Für meine Mutter, die schnell wie der Wind las und Bücher liebte und immer die Erste war, die meine gelesen hat.
Copyright © Lissa Evans, 2012
First published as Big Change for Stuart
by Random House Children’s Publishers UK,
a division of The Random House Group Limited
Die Autorin versichert, alleinige Schöpferin des Werkes zu sein.
Illustrationen: Temujin Doran
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© mixtvision Verlag, München 2013
www.mixtvision-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten.
Übersetzung: Elisa Martins
Grafik und Gestaltung: Anke Elbel
Ebook-Herstellung: readbox-publishing, Dortmund
www.readbox.net
ISBN 978-3-944572-36-9
Aus dem Englischen von Elisa Martins
Du hast meine Werkstatt gefunden, aber willst du sie auch behalten? Dieser Stern wurde aus den wenigen Überresten hergestellt, die nach dem Brand vom Wunschbrunnen übrig geblieben waren.
Wenn man einmal mit der Magie angefangen hat, dann ist es schwer, wieder damit aufzuhören. Wenn du wirklich der Besitzer dieser Illusionen werden willst, dann benutze den Stern, um die Buchstaben zu finden.
Stuart Horten saß am Küchentisch und schaute auf die Titelseite der lausigen kleinen Zeitung, die er gerade bekommen hatte. Mit einem mulmigen Gefühl begann er zu lesen.
BEECH ROAD GUARDIAN
Exklusiv!!!
Ein Anwohner der Beech Road, Stuart Horten (10, sieht aber jünger aus), findet die verlorengeglaubte versteckte Zauberwerkstatt seines Großonkels unter dem Konzertpavillon im Stadtpark von Beeton!!!
Erst am Anfang der Sommerferien war Horten (10, sieht aber jünger aus), nach Beeton gezogen, behauptet aber schon jetzt, eine einzigartige Entdeckung gemacht zu haben. Sein Großonkel Kenny Horten (auch bekannt als Klitze-Kleiner Kenny Horten, denn er war echt winzig), war ein berühmter Bühnenmagier, der 1944 verschwand. Niemand wusste vom Verbleib seiner Werkstatt.
Wie sich herausstellte, befand sie sich in einem großen unterirdischen Raum unter dem Konzertpavillon im Stadtpark von Beeton. Bekannt wurde dies während eines Talentwettbewerbs, der letzte Woche im Rahmen des Sommerfestivals in der Stadt abgehalten wurde, als plötzlich der Boden während des Auftritts einer Gruppe von Ballettschülerinnen nachgab. Stuart gibt zu, dass es seine Schuld war, dass der Boden eingestürzt ist. Grund dafür sei gewesen, dass er »aus Versehen« an einem unterirdischen Rad gedreht habe.
Stuart behauptet, er habe dadurch, dass er »Hinweisen nachging«, »herausgefunden«, wo sich die Werkstatt befand. Allerdings weigert er sich, dem Beech Road Guardian zu berichten, was das für Hinweise waren. Außerdem behauptet er, Besitzansprüche an dem Inhalt der Werkstatt zu haben, der aus verschiedenen Werkzeugen und Werkbänken besteht, sowie einigen Zaubertricks, die sein Großonkel bei seinen Bühnenauftritten benutzt hatte. »Sie gehören definitiv mir«, behauptet Stuart. »Mein Großonkel hat sie mir hinterlassen.«
Auf die Nachfrage, ob er irgendeinen Beweis dafür habe, dachte er ein wenig nach und gab dann zu, dass das nicht der Fall sei.
Das Stadtmuseum von Beeton hat eingewilligt, den Inhalt der Werkstatt vorübergehend aufzunehmen. Der Kurator, Rod Felton, sagte: »Dies ist eine aufregende Entdeckung für unsere Stadt. Allerdings nicht so aufregend wie der Fund irgendeiner römischen Waffe, zum Beispiel einer Balliste, gewesen wäre.«
Stuart (10, sieht aber jünger aus) behauptet, dass ...
»Warum schreiben deine Schwestern das immer?«, fragte Stuart genervt.
»Schreiben immer was?«, fragte seine Freundin und Nachbarin April Kingley, die ihm die Zeitung gebracht hatte. »Du meinst: 10, sieht aber jünger aus?«
»Nein, behauptet. Stuart behauptet dies, Stuart behauptet das. Als ob ich das alles erfinden würde.«
April zuckte mit den Schultern. »Reporter brauchen eben Beweise.«
Stuart verdrehte die Augen. Die Kingley-Drillinge nannten sich immer Reporter, als würden sie für eine wichtige überregionale Zeitung schreiben anstatt für dieses fadenscheinige vierseitige Käseblatt, das sie sich als Projekt für die Ferien ausgedacht hatten, in ihrem Zimmer ausdruckten und den Nachbarn aufdrängten.
