnte. Michael war beinahe beim Empfang angelangt, als plötzlich Jessica Gensky auf den Gang trat. Fast wäre er mit ihr zusammengestoßen. Michael entschuldigte sich, doch die Personalchefin stand unschlüssig vor ihm und starrte ihn schweigend an.

»Ist alles okay, Frau Gensky?« fragte Michael.

Die Personalchefin starrte so gebannt auf die Cola-Dose mit dem Schriftzug COCAINE, daß Michael hinunter auf den Aufdruck auf seinem Shirt blickte. Stierte die Gensky nun auf die Ray-Ban in der Brusttasche oder auf seine durchtrainierten Muskeln, die unter dem hauteng anliegenden Stoff gut zur Geltung kamen? Er hatte den Eindruck, als erinnere sie sich nur langsam daran, wen sie vor sich hatte.

Dann sagte sie abrupt: »Nein, nichts ist okay«, und marschierte in Richtung Empfang.

Seit ein paar Wochen geschahen seltsame Dinge in der Firma seines Vaters. Michael hatte nur beiläufig etwas davon mitgekriegt bei den seltenen Gelegenheiten, wenn er sich daheim blicken ließ. Anscheinend hatte ein Verrückter die Fax- und Telefonanlagen des Unternehmens für ein ganz besonderes Vergnügen auserkoren. Hob der Firmenchef den Hörer seines Geschäftstelefons ab, dann bat ihn eine amerikanische Frauenstimme, zunächst zwanzig Cent einzuwerfen, bevor er den Wählvorgang beginnen könne. Michael hatte sich köstlich amüsiert bei der Vorstellung, wie sein Vater im eigenen Büro dastand wie in einer amerikanischen Telefonzelle - fehlte nur noch, daß er seine Kreditkarte in den Schlitz des nicht vorhandenen Kartenlesegeräts stecken sollte. Herbert Fleischmann hatte seinen Sohn mit einem Blick bedacht, bei dem sich Michael das Lachen verbissen hatte.

Seither hatte er nur noch von seiner Mutter erfahren, wie die Geschichte weitergegangen war. Die gesamten Telefone der ReHu waren von dem 20-Cent-Virus, wie der »Fehler im System« schnell von den Mitarbeitern genannt wurde, betroffen. Kunden konnte man nur noch per Mobiltelefon erreichen. Mit einer Sondergenehmigung der Telekom waren innerhalb weniger Tage neue Ruf- und Faxnummern geschaltet worden. Doch schon nach kürzester Zeit war wieder die freundliche amerikanische Dame am Telefon gewesen. Weder bei der Deutschen Telekom noch bei AT&T, über die die Verbindung in die USA lief, konnte man sich die Sache erklären. Auch die Polizei wußte keinen Rat. Kistenweise hatte sie elektronisches Gerät herbeigeschleppt und Fangschaltungen gelegt, nur um am Abend ebenso ratlos abzuziehen, wie man am Morgen erschienen war. Fleischmanns eigene Techniker, die ja selbst an den Manipulationsmöglichkeiten von Telefonanlagen tüftelten, hatten außer einer für Laien völlig unverständlichen Erklärung, wie das alles technisch möglich war, nichts zu bieten. Sicher waren sich die Spezialisten der Polizei und die ReHu-Techniker nur darüber, daß die Katastrophe nicht durch einen Computerfehler ausgelöst worden sein konnte. Jemand wollte gezielt die ReHu schädigen. Und es gab keine Zweifel, daß dieser Jemand ein Meister darin war, seine elektronischen Spuren zu verwischen.

Michael folgte Jessica Gensky, die wortlos über den ReHublauen Teppich auf das Faxgerät zuging. Dort stand eine kleine Menschentraube. Michael erkannte Frau Deimoglu, die Chefsekretärin seines Vaters, und einige der Mädchen aus der Buchhaltung.

»Habt ihr hier auch ein Problem mit dem Faxgerät?« fragte die Gensky.

»Ja. Schauen Sie sich das mal an.« Frau Deimoglu trat zurück, und Michael blickte auf das große Gerät. Vollkommen schwarz und wellig schob sich Bogen um Bogen von Papier in die Auffangschale. Eine rote Lampe blinkte grell im Bedienungsfeld. »Der Toner ist schon wieder alle«, sagte eine Braunhaarige, die Michael nicht kannte. »Soll ich die Kartusche wirklich noch einmal wechseln?«

»Wie lange geht das schon?« fragte die Gensky.

