Text: © Christian Jeltsch und Olaf Kraemer, 2012
Deutsche Erstausgabe: © mixtvision Verlag, München 2012
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Michael Meller Literary Agency GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten.
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Coverkonzept und –gestaltung:
Groothuis, Lohfert, Consorten / glcons.de
Innentypographie und –gestaltung:
Kateřina Dolejšová, append[x] GmbH
Ebook-Herstellung:
Andreas Klostermaier, append[x] GmbH
Ebook-Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund, www.readbox.net
ISBN: 978-3-944572-31-4
Für Josephine, Tristan und Vincent
| 2P01 |
Marie stand auf einem aus roten Ziegeln gemauerten Kai und sah zu, wie der riesige Dampfer von kleinen Schleppern an die Mole gezogen wurde. Ihre langen dunklen Haare hatte sie zu Zöpfen geflochten, um die Stirn gelegt und mit ihren schönsten Haarspangen befestigt. Sie trug ihr Sommerkleid mit den bunten Blumen und den kleinen Bienen, das eine Schneiderin extra für sie gemacht hatte. Das Nebelhorn des Schiffes blies Dampf in den blauen Himmel und vom Oberdeck unter den drei roten Schornsteinen winkte Maries Mutter. Sie trug einen hellen Hut mit einem weißen Schleier, der den oberen Teil ihres Gesichts verdeckte. Das Kostüm ihrer Mutter war aus hellem, weichem Stoff. Um ihren Hals flatterte ein buntes Tuch im warmen Wind. Neben ihr auf dem Deck stand eine große Kiste.
Als der Dampfer näher kam, erkannte Marie die bunten exotischen Aufkleber der Hotels, die die Pagen daraufgeklebt hatten. Und plötzlich sah sich Marie selbst auf dieser Kiste stehen. Allerdings ohne Zöpfe, sondern mit einem modernen Pagenkopf-Schnitt. Louise. Maries Zwillingsschwester. Sie winkte wild mit den Armen und strahlte vor Freude.
Das Schiff war längsseits gegangen und die Matrosen senkten die Gangway auf die Mole. Marie spürte, wie ihr Herz immer schneller schlug. Ihre Zunge wurde pelzig wie eine Hundepfote und vor Wiedersehensfreude trat sie ungeduldig von einem Bein aufs andere. Als die gut betuchten Passagiere nach und nach den Landungssteg hinabschritten wie einen Catwalk und am Ende der Gangway von ihren Verwandten begrüßt wurden, war Maries Mutter nicht unter ihnen. Suchend eilte Marie durch die Szenen freudigen Wiedersehens. Sie fragte die Passagiere nach Louise, nach ihrer Mutter, doch schaute sie nur in ratlose Gesichter. Sie waren nicht vom Schiff gekommen. Marie musste zusehen, wie die Anzüge der Männer schäbiger und die Kleider der Frauen einfacher wurden.
Bis schließlich die Seeleute von Deck gingen.
Die Ladung gelöscht wurde.
Und Marie allein am Kai stand.
Allein mit dem Geruch des Salzwassers und des Teers von dem kalfaterten Schiff, dem Duft der Gewürzballen, die mit einem Kran aus dem Frachtdeck abgeladen wurden. »SHIVA« war in Hindi und im lateinischen Alphabet an den Bug des Schiffes gemalt und die zerfetzte Flagge eines fremden Landes hing schlaff an seinem Heck in der Sonne. Ab und an klatschte eine Welle gegen die Kaimauer.
Wo waren sie geblieben?
Zögernd tat Marie einen Schritt auf die leere Gangway zu, die an Bord des riesigen Ozeandampfers führte. Vorsichtig, als handele es sich um dünnes Eis, setzte sie den Fuß auf das Holz, als das Horn des Dampfers noch einmal laut blies. Marie fuhr zusammen und trat einen Schritt zurück. Erneut blies das Ungetüm. Dann wurde es schwächer, bis nur noch ein leises, jämmerliches Fiepen erklang – ein Fiepen wie von einem Wasserkessel, der auf einem Herd steht, einem Herd in einer Souterrainwohnung in Berlin – der Wohnung, die in den letzten Jahren Maries Heimstatt gewesen war.
Mit fest geschlossenen Augen lag Marie auf ihrem Bett und versuchte ihren Traum festzuhalten, wenigstens einen Fetzen davon mit in den Tag zu nehmen, eine Hoffnung, dass ihre Mutter und ihre Schwester doch mit dem Schiff gekommen waren und sie doch noch die Gangway hinauf an Bord des Schiffes gehen würde, um Louise, um ihre Mutter noch einmal zu sehen, noch einmal in den Arm zu nehmen. Es gab keinen anderen Weg als den über die Gangway. Doch sosehr Marie sich auch bemühte: Die Gangway war verschwunden, ebenso wie das Schiff, der warme Wind und das erwartungsvolle Schreien der Möwen.
Stattdessen hörte sie das Klappern von Geschirr und das leise Summen des Funkgeräts mit den grünlichen Augen, das im hinteren Teil der Wohnung stand. Der Kessel pfiff hinter der spanischen Wand, die ihr Feldbett von dem Rest der Wohnung trennte, und der exotische, leicht süßliche Geruch von Gewürzen, die ihr Vater in den Tee geworfen hatte, durchzog die Wohnung, die selbst im Sommer kühl und feucht war. Jetzt spürte Marie den Stich in ihrem Herzen, den sie hatte vermeiden wollen: Es gab keinen Dampfer. Keine Mutter, keine Louise, die gekommen waren, um sie zu besuchen. Es gab nur einen alten Kessel und es gab Carl Friederich Bernikoff. Dieser hochgewachsene Mann mit dem weißen Haar und der dunklen Haut, mit dem sie die Jahre verbracht hatte, seitdem ihre Mutter mit ihrer Zwillingsschwester verschwunden war. Marie lächelte, als sein freundliches Gesicht hinter der spanischen Wand auftauchte und er scherzhaft eine seiner dichten Augenbrauen hob, die seinem Gesicht etwas Gutmütiges, aber auch etwas Brummiges, Strenges verliehen.
„Steh endlich auf, faule Liese! Fast schon Mittag“, sagte er.
Marie setzte die nackten Füße auf den kalten Boden der Wohnung im Souterrain und zog sie gleich wieder zurück unter die Decke. Sie blinzelte Bernikoff an und streckte sich. Er schob ihr seine Pantoffeln hin und ihre Füße schlüpften hinein wie in eine warme Höhle.
„Ich hab wieder von dem großen Schiff geträumt ...“
„Ein gutes Zeichen. Heute ist unser großer Tag!“
Mit einem Schlag war Marie hellwach. Er hatte recht: Heute Abend würde sie als Assistentin dabei sein, wenn Carl Friedrich Bernikoff als der Große Furioso im Wintergarten auftrat. Nicht vor normalem Publikum – wie Marie es mittlerweile gewöhnt war –, sondern vor einer geschlossenen Gesellschaft aus Offizieren und Größen des Dritten Reichs. Und auch ER würde dort sein. Der Mann, den alle fürchteten. Für diesen Auftritt hatte Bernikoff einen waghalsigen Plan entworfen, der den Lauf der Welt verändern sollte ...
| 2P02 |
Gebannt und sprachlos stand Greta vor dem Monitor in der Zentrale von GENE-SYS und starrte auf das Gesicht von Bernikoff, das in der Vergrößerung noch einmal über den Bildschirm flimmerte. So wie es die junge Marie damals gesehen hatte. Dann wanderte Gretas Blick nach nebenan. Hinter einer Scheibe, in der Realität, lag die alte Marie. An ihrem Kopf angeschlossen Drähte und Elektroden, die ihre über Hirnströme transportierten Erinnerungen in Bilder verwandelten.
