Picus

Jacques Le Rider
Wien als »Das neue Ghetto«?
Arthur Schnitzler und
Theodor Herzl im Dialog

Wiener Vorlesungen im Rathaus

Band 171
Herausgegeben für die Kulturabteilung der Stadt Wien
von Hubert Christian Ehalt

Vortrag im Institut Français, Wien
am 23. Oktober 2012

Jacques Le Rider

Wien als »Das neue Ghetto«?
Arthur Schnitzler und
Theodor Herzl im Dialog

Picus Verlag Wien

Copyright © 2014 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien
Alle Rechte vorbehalten
Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien
Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien
ISBN 978-3-7117-5196-6
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt

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Die Wiener Vorlesungen im Rathaus

Am 2. April 1987 hielt der bedeutende polyglotte deutsche Soziologe Professor Dr. René König im Rahmen der Tagung »Wien – die Stadt und die Wissenschaft« einen Vortrag im Wiener Rathaus zum Verhältnis von Stadt und Universität. In seinem Referat gab René König den Akteurinnen und Akteuren der Wiener Stadtpolitik und -verwaltung den Rat, Wien möge seine Universitäten als Impulsgeber intellektueller Kultur in die Stadt »einnisten«. Die Stadt Wien folgte diesem Ratschlag durch zahlreiche Förderungsinitiativen, durch die Gründung von sechs neuen Wissenschaftsförderungsfonds, durch die Wissenschaftsfundierung ihrer Verwaltungsarbeit und last but not least durch eine Vortragsreihe, die »Wiener Vorlesungen«, die im Jahr 2012 ihren 25. Geburtstag feierten.

Die Wiener Vorlesungen beschäftigen sich mit den großen wissenschaftlichen und intellektuellen Fragen der Zeit. Die Wissenschaften kommen in immer kürzeren Zeiträumen zu eindrucksvollen Ergebnissen, die sehr oft in für Bürgerinnen und Bürger interessante Anwendungen münden. Die Wirksamkeit der Wissenschaften bietet aber auch Probleme, die jedenfalls in immer stärkerem Maß eine Auseinandersetzung der Öffentlichkeit mit Voraussetzungen und Folgen von Forschung notwendig machen.

Aus den Wiener Vorlesungen ist ein intellektuelles Netz aus Veranstaltungen, Publikationen und TV-Sendungen geworden. Die Vorlesungen waren als Projekt der Wissenschaftsvermittlung, der Aufklärung, aber auch der Kritik geplant, und sie arbeiten an diesen Zielsetzungen durch ständige Selbstreflexion, Methoden- und Formatwechsel, vor allem aber durch die Einladung von Vortragenden, die eine interessante Botschaft haben. Somit war und ist das Konzept der Wiener Vorlesungen von Beginn der Initiative an klar und prägnant: Prominente Denkerinnen und Denker stellen ihre Analysen und Einschätzungen zur Entstehung und zur Bewältigung der brisanten Probleme der Gegenwart zur Diskussion. Die Wiener Vorlesungen skizzieren nun seit Anfang 1987 vor einem immer noch wachsenden Publikum in dichter Folge ein facettenreiches Bild der gesellschaftlichen und geistigen Situation der Zeit. Das Faszinierende an diesem Projekt ist, dass es immer wieder gelingt, für Vorlesungen, die anspruchsvolle Analysen liefern, ein sehr großes Publikum zu gewinnen, das nicht nur zuhört, sondern auch mitdiskutiert. Das Wiener Rathaus, Ort der kommunalpolitischen Willensbildung und der Stadtverwaltung, verwandelt bei den Wiener Vorlesungen seine Identität von einem Haus der Politik und Verwaltung zu einer Stadtuniversität.

Die Vortragenden – bisher etwa fünftausend – kamen und kommen aus allen Kontinenten, Ländern und Regionen der Welt, und die Stadt Wien schafft mit der Einladung prominenter Wissenschafterinnen und Wissenschafter eine kontinuierliche Einbindung der Stadt Wien in die weltweite »scientific community«. Für die Planung und Koordination der Wiener Vorlesungen war es mir stets ein besonderes Anliegen, diese freundschaftlichen Kontakte zu knüpfen, zu entwickeln und zu pflegen.

Das Anliegen der Wiener Vorlesungen ist eine Schärfung des Blicks auf die Differenziertheit und Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit. Sie vertreten die Auffassung, dass Kritik eine integrale Aufgabe der Wissenschaft ist. Eine genaue Sicht auf Probleme im Medium fundierter und innovativer wissenschaftlicher Analysen dämpft die Emotionen, zeigt neue Wege auf und bildet somit eine wichtige Grundlage für eine humane Welt heute und morgen. Das Publikum macht das Wiener Rathaus durch seine Teilnahme an den Wiener Vorlesungen und den anschließenden Diskussionen zum Ort einer kompetenten Auseinandersetzung mit den brennenden Fragen der Gegenwart, und es trägt zur Verbreitung jenes Virus bei, das für ein gutes politisches Klima verantwortlich ist.

