Stuart Horten
Acht Münzen und eine magische Werkstatt
Für meine Mädchen
Copyright © Lissa Evans, 2011
First published as Small Change for Stuart
by Random House Children’s Books
Die Autorin versichert, alleinige Schöpferin des Werkes zu sein.
Illustrationen: Temujin Doran
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© mixtvision Verlag, München 2012
www.mixtvision-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten.
Übersetzung: Elisa Martins
Grafik und Gestaltung: Anke Elbel
Ebook-Herstellung: readbox-publishing, Dortmund
www.readbox.net
ISBN 978-3-944572-34-5
Aus dem Englischen von Elisa Martins
Ich muss weg, und es kann sein, dass ich nicht mehr zurückkehre.
Wenn ich nicht wiederkomme, gehört meine Werkstatt und alles, was sich darin befindet, dir – wenn du sie finden kannst. Und wenn du sie findest, dann bist du auch der Richtige dafür.
Herzlich,
dein Onkel Kenny
PS: Beginne deine Suche in der Telefonzelle auf der Hauptstraße.
Stuart Horten war klein für sein Alter – der kleinste Junge seines Jahrgangs –, aber seine Eltern waren sehr groß, was bedeutete, dass er aussah wie eine Ameise, wenn er neben ihnen stand.
Zusätzlich zu ihrer Größe und der Tatsache, dass sie ziemlich alt waren (besonders sein Vater), waren seine Eltern auch außergewöhnlich schlau. Aber schlaue Leute sind nicht immer vernünftig. Ein vernünftiger Mensch würde seinem Kind niemals einen Namen geben, der S. Horten geschrieben werden konnte. Ein vernünftiger Mensch würde erkennen, dass jemand, der S. Horten hieß, sofort Shorty getauft würde, sogar von seinen Freunden. Und Stuart hatte eine Menge Freunde. Er hatte auch ein Rad mit acht Gängen, einen Garten mit einem Baumhaus und einen großen, matschigen Teich.
Das Leben war ziemlich gut.
Diese ganze Geschichte – diese unerwartete, komische, gefährliche Geschichte um Großonkel Kennys Vermächtnis – nahm ihren Anfang, als Stuarts Mutter ein neuer Job angeboten wurde. Sie war Ärztin (nicht die Art Ärztin, die blutende Wunden näht, sondern die Art, die den ganzen Tag in ein Mikroskop schaut), und der neue Job war in einem Krankenhaus über hundert Kilometer entfernt von zuhause. Das war zu weit, um dort jeden Tag hinzufahren.
»Ich schätze, ich könnte unter der Woche dort wohnen«, sagte sie, »aber das fände ich schrecklich. Ich würde euch beide zu sehr vermissen.«
Das war’s dann also, dachte Stuart.
Das Leben ging ein, zwei Tage lang weiter wie normal, dann machte Stuarts Vater, der Autor war (nicht von Filmen oder Bestsellern, sondern von schwierigen Kreuzworträtseln), einen schrecklichen Vorschlag. »Wir könnten dieses Haus für ein Jahr vermieten«, sagte er wie nebenbei zu Stuarts Mutter, als sei es keine große Sache, den Ort, an dem Stuart sein ganzes Leben lang gewohnt hatte, zu verlassen. »Wir könnten näher an dein neues Krankenhaus ziehen und sehen, ob es uns dort gefällt.«
»Mir würde es nicht gefallen«, sagte Stuart.
Sein Vater zog eine Landkarte von England hervor und fing an, mit seinem Finger Richtung Norden zu fahren. »Na sowas«, sagte er und hielt mit dem Finger an einem schwarzen Fleck an. Er schüttelte verwundert den Kopf. »Es war mir gar nicht klar, dass das Krankenhaus so nah an Beeton liegt. Das ist die Stadt, in der ich geboren wurde – ich war mehr als vierzig Jahre nicht mehr dort. Wir könnten dort wohnen. Es ist ganz nett da.«
»Oh, das wäre bestimmt interessant für Stuart«, sagte seine Mutter.
»Nein, wäre es nicht«, sagte Stuart.