„ER!“, sagte Greta mit leiser Stimme. „Und was war das für ein Plan? Wenn Bernikoff Hitler tatsächlich persönlich begegnet wäre, dann gäbe es doch irgendwo Aufzeichnungen darüber!“
Aber die gab es nicht. Greta wusste das. Schließlich hatte sie alles studiert, was jemals von oder über Carl Bernikoff geschrieben worden war.
Sie überlegte. Entweder stand sie vor der Entdeckung einer kleinen Sensation oder sie war die ganze Zeit Zeuge von Maries kindlichen Fantasien gewesen.
„Nach all den Jahren scheint sie sich sogar an die kleinsten Details in der Wohnung zu erinnern“, sagte Louise in die Stille. Sie war das exakte Ebenbild von Marie, ihrer Zwillingsschwester. In ihrer Stimme schwang ein Ton der Bewunderung.
Das Bild auf dem Monitor pixelte aus und das Gesicht Bernikoffs, das Maries Erinnerung auf den Bildschirm gerufen hatte, verschwand. Greta schaute zu dem Mann, der den Computer steuerte, an den Marie angeschlossen war. Professor Victor Gabler, Neurologe, Hirnforscher und wissenschaftlicher Leiter von GENE-SYS in Boston, pegelte die Reizströme nach unten.
„Ihr Körper muss sich erholen. Für sie ist es, als durchlebe sie alles noch einmal.“
Er blickte zu Marie, die immer noch in Trance in ihrem Bett lag.
Maries Brustkorb hob und senkte sich ruhig.
Sie bewegte sich leicht im Schlaf und auf dem Bildschirm formten sich die nächsten Bilder.
„Ist das denn ... nicht gefährlich?“, wollte Louise wissen.
Bevor jemand auf ihre Frage antworten konnte, betrat die Leiterin der Überwachungszentrale den Raum. Greta blitzte sie an. Sie hasste diese Unterbrechungen.
„Die Kinder ... die Kritische Masse ...“, rechtfertigte sich die Frau und kaute ruhig ihr Kaugummi. „Sie haben die Innenstadt verlassen. Sind zwei Komma drei Kilometer entfernt und kommen näher. Wir haben sie auf dem Schirm.“
Greta wandte sich der Kollegin zu, die interessiert auf den Monitor schaute, auf dem Victor die bisher gespeicherten Bilder aus Maries Vergangenheit kontrollierte.
„Ich bin darüber informiert“, sagte Greta scharf. „Die Kinder kommen, um Marie zu befreien. Kein Problem. Keine Gefahr.“
Die Leiterin der Überwachungszentrale schüttelte den Kopf. Schmatzend kaute sie ein paarmal, bevor sie den Mund wieder öffnete.
„Darum geht’s nicht. Die Kinder sind in Gefahr!“
Wie auf ein Zeichen flackerte kurz das Licht. Auf dem Monitor gefroren Maries Erinnerungen zu einem Standbild.
„Wenn man vom Teufel spricht!“ Die Kaugummi-Frau deutete nach oben. „Gewitter ...“
Im gleichen Moment hörten sie das dumpfe Grollen, mit dem sich das Gewitter direkt über dem Teufelsberg entlud.
Eilig erhob sich Greta und folgte besorgt der Leiterin in die Überwachungszentrale. Nicht ohne Victor anzuweisen, mit dem Experiment fortzufahren. Maries Erinnerungen traten in die entscheidende Phase. Ab jetzt durften sie keine Sekunde verpassen.
| 2101 |
„So fühlt sich also der Tod an“, dachte er.
Die Kälte des Wassers begann seine Muskeln zu lähmen. Seine Finger gehorchten ihm nicht mehr. Waren nicht mehr bereit, ihn zu halten, zu retten. Zehn fette, eigensinnige Würmer an den Enden seiner Arme. Seine Lungen brannten. Forderten Sauerstoff. Wollten explodieren. Aber Linus konnte nicht atmen. Er war unter Wasser. Ohne Orientierung taumelte er in einem gewaltigen Strom von Abwässern durch die Kanalisation. Wo war oben? Wo unten? Er presste die Lippen aufeinander. Unterdrückte den Würgereiz, den die Kloake erzeugt hatte. Der Gestank hatte sich längst als Geschmack auf seine Zunge gelegt und erreichte jetzt auch seinen Rachen. Die wilde Strömung schleuderte ihn gegen einen Mauervorsprung. Druck baute sich in seinem Schädel auf. Unfassbarer Schmerz. Als würde seine Schädeldecke jeden Moment gesprengt. Seine Arme ruderten wild und ziellos umher. Längst war das Seil, das ihn wie eine Nabelschnur mit Edda und Simon verbunden hatte, gekappt. Linus hatte keine Kraft mehr.
„Lass es geschehen ...“, drang es von irgendwo in seinen Kopf. Als wären es die süßen Stimmen der Sirenen, die ihn in das Reich der Schatten locken wollten. „Lass es einfach geschehen ...“
Linus spürte, wie sich sein Körper darauf vorbereitete, dem Locken zu folgen. „Gib auf ... Lass los und der Schmerz wird vorbei sein ... Lass endlich geschehen, was geschehen soll ...“
Die Muskeln, die seine Kiefer geschlossen hielten, begannen sich zu entspannen. Ein einziger tiefer Atemzug nur und alles wäre gut. Kein Schmerz, keine Angst. Sich öffnen. Endlich ankommen. Endlich Ruhe.
„Linus!“
Eddas Stimme vertrieb die Sirenen. „Linus!“
Für einen kurzen Moment war sein Kopf über Wasser. Linus riss den Mund auf, saugte Luft ein. Die Lungen fraßen sich fast durch seinen Brustkorb. Er japste. Sein Körper zwang den lebenswichtigen Sauerstoff durch Mund und Nase. Jetzt hörte Linus wieder. Simons Stimme.
„Linus! Verdammt! Wo steckst du?“
Linus nahm die Sorge wahr, die in Simons Fluchen verborgen war. Glücklich machte ihn das. Er schaffte es, den Kopf über Wasser zu halten.
„Wir werden nicht sterben. Das hast du versprochen, Linus!“ Eddas Stimme. Nicht mehr nur in seinem Kopf.
„Hier!“, rief Linus und spuckte gleichzeitig das giftige Wasser aus. Dann sah er seine Freunde. Sie klammerten sich an das Sperrgitter, das sie vor Kurzem noch auf ihrer heimlichen Mission zur Befreiung von Marie passiert hatten. Linus trieb auf das Gitter zu. Krachend schlug er dagegen. Für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen. Edda hielt ihn. Und Simon.
Sie waren wieder zusammen. Edda lachte, weinte.