»Ich konnte ihnen ja wohl schlecht die Wahrheit sagen, oder?«, fragte er. »Ich konnte ihnen nicht sagen, dass ich ein paar magische Threepenny-Münzen gefunden habe, die mein Großonkel versteckt hatte, zusammen mit einem Zettel auf dem stand, dass ich versuchen solle, seine verschwundene Werkstatt zu finden. Ich konnte ihnen kaum erzählen, dass ich überall in Beeton die Münzen in alte Automaten gesteckt habe – was mich schließlich zu dem Raum unter dem Konzertpavillon geführt hat. Ich konnte ihnen doch nicht erzählen, dass eine der Bühnenillusionen, die ich dann dort gefunden habe, ein Wunschbrunnen war, der tatsächlich Wünsche erfüllte, wenn man eine Münze hineinwarf. Sie hätten doch gedacht, ich spinne.«
Er konnte sich nicht überwinden, den Rest des Artikels zu lesen. Stattdessen drehte er die Zeitung um und betrachtete die Rückseite.
BÜRGERMEISTERIN VERSCHWUNDEN
Jeannie Carr, die Bürgermeisterin von Beeton (und Besitzerin von »Tricks und Kniffe – Fabrik für Zaubertricks« und der »Schule für Bühnenmagie«) wurde das letzte Mal gesehen, als sie den Raum unter dem Konzertpavillon untersuchte. Ihr Assistent, Clifford Capstone (42), behauptet, sie habe sich so über den Schaden am Boden des Konzertpavillons aufgeregt, dass sie sich entschlossen hat, mit sofortiger Wirkung als Bürgermeisterin zurückzutreten und in den Urlaub zu fahren – allerdings konnte er nicht sagen wohin oder für wie lange.
»Länger als ihr glaubt«, sagte Stuart leise. Das war eine weitere Sache, die er den anderen beiden Kingley-Schwestern nicht erzählen konnte: Der Urlaub, in dem sich die Bügermeisterin Jeannie Carr befand, würde wohl für immer sein, denn der Wunschbrunnen hatte sie zusammen mit Stuart in die 1880er Jahre geschickt und nur Stuart war wieder zurückgekommen.
»Ich frage mich, was Clifford jetzt wohl macht?«, überlegte April beiläufig. »Ich weiß ja, dass er unbedingt Magier werden wollte, aber ich glaube nicht, dass Jeannie ihm je etwas Nützliches beigebracht hat.«
»Sie hat ihm nur eine Menge Geld abgenommen«, stimmte Stuart zu. »Und hat ihn ständig in Grundlagen der Magie Teil zwei durchfallen lassen.«
Davon abgesehen gab es keine weiteren Nachrichten in der Zeitung, lediglich eine Liste mit Flohmärkten und die Termine für die Müllabfuhr. Ganz unten auf der Rückseite war ein Foto mit der Unterschrift: Unser allzeit bereites Team, April, May und June Kingley. Die drei cleveren Gesichter waren identisch, bis auf die Tatsache, dass April eine Brille trug.
»Wird das Foto ausgetauscht«, fragte er April, »wo du jetzt nicht mehr für sie arbeitest?«
Sie schüttelte den Kopf. »Vielleicht bleibe ich doch. Ich habe June gesagt, dass ich nicht mehr als Polizeireporterin arbeiten möchte, aber dann hat sie mir erzählt, dass sie auf der Suche nach einer Kulturkorrespondentin sind.«
»Einer was?«
»Jemandem, der über die Theateraufführungen in der Stadt schreibt und über Ausstellungen und so. Und ich dachte mir, das könnte ganz interessant sein, also habe ich mich für die Stelle beworben. Heute Nachmittag habe ich ein Vorstellungsgespräch.«
Stuart sah sie mit offenem Mund an. »Ein Vorstellungsgespräch?«
»Ja. Wir arbeiten schließlich professionell. Es ist um drei und ich bekomme das Ergebnis um vier Uhr mitgeteilt.«
Stuart hatte Mühe, sich das Lachen zu verkneifen. In der Zeit, in der er April jetzt kannte, hatte sie sich als schlau, einfallsreich, mutig und loyal herausgestellt, als die absolut beste Freundin, die man sich vorstellen konnte, wenn man Ärger hatte oder in Gefahr war. Aber sie war auch (das musste man zugeben) eine kleine Besserwisserin und einer der rechthaberischsten Menschen, die er je kennen gelernt hatte. Und ihre Schwestern waren sogar noch schlimmer.
»Was grinst du denn so?«, fragte April.