Sie hörten nicht auf ihn. Am Ende des Schuljahres packten sie ihre Sachen und zogen nach Beeton, mit Stuart im Schlepptau. Seine Eltern waren schlaue Leute, aber schlau ist nicht das Gleiche wie vernünftig. Ein vernünftiger Mensch würde wissen, dass, wenn man schon umziehen muss, der Beginn der Sommerferien der denkbar schlechteste Zeitpunkt dafür ist. Denn wenn man angekommen ist, kennt man keine anderen Kinder und hat auch keine Chance welche kennen zu lernen, bis im Herbst die Schule wieder anfängt.
Und – um die Sache noch schlimmer zu machen – das neue Haus (in der Beech Road 20) war klein und langweilig und sah aus wie alle anderen Häuser in der Straße und in der nächsten Straße und in der übernächsten Straße. Es gab weit und breit keinen Abenteuerspielplatz und kein Freibad. Es gab keinen Vorgarten, und der Garten hinter dem Haus bestand aus einem quadratischen Fleckchen Gras, das von einem Zaun umgeben war. Er war ein wenig zu hoch für Stuart, so dass er nicht drübersehen konnte.
Am ersten Tag nach dem Umzug stopfte Stuart seine Kleidung und seine Spiele in Schränke und faltete dann die riesigen Kartons, in denen sie eingepackt gewesen waren, auseinander.
Am zweiten Tag war nichts mehr zu tun. Nichts, gar nichts, absolut nichts.
Als sein Vater sagte: »Ah, da bist du ja. Ich wollte gerade auf eine kleine Exkursion durch die Stadt gehen. Willst du mitkommen?«, antwortete Stuart deshalb: »Hm, na gut.«
Mit Exkursion meinte sein Vater einen kurzen Spaziergang. Er benutzte die ganze Zeit so seltsame Wörter und sprach immer mit einer lauten, klaren Stimme, so dass die Leute auf der Straße sich umdrehten und ihn anstarrten.
Normalerweise hätte Stuart lieber in kalter Bratensoße gebadet, anstatt mit seinem Vater spazieren zu gehen. Aber heute, an diesem langweiligsten aller Tage, begleitete er ihn zur Haustür hinaus und ging mit ihm links die Beech Road entlang, rechts in die Oak Avenue und links in den Chestnut Close.
»Als ich ein junger Bursche war«, erzählte ihm sein Vater , »gab es in diesem Teil Beetons überhaupt keine Häuser. Diese ganze Gegend war bewaldet.«
»Wirklich?«
»Ja, alles Wald. Und es gab einen Bach, der mitten durch den Wald floss.«
»Hast du Lagerfeuer gemacht?«
»Wie bitte?«, fragte sein Vater, der so viel größer als Stuart war, dass er sich manchmal hinunterbeugen musste, um ihn zu hören.
Stuart sprach lauter. »Hast du Lagerfeuer gemacht? Hast du Staudämme gebaut? Hast du eine Schaukel gebastelt?«
Sein Vater schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Auf solche Sachen hatte ich nie Lust. Ich war zu sehr damit beschäftigt, Kreuzworträtsel zu erfinden.«
Schweigend gingen sie die Hawthorn Avenue entlang.
»Aha!«, sagte sein Vater, als sie an einer uralten roten Telefonzelle vorbeikamen und in eine Einkaufsstraße abbogen. »Jetzt sind wir im älteren Teil der Stadt. Ich glaube mich zu erinnern, dass der Eingang unseres Familienbetriebs irgendwo hier war.« Er blieb an einer schmalen Querstraße stehen, aber es war nichts zu sehen außer zwei fest verschlossenen und gut gesicherten Metalltoren. »Es gibt ihn natürlich schon lange nicht mehr«, sagte sein Vater. »Obwohl, der Name ist noch erkennbar.«
Er zeigte auf einen gusseisernen Bogen, der sich über den Metalltoren befand. Ein paar verstreute Buchstaben waren gerade noch zu entziffern.
