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ISBN 978-3-7117-5199-7
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Wer kann das von oben vom Anfang bis zum Ende mit offenen Augen überblicken?
FRANZ KAFKA
Sie hatte die besondere Begabung, etwas vor anderen zu verbergen. In dieser Disziplin hatte sie in Jahrzehnten eine stille Meisterschaft ausgebildet. Immer wenn die Umstände, das Schicksal, das Leben, oder was immer man in solchen Momenten zu nennen pflegt, sie schmerzhaft zwangen, ihr Talent erneut unter Beweis zu stellen, wusste sie, dass sie gewappnet war. Gerüstet, durchzuhalten. Stark genug, das alles auszuhalten.
Ich werde neu anfangen. Es wird schon recht werden, hat Papa immer gesagt. Und es ist immer wieder recht geworden.
Katharina erwachte durch das Geräusch eines vorbeifahrenden Autos. Draußen begann es, hell zu werden. Sie konnte nicht mehr einschlafen. Auf dem Nachtkästchen lag das Heft, in dem sie spätabends geschrieben hatte. Als sie bemerkte, dass das Bett neben ihr leer war, stand sie auf. Andreas war wohl erst kurz vorher nach Hause gekommen, er hatte es nur mehr bis zur Wohnzimmercouch geschafft. Er lag da im Anzug und schnarchte leise. Nur die Schuhe hatte er ausgezogen, die Krawatte hing auf dem Fernseher.
Noch war es auf der Einfallstraße in die Hauptstadt ruhig, Nebelfetzen hingen über dem Fluss, die Straße war feucht, in der Nacht hatte es leicht geregnet. Kurz vor Linz fuhr Katharina an der Mühlkreisbahn vorbei, die hier direkt am Fluss entlang führt, wenig später stand sie im Stau und wurde vom Zug, der die Straße querte, wieder überholt.
Die Plakatwände hatten über Nacht ihr Aussehen gewechselt, überall prangten unter Andreas’ Gesicht dicke gelbe Danke-Streifen, aber auch die Verlierer bedankten sich bei den Wählern.
Sie hatte nichts gefrühstückt. An der Kreuzung vor dem Tunnel stand die Ampel auf Rot. Sie beugte sich hinüber zur Beifahrerseite und kramte im Handschuhfach nach einer Packung angebrochener Kekse. Plastik knisterte, aber sie bekam statt der Kekse nur den kleinen Plastikengel zu fassen, der sie mit gefalteten Händen anlächelte. Er wirkte wie ein Zeichen aus einer anderen, vergangenen Zeit, ein Gruß aus einem anderen Leben. Die Ampel war schon wieder auf Grün, als sie die Schokokekse doch noch fand. Sie wischte die Krümel von ihrem Blazer.
Im Süden verließ sie die Stadt. Von den Seitenstraßen bogen die ersten Pendler aus den Siedlungen ein, hier war die Stadt am hässlichsten: Einkaufscenter, Parkplätze, Imbissbuden, Autowerkstätten, Lagerhallen reihten sich bis zur Stadtgrenze aneinander.
Der Himmel war verhangen und grau, ein Tag, der sich nicht entschließen konnte, hell zu werden. Bei Schönwetter konnte man von hier bis zu den Bergen sehen.
Es war der Tag nach dem Sieg. Der Tag nach dem Triumph. Andreas hatte seiner Mannschaft bis zur Parteivorstandssitzung, frei gegeben, wahrscheinlich musste er spätabends auch noch ins Fernsehstudio, um das Wahlergebnis zu kommentieren und den künftigen Kurs, der auch der bisherige war, zu skizzieren.
Bis zur Angelobung der Regierung würden vielleicht vier Wochen vergehen, dann, so hatte Andreas versprochen, würden sie endlich Urlaub machen. Zu Hause lagen schon die Prospekte, sie hatten sich nur noch nicht entschieden, wohin sie fahren würden.
Für diese Zeit musste Katharina eine Bleibe für ihren Vater suchen.
Der Übergang von der Stadt zur nächsten war kaum zu bemerken. Kurz glitten ein paar Äcker und winterfest gemachte Felder an ihr vorbei, dann standen schon die nächsten Lagerhallen, Tankstellen und Großkaufhäuser links und rechts der Straße. Dieses Land wirkte gesichtslos, verplant, zersiedelt. Die Menschen hatten sich längst daran gewöhnt, in dieser Umgebung zu leben.
Sie würde vor der Pflegerin bei Vater sein. Sie war so früh dran, dass sie ihn vielleicht sogar noch im Bett antraf.
Keine achtundvierzig Stunden sind vergangen. Seit ich an der Grenze war. Und kaum drei Wochen, seit ich Arnold in K. getroffen habe. So unwirklich das. So irreal. Vielleicht habe ich das alles nur geträumt. Vielleicht träume ich noch. Vielleicht wache ich bald auf.
Sie fädelte in die Abzweigung ein, die sie in den Stadtteil führte, in dem das kleine Haus stand, das sich die Eltern vor vier Jahrzehnten gekauft hatten. Damals, als sie aus der Stadt am See weggezogen waren.
Kurz vor der Sackgasse, in der Vater wohnte, bog sie auf den Parkplatz neben dem Einkaufscenter, an dessen Rückseite die Müllcontainer standen. Der Einfall kam spontan.
Es war noch nicht einmal sechs Uhr früh. Die ersten Menschen auf dem Weg zur Arbeit wankten verschlafen zu den Haltestellen, starrten müde vor sich hin wie Irrende oder blätterten in der Gratiszeitung, die bei jedem Wartehäuschen auflag. Heute wurde Andreas’ Wahlsieg verkündet. Wahrscheinlich war in einer Zeitung sogar ein Foto, auf dem auch sie abgebildet war. Einmal in sechs Jahren, immer bei der Stimmabgabe, musste sie das ertragen.
Der Platz vor dem Einkaufscenter war menschenleer, die Geschäfte würden erst in zwei Stunden öffnen. Der Container mit dem Altpapier quoll über. Tags zuvor war ihr das – es hatte bereits gedämmert, sie war wohl sehr aufgeregt gewesen – gar nicht aufgefallen. In der Zwischenzeit war er auch nicht geräumt worden. Der Container hatte eine Hebelvorrichtung, mit der sich der Deckel mit einem leisen Kreischen öffnen ließ.
Sie tat, als werfe sie Altpapier ein. Sie nahm die Zeitung von gestern, die Sonntagsausgabe, aus dem Wagen und legte sie oben auf den Papierstoß.
Sie bemerkte die Schnipsel sofort. Sie lagen obenauf, dort, wo sie sie am Vorabend eingeworfen hatte. Sie fegte sie in ihre Handtasche. Die Aktion dauerte nicht einmal eine Minute. Vielleicht gelang es ihr sogar, die Schnipsel alle wieder einzusammeln.
Minuten später stand sie in Vaters Wohnung. Sie hatte sich getäuscht. Er war schon auf und saß in Unterhosen am Küchentisch, im Radio lief laute Marschmusik, Musik, die er früher kaum gehört hatte.
Er wunderte sich nicht, dass sie so früh kam, sondern blickte nur kurz auf. Es war ihm scheinbar auch egal, dass seine Tochter und nicht die Pflegerin erschien. Vor ihm auf einem Teller lagen die welken braunen Apfelschnitten vom Vortag.