»Drei, vier Minuten. Es hat geklingelt, das Fax ist angesprungen, und seither kommt hier dieser Schwachsinn raus. Acht Seiten in der Minute. Das hier ist ein Hochleistungsgerät.« Die Deimoglu zeigte auf den Stapel feucht glänzenden Papiers, der sich schon angesammelt hatte.

»Können Sie mit diesem Hochleistungsgerät auch rauskriegen, welcher Idiot uns diese Scheiße schickt?«

Die Chefsekretärin schüttelte die schwarzen Locken. »Nein. Das heißt, eigentlich schon. Aber auf den Faxen steht keine Absenderkennung. Und da -,« Sie zeigte auf ein Displayfeld, in dem in dunklen Buchstaben SENDER stand, »...in diesem Fenster wird normalerweise die Nummer des Absenders angezeigt. Allerdings klappt das nur, wenn der Absender seine Nummer oder Firmenbezeichnung in seinem Faxgerät gespeichert hat.« Sie schaute die Kollegin an. »Rüdiger aus der Revision hat sich auch schon gemeldet. Bei denen läuft dasselbe.«

Das Gerät piepste schrill. Die Braunhaarige sagte: »Das ist der Toneralarm. Gleich ist er alle.«

»Sie wechseln die Kartusche erst einmal nicht, Marlies. Solange dieser Spuk nicht aufhört, ist das reine Verschwendung.«

Die Braunhaarige nickte, trat dann aber doch an das Gerät und hob den Hörer ab. Die Runde wurde schlagartig still, während die junge Frau angespannt lauschte. Nach ein paar Sekunden zuckte sie mit den Schultern und hielt den anderen den Hörer hin. Außer einem Rauschen war nichts zu vernehmen. Dann setzte mit einem Mal wieder das Piepsen des Toneralarms ein.

Michael sah zwischen den Frauen hindurch den erhobenen Telefonhörer. Und damit war es um seine Selbstbeherrschung geschehen. Er mußte einfach loslachen. Alle drehten sich um und starrten ihn voller Erstaunen an. Zwischen zwei Lachsalven brachte er heraus: »Spitzenmäßiger Anblick. Wenn ich bloß meinen Camcorder dabeihätte.« Damit ließ er sich auf die Couch fallen, die in dem lichtdurchfluteten Aufenthaltsraum stand.

Frau Deimoglu schüttelte den Kopf. Jessica Gensky drehte sich wortlos wieder zu dem Faxgerät, das immer noch piepste. Mit einem kräftigen Ruck zog sie den Stecker aus der Wand, worauf das Piepsen und das Surren des Papiereinzugs zum Erliegen kamen. Sichtlich erleichtert atmete die Braunhaarige auf. Michael applaudierte von der Couch her und lachte immer noch.

In diesem Moment kam Herbert Fleischmann den Gang entlang. Beim Anblick der schlichten grauen Stoffhose, zudem noch in Kombination mit dem buntkarierten Hemd, das lose über dem beträchtlichen Bauchansatz seines Vaters hing, wünschte sich Michael nicht das erste Mal, Herbert Fleischmann würde sich kleiden, wie es sich für einen Multimillionär und Firmenchef gehörte. Doch die maßgeschneiderten Anzüge holte er nur bei ganz besonderen Gelegenheiten aus dem Kleiderschrank.

»Ah, hallo, Michael«, begrüßte Fleischmann seinen Sohn. Dann wandte er sich zu den Frauen. »Haben Sie hier auch das Problem mit dem Faxgerät?«

Deimoglu nahm den Stapel Faxpapier und schwenkte ihn hin und her. »Wir haben das Ding erst mal ausgeschaltet.«

Fleischmann nickte und blickte auf die sich rollenden Blätter in der Hand seiner Chefsekretärin. »Frau Deimoglu«, setzte er an, dann versagte ihm die Stimme. Michael sah aufmerksam zu seinem Vater hinüber. Von so einem blöden Dummenjungenstreich würde der sich doch nicht so aus der Ruhe bringen lassen. Aber er kannte die Körperhaltung seines Vaters genau, die angespannten Schultern, den Kopf etwas geduckt, wie immer, wenn es Probleme gab. Genau so hatte er auch dagestanden, als Michael ihm eröffnet hatte, er würde weder Betriebswirtschaft noch Informatik studieren, sondern Design.