„Und jetzt?“
Simon und Edda sahen Linus an. Er wusste, dass die beiden von ihm eine Lösung erwarteten. Er erwartete sie ja selbst von sich. Aber was sollte er tun? Das eiskalte Dreckwasser presste sie gegen das Gitter. Staute sich vor ihren Körpern. Stieg immer weiter. In wenigen Minuten würde es ihre Münder, ihre Nasen bedecken. Es gab kein Entkommen mehr. Voller Angst wartete Linus darauf, dass die Sirenen in seinem Kopf wieder ihre lockenden Stimmen erheben würden.
| 2102 |
Alles hatten sie akribisch geplant, Edda und Linus. Den Weg durch die Unterwelt, die Befreiung von Marie, den Rückzug. Von der Waffe in Simons Tasche allerdings wussten die beiden nichts.
Während ihrer Mission, wie Edda und Linus das Unterfangen nannten, umschloss Simons Hand immer wieder die alte Parabellum Luger. Es fühlte sich jedes Mal gut an. Die Pistole war geladen. Sechs Schuss. Scharfe Munition. Simon hatte keine Ahnung, ob es nötig werden würde zu schießen. Er wusste auch nicht, ob er tatsächlich abdrücken würde. Doch dieser Plan war so wahnwitzig, dass er sich nicht ohne die Waffe hatte auf den Weg machen wollen. An der Waffe konnte er sich festhalten. Bei allen Bedenken gab sie ihm ein Gefühl der Sicherheit und der Stärke. Irgendwie war ihm klar, dass es zu Komplikationen und Gefahren kommen würde. Das konnte er sich an seinen neun Fingern abzählen. Drei Teenager auf dem Weg, um es mit einem der undurchsichtigsten internationalen Konzerne aufzunehmen. Wie sollte das gut gehen? Simon hätte gern noch länger überlegt, ob es nicht doch einen besseren, einen weniger gefährlichen Weg gegeben hätte, Eddas Großmutter aus den Fängen von GENE-SYS zu befreien. Aber vielleicht hatten Edda und Linus ja recht: Es gab keine Alternative. Nach allem, was in den letzten Tagen geschehen war. Also machten sich die drei Freunde auf den Weg zurück zum Teufelsberg. Auf einem Pfad, den niemand vorausahnen konnte. Der Plan zu Maries Rettung war in Wahrheit nicht nur wahnwitzig, er war komplett verrückt. So verrückt, dass er schon wieder genial sein konnte, dachte Simon. So hatte Linus es ihnen verkauft.
Mit dem Wagen waren sie zu dem Parkplatz an der Avus gefahren, hatten jeder einen Rucksack umgeschnallt und waren dann durch einen Gully in das Abwassersystem der Stadt hinabgestiegen. Immer tiefer kletterte die kleine Expedition. Und immer fauliger wurde der Geruch, der ihnen entgegenschlug. Edda und Simon hielten sich Tücher vor die Nasen. Linus trotzte dem Gestank. Er wusste, dass er sein Gehirn überlisten konnte. So wie er es tat, wenn er Schmerzen hatte. Er schaffte es dann immer wieder, sich einzureden, dass Schmerzen nur Signale waren und nicht wirklich wehtaten. Nur elektrische Impulse an das Gehirn. Mehr nicht. So versuchte er auch mit dem Gestank fertig zu werden und es begann zu funktionieren. Dann ging es über Eisenstiegen durch einen engen Schlund noch einmal tiefer hinab, zum Hauptabwasserkanal.
„Durch den Mund atmen!“, befahl Linus.
Er kletterte voran. Simon ließ Edda vor und folgte als Letzter. Seit einiger Zeit schon versuchte er, durch den Mund zu atmen. Aber die Vorstellung, dass der Gestank wie ein feiner Film auf seiner Zunge zurückbleiben und er ihn schließlich schlucken würde, ließ ihn den Mund wieder schließen. Dieser Plan war nicht wahnwitzig, er war idiotisch, dachte Simon. Linus hatte ihnen im wahrsten Sinn des Wortes die Scheiße hier eingebrockt. Nächtelang hatte er die Pläne vom Untergrund Berlins studiert und schließlich diesen Abwasserkanal entdeckt, der vom Teufelsberg zur Avus führte. Als die Amerikaner im Kalten Krieg den Teufelsberg zur Abhörstation Richtung Ostdeutschland ausgebaut hatten, waren auch diese unterirdischen Röhren gelegt worden, die direkt in den Teufelsberg führten. „Ins Herz von GENE-SYS“, hatte Linus gesagt.
„Durch den Arsch ins Herz“, dachte Simon. „Genialer Plan!“ Er hielt sich wieder das Tuch vor die Nase, während er den beiden anderen folgte.
| 2103 |
Greta schaute auf die Anzeige. Die weißen Signale waren eindeutig. Sie blinkten in unterschiedlicher Frequenz.
„Da sind sie. Auf dem Weg“, kommentierte die Leiterin der Überwachungszentrale vor dem Monitor. Sie hatte nur für diesen kurzen Satz das Kauen ihres Kaugummis unterbrochen. Wie ein Wiederkäuer, dachte Greta. Doch sie wusste, dass sie niemand Besseren für diese Aufgabe hätte finden können. Die Frau hatte ihre Ausbildung noch von der Staatssicherheit erhalten. Sie kannte keine Skrupel und war technisch stets auf dem neuesten Stand. Also ertrug Greta ihre Kuhgeräusche. Sie schaute auf die Signale, die ganz in der Nähe ausgesendet wurden. Auf dem Stadtplan, den der riesige gläserne Monitor zeigte, war zu erkennen, dass sich Edda, Linus und Simon bereits im Süden des Teufelsberges befanden.
Auch wenn Greta nichts sehnlicher wünschte, als zurück zu Marie zu gehen und herauszufinden, was es mit ihren Erinnerungen weiter auf sich hatte: Diese drei Kinder nötigten ihr ehrlichen Respekt ab. Die letzte Zeit war für die drei nicht leicht gewesen. Greta hatte die Unterlagen über jeden von ihnen vor sich liegen, beginnend jeweils mit den Fotos aus der Kindheit. Dann die genaue Beschreibung ihrer Begabungen. Ihre außergewöhnlichen Anlagen zur „stummen Kommunikation“, wie Greta es nannte. „Gedankenlesen“ war für sie immer ein dummes Wort gewesen. „Telepathie“ gefiel ihr besser, obwohl auch das kein wissenschaftlicher Begriff war. Sie dachte an Bill, lächelte in Gedanken an ihn. Und für einen Moment stand Trauer in ihren Augen. Wie sehr sie sich wünschte, dass er die Entdeckung der drei Kinder noch hätte miterleben können. Bill. William Bixby, der Bauernsohn aus Minnesota, der keinen Doktortitel besessen hatte, der nie wissenschaftlich an seine Aufgaben herangegangen war. Immer war er seinem Gefühl, seinem Instinkt gefolgt. Nach der Lektüre von Bernikoffs Schriften hatte er schließlich die These aufgestellt, dass es möglich wäre, das Böse aus den Gedanken, aus den Gehirnen der Menschen zu vertreiben. Vorausgesetzt man schaffte es, das Böse in einer der vielen Gehirnregionen zu lokalisieren und zu isolieren. Bills Enthusiasmus hatte Greta mitgerissen, hatte sie durch all die Jahre getragen. Hatte sie sogar Bündnisse mit Regierungen und Militärs schließen lassen, nur um die gemeinsame Forschung zu dem einen guten Ziel zu bringen: der Eliminierung des Bösen. Und dann war Bill vor fünf Jahren mit seiner kleinen Cessna in den kalten Februarmorgen zu einem Kongress nach Stockholm aufgebrochen und niemals dort angekommen. Vier Tage hatten Rettungsmannschaften die Ostsee abgesucht. Schließlich hatten sie Wrackteile der Cessna gefunden, doch Bills Leiche blieb für immer in den Tiefen des kalten Meeres verschwunden.