H RT S M RAK LÖ E M CH ISM N
»Hortens mirakulöse Mechanismen«, sagte Stuart nach längerem Nachdenken. Er drehte sich zu seinem Vater um. »Welche Art von Mechanismen?«
»Schlösser und Safes, ursprünglich, später erweiterte sich das Geschäft auf Münzautomaten. Obwohl ich glaube, dass zu dem Zeitpunkt, als die Fabrik von einem Feuer heimgesucht wurde, Waffen hergestellt wurden.«
»Bitte was ist wann von was heimgesucht worden?«
»Von einer Brandbombe getroffen und niedergebrannt. 1940, während des Zweiten Weltkriegs, fiel eine Bombe auf die Fabrik, als mein Vater nachts weg war. Meinem Onkel Kenny war die Verantwortung übertragen worden, aber das Feuer griff um sich und das Gebäude wurde zerstört.«
»Vor siebzig Jahren«, sagte Stuart. »Fast genau …« Neben dem Stahltor war eine Gegensprechanlage und ein beschrifteter Türöffner. Stuart musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um zu lesen: Tricks und Kniffe. Liefereingang.
»Und was passierte nach dem Brand?«, fragte er.
Sein Vater, dessen Gesichtsausdruck fast immer fröhlich war, blickte plötzlich ernst und ging weiter. Es dauerte eine Weile, bis er wieder sprach. »Es war alles ziemlich traurig«, sagte er. »Ich denke, es war der Anfang vom Ende unserer Familie. Mein Vater hat erfolglos versucht, das Geschäft wieder aufzubauen und ein paar Jahre später zog er aus Beeton weg. Er gab die Schuld am Feuer meinem Onkel Kenny, weißt du, denn Kenny war nie besonders interessiert an der Fabrik gewesen. Er war ein Ent–«, Stuarts Vater brach ab. »Großer Gott!«, rief er und schaute nach vorne. Stuart folgte seinem Blick und sah ein großes, marodes Haus. Der Garten war zugewuchert, die Fenster mit Brettern vernagelt und das Dach war ein Flickwerk aus kaputten und fehlenden Schindeln.
»Das ist Onkel Kennys Haus!«, sagte sein Vater. »Anscheinend wurden die Streitigkeiten bei der Testamentseröffnung nie zum gegenseitigen Einverständnis der involvierten Parteien beigelegt.«
Stuart ignorierte den letzten Satz einfach. »Was ist ein Ent?«, fragte er. »Du hast gesagt, er war ein Ent.«
»Ein Entertainer«, antwortete sein Vater. »Ein Taschenspieler.«
»Ein was?«
»Ein Magier. Er hat Zaubertricks aufgeführt.«
»Ein Magier?«, wiederholte Stuart. »Du hattest einen Onkel, der Magier war? Aber davon hast du mir nie erzählt!«
»Oh, nicht?«, fragte sein Vater vage. »Nun, ich weiß nur sehr wenig von ihm. Und ich nehme an, es kam mir nie in den Sinn, dass es dich interessieren könnte.«
Stuart verdrehte verzweifelt die Augen und ging auf das Tor zu. Es war mit Efeu bewachsen und die ineinander verschlungenen Stiele hielten es fest verschlossen. »Nummer sechs«, sagte er und fuhr mit den Fingern über die Ziffer aus Messing, die halb von den Blättern verdeckt war. »Und welche Art von Tricks hat er gemacht?«
»Ich bin mir nicht sicher.«
»Und wie war er so?«
»Ich kann mich leider überhaupt nicht an ihn erinnern. Ich war noch sehr jung, als er verschwand.«
»Er ist verschwunden? Was meinst du damit, er ist verschwunden?«
»Ich meine damit, er ist weggegangen und nie wieder nach Beeton zurückgekommen.«
»Oh.« Stuart war enttäuscht. Ein paar Sekunden lang hatte er sich eine Rauchwolke, eine leere Bühne und ein staunendes Publikum vorgestellt. »Aber warum ist das Haus dann so heruntergekommen?«, fragte er.