»Rufen Sie Tenovis an«, fuhr sein Vater jetzt fort. »Sie sollen ihren besten Reparaturservice schicken. Irgend jemand muß diese Faxe doch stoppen können.«

Michael stand auf und trat zu der Gruppe. »Übertreib doch nicht gleich«, sagte er. »Das ist doch bloß ein practical joke. Und wirklich ganz witzig, ziemlich originell.« Er grinste den Vater an. »Bestimmt einer, dem ihr einen großen Auftrag vor der Nase weggeschnappt habt.«

»Jetzt hör mal genau zu, Junge«, sagte Fleischmann übertrieben langsam. Michael sah, wie er sich bemühte, nicht die Fassung zu verlieren und ihn anzuschreien. »Dir ist wohl nicht klarzumachen, was hier vor sich geht. Erst der Telefonterror, und jetzt legen sie unsere Faxanlagen lahm. So wie hier sieht es überall im Haus aus, Auftragsannahme, Revision, Buchhaltung, Personalabteilung, Chefetage, überall. Das ist kein technisches Versehen. Jemand will uns fertigmachen.« Er schaute in die Runde, dann fügte er leise hinzu: »Und ich weiß auch, wer.« Damit stapfte er an dem toten Faxgerät vorbei zu seinem Büro.

Die schwere Tür knallte ins Schloß, und Michael zuckte zu sammen. So wie der Alte jetzt drauf war, konnte er das Loft vergessen. Vielleicht erreichte ja seine Mutter etwas. Durch die offene Tür sah er Frau Deimoglu, die telefonierte. Alle außer der Braunhaarigen hatten sich wieder an die Schreibtische gesetzt. Zwei Mädchen tuschelten. Frau Gensky war verschwunden.

»Moment, bitte. Kann ich die mitnehmen?« Michael trat auf die Braunhaarige zu, die gerade die Blätter in einen Papierkorb werfen wollte. Er lächelte sie an.

»Sicher«, antwortete sie und reichte ihm den Stapel tiefschwarz bedruckten Faxpapiers. Zu spät bemerkte Michael ihre Fingerspitzen. Der Toner klebte auch an seinen Händen, kaum hatte er die schwarzen Blätter berührt.

Kapitel 4

Benjamin Levy konnte ein leises Lächeln nicht unterdrücken. Der riesige Ägypter hatte ihm schnell das an eine Briefmarke erinnernde Märkchen in den britischen Reisepaß geklebt. Offenbar war er abgelenkt von den beiden Frauen, die gemeinsam mit Levy aus dem Charterflugzeug gestiegen waren und ihren bleichen Büroteint nun möglichst schnell den gleißenden Sonnenstrahlen aussetzen wollten.

Die ägyptischen Behörden stellten sich doch einfach zu dumm an. In ihrem Bemühen, den Tourismus zu fördern, nahmen sie Benjamin Levy eine Menge Arbeit ab. Zehntausende Mitarbeiter des Geheimdienstes waren damit beschäftigt, mögliche Anschläge aufzuspüren und zu verhindern. Doch sie konzentrierten sich auf den Teil der Bevölkerung, an dem der Wohlstand spurlos vorbeigezogen war. Und Ausländer schienen ihnen nur verdächtig, wenn sie über Kairo ins Land kamen. Selbst im Flughafen der Hauptstadt gipfelten die Anstrengungen in langwierigen Bemühungen, Pässe mit Computerdateien abzugleichen und Visanummern zu kontrollieren. In Luxor war es anders. In der mittelägyptischen Provinzmetropole konnte man in einer Wechselstube kaum drei Schritte von der Paßkontrolle entfernt völlig legal für fünfzehn Dollar ein Visum kaufen.

Auch die Augen des schnauzbärtigen Paßbeamten hingen gebannt an den tief ausgeschnittenen T-Shirts und den darunter zu sehenden knappen Bikinioberteilen der beiden Touristinnen. In ein paar Sekunden hatte der Mann den ovalen blauen Stempelabdruck auf Levys Visamarke gedrückt und dabei kaum mehr als einen flüchtigen Blick auf das Gesicht des Einreisenden geworfen. Mit dem Stempel würde kein Polizist in ihm etwas anderes als einen gewöhnlichen Touristen vermuten. Das war der erste Fehler der ägyptischen Behörden.