Ich mache dir Frühstück, sagte Katharina und machte sich am Herd zu schaffen. Aber du solltest dich anziehen und waschen.
Sie führte ihren Vater zur Toilette, entfernte die Windel und half ihm beim Niedersetzen. Waschen würde ihn später die Pflegerin. Vater roch scharf und säuerlich nach Urin und Schweiß. Er ließ die Prozedur gelassen über sich ergehen.
Wir haben die Wahl gewonnen gestern, weißt du das?, fragte Katharina.
Die Wahl?, fragte der Vater. War denn gestern eine Wahl?, fragte er.
Gestern war doch die Wahl, sagte Katharina. Und Andreas hat gewonnen. Und du hast ihn auch gewählt, sagte sie und drückte ihn sanft auf den Klosessel, weil er noch nicht mit dem Wasserlassen fertig war.
Haben wir gewonnen?, fragte er wie ein Kind.
Ja, du hast auch gewonnen, sagte Katharina.
Sie führte ihn zurück in sein Zimmer, legte ihm eine neue Windel an und bereitete frische Unterwäsche vor. Manchmal, wenn er gut gelaunt war, schaffte er es noch, sich selber anzukleiden.
Sie machte in der Küche Kaffee, auch für sich, und schmierte Vater ein Butterbrot mit Honig.
Als sie ein Kind gewesen war, hatte er das manchmal für sie gemacht.
Dann saß er zufrieden am Tisch, kaute und schmatzte. Im Radio liefen die Morgennachrichten, ein Nachbericht über die Siegesfeier am vorigen Abend.
Plötzlich war Andreas’ Stimme zu hören. Vater hob den Finger und grinste.
Katharina ging ins Wohnzimmer, suchte Papier und kramte in einer Lade nach Klebstoff.
Sie suchte in der Handtasche nach all den Papierschnipseln, die sie vorher eingesammelt hatte, und legte sie vor sich hin auf den Wohnzimmertisch. Sie kontrollierte noch einmal, ob sie auch alle Papierstücke aus der Handtasche genommen hatte.
Sie begann das Puzzle aus den kleinen Papierfetzen zusammenzustellen. Allmählich formten sich aus den Einzelteilen die zwei Bilder, die sie gestern Abend zerrissen hatte.
Das eine Bild wirkte wie ein zufälliger Schnappschuss eines Touristen von der Nepomukbrücke hinunter auf das kleine Kaffeehaus an der Moldau in Krumau. Einige Tische waren besetzt, an einem saß sie mit Arnold, ins Gespräch vertieft. Das zweite Foto war eindeutiger. Arnold hatte die Hand auf ihre gelegt, er beugte sich vor und sah ihr in die Augen. Man konnte sie für ein Liebespaar halten.
Sie fügte die Teile zusammen und klebte sie auf das Blatt, das sich vom Klebstoff leicht wellte. Sie achtete darauf, dass der Klebstoff nicht tropfte.
Das waren die einzigen Bilder, auf denen sie mit Arnold zu sehen war. Das Foto vom Maturaball, auf dem Arnold zufällig hinter ihr gestanden war, zählte nicht. Seither waren Jahrzehnte vergangen. Die Fotos, die sie eben zusammengeklebt hatte, waren die einzige Erinnerung an das Wochenende in Krumau. Und der Engel im Handschuhfach.
Dann stand der Vater plötzlich hinter ihr. In seinen Filzpantoffeln war er unhörbar ins Zimmer gerutscht.
Was machst du da?, fragte er und schaute ihr über die Schulter.
Ich klebe, das siehst du ja, sagte Katharina.
Wer ist das?, fragte er und deutete auf das Puzzle.
Wer?, fragte Katharina.
Der da neben dir, sagte der Vater.
Ein Mann, den kennst du nicht, sagte Katharina.
Ein Mann, den kennst du nicht, echote der Vater.
Nein, den kennst du nicht, sagte sie.
Keine neuen Erkenntnisse in Linzer Mordfall
Linz. (OÖN) Die Ermittlungen zum Mord am Linzer Privatdetektiv Harald S. laufen schleppend. Die Polizei hat nach wie vor keine neuen Erkenntnisse in dem Fall gewonnen. Ein Polizeipressesprecher teilte auf Nachfrage der Nachrichten mit, dass es zahlreiche Hinweise gebe, allerdings noch keine heiße Spur. Der Linzer Privatdetektiv war im vergangenen Jahr in der Nähe des Moldaublicks an der tschechischen Grenze erschossen aufgefunden worden.
Nachdem eine Abgängigkeitsanzeige erstattet worden war, wurde die Leiche von S. erst nach Tagen zufällig von einem Hund eines Wanderers in einem Waldstück aufgespürt. S.’ Wagen wurde später wenige Hundert Meter vom Tatort entfernt in einem Forstweg in Tschechien aufgefunden. Dass dieser Umstand auf einen Raubmord aus dem Umfeld organisierter Kriminalität hinweist, konnte nicht bestätigt werden. Über das Motiv der Tat wird weiter gerätselt.
Harald S. galt in Linz als bekannter Privatdetektiv, dem auch Kontakte zur Rotlichtszene nachgesagt wurden. Der Polizeisprecher erklärte, dass nach wie vor in mehrere Richtungen ermittelt werde.
Wenige Wochen vor diesem Mordfall ereignete sich übrigens im Bayerischen Wald ein ähnlicher, bis jetzt noch nicht geklärter Mord, bei dem ein aus Oberösterreich stammender Professor der Universität Regensburg von Unbekannten erschossen worden war. Wie der Sprecher der Polizeidirektion Linz mitteilte, gebe es keinen Anhaltspunkt dafür, dass diese beiden Gewaltverbrechen in irgendeinem Zusammenhang stünden.
Für den Sonntag hatten sie vereinbart, über die Grenze nach Österreich zu fahren. Allein. Die beiden älteren Kinder wollten sich mit Freunden treffen, Julia, die Jüngste, war bei Roswithas Eltern auf Besuch.
Das hatten sie länger nicht gemacht. Über die Grenze zu fahren. Sie hatten keine Zeit dafür gehabt. Oder keine Lust dazu. Seit Achatz die Fortbildung machte, war er an Wochenenden nur selten daheim gewesen. Fahren wir hinüber. Das war die gemeinsame Formel gewesen, über Jahre. Bevor die Kinder auf die Welt kamen. Vor dem Hausbau. Achatz schien, als wäre seither ein ganzes Leben vergangen.
Vor einer Woche war er vom Kurs aus Ainring nach Hause gekommen. Roswitha stand in der Küche und buk Kuchen für einen Kindergeburtstag. Sie hatte ihm den Rücken zugekehrt, als sie den Vorschlag für den Ausflug machte. Achatz sah, dass sie Eier in einen Topf schlug und Mehl und Zucker dazugab. Früher hatte er sich in solchen Momenten an sie herangeschlichen, um sie scherzhaft zu erschrecken. Es konnte geschehen, dass er ihr seinen Atem in den Nacken hauchte oder Roswitha von hinten an die Brüste fasste.