»Nur so.«
Sie sah ihn misstrauisch an, doch dann öffnete sich die Tür und Stuarts sehr großgewachsener Vater kam in die Küche.
»Salve, o fili«, verkündete er in dem Augenblick, in dem das Telefon im Flur anfing zu klingeln. Er drehte sich wieder um und ging ran.
»Was hat dein Vater gerade gesagt?«, flüsterte April.
»Salve, o fili. Das ist Latein für Hallo, Sohn. Du weißt ja, wie er ist.«
April nickte. Stuarts Vater war Kreuzworträtselerfinder von Beruf und er benutzte nie ein gewöhnliches, modernes Wort, wenn es auch eine mittelalterliche Alternative mit vierzehn Buchstaben gab.
Nach ein paar Sekunden tauchte er wieder auf. »Ein Mister Felton hegt den Wunsch, mit dir zu kommunizieren«, sagte er.
Stuart nahm das Telefon und sagte zögernd »Hallo«. »Rod Felton, Chefkurator des Stadtmuseums in Beeton. Du bist der Junge, der behauptet, die magischen Maschinen gefunden zu haben, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Stuart. »Sie gehörten meinem Großonkel.«
»Nun, wir hatten da eine Idee, die dich interessieren könnte. Es ist eigentlich ein Jobangebot. Du hast doch noch Sommerferien, oder?«
»Ja, noch zwei Wochen.«
»Großartig. Wenn du heute Nachmittag ins Museum kommst, dann erkläre ich dir alles …«
»Hallo, Jungchen«, sagte die Dame am Empfang des Museums und lächelte zu ihm hinunter. »Bist du wegen der Vorlesestunde zum heutigen Kindererlebnistag hier?«
»Nein«, sagte Stuart.
»Da bekommst du aber einen lustigen Hut«, fügte sie ermutigend hinzu.
»Nein«, stieß Stuart hervor und knirschte mit den Zähnen. Er wurde ständig jünger geschätzt als er tatsächlich war; das war eines der schlimmsten Dinge daran, dass er kleiner als alle anderen in seinem Alter war.
Er ging den Korridor zu Rod Feltons Büro entlang und blieb zögernd vor dessen Tür stehen.
»Was ist mit dir?«, fragte sein Vater, der ebenfalls mitgekommen war – hauptsächlich aus dem Grund, weil das Museum einen Buchladen hatte.
»Denkst du, Mister Felton weiß, dass ich es war, der diese ganzen Sachen kaputtgemacht hat?«
Stuart sprach von dem schrecklichen Zwischenfall, der sich vor zwei Wochen ereignet hatte. Er hatte damals aus Versehen in einem Raum voller landwirtschaftlicher Geräte aus der viktorianischen Zeit das lebensgroße Modell einer Milchmagd umgestoßen. Diese hatte ihrerseits ein Wagenrad zum Rollen gebracht, das einen künstlichen Hufschmied zu Fall gebracht hatte, der dann wiederum ein riesiges Pferd umgeworfen hatte. Das Pferd hatte ein Ohr und ein Bein verloren. Stuarts Vater hatte damals einen großzügigen Scheck ausgestellt, um für den Schaden aufzukommen.
»Das ist ein Sachverhalt, den wir wohl in Kürze verifizieren werden«, sagte sein Vater vorsichtig. Er beugte sich über Stuarts Kopf und klopfte an die Tür.
»Herein!«, rief eine überschwängliche Stimme. Rod Felton hatte unglaublich viele große Zähne im Mund und er zeigte sie alle in einem breiten Lächeln, als Stuart den Raum betrat. »Aha«, sagte er. »Der junge Pferdezertrümmerer und sein Vater.«
»Hallo«, sagte Stuart mit einem schwachen Lächeln.
»Setzt euch, setzt euch.« Während Stuart und sein Vater sich auf zwei sehr niedrige Stühle hockten, saß Rod Felton auf der Kante seines Schreibtisches und sah auf sie hinunter.
»Ich wollte mich noch einmal entschuldigen«, murmelte Stuart. »Wegen des Pferds, meine ich. Ehrlich, ich wollte nicht ...«
Rod Felton hob eine Hand, um ihn zu stoppen. »Wir sind bereit, das alles zu vergessen«, sagte er, »denn wir hier im Museum hatten eine, wie ich denke, fantastische Idee. Unsere Ausstellung Beeton im Krieg ist gerade zu Ende gegangen und wir haben zwei Wochen Leerlauf, bevor Das römische Beeton beginnt, was offensichtlich ein riesiger Publikumsmagnet und Kassenschlager werden wird. Es wird sogar ein Triclinium in halber Lebensgröße geben und ein funktionierendes Balneum.«
»Könnte das etwa ein Triclinium stratum sein?«, fragte Stuarts Vater.