Schon von weitem erblickte er seinen neuen dunkelblauen Samsonite-Koffer. Einer der unzähligen ägyptischen Helfer, die im Flughafen auf ein Bakschisch warteten, hatte ihn vom Gepäckband genommen und hoffte nun darauf, seinen Besitzer bis zu einem draußen wartenden Taxi zu begleiten. Daß die ausgesuchten Aufkleber von den Hotels Old Cataract in Assuan, Winter Palace in Luxor und Nile Hilton in Kairo nebst einem Priority-Baggage-Label der Air Egypt kaum zum Alter des Koffers paßten, fiel offenbar niemandem auf. Die Zöllner erkannten in ihm einen jener Reisenden, die Devisen ins Land brachten und die auf Anweisung des Präsidenten, den die Einheimischen ehrfürchtig Rais nannten, nicht belästigt werden durften.

Jetzt fehlte nur noch die Golftasche. Er hatte beide Gepäckstücke am Flughafen Zürich-Kloten in letzter Minute aufgegeben. Levy merkte, wie ihm trotz der Klimaanlage Schweißperlen auf die Stirn traten. In der Tasche befanden sich sieben unterschiedliche Golfschläger, an die fünfzig Zentimeter lange Balsa-Hölzer mit einem Durchmesser von jeweils sechs Millimeter geklebt waren. Verboten war dies nicht, aber ungewöhnlich. Unter Umständen kam ein übereifriger Zöllner auf die Idee, das Gewicht dieser ungewöhnlich verpackten Golfschläger zu überprüfen und sie aufzuschrauben. Levy nahm ein blaukariertes Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich den Schweiß aus dem Nacken. Sein Blick fiel auf ein riesiges Werbeplakat, das auf der breiten Längsseite des Gepäckbands hing. Eine junge Frau in einer strahlend weißen Bluse lächelte von dort auf die Touristenmassen herunter, während hinter ihr die Sonne feuerrot im Nil versank. Auf der Bluse prangte ein Anstecker mit dem Emblem einer bekannten Hotelkette. Über ihr stand in orientalisch verschlungenen Buchstaben der Spruch, der in Ägypten jede Hotelrezeption zierte: Smile — you are in Egypt.

In diesem Moment erspähte Levy den hellblauen Golfsack, der hinter einem verschlissenen Rucksack aus dem Schacht kam und sich nun langsam in seine Richtung bewegte. Zusammen mit einer sperrigen Kiste und einer mit Schnur zusammengehaltenen Plastikreisetasche war er als letztes auf das Förderband gelegt worden.

Aus den Augenwinkeln musterte Benjamin Levy die jungen Männer in schwarzen Hosen und frisch gebügelten Hemden, die scheinbar gelangweilt an den Wänden lehnten. Ihre Kleidung hob sich ab von den übrigen Einheimischen, die in der landestypischen Galabiyya zwischen den Touristen hin- und hereilten. Levy zweifelte keine Sekunde daran, daß die Männer vom ägyptischen Geheimdienst waren, mit dem Auftrag, Terroristen gleich am Flughafen aufzuspüren.

Die Golftasche komplettierte Levys Erscheinung eines allein reisenden, wohlhabenden Mannes, der einen Teil seines Urlaubs auf dem neuen, in der Wüste angelegten 18-Loch-Golfplatz im Royal Valley verbringen wollte. Er wartete geduldig, bis er die Tasche mit einer Handbewegung von den staubigen Lamellen des einstmals schwarzen Förderbands nehmen konnte. Für die Männer des Muhabarat spielte er die Rolle des Touristen perfekt, ließ sich von einem Gepäckträger Koffer und Golftasche auf einen Gepäckwagen hieven, lächelte unsicher und verhielt sich ganz wie ein leichtes Bakschisch-Opfer. Die Männer würdigten ihn mit keinem Blick. Die Zöllner ließen ihn ohne Kontrollen passieren. Das war der zweite Fehler der ägyptischen Behörden.

Draußen vor dem Gebäude gab er dem Kofferträger zwei ägyptische Pfundnoten und stieg in ein verbeultes blau-weiß lackiertes Peugeot-Taxi.

»Old Winter Palace, zwanzig Pfund und nicht mehr«, sagte Levy in barschem Ton. Für den Taxifahrer brauchte er die Rolle des Touristen nicht mehr zu spielen. Außerdem wollte er vermeiden, in eines der Gespräche hineingezogen zu werden, die immer mit der Frage nach der Länge des Aufenthalts im schönen Luxor anfingen und nur das Ziel verfolgten, für einen, zwei oder auch mehr Tage als Fahrer engagiert zu werden.