»Weil es Streitigkeiten bei der Testamentseröffnung gab.«
»Das hast du schon gesagt, aber was ist eine Testamentseröffnung?«
»Die rechtliche Durchsetzung des letzten Willens. Onkel Kenny hat das Haus seiner Verlobten hinterlassen, aber anscheinend hatten sie einen Streit. Sie ist nach dem Brand weggelaufen und niemand konnte sie je wieder aufspüren. Meine Güte, es sieht hier wirklich schlimm aus.«
Stuart starrte auf die Haustür. Mehrere Holzstücke waren quer darübergenagelt worden, aber dazwischen konnte er ein Oval aus Buntglas entdecken. Die bunten Splitter ergaben irgendein Bild. War das ein Hut? Und ein Stock? Und ein Wort, das er nicht richtig lesen konnte?
»Aber ich war im Bett …«, ertönte die Stimme seines Vaters aus einiger Entfernung.
Stuart blickte sich um. Sein Vater ging die Straße hinauf und hatte nicht einmal bemerkt, dass Stuart sich nicht weiterbewegt hatte. «Also hat er mir ein Geschenk dagelassen«, erklärte Stuarts Vater dem leeren Stück Gehweg neben sich.
»Wer?«, rief Stuart und rannte, um ihn einzuholen.
»Dein Großonkel Kenny. Er war einmal Heiligabend bei uns zu Besuch, als ich noch ein kleines Kind war, aber ich habe schon geschlafen.«
»Und was war das Geschenk?«
»Eine Schatulle.«
»Was für eine Schatulle? Eine, mit der man zaubern kann?«
»Nein, eine Geldschatulle. Ich habe sie übrigens noch – die, in der ich Büroklammern aufbewahre.«
Stuart hatte die Schatulle jeden Tag seines Lebens gesehen, aber er hatte sie nie besonders beachtet. Im alten Haus war ihr Platz auf dem Schreibtisch seines Vaters gewesen und im neuen stand sie auf dem Fensterbrett im Büro.
Sobald er vom Spaziergang zurück war, rannte Stuart nach oben, um sie zu holen. Sie war zylindrisch und aus Blech, bemalt mit einem Muster aus ineinandergreifenden roten und blauen Ringen. Ein Großteil der Farbe war schon abgenutzt, so dass sichelförmige Stellen aus hellem Metall zum Vorschein kamen.
Er öffnete den Deckel, der an Scharnieren befestigt war, schüttelte die Büroklammern heraus und schaute in die leere Büchse. Er wusste nicht, was er erwartet hatte, aber dort war nichts, nur das schwarze, glänzende Innere. Er klappte den Deckel wieder zu und starrte ihn für ein paar Augenblicke an. »Dad!«, rief er.
Keine Antwort. Stuart nahm die Dose mit hinunter und fand seinen Vater in der Küche, wo er mit hängenden Mundwinkeln aus dem Fenster blickte. Diesen Ausdruck hatte er immer, wenn er sich neue Kreuzworträtsel ausdachte.
»Dad, warum hast du gesagt, das sei eine Geldschatulle?«
»Wie bitte?«
»Der Deckel hat keinen Schlitz. Geldbüchsen haben einen Schlitz im Deckel, für die Münzen. Also warum hast du gesagt, das sei eine Geldschatulle?«
»Oh …« Sein Vater schaute auf die Büchse herab, als hätte er sie noch nie zuvor gesehen. »Ich glaube, das stand drauf. An der Seite vielleicht?«
Stuart sah sich das verblichene Muster angestrengt an und bemerkte etwas, das ein kleines bisschen wie ein geschwungener Buchstabe aussah. Er drehte die Dose auf den Kopf und erkannte ein G. Aber außer dem G gab es keine weiteren Buchstaben. Er begann, die Dose in seinen Händen zu drehen.
»Wenn ich mich recht erinnere ...«, fing sein Vater an.
»Es ist nicht nur verkehrt herum«, sagte Stuart, »es ist auch spiegelverkehrt geschrieben.«
Das E und das L aus dem Wort Geld waren komplett verblasst, aber das D war gerade noch sichtbar.
