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Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien
ISBN 978-3-7117-5035-8
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Das rosa Haus im Dschungel - Ankunft in Rio de Janeiro
Samba mit ET - Tanz als Lebensweise
Die deutschen Girls von Ipanema - Ipanema – Mythos und Wahrheit
Das brasilianische »churrasco« - Fleisch im Himmel
Das Maracanã-Stadion - Tor zum Himmel, Maul zur Hölle
Ich und Paulo Coelho - Begegnung mit einem Unsterblichen
Die sicherste Stadt der Welt - Wie ein Sprachlehrer einen Beamtenfeiertag erfand
Cops und Gangster - Tödliches Finale
Carlitos Dusche - Karneval am Strand
Der Genuss der Sünde - Rios Vila Mimosa wählt die Hure der Huren
Der Schatz im Silbersee - Gaunerei zum Lichterglanz
Casa de Festa - Ein Haus zum Feiern
Auf Neulinge schlägt Rio de Janeiro ein wie mit einer goldenen Keule – so zumindest haben wir es empfunden, als wir zum ersten Mal die Stadtautobahn ins Zentrum nahmen. Diese schönste Stadt der Welt schlägt auf dich ein mit allem, was sie hat: mit Glanz und Elend und Hitze, mit Blicken auf Wälder und Strände und das funkelnde Meer mit den vorgelagerten Inseln, mit mondänen Art-déco-Fassaden und erbärmlichen Bretterbuden, mit gleißendem Licht und halb nackten Körpern, Autoabgasen und Meergeruch, mit einer dröhnenden Sinfonie, der nicht zu entkommen ist.
Es ist eine Stadt, die an den Stränden entlang gewuchert ist. Vom Flughafen Tom Jobim aus folgen die Hauptverkehrsadern dem Küstenbogen die Guanabara-Bucht entlang, die die portugiesischen Entdecker einst für eine Flussmündung hielten, weshalb sie ihre Ansiedlung dort Rio de Janeiro nannten, Januar-Fluss.
Vorbei geht es an Gloria mit seinen Bürgerhäusern und dem Jachthafen, an den Stränden von Flamengo und Botafogo, schließlich der überwältigende Copacabana und Ipanema, diesen Sandbänken, die gleichzeitig kleine Fluchten und große Welt sind, Erotik und Spiel und goldener Flimmer.
[10]Bevor die Küstenstraße die endlosen Strände der Barra erreicht mit ihren türkisfarben verschalten Hochhausburgen und Shoppingmalls, bevor also die schönste Stadt der Welt zu Miami degeneriert, zweigt eine kleine Straße ab in die Berge wie ein letzter, angewiderter Fluchtweg.
Und plötzlich: Stille. Eine Pastorale wie auf dem Land. Eine andere Welt. Dieses andere Rio ist weniger bekannt als das der Strände. Es ist dadurch nicht weniger überwältigend.
Sie schlägt sich buchstäblich in die Büsche, die Estrada das Canoas. In gemächlichen, schattigen Serpentinen schlängelt sie sich bergan, hinauf in den wuchernden Dschungel des Parque da Tijuca, des größten städtischen Naturschutzgebiets der Welt.
Vor rund hundertfünfzig Jahren hatten die Besitzer der Kaffeeplantagen den Mata Atlântica, den Küstenurwald, fast abgeholzt. Es war Kaiser Dom Pedro II., der ihn wieder aufforsten ließ. Ihm genügten sechs Gärtner, den Rest besorgten das Klima und ein Boden, der aus jedem Samenkorn einen Regenwaldriesen zauberte.
Heute sind die Küstenberge wieder eingenommen von diesem Dschungel aus Jaca-Bäumen, Pinheiros, Fici, Flamboyants, Bambussen, Farnen, Orchideen, Affenbrotbäumen – ein grünes Fell, aus dem die nackten Felskegel im Hinterland ragen wie Mönchsglatzen.
Die Estrada das Canoas ist spärlich befahren: Vorwiegend sind es die Jeeps der Ökotour-Unternehmen, die die Serpentinen hinauf zum Parque [11]de Tijuca nehmen, und die VWs der Drachenflieger mit ihren Lasten auf den Gepäckträgern – oben, am Gavea-Felsen, gibt es eine Absprungstelle.