Die ganze Woche hämmerte der Satz in seinem Kopf wie der monotone Rhythmus eines Schlagzeugs, ein unentwegtes Pochen: Heute frage ich sie. Heute rede ich sie an. Dann läutete plötzlich das Telefon oder eines der Kinder kam ins Zimmer. Es gab keine Gelegenheit, sich auszusprechen. Fünf Tage, seit er nach der Schulung wieder in den Dienst gegangen war, wusste er davon und nahm sich täglich vor, damit anzufangen. Und sagte nichts. Er verschob das Vorhaben auf Sonntag. In Österreich würde Gelegenheit sein, darüber zu sprechen.
Er war mit Schlesinger auf Streife gefahren, die Dörfer an der Grenze entlang. Nach Wochen wieder einmal im normalen Dienst. Es war nichts los, es war wie eine Spazierfahrt. Die tschechischen Schmuggler kamen selten über Österreich. Bei einer Bushaltestelle hatten sie Halt gemacht und geraucht.
Er beobachtete den Kollegen und hatte den Eindruck, dass Schlesinger zugenommen hatte. Beim Lauftest im Jahr zuvor hatten die Prüfer bei ihm noch ein Auge zugedrückt. Dieses Jahr konnte es knapp werden. Wie Schlesinger ging es aber mehreren anderen auch. Achatz verkniff sich eine Bemerkung.
Ich weiß gar nicht, ob ich dir das sagen soll, begann Schlesinger. Aber bevor du es hintenherum erfährst, dachte ich mir. Weil wir doch schon so lange zusammenarbeiten. Und weil ich dich leiden kann.
Auf der Sitzbank an der Haltestelle hatte jemand ein Butterbrot liegen gelassen. Ein Schulkind wahrscheinlich, das sein Schulbrot entsorgt hatte, weil es fürchtete, daheim gescholten zu werden. Frühmorgens stand auch Achatz manchmal in der Küche und schmierte Brote für seine drei. Es hatte schon ein paar Mal laute Worte gegeben, wenn die Brotzeit abends angebissen und unansehnlich in der Plastikdose lag.
Du bist ja so lange nicht da gewesen. Die Schulung, sagte Schlesinger. Es klang beinahe wie eine Entschuldigung. Die Dienststelle hatte Achatz ausgewählt, der Dienststellenleiter hatte ihn für den Kurs vorgeschlagen, er hatte sich mit Roswitha besprochen. Die Sache würde ein Jahr lang dauern. Wochenendseminare, zweimal Kasernierung. Dann war man Polizeihauptmeister.
Es geht da etwas um, sagte Schlesinger und schnippte Asche von seiner Zigarette. Ein Gerede, ein Gerücht. Weiß ja keiner, was dran ist. Das muss der Ehrlichkeit halber gesagt werden. Keiner weiß ja wirklich, was dran ist an der Sache.
Gerede, was?, fragte Achatz.
Ein Traktor fuhr langsam an ihnen vorbei. Der Lenker trug einen Kappe vom Baumarkt und hob beim Vorbeifahren langsam die Hand. Eine Fahne aus bläulichem Rauch wehte hinter dem Fahrzeug her.
Ich kann nichts Genaues sagen, sagte Schlesinger. Da war das Konzert des Polizeiorchesters vor ein paar Wochen. In Passau unten. Wir sind hinuntergefahren von der Dienststelle. Haunschmid, Köberl und noch ein paar andere.
Da habe ich auch deine Frau gesehen, sagte Schlesinger. Du warst ja auf Schulung.
Achatz beobachtete sich: wie er den Atem anhielt. Wie sich seine Nackenmuskeln anspannten. Später dachte er: Vielleicht habe ich immer schon auf so einen Moment gewartet.
Schlesinger stieß mit dem Fuß gegen den Vorderreifen des Dienstwagens. Es sah aus, als kontrollierte er das Profil.
Ich meine, man kann sich täuschen, sagte er. Aber da war auch der Gatzka dabei bei dem Konzert. In Wegscheid ist doch der jetzt.
Der Schiedsrichter?, fragte Achatz.
Eh der, sagte Schlesinger. Der pfeift jetzt schon bis in die Oberliga hinauf.
Mit dem Gatzka bin ich früher auch Streife gefahren, sagte Achatz.
Er erinnerte sich: Gatzka war als Kind mit seinen Eltern aus der DDR gekommen. Der einzige Dynamo-Dresden-Anhänger weit und breit, als sie dieses eine Jahr in der Bundesliga spielten. Ein komischer Kerl, dem der sächsische Dialekt nicht abzugewöhnen war.
Drum habe ich mir zuerst auch nichts gedacht, sagte Schlesinger. Deine Frau kennt den halt von früher noch. Die beiden haben miteinander geredet und sind nebeneinander gesessen. Völlig, wie sagt man, völlig unverfänglich war das.
Sie standen nebeneinander am Straßenrand, ohne sich anzusehen. Die Zigaretten waren fast fertig geraucht.
Aber dann sagt der Ritzer Fritz noch, seht euch die zwei an, der Gatzka mit dem Achatz seiner, da soll schon länger was laufen. Hat er wörtlich gesagt, sagte Schlesinger. Soll schon länger was laufen. Dann ist nicht mehr darüber geredet worden. Und ich denke mir noch, woher kann der Ritzer Fritz den Gatzka kennen. Der Ritzer kam doch erst in unsere Dienststelle, da war der Gatzka schon lange weg. Weiß ich, wo der das aufgeschnappt hat. Und, entschuldige, ich denke mir, du warst die ganze Zeit weg. Bevor du es von jemand anderem hörst. Es geht mich nichts an, sagte Schlesinger. Besser, du hörst es von mir.
Achatz hörte sich antworten: Ist schon in Ordnung.
Wenn du mich fragst, ich brauche dir sicher keinen Ratschlag zu geben. Aber ich würde mit ihr reden. Ich würde das klären. Damit nichts hängen bleibt.
Auf der Heimfahrt: kein Wort mehr darüber. An einer Straßenkuppe lag eine überfahrene Katze. Sie hielten an und riefen den Kehrdienst.
Am Sonntag fuhren sie über die Grenze nach Österreich.
Fünf Tage hatte er nichts gesagt, hatte er den einen Satz vor sich hergeschoben: Heute frage ich sie. Er traf Schlesinger noch einmal bei einer Dienstübergabe im Spindraum. Schlesinger tat so, als hätte er nie irgendetwas zu ihm gesagt.
Die Sonne schien, der Himmel war blau. Roswitha trug das bunte Sommerkleid, das ihm immer gefallen hatte. Sie vereinbarten, zum Moldaublick zu fahren. Das war ein Ziel. Dort gab es eine tolle Fernsicht auf die Alpen, und nachher konnte man in der Nähe eine Brotzeit essen.
Er hatte sie fünf Tage lang beobachtet. Und nichts bemerkt. Wenn er im Dienst war, rief er einmal am Tag bei ihr an. Immer zu einer anderen Zeit. Das tat er sonst nie. Das war nicht üblich bei ihnen. Roswitha war immer zu Hause gewesen.
Sie saß neben ihm und tat so, als wäre nichts geschehen. Er hatte sich Gatzka vorgestellt, wie der mit Roswitha sprach. Von Gatzka wusste man nichts, außer dass er Schiedsrichter war und Dynamo-Fan. Achatz wusste nicht einmal, ob Gatzka verheiratet war und Familie hatte. Oder er hatte es einmal gewusst und es wieder vergessen. Weil es unwichtig für ihn war.