Rod Felton nickte so schnell, dass sein Kopf ganz verschwommen war. »In der Tat. Die Triclinia lecti wurden an das Accubatio angepasst und aufregenderweise haben wir sogar die Replik einer Cathedra, die auf einer Illustration basiert, die in der …«
Stuart saß da wie versteinert, während die Unterhaltung, die größtenteils in Latein war, über seinen Kopf hin- und herfegte. Nach ein, zwei Minuten hob er seine Hand, als sei er in der Schule. Nach weiteren ein, zwei Minuten nahm Rod Felton ihn dann auch wahr.
»Ja?«, fragte er.
»Sie hatten von der großartigen Idee gesprochen. Die mit der Werkstatt meines Großonkels zu tun hat …«
»Ach ja, stimmt. Nun, du weißt ja, dass das Museum angeboten hat, die Bühnentricks aufzubewahren, bis sich ein endgültiges Zuhause für sie gefunden hat.«
Stuart nickte.
»Wir haben uns überlegt, dass wir in den zwei Wochen, in denen Das römische Beeton aufgebaut wird und die meisten der Galerien geschlossen sind, einen Nebenraum des Museums nutzen könnten, um die Bühnenillusionen deines Großonkels auszustellen. Wir würden es Klitze-Kleiner Kennys kurioses Kabinett nennen. Und – das ist der großartige Teil – wir hatten die Idee, dich zum Kurator der Ausstellung zu machen.
»Mich?«, fragte Stuart ungläubig.
»Ja. Um den anderen Jugendlichen zu zeigen, dass das Museum wirklich für jeden etwas ist, sogar für Leute, die in der Vergangenheit durch schlechtes Verhalten aufgefallen sind. Du weißt schon: Einst war ich ein Vandale, nun bin ich eine Hilfe!«
»Ich war kein Vandale«, protestierte Stuart. »Es war ein Unfall.«
»Und es wäre fantastische Publicity«, fuhr Rod Felton fort und ignorierte die Unterbrechung, »da du ja schließlich mit Kenny Horten verwandt bist. Ich denke, wir könnten sogar das Lokalfernsehen dazu bringen, darüber zu berichten. Also, bist du interessiert?«
»Was müsste ich denn da tun?«
»Besucher begrüßen, den Leuten von deinem Großonkel erzählen, Fragen zu den Ausstellungsstücken und ihrer Geschichte beantworten. Gibt es da nicht eine Anekdote von einem schrecklichen Brand?«
»Ja, Großonkel Kennys erste Werkstatt befand sich in der Horten-Fabrik, aber im Krieg wurde sie von einer Brandbombe getroffen. Jede einzelne Bühnenillusion, die sich darin befunden hatte, wurde zerstört und seine Verlobte Lily, die auch seine Assistentin war, verschwand gleichzeitig. Doch dann hat Großonkel Kenny seine Bühnentricks in der geheimen Werkstatt unter dem Konzertpavillon wieder aufgebaut. Und vier Jahre später verschwand auch er.«
»Fantastisch«, sagte der Kurator begeistert. »Ich sehe schon, du wirst das sehr gut hinbekommen. Und du erhältst sogar eine offizielle Kennzeichnung.« Er nahm einen kleinen Gegenstand von seinem Schreibtisch und hielt ihn Stuart hin. Es war eine Plakette, auf der ein Kleinkind abgebildet war, das eine Robe und einen Doktorhut trug und darunter stand:
»Was meinst du?«, fragte Rod Felton.
Stuart zögerte. Die Plakette war schlimm, der Titel dumm, und er war ziemlich sicher, dass die Besucher ihn entweder ignorieren oder auslachen würden. Auf der anderen Seite ...
»Darf ich denn die Ausstellungsstücke anfassen?«, fragte er zögernd.
Rod Felton sah ihn überrascht an. »Natürlich«, sagte er. »Als Kurator der Ausstellung musst du schließlich mit den Gegenständen gut vertraut sein, für die du zuständig bist. Willst du mitkommen und sie dir mal ansehen?«
»Ja, bitte.«
Stuart ging hinter Rod Felton aus dem Raum und bemerkte erst dann, dass sein Vater immer noch auf seinem Stuhl saß und mit leerem Blick vor sich hin starrte – sein üblicher Gesichtsausdruck, wenn er mit einem Kreuzworträtsel-Hinweis beschäftigt war.
Stuart tippte ihm auf den Rücken. »Dad?«
Sein Vater griff in seine Hosentasche und zog ein winziges Notizbüchlein und einen Stift heraus.
»Kriegen den Stoß ab, der als Kumpels Anstoß gedacht«, sagte er verträumt.