Greta verbat sich Trauer.
Auch weil es sie daran erinnert hätte, dass sie an jenem Tag im Streit auseinandergegangen waren. Nein. Sie war stolz. Sie wusste, dass sie mithilfe von Edda, Linus und Simon ihr Ziel erreichen würden. Und mit der Forschung an Maries Gehirn und ihren Erinnerungen würde sie einen weiteren Schritt zu einer besseren Welt machen. Greta senkte den Blick und blätterte noch einmal durch die Akten. Wie in einem Forschungs-Tagebuch waren dort die Erlebnisse der drei akribisch aufgelistet, seit sie den Teufelsberg verlassen hatten. Manche Ereignisse waren sogar mit der exakten Uhrzeit notiert. Der für Simon so schreckliche Moment auf den Gleisen war genauso vermerkt wie Eddas Kontakt-
aufnahme mit Thorben und Linus’ Stunden in der Bibliothek und den Stadtwerken. Wichtiger aber noch war für Greta die Erkenntnis, dass sie mit ihrer Vermutung recht behalten hatte: Die Freundschaft der Kinder zueinander, ihre Empathie füreinander, war das Element, das all die Wissenschaftler von GENE-SYS, selbst Bill bei seinen Berechnungen für das Entstehen der Kritischen Masse, nicht bedacht hatten. Und wenn sich etwas in der Zeit seit ihrem Kennenlernen im Camp bewährt hatte, dann war es die Freundschaft der drei Jugendlichen. Vielleicht ist sie der Faktor, der den Menschen vom Tier unterschied, dachte Greta. Freundschaft nicht aus Not oder Angst, sondern aus einem höheren Grund. Einem Grund, der den Menschen erhob zu dem, was er eigentlich seinem Wesen nach war: ein Ebenbild der Schöpfung.
Auch wenn die Leiter der anderen GENE-SYS-Headquarter in Boston, São Paulo, Moskau und Kyoto es nicht glauben wollten, Greta hatte es mit ihrem genialen Schachzug bewiesen. Sie hatte die Freundschaft auf die Probe gestellt, hatte behauptet, Linus aus dem Bund eliminieren zu wollen. Edda und Simon hatten für ihren Freund auf die faszinierende Zukunft verzichtet und sich für Linus entschieden. Greta war gerührt. Stolz hatte sie empfunden. Und ganz tief in ihrem Inneren auch einen Stich. Neid. Weil sie nie in ihrem Leben dieses starke Gefühl der Empathie erlebt hatte. Selbst ihre Gefühle für Bill waren keine Liebe gewesen, nicht von ihrer Seite. Sie hatte Achtung vor ihm gehabt. Respekt. Vor seinem Elan, seiner Bereitschaft, seinen Visionen zu folgen. Bill war ein großartiger Mitstreiter gewesen. Aber Freunde? Niemals hatte Greta wirkliche Freunde gehabt in ihrem Leben, vielleicht war sie als Kind zu lange ans Bett gefesselt gewesen. Bis Carl Bernikoff aufgetaucht war.
Egal, das alles jetzt. Greta wusste, dass sie das Beste aus ihrem Leben gemacht hatte. Und nun, da es sich dem Ende zuneigte, wollte sie den Menschen das Beste hinterlassen. Dazu war es unabdingbar, dass Edda, Linus und Simon nichts geschah. Deshalb beunruhigte sie die Situation, die sich da jetzt anbahnte.
„Sie kommen durch die Kloake“, schmatzte die Frau mit dem Kaugummi. Ihr machte das alles keine Sorgen. Aber Greta. Denn Greta hatte eben alles im Blick. Sorgen machte ihr, dass Linus bei seinem Plan, Marie zu befreien, offenbar alles bedacht hatte. Alles – bis auf die aktuelle Wetterlage.
| 2104 |
Edda, Linus und Simon hatten den Abwasserkanal erreicht und bewegten sich nun parallel dazu auf einem erhöht verlaufenden Steg Richtung Nordwesten. Das Licht von Simons Taschenlampe erfasste Edda für einen Augenblick. Wie bleich sie war. In den letzten Tagen hatte er sich immer mehr als Außenseiter des Trios empfunden. Linus hatte die Planung übernommen und Edda war ständig an seiner Seite gewesen. Simon hatte die wachsende Nähe zwischen den beiden beobachtet. Zu spüren, wie sie sich näher- und näherkamen, tat ihm weh. Er spürte es in seinem Herzen, in seinem Bauch. Und je mehr er es fühlte, desto gehemmter wurde er. Desto nutzloser kam er sich vor. Warum fiel es ihm so unendlich schwer, seine Traurigkeit darüber zu zeigen? Oder sie beiseitezuschieben? Alles wäre besser gewesen, als immer verschlossener zu werden. Natürlich konnte er verstehen, dass Linus sich so für Eddas Großmutter einsetzte. Schließlich dankte es ihm Edda mit zarten, scheinbar zufälligen Berührungen, mit heimlichen Blicken, mit ihrem wunderbaren Lächeln, das ein so süßes Kräuseln auf ihre so gerade Nase zauberte. Ach, Scheiße! Am schlimmsten für Simon war, dass Linus von Eddas Blicken und Berührungen nichts mitzubekommen schien. Wie ungerecht die Liebe ist.
Edda blieb stehen und Linus drehte sich um. Sein Taschenlampenlicht erfasste ihr Gesicht. Es war nicht mehr weiß, es war fast grün.
„Durch den Mund geht einfach nicht“, stieß sie unter Würgen hervor. „Das fühlt sich an, als hätte ich die ganze Scheiße auf der Zunge.“ Kaum hatte sie das gesagt, musste sich Edda übergeben und die Reste einer Pizza con tutto suchten in einem Schwall den Weg ins Freie. Edda holte tief Luft, doch das führte zu einem weiteren Brechanfall. Simon trat zu ihr und hielt ihr die Haare zurück. Doch Edda drehte sich sofort weg. Sie wollte nicht, dass Simon sie so sah. Dass überhaupt jemand sie so sah!
Ratlos standen Linus und Simon daneben und Simon reichte Edda schließlich ein Taschentuch. Endlich lächelte sie ihn erschöpft an, nahm es und wischte sich den Mund ab. An Simons linker Hand war immer noch der dicke Verband, den sie ihm angelegt hatte und der den Stumpf seines Mittelfingers umwickelt hielt.