Er beobachtete Roswitha, die aus dem Fenster sah. Achatz versuchte sich vorzustellen, wie Gatzka mit ihr sprach, wie er ihr in die Augen sah, wie er ihre Brust berührte.
Die Vorstellung misslang. Wahrscheinlich war alles ein Irrtum oder ein Missverständnis oder ein übel gestreutes Gerücht, ein dummes Gerede. Ritzer hatte sich wichtig machen wollen, vielleicht sogar Schlesinger. Der hätte sich die Bemerkung sparen können.
Tagelang hatte Achatz über Gatzka nachgedacht und sich, obwohl ihm das unsinnig erschien, mit diesem verglichen. Gatzka war einfacher Polizist, er angehender Hauptmeister. Da gab es nichts zu vergleichen, was Sinn ergeben hätte. Gatzka war aus dem Osten, ein Außenseiter. Vielleicht hatte Roswitha Mitleid mit ihm gehabt. Oder es spielte doch eine Rolle, dass Gatzka einige Jahre jünger war als er.
Er hatte sich vorgestellt, dass Gatzka und Roswitha miteinander ins Bett gegangen waren. Spätabends war er noch einmal aufgestanden und hatte sich, unüblich, Schnaps eingeschenkt, um den Ekel hinunterzuspülen.
Bei Wegscheid fuhren sie über die Grenze. Sobald wir gehen, rede ich sie an, nahm sich Achatz vor.
Zufällig war er Gatzka später wieder begegnet. Er erinnerte sich genau. Im Nationalpark hatte sich ein Mord ereignet, ein seltenes Ereignis. Ein Mann war erschossen im Dickicht aufgefunden worden, wahrscheinlich ein Raub. Achatz war mit Haunschmid zum Tatort gerufen worden. Als sie hinkamen, war die Streife aus Wegscheid schon da, die Kripo bereits alarmiert. Sie waren zur Absperrung einer Zufahrtsstraße eingeteilt worden. Als dann die Kripo am Parkplatz beim Eisenmannhaus in Neuschönau eintraf, war Gatzka plötzlich neben ihnen gestanden. Achatz hatte Gatzka erkannt, sich aber momentan nicht mehr an dessen Namen erinnern können, Haunschmid hatte ihn ihm später genannt. Gatzka hatte gegrüßt und war dann mit zwei Kriminalbeamten Richtung Tatort gegangen.
Von den Ermittlungen über diesen Mordfall hatte man seit Längerem nichts mehr gehört. Der Tote war gar nicht aus der Gegend gewesen, ein Professor aus Regensburg, angeblich ein Österreicher, ein rätselhafter Fall, das Tatmotiv war unbekannt.
Roswitha hatte das Seitenfenster ganz heruntergelassen und hielt die rechte Hand in den Fahrtwind. Julia, die Sechzehnjährige, hatte ein paar Tage zuvor einen neuen Freund nach Hause gebracht. Ungehobelt ist er mir vorgekommen, sagte Roswitha, vielleicht täusche ich mich ja. Ich weiß nicht, was ich von ihm halten soll. Und ich weiß ehrlich nicht, was Julia in dem sieht. Der ist noch so was von grün hinter den Ohren. Da wäre mir Mario lieber gewesen. Mario war Geschichte, ein großer, schlaksiger Junge mit käsigem Gesicht, Julia hatte die Beziehung vor Monaten beendet.
Wie heißt er, der Neue?, fragte Achatz arglos.
Jetzt hast du mich aber zu schnell gefragt, sagte Roswitha. Vielleicht fällt mir der Name wieder ein.
Entweder Schlesinger hatte sich einen schlechten Scherz erlaubt oder Roswitha war eine geborene Schauspielerin. Bis dahin hätte Achatz geschworen, sofort zu entdecken, wenn sie ihm etwas vorspielte oder ihn anlog. Sie kannten einander seit zweiundzwanzig Jahren. Was Achatz sich jetzt am heftigsten vorwarf: Er war oft von zu Hause weg gewesen, er hatte seinen Beruf immer ernst genommen und gemeint, daheim sei alles in Ordnung. Alles normal, eben wie bei den anderen auch. Möglicherweise hatte er sich in falscher Sicherheit gewogen. Vielleicht war er zu leichtgläubig gewesen. Irgendwo am Grund seiner Seele hockte eine unglaubliche Naivität, eine dumme Gutmütigkeit, die Anlass gab, sich selber zu hassen.
Er würde sich nicht mehr länger zum Narren halten lassen. Am Moldaublick würde er Roswitha fragen. Dann war der Zeitpunkt gekommen.
In der Nähe von Kollerschlag fuhren sie an einem Sportplatz vorbei, wo gerade ein Spiel lief. Gatzka fiel ihm wieder ein. Achatz hatte am Freitag in der Passauer Neuen Presse die Spielbesetzungen abgesucht und bei einer Partie, weit entfernt, Gatzkas Namen entdeckt.
Dass Roswitha sich so unbedarft gab, steigerte seine Wut. Entweder die Geschichte war erfunden – welchen Grund hatte dann Schlesinger gehabt, ihn zu quälen? Neid? In wenigen Monaten würde er einen höheren Dienstgrad als Schlesinger haben. Aber die Dienststelle hatte ihn doch ausgewählt, er hatte sich nicht vorgedrängt, sich nicht wichtiggemacht. Er hatte nur seine Pflicht getan, er hatte sich nichts vorzuwerfen.
Oder die Geschichte, die Schlesinger angedeutet hatte, stimmte. Dann war Roswitha die perfekte Lügnerin. Ein mieses Dreckstück.
Achatz drehte das Radio auf, um sich abzulenken. Aus dem Lautsprecher quollen Lieder, die von Liebe, von Sehnsucht, von lauen Nächten logen. Sie parkten beim Langlaufzentrum, von wo der Wanderweg Richtung Aussichtswarte wegführt. Als Achatz aus dem Auto stieg, hatte er bereits eine Entscheidung getroffen und noch einen kleinen Aufschub für sich erwirkt: Erst am Rückweg würde er Roswitha die Frage stellen. Beim Gehen würde er Mut schöpfen, sie anzusprechen.
Sie würden in einer anderen Stimmung zum Wagen zurückkehren. Nichts würde mehr sein wie früher. Da genügte ein Satz und das gewohnte Leben hörte auf, ein gewohntes Leben zu sein. Achatz wusste nicht, wie er sich verhalten würde, wenn an dem Gerücht etwas dran war. In solchen Situationen war schon viel passiert.
Roswitha holte Nordic-Walking-Stöcke aus dem Kofferraum und fragte ihn, ob er seine auch benutzen wolle. Er verneinte. Nicht nötig bei dieser kurzen Strecke.
Dort, wo der Weg in den Wald hineinführte, zeigte eine Wandermarkierung die Route an. An der Markierung hing ein eingeschweißtes Blatt Papier mit dem Foto einer Person und der Aufschrift Zeugen gesucht. Roswitha ging achtlos an dem Blatt vorbei, Achatz blieb stehen und las.
Die österreichische Kriminalpolizei suchte Zeugen wegen eines Toten, der in dem Wald erschossen aufgefunden worden war. Wer hatte ihn in einem bestimmten Zeitraum in dieser Gegend gesehen? Achatz rechnete zurück, der Mord musste sich ereignet haben, als er beim Kurs in Ainring gewesen war. Er konnte sich nicht erinnern, von dem Verbrechen gehört oder gelesen zu haben.
