Der Beweis
Reihe: Literarisches
Mittelstufe
Suzanne kommt aus dem Welschland, Milan aus dem Ausland in eine Deutschschweizer Schule. Beide stossen auf Ablehnung und werden ausgegrenzt. Die Spannung steigt, die Aggressionen nehmen zu. Für das Zusammenleben in der Klasse muss eine Lösung gefunden werden. Aber wie?
«Suzanne heisst du? Das ist doch ein französischer Name», sagte der Lehrer, als ich mich in der neuen Klasse vorstellen musste.
Ich nickte nur und wurde bis über beide Ohren rot, denn alle starrten mich neugierig an. Davor hatte ich am meisten Angst. Jetzt hätte ich erklären sollen, dass mein Vater in Frankreich geboren wurde und ich
deshalb bilingue bin, also zweisprachig. Dass ich fast gleich gut Französisch sprechen kann wie Deutsch. Aber ich sagte kein Wort. Ich wollte nicht noch mehr auffallen. Herr Leder – so heisst unser Klassenlehrer – machte alles noch schlimmer:
«Macht es dir etwas aus, wenn wir dir einfach Susi sagen?»
«N ... ein.»
Am liebsten hätte ich geschrien: Doch, es tut mir weh! Ich finde Susi grässlich. Wie hätte ich mich wehren können gegen diese blöde Abkürzung? Sie tönt kindisch, und ich bin bald zwölf. Suzanne ist überhaupt nicht dasselbe wie Susi. In Yverdon, wo wir vorher wohnten, haben mich alle Su genannt, Sü ausgesprochen. Viele haben mir auch Suzy gesagt.
Mein Vater hatte eine Tante namens Suzanne. Sie war eine interessante Frau, eine berühmte Pianistin. Leider ist sie früh gestorben, und meine Eltern haben mich ihr zu Ehren Suzanne getauft. Darauf bin ich stolz. Das konnte ich dem Lehrer nicht erklären, das geht den nichts an.
«Wie wars?», wollte meine Mutter wissen, als ich nach dem ersten Vormittag in der neuen Schule nach Hause kam.
«Schrecklich!»
«Weshalb? Was ist passiert?»
«Ach, lass mich in Ruhe, ich kann das jetzt nicht erzählen!» Ich schmiss meinen Rucksack in eine Ecke, lief in mein Zimmer und schlug die Tür zu. Am liebsten hätte ich gleich losgeheult, aber ich nahm Gipsy, unsere Katze, in die Arme. Sie begann zu schnurren, was mich ein wenig tröstete. Gipsy versteht alles, ohne dass ich ihr etwas zu erklären brauche. Sie spürt immer, wenn ich traurig bin und streicht mir dann um die Beine.
«Su, komm endlich, das Essen ist fertig!», rief Mutter etwas später. (Ich sage ihr natürlich nicht Mutter, nur wenn ich von ihr erzähle oder über sie in mein Tagebuch schreibe.) Ihre Stimme klang sehr lieb und besorgt, denn sie hatte gleich gemerkt, dass es mir nicht gut ging. Warum kann ich meine Gefühle nicht verstecken?
Einmal habe ich gehört, dass Mutter zu einer Bekannten sagte: «Ich brauche Su bloss anzuschauen, dann weiss ich, wie ihr zu Mute ist, sogar von hinten! So wie sie dasteht, verrät sie alles.» Das hat mich ein wenig geärgert.