»Was?«
»Die Antwort ist RIPPEN-stoß.«
»Aha!?«
»Als du mir gerade auf den Rücken getippt hast, fiel mir eine zufriedenstellende Lösung ein. Und ich hatte noch einen anderen aufregenden Gedanken ...«
»Dad, ich gehe mir nur kurz Großonkel Kennys Sachen anschauen.«
Mister Horten nickte zerstreut. Stuart hatte schon vor langer Zeit erkannt, dass aufregend für seinen Vater etwas ganz anderes bedeutete als für die meisten Menschen. Auf einer Skala von eins bis zehn würde das wahrscheinlich irgendwie so aussehen:
0 | Besuch eines Jahrmarkts |
1 | Fallschirmspringen im freien Fall |
2 | die Entdeckung einer Werkstatt voll mit magischen Bühnenillusionen und Zaubertricks, die von einem vor langer Zeit verlorenen Angehörigen entwickelt wurden, der fast siebzig Jahre zuvor auf mysteriöse Weise verschwunden ist |
5 | ein Gespräch auf Latein führen |
8 | zu Weihnachten ein neues Wörterbuch bekommen |
6 Trillionen | ein neues Kreuzworträtsel erfinden |
»Also, bis später«, sagte Stuart und folgte dem Kurator. Beeton im Krieg wurde gerade abgebaut. Teile eines Luftschutzbunkers waren auf dem Boden der Galerie ausgebreitet und an der Wand lehnte eine in Bandagen gewickelte Puppe, die ganz schön unheimlich aussah.
»Hier durch«, sagte Rod Felton und öffnete eine Tür, die bislang hinter einem Poster zu den Schutzmaßnahmen bei Luftangriffen versteckt gewesen war.
Die Tür führte in einen quadratischen Raum mit hoher Decke, der nur ein einziges Fenster hatte, das sich hoch oben an einer der Wände befand. Der Kurator klickte ein paar Mal mit dem Lichtschalter und schnalzte dann ungeduldig mit der Zunge. »Anscheinend ist die Glühbirne kaputt«, sagte er. »Ich gehe den Hausmeister holen. Du kannst dich gerne in der Zwischenzeit umsehen. Ich bin sicher, dass ich mich darauf verlassen kann, dass du nicht mit Absicht etwas kaputt machst.«
»Es war ein Unfall«, sagte Stuart noch einmal, aber der Kurator war schon verschwunden. Stuart war allein im Raum, zusammen mit dem Vermächtnis seines Großonkels.
Stuart blickte auf die Ansammlung von Gegenständen, die mit Decken verhängt waren, um sie gegen Staub zu schützen. Als er die Werkstatt seines Großonkels Kenny in dem weitläufigen und düsteren Raum unter dem Konzertpavillon im Park entdeckt hatte, war keine Zeit gewesen, sie richtig zu erkunden. Die städtische Feuerwehr hatte erklärt, dass der Ort nicht sicher sei, und Stuart und seine Begleiter waren weggescheucht worden, bevor er mehr als einen kurzen Blick auf die meisten der darin enthaltenen Gegenstände werfen konnte. Nun ging er auf das nächstgelegene Objekt zu und zog an einer Ecke der Decke.
Als sie zu Boden glitt, kam ein hoher ovaler Schrank zum Vorschein, dessen Oberfläche glatt und rubinrot war. Aus der Mitte der Tür ragten die glitzernden Griffe von vier Schwertern hervor. Stuart griff nach dem untersten und versuchte, es aus seinem Schlitz zu ziehen. Es steckte fest. Er ließ wieder los und trat einen Schritt zurück. Der Schrank hatte weder Schloss noch Griff und Stuart konnte nicht erkennen, wie er zu öffnen war. Er klopfte sacht daran und hörte den dumpfen Hall seiner Knöchel. »Viel Spaß mit der Werkstatt«, flüsterte er, »sie birgt viele Geheimnisse.« Großonkel Kenny selbst hatte diese Worte auf der Bühne eines viktorianischen Theaters an Stuart gerichtet. Das war vor gerade einmal fünf Tagen (und ungefähr hundertdreißig Jahren) gewesen ... Stuart hörte ein Geräusch hinter sich und als er sich umdrehte, sah er Rod Felton, der mit einer Trittleiter und einer Glühbirne in den Händen den Raum betrat. Ihm dicht auf den Fersen war April.
»Ich habe den Job bekommen!«, verkündete sie fröhlich.
»Welchen Job?«, fragte Stuart.