Dann stand da noch der Name des Toten. Und daneben ein Foto: Harald Seisenbacher, Privatdetektiv aus Linz.
Achatz wusste, dass er diesen Namen schon einmal gehört hatte.
Wo bleibst du denn, rief Roswitha. Sie war stehen geblieben und stützte sich auf ihre Stöcke.
Ich komme schon, rief Achatz und setzte sich in Bewegung.
Nach ein paar Schritten durch den Wald fiel ihm ein, warum er Seisenbacher kannte.
An einem verregneten Maiabend vor Jahren hatte ihn ein eigenartiger Anruf aus Linz erreicht. Achatz erinnerte sich, das Fenster während des Telefonats verriegelt zu haben, weil draußen gerade ein Gewitter aufzog. Ein Privatdetektiv aus Linz namens Scherer bat um eine diskrete Unterredung in einer Ermittlung. Sie vereinbarten ein Treffen außerhalb der Dienstzeit.
Achatz war an seinem freien Tag nach Passau gefahren. Sie trafen einander in einem Kaffeehaus an der Innseite. Die zwei Typen waren aus Linz gewesen, der eine hieß Scherer und der Mann auf dem Foto Seisenbacher. Seisenbacher war ihm wegen seiner Vollglatze aufgefallen. So eine Glatze musste sorgfältig gepflegt werden. Irgendetwas an dem Burschen hatte ihn stutzig gemacht, das Gespräch hatte etwas Belauerndes gehabt. Zuerst ging es um eine Observierung an der Grenze. Dann rückte Scherer heraus und legte ein paar Fotos aus dem Puff bei Schärding auf dem Tisch. Er, Achatz, in Zivil, mit einer der Damen des Etablissements. Sie war aus Polen gewesen, hatte nur gebrochen Deutsch gesprochen und ziemlich gut gerochen. Auf einem der Fotos hatte er der Polin die Hand auf das geschlitzte Kleid gelegt. Die zwei Typen entschuldigten sich förmlich. Es sei eine Verwechslung vorgelegen, man habe ihn versehentlich ins Visier genommen. Nun, da man um seinen Beruf wisse, habe man Kontakt mit ihm aufnehmen wollen. Die Fotos wolle man gern unter den Tisch fallen lassen, eine private Angelegenheit, aber dennoch habe man sich vorstellen wollen. Gelegentliche Kontakte konnten bei Ermittlungen vielleicht auch wechselseitig hilfreich sein.
So hatte die Zusammenarbeit begonnen. Der kleinere der beiden, Scherer, hatte ihm den Kaffee bezahlt und dann das Kuvert mit den Fotos übergeben. Achatz hatte sie zerrissen und weggeworfen. Damit war die Sache für ihn erledigt gewesen.
Zwei-, dreimal im Jahr meldete sich daraufhin der andere, Seisenbacher, privat bei ihm und bat um die Namen von Autobesitzern. Das war nicht ganz legal, das war aber auch nichts allzu Gravierendes. Angeblich ging es um Drogen und Zollvergehen, Achatz fragte nie nach. Ein paar Mal hatte auch er auf kurzem Weg Informationen erhalten. Ein paar Jahre ging das so hin und her. Irgendwann einmal hatte er mitbekommen, dass nun Seisenbacher das Detektivbüro allein schaukelte, Scherer war aus unbekannten Gründen aus der Firma ausgeschieden.
Achatz schloss zu Roswitha auf, die auf ihn gewartet hatte. Sie gingen schweigend, er hatte Mühe, ihr zu folgen. Zügig ging sie den leicht ansteigenden Waldweg voran, sie trainierte beinahe täglich.
Sie merkte, dass ihn der Aushang beschäftigte.
Was ist denn?, fragte sie.
Nichts.
Was nichts? Du hast doch was gelesen?
Die österreichische Polizei. Die suchen wen. Da ist jemand ermordet worden. Hier im Wald.
Wo?
Hier irgendwo.
Gruselig. Du kannst halt auch nicht aus deiner Haut.
Ich bin Polizist.
Sie ließ ihn in Ruhe.
Seisenbacher hatte ihn angerufen und sich nach einigen Autobesitzern erkundigt. Angeblich wegen eines Parkschadens. Achatz erinnerte sich. Es klang ein wenig verwirrend. Achatz hatte die Nummern auf ein Blatt notiert und war dann während des nächsten Nachtdiensts, als die Kollegen Streife fuhren und er allein beim Funk saß, in die Flensburger Kartei eingestiegen und hatte sich die Namen der Wagenbesitzer aufgeschrieben. Telefonisch hatte er später von zu Hause aus die Daten an Seisenbacher weitergegeben.
Beim Kiosk unterhalb des Aussichtsturms hing erneut dieser Aushang der Polizei. Roswitha überflog ihn, sie hatte sich nie besonders für seine Arbeit interessiert.
Was, wenn Achatz jetzt beim Hinaufgehen auf den Turm zu ihr gesagt hätte: Der Typ, den du auf diesem Foto gesehen hast: Das ist der, der mich in einem Puff in Schärding fotografiert hat. In einer, wie sagt man, kompromittierenden Situation. Aber du brauchst nicht zu glauben, dass diese Lappalie mit der Sache mit Gatzka auch nur im Geringsten zu vergleichen ist. Während du mich offenbar seit Wochen hinters Licht führst, wars bei mir ein blöder Zufall, eine Spontanentscheidung, ein Ausrutscher, den ich mir heute nicht mehr erklären kann. Unsere Geschichten sind deshalb nicht miteinander vergleichbar.
Sie standen auf der Aussichtsplattform und starrten in die Weite. Dort hinten sind die Alpen, sagte Roswitha.
Wie lange wir nicht mehr da waren, sagte sie.
Als sie den Turm hinuntergingen, hatte Achatz bereits beschlossen, die Frage an Roswitha aufzuschieben.
Unten angekommen war er bereit so zu tun, als wäre nichts geschehen. Es fiel ihm nicht schwer. Sie aßen eine Essigwurst und tranken Bier. Roswitha saß neben ihm und legte eine Hand auf seinen Oberschenkel. Schön, dass du wieder da bist, sagte sie.
Warum sagst du nichts?, fragte sie ihn auf der Heimfahrt.
Der Kurs hat mich ganz schön geschlaucht, sagte Achatz.
Eigenartig war: Dieser Typ Seisenbacher, den er auf dem Aushang der österreichischen Polizei gesehen hatte, war tot. Erschossen worden. Mit dem hatte er, Achatz, zu tun gehabt. Wenn die Ermittlungen in Österreich etwas taugten, fand man heraus, dass Seisenbacher Kontakt mit ihm, einem bayerischen Polizisten, gehabt hatte. Wenn die Dinge verflucht liefen, fand man vielleicht sogar heraus, warum. Wenn Seisenbacher ein Vollidiot gewesen war, dann gab es in seinen Unterlagen sogar noch die Observationsfotos aus dem Puff.