Man nennt den Bezirk, in dem die Straße endet, mit vollem Recht Alto da Boa Vista, die Anhöhe der schönen Aussicht. Dort oben gibt es ein rosafarbenes Haus mit weißen Säulen, und dort waren wir vier Jahre lang zu Hause. Man könnte es so sagen: Die Estrada das Canoas verbindet das 21. mit dem 18. Jahrhundert. Wir wohnten im 18. Jahrhundert.
Die Estrada das Canoas erzählt geradezu bilderbuchhaft von den historischen Wachstumsschüben der Stadt. Sie beginnt in der Gegenwart, unten, hinter der Strandstraße, mit einer kleinen favela, wie die Slums hier heißen. Sie war entstanden, als die Caddies des angrenzenden mondänen Golfclubs von Gavea dort ihre Bretterbuden aufstellten.
Diese favelinha geriet vor einigen Jahren in eines der Förderprogramme der EU, und man konnte zusehen, wie sie Schminke anlegte. Sie bekam eine Kanalisation. Kindergärten wurden gebaut, Fassaden verschönert. Eine Wochenenddisco wurde eröffnet und gleich von zwei neuen evangelikalen Kirchbauten in die Mitte genommen, die sich nun mit Megafonen um die Seelen der Jugendlichen streiten, aber regelmäßig den Kürzeren ziehen gegen »Baile Funk«, diese drastische brasilianische Hip-Hop-Version.
Wie in anderen favelas gibt es hier Drogen und [12]Waffen und nichts, was es nicht gibt: Ein paar Reportern ist es sogar gelungen, einen veritablen Granatwerfer zu organisieren, für ganze zweihundert Euro.
Hier unten also ist die Estrada das Canoas Neuzeit, mit allem Elend und aller Weltverbesserei, die sich nur denken lassen in dieser Achtmillionenmetropole.
Nach einigen Biegungen, schon im tiefen Grün, fährt man in die fünfziger Jahre zurück: Man passiert das Haus, das sich Brasiliens größter Architekt, Oscar Niemeyer, dort vor fünf Jahrzehnten in den Hang baute und das man noch heute besuchen kann, ein schwebendes nierenförmiges Dach auf Glas über einem Felsbrocken, der zu seiner größeren Hälfte ins Haus hineinragt und diesem lichten Bungalow mit seinen weiblichen Rundungen eine Art Anker gibt, um ihn daran zu hindern, hinaus ins Tal zu fliegen.
Oben dann der Sommerpalast des Bürgermeisters, die Villen der Richter und Schönheitschirurgen und Regierungsassessoren hinter hohen Mauern, und der Eingang zu einem der schönsten Parks der Welt.
Hier oben also sieht Rio aus wie ein Aquarell aus dem 18. Jahrhundert, mit mulattos vor den schmiedeeisernen Toren, die mit Reisigbündeln den rosafarbenen Blütenregen der Ipé-Bäume aus den Einfahrten kehren.
Wir hatten diese Straße aus einer Laune heraus genommen. Nachdem uns der Makler einige unbezahlbare Apartmentwohnungen in Flamengo [13]und Ipanema gezeigt hatte, erinnerte er sich an dieses leer stehende rosa Haus, das lange keinen Mieter gefunden hatte. Wir verließen also den städtischen Dschungel und fuhren in den grünen.
Eine Villa, die in der Toskana hätte stehen können mit ihren roten Dachschindeln, wie aus einer Shakespeare-Verfilmung von Kenneth Branagh. Sie wurde von einem wuchtigen, ausladenden Jaca-Baum überragt. Eine Freitreppe zur Vorderseite hinauf und dahinter ein ansteigender Garten aus Findlingen und Fischteichen und Bäumen, die aus allen tropischen Zonen der Welt hier versammelt waren.
Das Haus war von einem englischen Ehepaar in den vierziger Jahren erbaut worden, das die Welt bereist hatte und hier zur Ruhe fand. Sie hatten ihr Traumhaus gebaut. Die Fundamente der weißen Säulen waren mit blauen Azulejos aus Portugal eingekleidet. Der Garten war von ihnen selbst angelegt worden und aus jedem Raum gab es Blickachsen hinunter ins blau schimmernde Tal oder in die üppig grüne Wand des Gartens, die Bambushaine, die Palmen, die schwer duftenden Ginsterkaskaden, an denen sich Kolibris satt saugten.