»Yes, Sir«, erwiderte der Fahrer mit einer nickenden Kopfbewegung.

Kaum fünfzehn Minuten dauerte die Fahrt vom Flughafen zum einstigen Palast des ägyptischen Königs Faruk; vorbei an Ziegen, die im Abfall nach Eßbarem suchten, Kindern, die in den Bewässerungskanälen badeten und sich beiläufig mit Bilharziose infizierten, und Männern, die gewaltige Bündel von frisch geschnittenem Zuckerrohr auf die Rücken magerer Esel luden. Hinter einem Bahnübergang grüßte ihn an einer Straßenkreuzung das frisch getünchte überlebensgroße Portrait des Staatspräsidenten Ibrahim. Und ein paar hundert Meter davon entfernt warb eine Plakatwand für ein exklusives Vergnügen: Ballonfahren über dem Niltal.

Levy war vor ein paar Jahren schon einmal im mondänen Hotel Old Winter Palace abgestiegen, obwohl er seitdem für Luxor-Aufenthalte die Ruhe des flußaufwärts gelegenen Hotels Mövenpick JolieVille bevorzugte. Das war kurz nach der Sache in Beirut gewesen. Damals hatte er noch einen Bart getragen und wäre allenfalls durch seine dicke Hornbrille aufgefallen. Mit den blaugetönten Kontaktlinsen, die er heute trug, würden ihn selbst Mitarbeiter von damals nicht wiedererkennen.

Von der Sache in Beirut war ihm vor allem das lange Warten in den düsteren, ausgebombten Straßenzügen im Gedächtnis geblieben. Er hatte im Wohnzimmer eines zerschossenen Hauses gehockt. Die Fassade reichte nur noch bis zur Höhe der Fenster, deren Rahmen seltsam trotzig aus dem zerbröselten Mauerwerk ragten. Er erinnerte sich an das Muster der Wohnzimmertapete, silberne Blümchen auf einem pfirsichfarbenen Untergrund. Stundenlang hatte das Team fast bewegungslos in der Straße gestanden und gewartet. Auf den Feind, die Hisbollah, die Terroristen, was auch immer. Ihnen war eine Nachricht zugespielt worden, daß Khaled Nabi Natsheh hier in einem Keller seinen Stützpunkt hatte. Der Khaled Nabi Natsheh, den Levy vor zwei Wochen in Amman fast erwischt hätte. Damals in Beirut, in diesem pfirsichfarbenen Wohnzimmer, in dieser toten Straße, in der aufziehenden Dunkelheit, in der die zerschossenen Straßenlaternen alles noch absurder erscheinen ließen, waren zwei Menschen entlanggekommen. Ein alter Palästinenser, das schwarz-weiß gewürfelte Tuch tief in die Stirn gezogen, so daß sein Gesicht nicht zu erkennen war. Und ein Junge, vielleicht zwölf, dreizehn Jahre alt. Wie ein erwachsener Straßenkämpfer hielt er sich hinter dem Alten und schlich vorsichtig in der Deckung der Ruinen vorwärts. Ein Maschinengewehr hing über seiner Schulter. Der Alte schien unbewaffnet.

Der erste Schuß verfehlte den Mann. Die beiden verschwanden sofort in einen Hauseingang. Levy war ihnen am nächsten gewesen und in das staubige Innere des Hauses gefolgt. Er erwischte den Alten, schleppte ihn zurück auf die Straße und schlug auf ihn ein. An das, was folgte, erinnerte er sich nur bruchstückhaft. Etwas in ihm war damals gerissen und eine Seite seiner Persönlichkeit entfesselt worden, die er bisher noch nicht gekannt hatte. Alte Mossad-Kämpfer hatten ihm von solchen Erlebnissen erzählt, obwohl nie einer genau hatte beschreiben können, was wirklich in einem vorging. Seither war er Abraham Meirs bester Todesengel.

Levy lachte leise, während er durch das Fenster des Taxis die Menschenmassen in den Straßen von Luxor beobachtete. Meirs Todesengel suchte wieder einmal den Winter Palace heim, würde sich wie beim letzten Mal über die durchgelegenen Matratzen ärgern, den Bikini-Schönheiten vom Balkon beim Schwimmen zusehen und einen der fetten Gaffer, die sich unten am Pool das Abendbuffet servieren ließen, ins Jenseits verfrachten.