»Als Kritikerin für den Beech Road Guardian. Und rate mal, was das Erste ist, über das ich eine Kritik schreiben soll?«
»Was?«
»Diese Ausstellung! Mister Felton hat mir gerade die Erlaubnis gegeben, dass ich sie mir ansehen darf – nicht, dass es schon viel zu sehen gäbe. Sollen wir nicht die restlichen Schutzdecken abnehmen?«
Bevor Stuart protestieren konnte, war April schon an ihm vorbeigeschossen und zerrte die Decken von den anderen Illusionen. Er fühlte sich, als sei er Heiligabend ins Wohnzimmer gekommen und müsste zusehen, wie jemand anderes seine Geschenke öffnete. Rod Felton drehte die neue Glühbirne ein und schaltete das Licht an, und der Raum, der vor einer Sekunde noch geheimnisvoll und aufregend gewirkt hatte, sah nun aus wie ein hell erleuchtetes Schaufenster.
»Sieben«, sagte April. »Sieben Zaubertricks.«
Rod Felton kletterte die Leiter hinunter und stellte sich hin, die Hände in die Hüften gestemmt. »Was wir nun wirklich brauchen ist ein Name und eine kurze Beschreibung für jede der Illusionen – wie sie funktionieren und so weiter. Denkst du, du könntest damit schon einmal für uns anfangen, Stuart?«
»Ich werde es versuchen«, sagte dieser.
»Gut. Dann lasse ich dich mal in Ruhe. Übrigens, äh«, sagte Rod Felton verlegen, »dein Vater sitzt immer noch in meinem Büro. Es scheint so, als rede er mit sich selbst. Ich weiß nicht, wie ich ihn da rausbekommen soll.«
»Sagen Sie ihm, dass der Buchladen gleich zumacht«, schlug Stuart vor.
Der Kurator nickte und verließ schnellen Schrittes den Raum. Die schwere Tür fiel mit einem lauten Knall ins Schloss.
Dann war es einen Moment lang still.
»Weißt du, ob diese ganzen Tricks überhaupt Namen haben ?«, fragte April.
»Manche schon«, erwiderte Stuart. »Als die Bürgermeisterin noch klein war, hat sie einmal eine Bühnenshow von Großonkel Kenny gesehen. Sie hat mir davon erzählt.« Das war beim ersten Mal gewesen, als er die Bürgermeisterin, Jeannie Carr, getroffen hatte, und damals hatte er zwei Dinge über sie erfahren: erstens, dass sie Zaubertricks liebte und zweitens, dass sie Geld liebte und zwar in einem beängstigenden Ausmaß.
Er begann, im Raum herumzugehen. »Das Kabinett des Pharaos«, sagte er und berührte sanft eine goldene Pyramide, die größer war als er selbst.
»Der Rosen-Thron.« Ein Thron aus Bronze, der mit Silberdraht umwickelt und mit rosa und dunkelrot lackierten Blumen dekoriert war.
»Das Buch der Gefahren.« Ein riesiges Buch, dessen pechschwarzes Cover mit einem großen Schlüssel verschlossen war.
»Der Wunsch...«
»...brunnen«, fiel April ihm ins Wort. Sie standen beide einen Moment lang vor dem Objekt, wegen dem sie auf eine solch verrückte und magische Jagd quer durch Beeton gegangen waren.
»Es ist seltsam«, sagte April zögernd.
»Was ist seltsam?«
»Der Wunschbrunnen sieht irgendwie nicht mehr so aus wie neulich, als er noch im Raum unter dem Konzertpavillon stand. Ich meine, er hat dieselbe Form und alles, aber …«
Stuart runzelte sie Stirn. »Ich finde nicht, dass er anders aussieht.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich komme nicht darauf, was genau sich verändert hat, aber irgendetwas ist anders. Egal, wie heißt das hier?«, fragte sie und zeigte auf einen eleganten Bogen, der aus Spiegelglas bestand.
Stuart hatte keine Ahnung, aber April Dinge zu erklären, von denen sie noch nichts wusste, war ein neues und befriedigendes Gefühl, also dachte er kurz nach, um sich etwas auszudenken.
»Der Spiegelbogen«, sagte er nicht gerade einfallsreich. »Und das daneben«, er zögerte einen Moment, um den riesigen Fächer zu betrachten, der mit türkisfarbenen Schmucksteinen besetzt war, »das ist der Fächer der Fantastikheit. Und das da«, sagte er und ging zu seinem Ausgangspunkt zurück, »ist die Kammer des Bluts«.
»Igitt«, sagte April.
Wie Stuart zuvor versuchte auch sie, an einem der Schwerter zu ziehen, aber im Gegensatz zu ihm kam sie an das oberste heran. »Wie öffnet man die?«, fragte sie.