Dann hatte der angehende Polizeihauptmeister Achatz vielleicht bald mit einem Besuch von österreichischen Kollegen und einer Befragung zu rechnen. Dann bastelte sich ein krankes Ermittlerhirn vielleicht sogar eine Erpressungsgeschichte aus dürftigen Fakten. Etwa diese: dass Seisenbacher ihn, den aufstrebenden Polizisten, erpresst hatte. Seisenbacher war tot. War eine Erpressung nicht ein Motiv für einen Mord?
Spätabends schlurfte Achatz in die Küche und goss sich Schnaps ein. Das klang total übergeschnappt. Er hatte doch ein Alibi: Er war in Ainring zur Ausbildung gewesen. Über dieser verrückten Geschichte hatte er Gatzka vergessen.
Abends, als er in den Nachtdienst fuhr, fand er den Zettel mit den Aufzeichnungen im obersten Fach seines Spinds, in dem sich normalerweise nur seine Dienstkappe und eine Haarbürste befanden.
Ein Blatt Papier, in der Mitte gefaltet. Achatz nahm es aus dem Fach und steckte es in seine Geldbörse. Dann wurde er mit Ritzer zu einem Einsatz in einem Mehrparteienhaus gerufen. Ein aufgebrachter Nachbar stand im Flur des Hauses, mit nacktem Oberkörper und Pyjamahose. Während der Mann sich darüber aufregte, dass die Streife so spät gekommen war – über ihm feierten Jugendliche zu laut –, beobachtete Achatz die nackten Füße des Mannes. Der Mann trug Hausschuhe, die vorne offen waren. Achatz bemerkte mehrere eingewachsene, unglaublich schmutzige Zehennägel.
Es dauerte eine Zeit lang, bis sich die Gemüter beruhigten. Gegen halb zwölf kamen sie ins Revier zurück. Ritzer machte Kaffee, auf der Toilette hatte Achatz Zeit, den Zettel zu begutachten. Auf dem Blatt waren sechs Autokennzeichen vermerkt, die Seisenbacher ihm durchgegeben hatte, daneben die Namen der Wagenbesitzer angeführt, die Achatz für Seisenbacher herausgesucht hatte. Kein Name hatte ihm damals etwas gesagt. Leise buchstabierte Achatz die Namen. Bei einem wurde er stutzig. Später, Ritzer lag im abgedunkelten Nebenraum auf der Couch und döste, ging Achatz ins Netz und googelte die Liste.
Arnold Walter. Professor aus Regensburg. Germanist. Da gab es Infos auf der Homepage der Universität. Dann eine Parte. Eine Seite mit Kondolenzbekundungen. Ein unbegreiflicher Tod.
Dann fand Achatz die Meldungen aus der Presse: Rätselhafter Mord im Nationalpark bei Neuschönau.
Achatz sah sich gemeinsam mit Haunschmid, wie sie die Zufahrt zum Eisenmannhaus sperrten und Autofahrer baten, umzukehren. Später kam Gatzka mit zwei Kriminalbeamten aus Passau vorbei.
Arnold Walter. So hatte der Tote im Wald geheißen. Arnold Walter, das war einer der Autobesitzer, nach denen ihn Seisenbacher gefragt hatte. Einer von sechs Namen auf seinem Zettel.
Walter war erschossen worden. Wochen später Seisenbacher.
Es gab Dinge, die zusammenhingen. Von denen niemand eine Ahnung hatte.
Wenn Schlesinger nichts über Gatzka angedeutet hätte, hätte Achatz nicht den Ausflug mit Roswitha über die Grenze unternommen. Dann hätte er womöglich nie von dem Mord an Seisenbacher erfahren. Als der geschehen war, war er in Ainring gewesen.
Ich weiß etwas, das keiner weiß, dachte Achatz. Ich sehe einen Zusammenhang, den keiner sieht. Ich werde einen Teufel tun, mein Wissen preiszugeben.
Als er aus dem Dienst ging, fiel ihm der andere ein, der damals dabei gewesen war, als er Seisenbacher in Passau getroffen hatte: Scherer. Eher klein. Gedrungen. Der Name ging ihm nicht mehr aus dem Kopf.
Als er ins Haus trat, war alles ruhig. Die Dielen knarrten unter den Füßen. Roswitha und die Kinder schliefen noch. Im Osten das erste Dämmern des neuen Tages. Die Tür zum Kinderzimmer, in dem Katharina schlief, war angelehnt. Die Kleine hatte die Decke abgestreift und lag schutzlos auf dem Rücken, mit ausgebreiteten Händen. Leise trat Achatz ans Bett, strich der Schlafenden über die Stirn und deckte sie zu.
Im Schlafzimmer nahm er seine P7 aus dem Halfter und sperrte sie in den Tresor. Er legte sich bekleidet aufs Bett. Roswitha atmete tief aus und griff im Schlaf nach seiner Hand.
Als Rita kurz nach Mittag in die Teeküche ging, stand Margot am offenen Fenster und rauchte. In der Maschine brodelte Kaffee, auf einem Teller standen Schokokekse mit Orangengeschmack. Sie betrieben die Praxis zu dritt. Jede hatte einen Besprechungsraum für sich, Küche, Bad und Wartezimmer nutzten sie gemeinsam. Das hielt die Betriebskosten niedrig.
Und, wie läufts?, fragte Margot.
Zwei kommen noch, dann gehe ich nach Hause, sagte Rita.
Sie goss Kaffee in eine Schale und nahm sich Zucker aus dem Schrank. Sie hatte vorgehabt, den Kaffee im Zimmer zu trinken. Dann blieb sie doch bei Margot stehen.
Ehrlich gesagt, ich mache mir Sorgen wegen ihr, sagte Rita leise und machte eine Kopfbewegung Richtung Verenas Tür. Ich glaube, ich habe sie diese Woche noch nicht einmal zu Gesicht bekommen.
Gestern hat sie sich kurz blicken lassen, sagte Margot. Sie sieht schlecht aus. Ringe unter den Augen. Und arbeitet wie ein Tier.
Und, hast du sie gefragt, wie es ihr geht?, fragte Rita.
Sie sagt nichts. Frisst alles in sich hinein. Unsinn, stimmt eigentlich nicht. Kann nicht stimmen. Sie hat ja abgenommen, aber wie. Du weißt ja, dann ist sie mit dem Blutdruck ganz unten.
Sie geht doch zu Ulrich, oder?, fragte Rita.
Einmal pro Woche, glaube ich. Ich glaube nicht, dass Ulrich in der Situation der Richtige ist, sagte Margot und strich einen Hauch Asche vom Fensterbrett in den Innenhof.
Manchmal habe ich direkt das Gefühl. Ich weiß, es ist komisch. Dann bilde ich mir ein, dass Verena mir übel nimmt, dass mir nichts passiert ist. Man hat direkt ein schlechtes Gewissen. Verstehst du. Mein Mann lebt, ich habe eine intakte Familie. Zumindest nach außen, sagte Rita.
Und wirklich?, fragte Margot.
Es geht so, sagte Rita. Langsam kriegt Richard sich ein. Irgendwann sinkt jeder hohe Testosteronspiegel. Man muss es nur erwarten können.
Sie zieht sich total zurück seither, sagte Margot. Wahrscheinlich würde ich mich auch nicht anders verhalten. Mensch, man kann es ja selber nicht begreifen.
Von der Polizei hört man gar nichts mehr, sagte Rita.
Nicht, dass ich wüsste, sagte Margot.