Es war ein Haus, das aus Liebe gebaut worden war. Bevor das Paar starb, ließ es verfügen, dass die Asche seiner sterblichen Überreste im Garten verstreut werden sollte.
Ein Haus wie eine Umarmung, der sich kaum jemand entziehen konnte. Die Feste, die hier gefeiert wurden, waren endlos – keiner wollte sich [14]gerne trennen, keiner aus der Umarmung dieses Hauses lösen.
Hier hat der legendäre Pianist João Carlos Martins einer Horde von Kindern Beethovens Neunte erklärt. Hier hat die imposante Diplomatin Dona do Carmo einem deutschen Exterroristen auseinander gelegt, warum sie zum ersten Mal links wählen würde. Hier haben der Dichter Romano Sant’Anna und der emigrierte deutsch-jüdische Juwelier Hans Stern über Wahlheimaten diskutiert. Ab und zu kam die Nachbarin herüber, die Tochter des großen Vinicius Moraes, die mit Chanson-Göttin Adriana Cavalcanti zusammenlebte.
Alle sind auf die eine oder andere Art in diesem Buch vertreten.
Hier, in diesem Haus, haben sich oft genug die Kollegen von Newsweek, von der New York Times, dem Guardian oder dem Stern dem Cachaça-Genuss ergeben. Es war eigentlich immer Remmidemmi. Warum nur stand das Haus so lange leer, und warum war es so erschwinglich?
Die Frage beantwortete sich von alleine, kurz nachdem wir eingezogen waren, mit dem ersten Sturm: Das Haus hatte nicht nur die Schönheit einer betagten Villa, sondern auch deren technischen Standard. Anders als die Nachbarvillen verfügte es nicht über einen eigenen Notstromaggregator, weshalb es besonders während der Regenzeit oft im Dunkeln lag, weil Äste auf die Leitungen fielen und sie von den Masten rissen.
Doch es gab noch einen zweiten Grund. Auch der enthüllte sich bald. Es ging mir zunächst nur [15]darum, vernünftige Telefonanschlüsse legen zu lassen. Unverzüglich.
Für »unverzüglich« gibt es in Brasilien zwei Möglichkeiten. Entweder man geht den sehr offiziellen Weg über die zuständige Telefongesellschaft, erhält das Versprechen, dass das Problem »unverzüglich« gelöst wird, und wartet.
Oder man kennt jemanden, der jemanden kennt, der das Problem unverzüglich löst, und dann kann es schnell gehen. Ich wählte den zweiten Weg. Und tatsächlich kam, nachdem verschiedene beglaubigte Übersetzungen und Papiere und Geld die Hände gewechselt hatten, bald Bewegung in die Angelegenheit.
Schließlich erzählten uns amerikanische Freunde, die gerade bei uns zu Besuch waren und von einem Tagesausflug auf den Zuckerhut zurückkehrten, dass sie soeben ein Auto der Telefongesellschaft auf halber Höhe in der Estrada das Canoas gesichtet hätten. Merkwürdig sei nur gewesen, so mein Freund Don weiter, dass die Techniker über der Motorhaube lagen, während ihnen die Polizei Handschellen anlegte.
Am nächsten Tag erfuhr ich von meiner Kontaktperson, was passiert war: Tatsächlich sei ein Auto der Telefongesellschaft auf dem Weg zu uns gewesen. Allerdings sei es von zwei Banditen überfallen worden, die die Techniker angeschossen und deren Uniformen angezogen hätten und nun auf dem Weg hinauf nach Alto da Boa Vista gewesen wären. Und ganz oben auf dem Clipboard stand unsere Adresse.
[16]Natürlich hätten wir, wenn sich die lang ersehnten Serviceleute gezeigt hätten, Tür und Tor geöffnet, Teppiche ausgerollt, Geigenkonzerte erklingen lassen. Und wären wahrscheinlich, wenn es gut gegangen wäre, nur geknebelt und gefesselt worden, während das Haus ausgeräumt worden wäre.
Es war einer der beiden angeschossenen Telefonmänner, der die Polizei verständigt hatte. Und die hatte, da es sich in Alto um eine prominente Gegend handelt, tatsächlich unverzüglich Großalarm ausgelöst und die Gangster geschnappt.