»Das weiß ich noch nicht.«
»Siehst du, der Boden des Schranks steht auf einer Art Scheibe. Ich frage mich …« Sie gab dem Schwertgriff einen seitlichen Schubs, woraufhin der ganze Schrank sich drehte, bis nur noch ein unscharfes Durcheinander von Rot und Gold zu sehen war. Als die Spiegelung durch den Raum huschte, bemerkte Stuart etwas sehr Sonderbares. Während die anderen Illusionen in dem flackernden Licht blitzten und strahlten, schien der Wunschbrunnen seinen Glanz verloren zu haben. Kein Licht brach sich an seiner Oberfläche. Er war stumpf, als hätte man ihn aus Gummi gemeißelt.
»Du hast Recht mit dem Brunnen«, sagte er zu April.
Sie nickte langsam und starrte in die gleiche Richtung wie er. »Sehr eigenartig«, stimmte sie zu. »Aber egal, willst du mit den Beschreibungen anfangen? Ich kann alles aufschreiben – ich schreibe sehr schnell.« Sie zog ihr lila Reporter-Notizbuch aus der Tasche und stand erwartungsvoll bereit.
Stuart fühlte sich unter Druck. »Ich fange wohl am besten mit dem Buch an«, sagte er. »Da weiß ich wenigstens, wie es funktioniert.« Er war hineingeklettert, als er sich in dem Raum unter dem Konzertpavillon vor der Bürgermeisterin versteckt hatte.
Er ging zu dem riesigen, aufrecht stehenden Buch hinüber. Die Worte Öffnen auf eigene Gefahr standen in silbernen und roten Buchstaben auf der Vorderseite. Er drehte am Schlüssel und hob den schweren Buchdeckel an, hinter dem ein leerer Innenraum zum Vorschein kam.
April war ihm gefolgt, das Notizbuch immer noch in der Hand. »Okay«, sagte sie. »Schieß los.«
Stuart räusperte sich. »Wenn man den vorderen Deckel dieser Illusion öffnet, sieht sie nur wie ein großer, leerer Schrank aus Metall aus. Aber wenn man hinein geht und den vorderen Deckel wieder schließt, dann öffnet sich die Rückseite, so dass man hinten rausklettern kann, ohne von jemandem gesehen zu werden. Und dann, wenn jemand den vorderen Deckel wieder öffnet, schließt sich die Rückseite automatisch, so dass es für die Zuschauer wie ein leerer Schrank aussieht.
Und auf der Rückseite gibt es eine Art Sicherheitsverschluss, den Kenny Horten erfunden hat.«
Er wartete, bis April mit dem Kritzeln aufhörte. »Ist das in Ordnung?«, fragte er.
»Ich werde das noch ein wenig ausschmücken«, sagte sie. »Das ist ein Begriff, den wir Journalisten benutzen, wenn wir eine Geschichte verschönern.« Sie machte sich ein paar schnelle Notizen und strich eine ganze Menge des Geschriebenen wieder durch, wie es schien.
»Okay.« Sie las aus ihrem Notizbuch vor. »Ein Verschwindeschrank, bei dem sich der vordere Deckel und die Rückseite nicht gleichzeitig öffnen lassen, außer man wendet das so genannte Horten-Hintertürchen an.« Sie sah mit einem selbstsicheren Lächeln hoch. »Weiter!«
»Jetzt warte mal«, sagte Stuart, der sich ein wenig gehetzt fühlte. »Es gibt doch keinen Grund zur Eile, oder? Das ist das erste Mal, dass ich die Gelegenheit habe, mir alles genauer anzusehen.«
Es war seltsam, wenn er sich überlegte, dass fast siebzig Jahre lang niemand (außer ihm selbst) diese Tricks benutzt hatte. Wahrscheinlich waren Großonkel Kennys Fingerabdrücke noch darauf. Er wollte den Buchdeckel gerade wieder schließen, als einige Zeichen auf dem Boden des Schranks seine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Er ging in die Hocke und runzelte die Stirn. In das Metall waren in winzig kleiner Schrift folgende Worte eingraviert:
AUF EIGENE GEFAHR
»Das ist ja komisch«, sagte Stuart. »Da steht Öffnen auf eigene Gefahr auf dem Buchdeckel, aber hier unten steht nur Auf eigene Gefahr.«
April kam herbei und spähte über seine Schulter auf die winzige Schrift. »Wirklich sehr komisch«, stimmte sie zu. »Und warum stehen die Worte in einem Kasten?«
Sie hatte Recht. Ein Rechteck, ungefähr so groß wie ein Kartenspiel, war um die Schrift herum eingraviert.
Eine Weile starrten die beiden stumm darauf.
»Weißt du was?«, fragte April. »Es sieht aus wie eine kleine Version des Buchdeckels. Abgesehen von dem fehlenden Wort.«
Stuart nickte. »Abgesehen von Öffnen«, sagte er leise. Einen Moment lang war es still, dann sprachen beide gleichzeitig.