Eine Pause trat ein. Rita sah in ihre Tasse.
Arme Haut, sagte Margot. Das hat sie nicht verdient. Ich habe ein paar Mal versucht, mit ihr zu reden. Sie hat nur abgeblockt. Sie ist so was von stur. War sie eigentlich immer. Ganz verändern wir uns nicht einmal durch ein Trauma.
Und die Kinder? Hat sie dir was erzählt?, fragte Rita.
Ihre Tochter, Kerstin, ist nach Stockholm zurück. Sie wird das Auslandsjahr fortsetzen.
Die habe ich im Einkaufszentrum einmal zufällig gesehen. Hübsch ist die, blass ist sie mir vorgekommen, sie sieht ihrer Mutter immer ähnlicher. Ich weiß gar nicht, ob sie mich erkannt hat. Verstehst du, soll ich hingehen und fragen, wie sie es verkraftet, dass ihr Vater erschossen wurde? Ich weiß ja nicht mal, ob Verena die Kinder zu Ulrich in die Therapie mitgenommen hat, sagte Margot.
Hannes hat doch gerade erst Abitur gemacht, sagte Rita.
Genau. Und da war ja auch die Sache mit dem Wagen. Von Arnold. Die Polizei hat ihn zurückgebracht. Das weiß ich noch. Wir stehen unten am Parkplatz, Verena sagt, was mache ich denn bloß mit dem Wagen, und ich sage einfach so ins Blaue, so einfach aus der Situation heraus, dann gib ihn doch deinem Sohn. Da schaut sie mich so an, so entsetzt irgendwie, und ich weiß, dass ich etwas Falsches gesagt habe. Ich halte mich jetzt zurück, es ist eine Ausnahmesituation.
Ich weiß nicht, so Tür an Tür. Und dann sieht man sich eine Ewigkeit nicht. Wir können nicht einfach so tun, als wäre sie uns egal, sagte Rita.
Sie ist mir nicht egal. Ich habe aber auch meine Grenzen. Wie oft habe ich sie gefragt, um Weihnachten herum, kommst du zurecht, kann ich dir behilflich sein, wenn du meine Hilfe brauchst und so weiter. Mehr als Hilfe anbieten kann ich nicht. Sie zieht sich zurück, sie schüttet sich mit Arbeit zu, sagte Margot. Sie bot Rita einen Keks an. Rita schüttelte den Kopf.
Vielleicht redest du sie an. Vielleicht kann sie besser mit dir. Margot hatte fertig geraucht, Rita spülte die Tassen unter fließendem Wasser ab.
Ich werde mit ihr reden, sagte Rita. Es wird ihr guttun, auf andere Gedanken zu kommen.
Sie gingen auseinander. Im Warteraum saßen die nächsten Klienten.
Sie trafen einander beim Italiener im Andreasstadel.
Wenn du meinst, hatte Verena gesagt. Vielleicht hast du ja recht.
Sie gingen zum Tisch, den ihnen Alessandro in einer abgelegenen Ecke reserviert hatte.
Erst in diesem Moment fiel Rita ein, dass Verena mit ihrem Mann sicher öfter hierhergekommen war. Alessandro zeigte sein strahlendes Lächeln; so musste er früher Arnold und Verena angestrahlt haben.
Wir haben uns lange nicht gesehen, sagte Alessandro, rückte die Stühle und zündete die Kerzen an.
Wusste er, was geschehen war? Wenn ja, war er deshalb so freundlich? Oder hatte er keine Ahnung? Plapperte er arglos vor sich hin?
Musste Verena nicht bei jedem Kontakt mit einem Menschen daran denken, dass der andere, wo immer sie auch auftauchte, sie aufmerksam beobachtete und ihre Erscheinung immer mit dem Tod ihres Mannes in Verbindung brachte? Und sich entsprechend verhielt – freundlich, mitfühlend, oder auch unsicher, knapp angebunden –, weil vor wenigen Monaten erst ihr Mann erschossen worden war? Wie anstrengend es wohl war, plötzlich als Witwe durch die Welt zu gehen.
Verena studierte belustigt die Getränkekarte und las halblaut vor: Die Weinempfehlung pries einen Fontanafredda DOC aus dem Piemont, der offenbar nach Kirschen, Pflaumen, Blaubeeren, Pfeffer, Zimt, Unterholz und vegetablen Aromen schmeckte. Besser kein Unterholz, sagte sie trocken und bestellte eine Weinschorle, während Rita Hauswein orderte.
Es war das erste Mal seit Arnolds Ermordung, dass sie miteinander ausgingen. Rita merkte, dass sie nervös war. Sie trank zu schnell und hatte schon nachgeordert, ehe das Essen serviert wurde. Sie hatte bis sechs gearbeitet und war dann noch einkaufen gegangen. Sie hatte keine mehr Zeit gehabt, sich auf das Treffen vorzubereiten. Rita spürte, wie schnell ihr der Alkohol ins Blut fuhr und ihre Wangen färbte. Sie hatte seit Mittag nichts gegessen.
Schön, dass wir doch einmal einen Abend für uns haben, sagte Rita. Ich kann mir vorstellen, dass du noch immer viel Zeit für dich brauchst.
Ihr Eindruck von Verena fiel zwiespältig aus. Einerseits wirkte Verena müde und abgespannt, möglicherweise waren ihre Haare in den letzten Monaten eine Spur grauer geworden, vielleicht lag es auch daran, dass Verena sie früher stärker gefärbt hatte. Ganz sicher hatte sie beträchtlich an Gewicht verloren. In dem weit ausgeschnittenen Kleid, das sie trug, Rita kannte es von früher, war das besonders deutlich zu erkennen. Rita erhaschte einen Blick unter Verenas Ärmelausschnitt; die Haut in der Achselbeuge wirkte faltig wie die einer alten Frau.
Andererseits beteiligte sich Verena durchaus am Gespräch, wenn sie auch die heiklen Themen, das heikle Thema, bewusst ausklammerten. Verena machte eine Andeutung über einen ihrer Dauerklienten, einem stadtbekannten Journalisten, mein Stadtneurotiker, wie sie ironisch anmerkte, und auch darüber, dass sie in der nächsten Woche zum Autohändler fahren wollte, um den Wagen zu verkaufen. Sie vermied es, Arnolds Namen auszusprechen, sie sprach vom Wagen, vom Volvo. Hannes ist zu jung, der braucht gar keins, sagte sie, und Kerstin kommt erst im Sommer wieder zurück. Was mache ich mit zwei Autos in der Garage, sagte sie und verzog die Mundwinkel. Kostet nur Steuer.
Plötzlich war Rita am Erzählen. Sie hatte das Gefühl, dass nun die Gelegenheit günstig war, Verena abzulenken und auf andere Gedanken zu bringen.
Am Nebentisch saß ein Paar beim Dessert, ein Mann mit grauen Haaren und schmalem Oberlippenbart, seitlich von ihm seine Begleiterin, die ihm sanft die Hand auf die Schulter legte. Der Mann griff sich unentwegt in den Nacken und drehte den Kopf unruhig hin und her.