„Wird wohl jetzt schwierig werden mit dem Zehnfingersystem“, hatte Simon gewitzelt, bevor er auf dem Gleisgelände vor Schmerz und Schock in Ohnmacht gefallen war. Keiner von ihnen hatte sich vorstellen können, wie hart es werden würde, auf den Straßen von Berlin zu überleben. Sie hatten es auf die brutal Art lernen müssen. Die Straße schien das Böseste hervorzulocken in denen, die ohne Obdach lebten. Manche von ihnen hatten nichts mehr zu verlieren außer ihrem Leben. Und als die drei auftauchten, hatten sie es auf Simon abgesehen. Einfach nur so. Weil er neu war. Und weil es vorher einen bedeutungslosen Streit mit ihm gegeben hatte. Die Gang aus jungen Deutschen und Russen hatte Simon in einem abbruchreifen Bahnwärterhäuschen aufgestöbert. Zusammen mit Edda und Linus. Drei gegen fünfzehn. Edda, Simon und Linus hatten keine Chance. Grölend wurden sie zu der nahen Bahnstrecke geschleppt. Zu viert fesselten sie Simon an die Gleise und ketteten von seiner linken Hand nur den Mittelfinger fest. Den hatte Simon ihnen gezeigt. Die rechte Hand ließen sie frei. Eine Kneifzange hatten sie ihm noch hingelegt. Ein Experiment, hatten sie gesagt und dann warteten sie. Und tranken. Und wetteten darauf, welcher Zug Simon erwischen würde. Aber vielleicht, wenn er mutig war, konnte er sich ja rechtzeitig befreien. Mit der Zange. Bei all dem zwangen sie Linus und Edda zuzusehen. Auch als sich der ICE aus Göttingen näherte.
„Weiter!“, trieb Simon sie an. „Wir müssen weiter.“
„Geht’s?“, fragte Linus Edda. Sie nickte und rieb sich noch einmal den Tiger-Balm unter die Nase, und dann huschten sie weiter. Wie riesige Ratten. Gebückt. Als forderte das der gewölbte Backsteintunnel. Noch aber war der Tunnel so hoch, dass sie aufrecht hätten laufen können. Noch führte der Weg erhöht und parallel zu dem Abwasserkanal. Nach ein paar Hundert Metern jedoch endete der Steg. Linus hatte das natürlich eingeplant. Er packte aus einer Tasche, die er mitgeschleppt hatte, die Fischerstiefel aus und zog sie über. Edda und Simon machten es ihm nach. Die Fischerstiefel waren eigentlich viel mehr als nur Stiefel, es waren Gummihosen. Sie gingen in eine Latzhose über. Und als die drei die Hosen angezogen hatten, reichte ihnen der Wasserschutz fast bis zum Hals.
Es war klar, was jetzt zu geschehen hatte. Nun mussten sie in die Kloake steigen, wenn sie ihren Plan weiter umsetzen wollten. Dann mussten sie sich über einen Kilometer gegen die Strömung voranarbeiten, bevor sich der Tunnel nach einer Biegung wieder weiten würde. An der Stelle, wo von Norden das Abwasser aus Spandau eingeleitet wurde. Edda, Linus und Simon sahen sich an und schwiegen. Dann kletterte Edda als Erste in den stinkenden, unterirdischen Fluss.
„Warte!“, sagte Linus. Mit einem Karabiner befestigte er ein Seil an den Trägern von Eddas Hose und dann an seiner und der Hose von Simon. So konnten sie sich nicht verlieren. Linus ließ die Tasche zurück und die drei stiegen in die trübe Brühe. Ihre Füße tasteten nach dem Grund. Erleichtert stellten sie fest, dass der Kanal nicht sehr tief war. Das Wasser reichte ihnen nicht einmal bis zu den Hüften.
„Wisst ihr schon, oder?“, fragte Linus. „Is’ hier nicht anders als in New York. Gibt hier auch Krokodile, Wasserschlangen und Piranhas.“
„Ja, klar!“
„Echt! Haben die Leute im Klo runtergespült, als die Viecher zu groß wurden.“
„Halt die Klappe und geh!“ Edda versuchte, streng zu klingen. Aber eigentlich freute sie sich, dass Linus versuchte sie aufzumuntern. Auch wenn es eine blöde Geschichte war. Eine, die Edda nicht mochte. Denn so haarsträubend diese modernen Schauermärchen auch waren, Eddas Fantasie produzierte augenblicklich unzählige Bilder, auf denen Menschen kleine Krokodile und Alligatoren ins Klo kippten und wegspülten.
Linus watete voran, Edda folgte ihm und Simon blieb dicht hinter ihr. So weit das möglich war, fühlte sie sich sicher. Vor Krokodilen und all dem anderen Getier, das sie hier unten vermutete. Marie zu befreien war Edda wichtiger geworden als alles andere. Sie war es ihrer Großmutter schuldig. Und vor allem wollte Edda die Geheimnisse erfahren, die Maries Vergangenheit und damit auch ihr eigenes Leben betrafen. Wer war dieser Carl Bernikoff? Dieser Magier, in dessen Wohnung Edda sich selbst so nahegekommen war wie nie zuvor in ihrem Leben. Und was hatte es mit GENE-SYS auf sich? Mit dieser Frau, die Marie glich, die aber nicht Marie war. Wie sollte Edda all das verstehen? Nur Marie kannte die Antworten. Sie mussten sie so schnell wie möglich befreien.
„Kopf einziehen!“, warnte Linus und seine Stimme hallte durch das stinkende Labyrinth. Ein Gitter ragte von oben herab. Die drei Freunde mussten sich ducken, um darunter hindurchzukommen. Sie machten sich keine Gedanken, warum es hier eingebaut worden war. Und sie sahen auch nicht, dass das Gitter rechts und links in der Mauerführung nur von zwei schmalen Balken gestützt wurde.
Noch glaubten die drei felsenfest an das Gelingen ihres verwegenen Plans. Die Lichter ihrer Taschenlampen leuchteten tief in den schwarzen Tunnel hinein. Edda, Linus und Simon bekamen nichts von einem der seltenen Wintergewitter mit, das sich am nächtlichen Himmel über Berlin zusammengebraut hatte und das sich nun entlud. Blitze zuckten über die Stadt hinweg, als tanzten sie ein wildes Ballett. Es schüttete und stürmte. Sechzig Liter pro Quadratmeter sollten es noch werden, warnte das Wetteramt. Zu viel, als dass es die Kanalisation hätte aufnehmen können.
„Ich glaub, das Wasser steigt!“, sagte Edda besorgt.
Die beiden Jungs schwiegen. Auch sie hatten es längst bemerkt. Die Strömung, gegen die sie angehen mussten, war stärker geworden.