»Wenn ich mich recht erinnere«, wiederholte Mr Horten, »gab es im Herstellungsprozess irgendeinen Fehler. Das Wort Geld wurde auf dem Kopf stehend und spiegelverkehrt aufgedruckt.«
»Das hab ich doch gerade gesagt«, rief Stuart. »Aber ich wette, es war gar kein Fehler.« Er setzte den Deckel wieder auf und wog die Dose in seiner Hand. Der Boden fühlte sich schwerer an als die Oberseite. »Es ist eine magische Schatulle«, verkündete er nun mit plötzlicher Gewissheit. »Großonkel Kenny war Magier und er hat dir ein Rätsel aufgegeben.«
Sein Vater blickte wieder aus dem Fenster.
»Aber leider kein Kreuzworträtsel«, fügte Stuart leise hinzu. Er stellte die Dose auf den Kopf und versuchte, den Boden abzuschrauben. Aber er bewegte sich nicht.
»Entschuldige?«, fragte sein Vater. »Hast du gerade etwas gesagt? Ich war mit meinen Gedanken woanders …«
Stuart hörte auf zu schrauben. Anders. Das traf vielleicht auch auf die Schatulle zu. Er drehte den Boden einfach anders herum – und die Büchse öffnete sich in einer glatten Bewegung. Stuart war so verblüfft, dass er beide Teile fallen ließ, und plötzlich rollten überall Münzen über den Boden. Es waren Goldmünzen (wenn auch aus mattem Gold). Sie rollten durch den ganzen Raum. Stuart hatte Mühe, alle wieder einzusammeln.
»Großer Gott!«, rief sein Vater und lenkte seine Aufmerksamkeit weg vom Fenster. »Wo kommen die denn her?«
»Da war ein kleines Fach im Boden«, erklärte Stuart. »Sie waren so hineingepresst, dass sie nicht mal geklimpert haben.« Die Münzen waren klein und an den Rändern gezackt. Das Bild eines bärtigen Mannes war auf der einen Seite abgebildet und so etwas wie ein Gitter auf der anderen. »Sind sie viel wert?«
»Lass mich mal sehen …« Sein Vater zählte die Münzen in einem kleinen Türmchen auf den Tisch. »Acht Threepenny-Stücke«, sagte er. »Ein Threepenny ist etwas mehr wert als ein Penny unserer neueren Währung, also ist der Wert …«
»Weniger als zehn Pence«, sagte Stuart empört.
»Nun eigentlich«, sagte sein Vater, »sind sie kein legales Zahlungsmittel mehr, das heißt du kannst sie auch nicht in Geschäften ausgeben.«
»Also sind sie gar nichts wert?« Stuart schnipste gegen den kleinen Turm, der in sich zusammenfiel. Die oberste Münze rollte vom Tisch, auf den Boden und geradewegs durch die Küchentür. Er folgte ihr, nur um zu sehen, wie weit sie kam. Nicht weit, wie sich herausstellte – bis zum Rand des Rasens. Er ging in die Knie, um sie aufzuheben.
»Wie heißt du?«, fragte eine Stimme hinter ihm. Stuart drehte sich um und sah ein Mädchen, das ihn vom Nachbargarten aus ansah. Sie trug glitzernde Haarspangen und hatte einen schlauen Gesichtsausdruck; ihr Kinn lag auf dem Zaun.
»Wie heißt du?«, wiederholte sie.
»Stuart«, sagte er.
»Und wie alt bist du?«
»Zehn.«
»Ich auch«, sagte sie, »aber ich bin viel größer als du. Viel. Wie ist dein Nachname?«
Er hasste es, Leuten seinen Nachnamen zu nennen, wegen dieser Shorty-Sache. Er zuckte mit den Schultern. »Warum willst du das wissen?«
»Weil ich es eben wissen will. Ich schreibe einen Artikel über dich und da brauche ich vollständige Details. Das ist alles, was ich bisher habe.« Sie hielt ein geöffnetes Notizbuch über den Zaun, so dass er lesen konnte, was sie geschrieben hatte.
Neue Nachbarn am Dienstag eingezogen. Mann sieht aus wie Giraffe, trägt Brille und summt die ganze Zeit. Frau hat schreckliche Haare, fährt Fahrrad und geht sehr früh zur Arbeit. Ein Goldfisch in kleinem Glas, sieht tot aus. Ein Sohn, wahrscheinlich ca. 8 Jahre alt.