Stell dir vor, sagte Rita, vergangene Woche war ich beim Vorsitzenden des Fördervereins der Musikschule eingeladen. Wegen einer Besprechung. Bei den Polenz. Weiß nicht, ob du die kennst. Doppelter Doktor ist der. Ich glaube Jurist, und irgendwas noch. Sie ist ja eine angenehme Person, arbeitet bei der Jugendwohlfahrt, aber der Typ war mir äußerst unsympathisch. Der versuchte doch glatt, mich den ganzen Abend mit seinem pseudopsychologischen Wissen zu belabern. Den ganzen Abend dieses Gemisch aus Halbwissen und esoterischen Binsenweisheiten. Unerträglich. Und ich sitze da und höre dem Typ auch eine Weile zu und bin ihm dann doch ein paar Mal ganz schön scharf ins Wort gefallen. Der Typ hat geglaubt, er kann mir meine Welt erklären.
Der Kellner kam und servierte die Vorspeisenteller ab. Die Frau am Nachbartisch winkte ihn heran und deutete auf ihren Begleiter. Rita konnte nicht hören, was sie miteinander sprachen. Verena beugte sich nach unten zu ihrer Handtasche.
Aber das Beste kommt noch, sagte Rita. Stell dir vor, ein paar Tage später klingelt es abends nach neun an meiner Wohnungstür. Corinna schläft schon und Richard ist auf Dienstreise. Ich wundere mich und öffne, steht doch dieser Doktordoktor vor der Tür und begehrt Einlass.
In dem Moment legte Verena etwas auf den Tisch vor sich. Rita konnte zuerst nicht erkennen, was es war.
Entschuldige, sagte Verena, ich wollte dich nicht unterbrechen.
Der Typ steht also vor meiner Tür und möchte herein. Okay, denke ich mir, vielleicht gibt es noch etwas, was wir dieser Tage noch nicht besprochen haben, und ich lasse ihn rein, sagte Rita. Da sitzt er bei mir in der Küche, ich frage ihn, ob er ein Glas Bier trinken möchte, dann, peinlich, peinlich, Bier ist aus, also serviere ich ihm ein Glas Wein und genehmige mir auch einen Schluck. Und es gibt nichts mehr zu besprechen und der Typ sitzt da wie ein stummer Karpfen und starrt mich an. Ich natürlich ungeschminkt in meinen Hausklamotten und es ist schon nach zehn und der Herr Doktor wird mir langsam unheimlich. Und, ich sage dir: Nach genau einer Stunde trinkt der Bursche aus und sagt: Ich muss jetzt gehen, und macht den Abgang. Und hat genau genommen eine Stunde lang nichts gesagt.
Rita musste plötzlich unkontrolliert auflachen.
Dann entdeckte sie, dass Verena eine Karte vor sich hingelegt hatte.
Was ist denn?, fragte sie.
Erzähl weiter, später, sagte Verena und deckte die Karte mit einer Hand zu.
Sag schon, was ist denn?, fragte Rita.
Nein, erzähl erst fertig, sagte Verena.
Saukomisch die Geschichte, ich muss noch lachen, wenn ich daran denke. Und stell dir vor, ein paar Tage später bekomme ich eine Mail von dem Kerl. Ein Gebrabbel wie von einem Siebzehnjährigen. Süßholzgeraspel. Ich habe ihm nicht einmal geantwortet, sagte Rita.
Am Nebentisch entstand eine kleine Unruhe; Alessandro war an den Tisch getreten. Rita fragte sich, ob es um eine Unklarheit wegen der Rechnung ging. Der grau melierte Mann griff sich in den Nacken. Offenbar fühlte er sich unwohl. Alessandro sprach auf ihn ein. Die Begleiterin des Mannes war eher nicht die Ehefrau. Etwas unbeholfen versuchte sie den Mann zu stützen. Ein Kellner stellte ein Glas Wasser auf den Tisch.
Verena hob die Augenbrauen. Sie hatte das Geschehen am Nebentisch bemerkt.
Dem ist schlecht geworden, sagte sie leise.
Die Karte, die sie eben noch mit der Hand verdeckt hatte, lag nun frei vor ihr. Offenbar eine Kunstkarte.
Erzähl weiter, sagte sie.
Es gibt nichts mehr zu erzählen. Das ist alles, sagte Rita.
Einen Augenblick war es ruhig.
Wir können Ihnen ein Taxi rufen, oder aber auch einen Arzt, sagte Alessandro. Wie es Ihnen lieber ist. Der Mann am Nebentisch versuchte aufzustehen. Seine Begleiterin und Alessandro stützten ihn, der Mann schaffte es aber nicht, sich aufzurichten.
Verena reichte Rita eine Karte über den Tisch.
Was ist das?, fragte Rita.
Das habe ich bei Arnolds Sachen gefunden, sagte Verena. Es lässt mich nicht in Ruhe.
Rita betrachtete die Karte, ein Nachdruck eines Gemäldes. Es zeigte ein Paar im Freien: eine Frau in einem weißen Kleid, daneben einen Mann, auch er mit einer weißen Hose bekleidet, der die Dame an der Hand führt.
Was ist das?, wiederholte Rita.
Ein Bild von Auguste Renoir, dem Impressionisten, sagte Verena. Es heißt La Promenade. Verstehst du, seit Wochen schaue die Sachen von Arnold durch. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viel Papier sich da angesammelt hat. Und das habe ich mitten in einem Aufsatz von ihm gefunden. Und dann noch einmal auf seiner Festplatte. Das Bild hat mit dem Text überhaupt nichts zu tun. Es muss einen Grund geben, weshalb es bei seinen Sachen liegt.
Rita starrte auf die Karte und schwieg. Sie spürte, wie sie schwitzte. Sie erwartet, dass ich etwas sage, dachte sie.
Und jetzt fragst du dich, sagte sie vorsichtig.
Natürlich, sagte Verena. Verstehst du. Ich habe nichts in der Hand, absolut nichts. Wen hat Arnold da getroffen an der Grenze? Es gibt kein Motiv. Wenn es ein Raub war, warum hat der Täter dann das Auto zurückgelassen? Der Laptop ist ja verschwunden, seine Geldbörse. Und der Autoschlüssel. Das ergibt alles keinen Sinn.
Und dass du der Kripo die Zeit lässt, die sie braucht?, fragte Rita.
Die kommen keinen Schritt weiter, sagte Verena. Du kannst dir nicht vorstellen, wie mich das quält.
Alessandro trat an den Nebentisch und sprach auf den Mann ein, der schwer atmete. Rita bemühte sich, nicht hinüberzusehen, aber sie konnte hören, was gesprochen wurde. Sie können sich gern auf eine Bank legen, sagte Alessandro. Der Arzt ist schon verständigt. Er kommt gleich. Rita beobachtete aus den Augenwinkeln, dass die Begleiterin eine Serviette mit Wasser benetzte und dem Mann an die Stirn hielt. Das Lokal war jetzt fast voll und vom Durcheinander der verschiedenen Gespräche erfüllt. Weiter entfernt lachte jemand laut auf.
Rita sah die Karte vor sich an. Ich verstehe das mit dem Bild nicht, sagte sie.
Du verstehst mich nicht, sagte Verena. Ich suche nach Spuren. Nach Spuren, wo es vielleicht gar keine gibt. Schau dir das Bild an. Ich habe recherchiert. Der Mann nimmt die Frau an der Hand und zieht sie womöglich für ein Abenteuer in ein Gebüsch.
Rita betrachtete die Karte und schwieg.