Jacques Le Rider, der Autor des vorliegenden Bandes, war und ist in dem wissenschaftlichen Netzwerk der Moderne-Forschung ein wichtiger Impulsgeber. Er ist einer der besten Kenner der Literatur und der politischen, intellektuellen und kulturellen Situation Wiens in der zweiten Hälfte des 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts. Neben Carl E. Schorske, Edward Timms, Steven Beller und William Johnston gehört er zu den wichtigen Anregern, für deren präzise Analysen von außen Wendelin Schmidt-Dengler das Wort »Wien Wien erklären« geprägt hat.

Jacques Le Rider kennt wie kaum ein Anderer die Protagonisten der intellektuellen Wiener Moderne, und das vorliegende Buch beleuchtet die Persönlichkeiten Theodor Herzl und Arthur Schnitzler in ihrer Beziehung in vielen Aspekten völlig neu. Arthur Schnitzler und Theodor Herzl waren Hauptakteure der Literatur und des Feuilletons im Wien des Fin de Siècle. Beide im Neoabsolutismus geboren, mit den Jugenderfahrungen eines offeneren Klimas in der liberalen Ära, begegneten einander mit einigem Hochmut, aber doch vorsichtig und mit strategischer Zurückhaltung. Herzl war zum Zeitpunkt, als Schnitzler noch am Beginn seiner literarischen Karriere stand, schon renommierter Feuilletonautor und dann Feuilletonchef der »Neuen Freien Presse«; und er lässt seiner Ambivalenz gegenüber Schnitzler freien Lauf (Brief von 1892: »Persönlich waren Sie mir aber geradezu unsympathisch … die früheren Begegnungen hatten mich in Ihnen einen dünkelhaften Menschen sehen lassen«); einlenkend schließt er diesen Brief jedoch mit den Worten »Lieber Schnitzler: ich glaube an Sie«. Da Schnitzler fraglos der bessere Autor als Herzl war, hat sich diese Beziehung – wohl auch aufgrund dieser Tatsache – in der Folge verändert. Wie auch immer, die Nuancen kann man im vorliegenden Text von Jacques Le Rider nachlesen. Le Rider verbindet einen Blick für das Wichtige, Wesentliche und Neue mit wissenschaftlicher Genauigkeit. Ich würde mir wünschen, dass es zu den Beziehungen der herausragenden Persönlichkeiten der Wiener Moderne viele Studien gäbe wie die hier vorgelegte über Schnitzler und Herzl.

Hubert Christian Ehalt

Wien als »Das neue Ghetto«?
Arthur Schnitzler und
Theodor Herzl im Dialog

Seit ihrer gemeinsamen Studienzeit an der Universität Wien haben sich Theodor Herzl (1860–1904) und Arthur Schnitzler (1862–1931) nicht mehr gesehen. Im Oktober 1891 ist Herzl Korrespondent der Neuen Freien Presse in Paris geworden. Am 29. Juli 1892 schreibt er aus dem schicken Strandort Houlgate in der Normandie an Schnitzler:

Lieber Dr. Schnitzler! Dr. Goldmann1 hat mir eine große Freude bereitet, als er mir zur Bekanntschaft mit Ihrem »Märchen«2 verhalf. Wir saßen damals auf der Journalistentribüne des Palais Bourbon, […] u. sprachen von Wien, das mir mit den Leiden u. Beschwerlichkeiten, an denen es für mich so voll war, zu verblassen beginnt. […] Er nannte Ihren Namen. Ich war ziemlich erstaunt, Sie so rühmen zu hören. Gestatten Sie mir das zu sagen. Ich hatte, obwohl mir schon einige Ihrer Dialogsachen, die so viel Geist zu sprühen bekannt waren, doch nicht seine Meinung von Ihrem Talent. Persönlich waren Sie mir aber geradezu unsympathisch. Ich hatte Sie in der letzten Zeit in Gesellschaft einiger »Jungen« von Profession gesehen, und die früheren Begegnungen hatten mich in Ihnen einen dünkelhaften Menschen sehen lassen, der auf allerlei Albernheiten der Gesellschaft herumritt.

1 Paul G. Goldmann (1865–1935). Zuerst Mitredakteur der von seinem Onkel Fedor Mamroth gegründeten Zeitschrift An der schönen blauen Donau, 1890 Theaterkorrespondent der Neuen Freien Presse in Berlin, 1891 Korrespondent der Frankfurter Zeitung zuerst in Berlin und dann in Paris.

2 Arthur Schnitzler, Das Märchen. Schauspiel in drei Aufzügen, »Als Manuskript gedruckt«, Wien, Carl Steinhardt, 1891 (118 Seiten).

[…] Ich weiß nicht, wie es dem Märchen bei der Aufführung gehen wird. Vielleicht schlecht. Lassen Sie sich dadurch nicht eine Sekunde verwirren. Es ist ein gutes Stück […].

Mit einem Wort, lieber Schnitzler: ich glaube an Sie.

Neuen Freien Presse