»Mein Goldfisch ist gar nicht tot«, sagte Stuart empört.
»Ich habe nur geschrieben, dass er tot aussieht«, antwortete das Mädchen und unterstrich sieht tot aus mit ihrem Finger. »Ich habe nur meinen Eindruck geschildert. Aber ich brauche die wahren Fakten für die morgige Ausgabe.«
»Die morgige Ausgabe von was?«
»Unserer Zeitung. Ich und meine Schwestern machen das als Ferienprojekt. April ist die Polizeireporterin, May ist die Fotografin und ich bin Lokalreporterin. Ich brauche lediglich deinen Nachnamen, den Namen deines Goldfischs, den Namen deiner neuen Schule, den Namen deiner alten Schule, dein Geburtsdatum, dein Lieblingshobby, dein Lieblingsessen, dein Lieblingstier, deinen Lieblingssport, deine Schuhgröße, dein exaktes Gewicht und deine Körpergröße …«
Stuart entfernte sich langsam Schritt für Schritt vom Zaun.
» … dein bestes Weihnachtsgeschenk aller Zeiten, dein blödestes Weihnachtsgeschenk aller Zeiten, die Fernsehsendung, die du am wenigsten magst, deine Lieblingsfernsehsendung, deine unglücklichste Erinnerung, dein … Komm zurück!«
Stuart, der inzwischen fast schon an der Hintertür war, schüttelte den Kopf und hechtete hinein.
»Ah, da bist du ja«, sagte sein Vater, als er hereinkam. Er hielt ein Scrabble -Spielbrett in der Hand. »Ich dachte gerade, ob wir nicht einen kleinen Wettbewerb im –«
»Darf ich eine Fahrradtour machen?«, fragte Stuart schnell. »Ich passe auch gut auf. Ich fahre nicht zu weit weg. Ich rede nicht mit Fremden. Ich trage meinen Helm. Ich bin in einer halben Stunde zurück.«
»Ja, gut«, sagte sein Vater und sah ein wenig enttäuscht aus. »Wo willst du denn hin?«
»Ach, weiß noch nicht.«
Was eine Lüge war. Denn Stuart fuhr geradewegs zurück zu Großonkel Kennys Haus.
Stuart schloss sein Fahrrad an einen Laternenmast gegenüber dem Haus und sah die Straße rauf und runter. Alle anderen Häuser in der Straße waren klein und modern und gut gepflegt, mit ordentlichen Vorgärten und glänzenden Fenstern.
Er überquerte die Straße, sah ein weiteres Mal nach rechts und links, um sich zu vergewissern, dass ihn auch niemand beobachtete, und kletterte dann über den Zaun.
Das Gras im Vorgarten reichte ihm bis zur Hüfte. Er watete hindurch, wobei er über Dachziegel und alte Flaschen stolperte. Als er die Haustür erreichte, untersuchte er die vier Holzbretter, die quer über den Rahmen genagelt worden waren. Er zog an einem, aber es bewegte sich nicht. Er versuchte durch den Briefschlitz zu schauen, aber er war fest verschlossen und Stuart war zu klein, um durch das Oval aus Buntglas oben in der Tür zu sehen. Aber er konnte nun das Bild klar erkennen, das aus den bunten Splittern gebildet wurde: ein Zylinder, ein Zauberstab und die Initialen K-K KH.
K-K KH.
Kenny Horten. Irgendwas-irgendwas Kenny Horten. Krankhaft kurzsichtig?
Stuart begann um das Haus herumzugehen und hielt nur an, um vergeblich an den Brettern zu rütteln, die eines der seitlichen Fenster abdeckten. Der Garten hinter dem Haus war sogar noch verwilderter als der Vorgarten. Es gab ganze Felder riesiger Brennnesseln und lange Reihen von Brombeergestrüpp voller unreifer Beeren. Mitten in diesem Dschungel lagen Schrottteile verstreut herum.