Das also war der zweite Grund, weshalb das Haus so preisgünstig zu haben war: die prekäre Sicherheitslage der gesamten Gegend.
In den Jahren, in denen wir dort oben wohnten, kam es zu mehreren schweren Überfällen. Da die Estrada das Canoas eng und abgeschieden in die Berge führt, ist sie leicht zu blockieren. Mein Freund Edson, selbst Journalist, wurde mit seinem achtjährigen Sohn so abgefangen: Wagen quergestellt, beide aus dem Auto gezerrt, Gesicht auf dem Asphalt, Knarre im Nacken, und dann her mit den Wertsachen. Drei weiteren Nachbarn passierte das Gleiche.
Allerdings ist der Mensch ein vergessliches Wesen, besonders in Rio, und da wir den ersten Beinahe-Überfall schnell hinter uns gebracht hatten, bestand, rein statistisch, eine relativ hohe Überlebenschance.
Und wie wir überlebten!
Die paar Schlangen, die es bis ins Schilf der Fischteiche hinter der Veranda geschafft hatten, [17]zog Mauro, der muskelbepackte Sicherheitsdienstler, mithilfe seiner zwei Rottweiler aus dem Verkehr. Seine Frau Cassia, die Köchin, behauptete, man könne sie essen. Aber sie sah davon ab, sie in ihre feijoada, die traditionelle schwarze Bohnensuppe, zu verrühren.
Cassia versorgte meine Frau mit Klatsch und Tratsch über das verschlungene Liebesleben der Nachbarschaft. Neben dem Fußball ist die Liebe ohnehin das einzige Thema, das ernst genommen wird in Rio.
Natürlich gibt es keine Entschuldigung für einen Journalisten, im 18. Jahrhundert zu leben und seine Arbeit in der luxuriösen Stille des Waldes zu verrichten, die nur von Vogelstimmen unterbrochen wird.
Zu meiner Verteidigung kann ich nur anbringen, dass auch wir gelitten haben: unter dem Frosch nämlich, der in den Fischteichen hinter dem Haus wohnte und den wir in langen durchquakten Tropennächten Presslufthammer-Willi tauften, weil sein Quaken eher ein energisches Schnalzklopfen war, Ausdruck purster sexueller Not selbstverständlich, eine Brunftpein in höchsten Tönen, metallen, methodisch, pausenlos.
Womit wir schon wieder bei den Tragödien der Liebe wären.
Das rosa Haus im Dschungel war also so abgelegen und so mittendrin, wie man nur sein kann in Rio.
Mittlerweile sind einige Jahre vergangen, Brasilien hat unter der Präsidentschaft Lulas ein veritables [18]Wirtschaftswunder hingelegt. Ja, der Stahlarbeiter und Gewerkschafter der Arbeiterpartei hat sich als fiskalisch besonnener und ökonomisch konservativer Wirtschaftsfreund entpuppt. Ein wachsender Mittelstand prosperiert.
Und Rio? Putzt sich auf, seit der Stadt die Olympischen Spiele 2016 zugesprochen wurden. Unter dem jungen Bürgermeister Eduardo Paes, der sich gegen den legendären Exterroristen Fernando Gabeira in einer Stichwahl durchgesetzt hatte, wurden Polizeistationen in den meisten favelas errichtet.
Doch noch immer gibt es blutige Kämpfe zwischen Polizei und Banden und den Banden untereinander. Drogen sind ein allzu lukratives Geschäft. Und noch immer spotten die hygienischen Bedingungen des Gesundheitswesens allen Beschreibungen. Noch immer rutschen nach starken Regenfällen ganze Viertel wild gebauter favelas in Schlammlawinen zu Tal. Und noch immer werden Niederlagen der Fußballnationalmannschaft als die wahren Tragödien des Alltags erlebt.
Aber gleichzeitig gilt auch immer noch der Karneval als die wichtigste Jahreszeit, und das Leben, das spielt sich immer noch am Strand ab.
Rio ist nach all den Jahren immer noch ein funkelnder Schatz von Erinnerungen für uns. Von Erinnerungen an eine Stadt, die manchmal beängstigend ist und oft einfach zu schön, um wahr zu sein.