„Ist einfach nur enger geworden. Der Tunnel ist einfach nur enger geworden“, wollte Linus beruhigen. „Das erhöht die Fließgeschwindigkeit und den Wasserpegel.“
Sie hielten inne. Ein Rauschen näherte sich. Simon leuchtete zu der Stelle, von der das Geräusch kam. Ein Stück vor ihnen öffnete sich einer der vielen kleinen Zuflüsse aus irgendwelchen Gullys in der Stadt wie ein schwarzes Maul. Im selben Moment schoss daraus ein Schwall von Wasser hervor und beförderte kleine, dunkle Schatten in den Abwasserkanal. Ratten. Fiepend schwammen sie um ihr Leben. Eines der Tiere vor ihnen entdeckte die drei und hielt auf sie zu. Sofort folgten die anderen. Wie eine Flotte aus haarigen U-Booten steuerten sie, getrieben von der Strömung, Richtung Edda, Linus und Simon. Das Wasser reichte ihnen inzwischen bis zum Bauch. Die kleinen Nager strampelten, um zu den vermeintlich rettenden Teenagern zu gelangen. Die versuchten sich voranzukämpfen, versuchten zu entkommen. Wild zuckten die Lichter ihrer Taschenlampen durch das Gewölbe und über das Wasser. Einige Ratten spülte die Strömung an ihnen vorbei. Aber ein paar der stärkeren Tiere hielten weiter direkt auf die drei Freunde zu. Edda schrie. Sie kamen nicht schnell genug voran.
„Arme hoch!“, schrie Simon.
Da erreichten die ersten Ratten Linus und krabbelten mit den kleinen Füßen an seiner Anglerhose hoch. Suchten nach Halt. Doch an dem glatten Gummi fanden sie keinen. Sie trieben weiter. Auf Edda zu. Die war wie erstarrt stehen geblieben. Ihr Atem raste. Das verzweifelte Strampeln der Tiere rührte sie. Sie konnte es nicht mit ansehen, schloss die Augen und spürte, wie die Vorderfüße der Nager vergeblich auch an ihrer Anglerhose kratzten. Sie weinte. Aber sie brachte es nicht fertig, die Tiere zu retten. Ihr Weinen hallte durch den Tunnel und verschwand mit den grauen Nagern im Dunkel.
„Weiter!“, befahl Simon. Er war jetzt dicht hinter Edda. Es tat ihr gut, dass er ihr das Gefühl gab, beschützt zu sein.
„Ich hasse Ratten“, schluchzte Edda und zitterte noch am ganzen Körper. „Aber wie sie um ihr Leben gekämpft haben, Simon, so verzweifelt. Ich hätte sie ... retten können.“
Edda wollte sich einfach fallen lassen, sich setzen, mitten ins Wasser. Der Untergrund, das Erbrechen, die Ratten und die immer stärker steigende Flut waren zu viel für sie. Und dass das so war, machte alles noch schlimmer.
„Edda! Es geht um Marie! Nicht um diese Viecher! Außerdem sind Ratten echt gute Schwimmer. Die kommen schon klar, keine Sorge!“
Damit schob Simon Edda voran. Es gefiel ihm, dass sie nach seiner Hand griff. Linus merkte nichts von dieser Geste. Er biss sich auf die Lippen. Er ärgerte sich. Warum zum Teufel hatte er nicht einkalkuliert, dass das Wetter draußen zu einem Problem werden könnte? In den letzten Tagen waren seine Lebensgeister zurückgekehrt. Er hatte sich als Held gefühlt, als Outlaw, und er hatte sich ein paarmal dabei erwischt, wie er der Romantik des Lebens auf der Straße erlegen war. Der Freiheit. Keine Schule. Heute hier, morgen dort. Schnorren. Betteln. Die Nächte in leer stehenden Häusern, in Parkgaragen. Abenteuer. Und das Tüfteln an dem Plan, Eddas Großmutter zu retten. Jeden Tag mit Edda einzuschlafen und neben ihr aufzuwachen. Erst die Sache auf den Gleisen hatte ihn wieder in die Realität zurückgeholt. Er hatte in Simons Augen geblickt, hatte seine Angst gespürt. Und für einen Moment hatte er das Gefühl gehabt, Simons Gedanken folgen zu können. Den Bildern, die in Simons Hirn auftauchten. Bilder eines zugefrorenen Sees. Bilder eines leblosen, kleinen Körpers. Und dann, mit Simons Schrei, war es Linus gewesen, als hätte er auch den Schmerz gespürt, den Simon hatte aushalten müssen. Um sich zu befreien. Vielleicht war es auch ein Schmerz, dessen Ursprung noch viel tiefer führte. Weg von dem Finger. Tief in Simons Seele. Linus hatte mit Simon nicht darüber geredet. Es kam ihm zu blöd vor. Als ob er ihn hätte trösten wollen. Aber da war etwas zwischen Linus und seinen beiden Freunden, das ihn in ihre Seelen schauen ließ. Immer dann, wenn Angst im Spiel war. Wie war das jetzt? Jetzt gerade? Er versuchte sich auf die Freunde zu konzentrieren. Es gelang ihm nicht. Zu sehr beschäftigte ihn, dass sein Plan zu scheitern drohte. Sollte er es den anderen sagen? Solange das Wasser nicht weiterstieg, konnten sie es schaffen. Wenn er Angst bekam – würden sie dann auch Angst bekommen? Würde dann alles scheitern? Linus wollte alles tun, um das zu verhindern. Denn dann wäre er wieder der kleine Linus, der Junge, der nicht gut genug war für GENE-SYS, nicht gut genug, der Freund seiner Freunde zu sein.
Tapfer arbeitete er sich weiter voran. Sie hatten gerade mal die Hälfte des Weges hinter sich. Er spürte, wie sein Herz klopfte. Es klopfte nicht nur vor Anstrengung. Edda blickte ihn an. Spürte sie, was er dachte?
Nach der Sache auf den Gleisen hatte sich Linus in der Uni-Bibliothek Bücher besorgt und nach einer Erklärung gesucht, warum er in Momenten der Angst mit Edda ohne zu reden kommunizieren konnte, warum er Simons Angst und Schmerz gespürt hatte. Viel hatte er in den Büchern nicht gefunden. Aber es ging um Mitgefühl, um Empathie. Das war wohl die Basis, um dieses Phänomen zu erklären. In einem der Bücher wurde es als so etwas wie ein Urinstinkt beschrieben. Etwas, das in jedem Menschen verborgen als Fähigkeit, als Information schlummerte. Das Buch war von Carl Bernikoff, aber Linus hatte diese theoretische Abhandlung von 1943 nur überflogen. Es war ihm viel zu kompliziert geschrieben. Warum mussten Wissenschaftler immer so geschwollen reden? Als wollten sie alle, die etwas anderes dachten, abwehren. Als wollten sie mit Absicht verhindern, dass jeder Normalo sie verstand. Vielleicht wäre ja auch sonst aufgefallen, dass das alles gar nicht so große Gedanken waren, die da auf Hunderten, Tausenden Seiten in den Bibliotheken schlummerten. Aber Linus hatte zumindest begriffen, dass der Autor den Beweis führte, dass die christliche Religion den Menschen irgendwann all diese Fähigkeiten genommen und Gott überschrieben hatte. Zur Stärkung der Macht der Kirche.
„Vorsicht!“, rief Simon.
Der starke Lichtkegel seiner Taschenlampe hatte einen weiteren Zufluss entdeckt, aus dem eine riesige Welle Abwasser hervorschoss. Als hätte jemand nur darauf gewartet, die drei Freunde auf ihrem Weg zu behindern. Linus wich aus. Aber der Wirbel, der sich durch die stürzenden Wassermassen bildete, zog ihm die Beine weg, zog ihn tiefer. Seine Arme ruderten durch die Luft, er griff nach einem Halt, um nicht unterzugehen. Da war Simons Hand. Sie stützte Linus, half ihm sich wieder aufzurichten. Besorgt sahen sich die Jungs an.