Die Hintertür war riesig und robust und fest verschlossen. Stuart rüttelte eine Weile am Griff und kniete sich schließlich hin, um durch das Schlüsselloch zu schauen. Aber es gab nichts zu sehen außer Dunkelheit. Enttäuscht richtete er sich wieder auf. Es gab offensichtlich keine Möglichkeit, in Großonkel Kennys Haus zu kommen. Die Aufregung der letzten paar Minuten schien langsam abzuflauen und ließ ihn noch leerer und trauriger zurück als vorher. Ohne sich die Mühe zu machen, sein Glück an den anderen Fenstern zu versuchen, ging er weiter um das Haus herum und trat lustlos gegen den Müll im Gras.
Als er wieder im Vorgarten angekommen war, verfing sich sein Zeh in einer leeren Plastikflasche, und er kickte sie in die Luft und über die Gartenmauer. Sie hüpfte über die Straße und blieb neben dem Vorderrad eines Fahrrads liegen. Eines rosa Fahrrads. Eines rosa Fahrrads, das direkt neben seinem geparkt war. Daneben stand das Nachbarsmädchen. Glitzerhaarspangen. Schlauer Gesichtsausdruck. Sie hielt eine Kamera mit einem sehr langen Objektiv in der Hand.
Während Stuart sie anglotzte, hob sie die Kamera und machte ein Foto von ihm. »Was tust du da?«, wollte er wissen. Sie sagte nichts, sondern schoss ein weiteres Foto. »Lass das!«, rief er.
Die Kamera blitzte noch einmal. »Hast du unseren Lesern etwas zu sagen?«, rief das Mädchen und machte schon wieder ein Bild. »Irgendeinen Kommentar dazu, warum du Privatgrund betreten hast?«
Sie war offensichtlich verrückt. Die Kamera blitzte noch einmal.
Stuart drehte sich um und sprintete zurück hinter das Haus. Gab es einen anderen Weg nach draußen? Der Holzzaun, der den Garten umgab, war zu hoch und hatte keine Vorsprünge, auf die er klettern konnte, aber ganz hinten, in eine Ecke gezwängt, war ein alter Herd mit einer von Rost übersäten weißen Oberfläche aus Emaille. Wenn er daraufkletterte, könnte er wahrscheinlich hinüber in den nächsten Garten springen. Natürlich musste er erst einmal dort hinkommen, ohne vorher zu Tode gestochen oder von Dornen zerkratzt zu werden.
Er schaute über das Meer aus Unkraut. Man konnte hier und da kleine Inseln darin erkennen – ausrangierte Möbelstücke, eine alte Truhe, einen Stapel Kisten – die könnte er als Trittsteine benutzen. Er hob seine Arme über den Kopf, um sich vor den Brenn-Nesseln zu schützen und machte einen ersten zögerlichen Schritt in Richtung eines modrigen Ohrensessels, dessen Polster schon ganz pelzig von Schimmel war. Von dort aus sprang er auf eine durchweichte Pyramide aus Pappkisten und balancierte kurz auf etwas, das wie ein alter Gaszähler aussah, bevor er einen riesigen Schritt auf den Deckel der Truhe machte. Der Herd war jetzt nur noch ein paar Meter entfernt. Aber vor ihm gab es keine Trittflächen mehr, nur einen Streifen besonders giftig aussehender Nesseln. Er sah sich schnell um. Von dem Mädchen war keine Spur zu sehen. Was er brauchte, war eine Brücke. Er ging wieder ein paar Schritte auf dem gleichen Weg zurück und hatte gerade begonnen, ein paar der durchweichten Pappkartons aufzusammeln, als er ein klingelndes Geräusch hörte.
»Verfolge Subjekt in den Garten des unbefugt betretenen Eigentums«, kam die Stimme des Mädchens um die Ecke.
Stuart sprang vom Gaszähler auf die Truhe und fing an, die Kartons vor sich auf den Boden zu werfen. Er trat auf einen, bevor er den nächsten vor sich platzierte. Er brauchte vier Kartons, um den Herd zu erreichen. Von dort war es leicht, daraufzuklettern und dann hinüber in den Nachbargarten zu springen. Er hatte keine Zeit nachzusehen, wohin er sprang.