„Shit! Wenn das Wasser weiter so steigt, ist uns der Rückweg versperrt.“
„Sollen wir umdrehen?“
„Wir haben etwas über die Hälfte hinter uns“, sagte Linus. „Ich hab nicht mit dem Wetter gerechnet. Ich hab ... Ich konnte nicht ahnen, dass es mitten im Winter ...“
Edda nickte entschlossen und übernahm die Führung. Linus und Simon blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. Simon schloss zu Edda auf und Linus schaute zurück. Er spürte, wie ihn für einen Augenblick der Mut verließ. Wenn das Wasser weiter so schnell steigen würde, wäre ihnen tatsächlich der Rückweg komplett abgeschnitten. Die so genial ausgetüftelte Flucht mit Marie wäre unmöglich. Er spürte einen Ruck an dem Seil, das an seinen Hosenträgern befestigt war.
„Komm schon!“, rief Simon. „Wir müssen uns beeilen.“
| 2105 |
Wassermassen in den Straßen. Der Verkehr in Berlin war zum Erliegen gekommen. Greta sah mit wachsender Sorge die Bilder eines Nachrichtensenders, die die Schmatzende als kleines Fenster auf den Monitor zugespielt hatte. Die Reporter vor Ort berichteten von Niederschlägen, die in wenigen Minuten die Mengen von Wochen erreicht hatten. Sturzbäche waren entstanden und suchten sich ihre Wege. Vor allem in die Kanalisation. Greta spürte, wie Nervosität in ihr aufstieg. Sie wusste, dass dieses Gefühl keine Hilfe war, um rational entscheiden zu können.
„Sie kommen langsamer voran“, sagte die Kaugummifrau so lakonisch wie immer. Sie hatte schon so viele Einsätze von hier aus geleitet, dass sie nichts mehr an sich heranließ. Greta überlegte, ob sie fragen sollte, ob sie eigene Kinder habe. Sie unterließ es. Die Kälte dieser Frau war für diese Aufgabe hier besser geeignet als die Obrigkeitshörigkeit der Stellvertreterin, die im Wechsel mit der Kaugummifrau ihren Dienst in der Zentrale tat. Und noch dazu rauchte wie ein Schlot.
Im Kopf spielte Greta alle möglichen Szenarien durch. Und immer wieder kam sie zu dem gleichen Schluss: Edda, Linus und Simon hatten keine Chance da unten, wenn sie nicht umgehend den Rückweg antraten.
„Dreht endlich um!“, entfuhr es ihr plötzlich. Nur kurz setzte das Schmatzen aus. Dann ging es im gleichen, steten Rhythmus weiter. Wenn Greta jetzt noch auf Clint hätte zurückgreifen können. Todsicher hätte er einen Ausweg gewusst.
„Wann können wir ihnen endlich das Signal einspielen?“ Greta wurde ungeduldig. Die Frau schaute auf einen Computer, der neben ihr stand. Darauf bauten sich drei Kurven auf. Eine digitale Zeitanzeige lief rückwärts. In Slashes eingefasst stand da nur ein Wort: „Rückzug“.
„Noch 24 Sekunden.“ Die Frau pegelte die an den Computer angeschlossene Apparatur auf die Sendefrequenzen der Signale ein, die von den Kindern ausgingen. An diese Signale würde die Apparatur in wenigen Sekunden Mikrowellen zurücksenden. Ein starker Impuls im Gigahertzbereich, der, wenn er auf den menschlichen Körper traf, eine Temperaturveränderung auslöste, begleitet von einer plötzlichen Ausdehnung des Gewebes. Diese Ausdehnung erfolgte so schnell, dass sie Schallwellen erzeugte. Die Kaugummifrau benutzte dazu einen Impulsstrom, der es möglich machte, ein inneres akustisches Feld. Das Wort „Rückzug“ würde für die Kinder hörbar sein.
„Hoffen wir, dass es einen der drei erreicht.“ Greta schloss die Augen. Wartete.
„18 Sekunden!“
Greta erwischte sich dabei, wie sie nichts anderes als das Wort „Rückzug“ dachte, als könnte sie das Signal verstärken, das der Computer gleich aussenden würde. Noch überraschender war für sie ein zweites Wort, das sich dabei in ihre Gedanken drängte: „Bitte“. Sie konnte es nicht fassen. An wen sollte dieses „Bitte“ gerichtet sein, wenn nicht an ein höherstehendes Wesen? Ein kleines Wort warf in diesem Moment all ihren Atheismus über den Haufen. Greta schämte sich dafür.
„Sieben Sekunden. Sechs. Fünf. Vier ...“
| 2106 |
„Rückzug“? Woher kam dieser Gedanke? Linus ärgerte sich, dass sein Hirn ihm offenbar nahelegte aufzugeben. Oder war es Edda? Linus drehte sich zu ihr um. Kurz trafen sich ihre Blicke. „Kannst du nicht mehr?“, dachte er.
„Wenn es einfach wär, wärs nix für uns“, sagte Edda, als hätte sie seine Gedanken gehört. „Weiter!“
Wie sie sich verändert hatte in so kurzer Zeit. Eine Kriegerin war sie geworden. Ganz nach seinem Geschmack. Stark, mutig. Wäre er nur nicht in sie verliebt. „Rückzug“ war da plötzlich wieder als Gedanke in seinem Kopf. Er schüttelte sich, als könnte er so die Warnungen loswerden, aber mit jedem Schritt spürte er die stärker werdende Strömung. Längst hatte das Wasser Brusthöhe erreicht und alle drei hatten das Gefühl, dass ihnen der Druck des Wassers und der modrige Gestank komplett die Luft zu nehmen drohten. Noch wollte es keiner zugeben, doch alle spürten, dass es langsam klüger war aufzugeben. Es konnte Marie nichts nutzen, wenn sie hier alle ersoffen. Sie konnten es noch einmal versuchen, wenn sich das Wetter beruhigt hatte. Aber da war sie plötzlich – die Biegung, die der Tunnel machte, kurz bevor er sich wieder
weitete und ein erhöhter Fußweg entlang des Kanals bis unter den Teufelsberg führte.
„Noch zweihundert Meter. Kommt schon!“, spornte Linus die beiden anderen an. Er setzte sich jetzt wieder an die Spitze des kleinen Trupps. Seine Taschenlampe leuchtete nach vorne und der Schein verlor sich im Schwarz. An der Wasseroberfläche aber erfasste das Licht den gelblichen Schaum, der sich bildete. Als würde dort gleich ein Ungeheuer auftauchen. Linus war schnell klar, dass das kein Ding aus irgendeinem Sumpf oder Kanal war. Das hier war der Punkt, wo die Abwässer aus Spandau in den Kanal mündeten. So aufgewühlt wie es da vorne aussah, würde das Wasser in wenigen Sekunden so weit steigen, dass sie schwimmen mussten, um nicht überspült zu werden.
„Die Westen!“, schrie Linus. „Schnell!“ Die drei griffen zu ihren Rucksäcken und zerrten Schwimmwesten hervor. Linus hatte sie auf den Ausflugsschiffen, die über die Spree schipperten, organisiert. Die drei stemmten sich gegen den immer stärkeren Druck des Wassers.
„Ich schaff es nicht! Scheiße!“, fluchte Edda. Sie hatte sich mit dem Rucksack und der Schwimmweste verheddert.
„Zur Wand!“ Simon hatte dort Eisenringe entdeckt, die ins Mauerwerk eingelassen waren. Mit letzter Kraft erreichten sie die Ringe und klammerten sich daran fest. Die beiden Jungs halfen Edda die Schwimmweste anzulegen. Zum Festzurren blieb keine Zeit. Wie ein Tsunami rollte eine Welle heran, die bis kurz unter die Decke des Tunnels reichte. Irgendwo hatte man offenbar eine Schleuse geöffnet, um der Wassermassen Herr zu werden. Die Finger der drei fassten die Eisen umso fester. Dann spürte Simon den Schmerz in seiner verletzten Hand. Wie er über den Arm hinauf in die Schulter kroch. In seinen Kopf. Er versuchte, das qualvolle Toben in seinem Hirn zu beherrschen. Dann aber ging es nicht mehr. Einer nach dem anderen lösten sich die vier Finger seiner Hand von dem kalten Eisen. Und dann, mit einem heftigen Ruck, wurde Simon von dem Wasser mitgerissen. Das Seil, das sie verband, straffte sich, zog, riss an Edda. Sich selbst und Simon dazu konnte sie nicht mehr halten. Auch Edda musste fassungslos zusehen, wie sich ihre Finger lösten. Im gleichen Moment wurde Linus fortgespült. Verbunden mit dem Seil trieben sie nun mit der Strömung die gesamte Strecke zurück, die sie gekommen waren. Edda, Linus und Simon wurden zum Spielball der Wellen. Es hatte keinen Sinn mehr, sich zu wehren. Sie mussten sich ergeben.
„Ich kann nicht mehr“, hörte Linus plötzlich Eddas Stimme. Ganz nah. Er wusste, dass sie nichts gesagt hatte. Simon hätte sonst reagiert. Linus versuchte nichts zu denken, nichts zu antworten. „Ich will nicht sterben“, hörte Linus.
„Wirst du nicht“, dachte Linus. „Wir werden nicht sterben.“
„Links halten!“, schrie Simon. Er hoffte, dass sie sich irgendwie an der Stelle, wo sie in den Kanal gestiegen waren, wieder herausziehen könnten. Dazu mussten sie aber bis dorthin gelangen, ohne unterzugehen. Die Schwimmwesten mit ihrem breiten Kragen hielten zwar das Wasser aus ihren Gesichtern, doch die Anglerhosen erwiesen sich jetzt als Falle. Sie waren längst vollgelaufen und zogen die drei unter Wasser. Simon begriff als Erster, wie fatal es war, dass es jetzt unter dem Gitter keinen Platz mehr gab. Die Fluten spülten hindurch, doch in wenigen Sekunden würden Edda, Linus und Simon auf das Gitter prallen und die Wassermassen würden sie dagegenpressen, sodass sie nicht mehr davon loskommen würden. Instinktiv drehte Simon sich. Es gelang ihm, mit dem Rucksack voraus auf das Gitter zuzutreiben. Jede Sekunde erwartete er den Schlag. Dann war er da. Kurz und schmerzvoll. Aber Simon ignorierte ihn. Er breitete die Arme aus und nahm Edda auf. Ihr Aufprall ließ Simons Kopf gegen das Gitter schlagen. Doch das Adrenalin, das durch seinen Körper pumpte, verhinderte, dass er ohnmächtig wurde.
„Festhalten!“, schrie er Edda an und sah sich um.
Wo war Linus?
„Linus!“ Keine Antwort.
Simon schrie aus Leibeskräften. Edda starrte in den schwarzen Tunnel. Längst hatte sie ihre Taschenlampe verloren.
„Linus?“
Simon griff zu dem Seil, das sie verbunden hatte und zog es zu sich heran. Es ging ganz leicht. Und dann hatte er die Anglerhose von Linus aus dem Wasser gefischt. Keine Spur von ihm. Edda und Simon schauten sich an.
„Nein!“, schrie Edda. „Nein!“
Sie konnte es nicht fassen. Wollte es nicht. Das durfte nicht sein. Sie wollte nicht denken, dass er tot sein könnte, und doch drängte sich der Gedanke immer heftiger in ihren Kopf. Edda spürte plötzlich wieder, wie nah sie Linus noch vor Kurzem gewesen war. Keine 48 Stunden war das her. Als sie glücklich waren, den perfekten Plan ausgetüftelt zu haben. Als sie beide in ihrem Übermut alle Angst vertreiben wollten und mit der Apparatur experimentiert hatten, die Linus ständig in dem Wagen mitkarrte. Mit einem Mal war eine Nähe zu Linus entstanden, deren Wucht sich Edda nicht erklären konnte. Wenige Sekunden war das, bevor die Gang sie überfallen hatte.
„Linus“, schrie Edda wieder und Simon erkannte den schrecklichen Schmerz in ihrer Stimme. „Linus! Wir werden nicht sterben, das hast du versprochen! Linus! Bitte, Linus!“
„Bin hier!“, hörten sie plötzlich. „Hier!“
Da erst trieb Linus heran und schlug gegen das Gitter, auch er mit dem Rucksack voran. Er hatte sich die Hose ausgezogen, um nicht weiter herabgezogen zu werden. Sie waren wieder zusammen. Edda lachte, weinte.
„Und jetzt?“
Die drei wurden an das Gitter gepresst, konnten sich kaum bewegen. Stille. Nur das Rauschen des Wassers. Linus wartete nicht mehr auf die Stimmen der Sirenen. Sein Verstand hatte wieder begonnen zu arbeiten und übernahm. Er dachte nach.
„Wir müssen drunter durch“, folgerte Linus schließlich.
„In diese Scheiße tauchen?“
„Sie steht uns eh bis zum Hals.“ Linus hatte recht.
Dann ließ er die beiden zuerst einmal ihre Anglerhosen ausziehen. Seit er die Sirenen in sich zum Schweigen gebracht hatte, hatte er wieder Energie. Er stemmte sich gegen das Gitter und gegen die Strömung, um sie von Edda abzuhalten. Zwischen seinen Armen schälte sie sich aus der Gummihose und für einen winzigen Moment überlegte Linus, wie Edda wohl nackt aussehen würde. Er hasste sich für diesen Gedanken, jetzt und hier. Was für ein Idiot er doch war! Dann verlangte die Gegenwart wieder seine ganze Aufmerksamkeit. Simons Arm hielt sich an ihm fest, um seine Hose loszuwerden. Plötzlich gab es einen Ruck. Die Wassermassen hatten die Stützen des Gitters weggespült und es glitt weiter herunter. Verzweifelt versuchte Linus das Absacken des Gitters zu verhindern. Er hatte keine Chance. In der gemauerten Führung rutschte das schwere Eisengeflecht Richtung Grund. Jetzt war es unmöglich, darunter hindurchzukommen. Sie wussten, was das zu bedeuten hatte. Das Wasser stieg von Minute zu Minute weiter an. Wenn draußen der Regen nicht abrupt endete, waren sie verloren. Sie würden erbärmlich ersaufen.