Eigentlich hatte er Glück. Er hätte in einem Teich landen oder durch das Dach eines Gewächshauses krachen können. Stattdessen stand er bis zu den Knöcheln in einem Komposthaufen. Er kletterte hinaus und schüttelte Teebeutel und schleimige Orangenschalen von seinen Schuhen.
Ein erschrockenes Gesicht schaute ihn durch ein Fenster hindurch an. Stuart winkte fröhlich und sprintete zum nächsten Garten, dann den Weg seitlich am Haus entlang, bis er wieder auf dem Gehweg der Straße stand.
Sein Plan war aufgegangen! Alles was er jetzt noch tun musste, war, um den Block zu gehen und Wache zu halten, bis dieses schreckliche Mädchen mit ihrem Fahrrad wieder abgezischt war. Er ging die Straße entlang, bog nach rechts in eine Ladenstraße ab – und blieb unvermittelt stehen.
Das Mädchen stand direkt vor ihm. Ihr Gesicht hellte sich auf. »Subjekt ist gerade auf der Hauptstraße aufgetaucht«, sagte sie in ihr Walkie-Talkie.
Stuart machte auf dem Absatz kehrt und rannte los, aber es waren zu viele Menschen auf dem Gehweg unterwegs, um schnell entkommen zu können. Stattdessen hechtete er in ein Postamt und versteckte sich hinter der Tür. Das Mädchen folgte ihm. Sobald sie ihm den Rücken zudrehte, eilte er wieder auf die Straße hinaus. Und sah im selben Augenblick das gleiche Mädchen – Glitzerhaarspangen, schlauer Gesichtsausdruck – über den Gehweg auf sich zukommen, ein Walkie-Talkie in der Hand. Für einen Augenblick dachte Stuart, er sei verrückt geworden, komplett verrückt, doch dann schossen ihm die Worte eineiige Zwillinge durch den Kopf und er erkannte, dass das zweite Mädchen (im Gegensatz zum ersten) einen großen lila Notizblock in der Hand hielt.
Sie hatte ihn noch nicht gesehen.
Er dachte schnell nach. Direkt vor dem Postamt stand eine altmodische rote Telefonzelle, also öffnete er die Tür und trat hinein.
Es roch ekelhaft. Der Boden war übersät mit zerdrückten Zigarettenstummeln und scheußlichen Flecken, und die kleinen viereckigen Glasscheiben waren mit Dreck verkrustet. Die Tür schloss sich sanft hinter ihm und er bückte sich, um durch eine der wenigen klaren Stellen im Glas zu sehen. Das erste Mädchen hatte sich zu dem zweiten gesellt. Sie standen beisammen und überprüften den Gehweg, auf der Suche nach ihm.
Auf einmal kam er sich vor wie ein Idiot. Zwei Mädchen, dachte er. Ich stehe hier in einer stinkenden Telefonzelle und verstecke mich vor zwei Mädchen. Ich sollte einfach hinausgehen und ihnen sagen, dass sie ... Und dann lehnte er sich plötzlich ungläubig nach vorn und presste seine Nase gegen die Scheibe. Zu den zwei Mädchen war ein drittes gekommen, und sie sahen alle drei exakt gleich aus.
Eineiige Drillinge. Er wurde von eineiigen Drillingen gejagt. Stuart beschloss, besser noch ein wenig auszuharren.
Plötzlich hörte er ein lautes Klopfen. Stuart erschrak, richtete sich auf und drehte sich um. Eine Frau klopfte mit dem Griff ihres Regenschirms gegen die Tür.
»Telefonierst du?«, rief sie.
»Ja«, log er.
»Hier gibt es nämlich schon eine Warteschlange, weißt du!«
Stuart suchte in seinen Taschen nach etwas Geld. Er könnte ja seinen Vater anrufen, dachte er. Schließlich war er schon etwas länger unterwegs als eine halbe Stunde. Seine Finger fanden eine einzelne Münze und er zog sie heraus. Es war eines dieser wertlosen Threepenny-Stücke. Er drehte es ein paarmal in der Hand.
»Beeil dich!«, rief die Frau. »Entweder du rufst jetzt jemanden an, oder du lässt jemand anderen rein.«
Ende heraus. Irgendein Benutzer vor ihm musste es herausgerissen haben.