»Ich weiß ...«
»Was, wenn ...«
»... die Antwort!«
»... das eine weitere Tür ist?«
Sie sahen sich grinsend an.
»Die Schrift auf dem Buchdeckel ist eine Anleitung«, sagte Stuart. »Öffnen auf eigene Gefahr!«
»Aber für die Minitür gibt es keinen kleinen Schlüssel«, gab April zu bedenken. »Und keinen Griff.«
Sie gingen neben der Inschrift in die Hocke. April versuchte, die winzige Tür mit ihren Fingernägeln aufzustemmen, aber diese gab nicht nach. »Was machen wir jetzt damit?«, fragte sie.
Stuart dachte über die Rätsel nach, die Großonkel Kenny in der Vergangenheit gestellt hatte. Er dachte an das allererste: eine Schachtel mit einem doppelten Boden, den man gegen den Uhrzeigersinn aufdrehen musste, anstatt wie gewöhnlich im Uhrzeigersinn. »Was, wenn die Lösung das Gegenteil von dem ist, was wir erwarten?«, fragte er. »Der vordere Deckel öffnet sich, wenn man daran zieht. Vielleicht ist es mit diesem hier ...«
Noch bevor Stuart zu Ende gesprochen hatte, legte April ihre Finger auf die rechte Seite der kleinen Tür und drückte kurz aber kräftig dagegen. Ein kratzendes Geräusch erklang, dann sprang sie auf und gab eine flache Mulde darunter frei.
»Was ist das denn?«, fragte sie.
Stuart griff hinein und nahm einen kleinen Gegenstand heraus, der in verknittertes braunes Papier gewickelt war. Es war ein Stern mit sechs Zacken aus dunklem, schwerem Metall. Seine Oberfläche war leicht geriffelt, als ob er geschmolzen und dann wieder fest geworden wäre. Er erinnerte in der Form an ein kleines Wagenrad, aber ohne den äußeren Rand. Stuart drehte ihn in seiner Handfläche um. »Ich habe keine Ahnung«, sagte er. »Eine Art Weihnachtsschmuck? Teil von einem Spielzeug?«
»Warte mal«, sagte April. »Ist da drin noch etwas anderes?« Sie fuhr mit den Fingern die Mulde ab und schüttelte dann den Kopf. »Nein, da ist nichts. Da ist nur eine kleine Mulde im Boden.«
Stuart warf einen Blick auf das zerknitterte Papier, in das der Stern gewickelt gewesen war, und mit einem Aufschrei begann er, es zu glätten. »Es ist eine Nachricht!«, rief er und blickte prüfend auf die verblichenen Großbuchstaben.
April sprang auf, damit sie über seine Schulter hinweg mitlesen konnte.
Du hast meine Werkstatt gefunden, aber willst du sie auch behalten? Dieser Stern wurde aus den wenigen Überresten hergestellt, die nach dem Brand vom Wunschbrunnen übrig geblieben waren.
Wenn man einmal mit der Magie angefangen hat, dann ist es schwer, wieder damit aufzuhören.
Wenn du wirklich der Besitzer dieser Illusionen werden willst, dann benutze den Stern, um die Buchstaben zu finden, und wenn du alle sechs gefunden hast, werden sie
Stuart drehte den Zettel um und April stöhnte auf. Ein großer, runder Fleck prangte auf dem Papier, als hätte jemand Bleiche darüber geschüttet. Er hatte den gesamten mittleren Teil der Nachricht ausradiert:
dich zu meinem T führen. Du kannst
entscheiden ob du halten willst
oder sie lieber An ben willst,
denn die Magie ärker als ich
beabsichti
Ganz herzli kel Kenny
PS: Als ich alten Gefährten von mir
verloren namens Ch Wenn du ihn
findest pass bitte au
Einem Impuls folgend legte Stuart den Metallstern auf das Papier. Er hatte genau die Größe des fehlenden Textes.
»Seltsam«, sagte April nachdenklich. »Aber man kann trotzdem einen Teil der Nachricht erraten. Im oberen Teil geht es um die Entscheidung, ob du dir wirklich wünschst, die Tricks zu behalten oder ob du sie an jemand anderen abgeben willst. Aber warum solltest du sie weggeben wollen?«
»Keine Ahnung«, antwortete Stuart verwirrt. »Und was soll das heißen: Werden sie dich zu meinem T führen? Welches Wort fehlt denn da?«
»Thron?«, schlug April vor. »Tausch? Tier? Traktor?«
»Und der Teil mit dem alten Gefährten? Was meint er denn damit?«
Sie sahen sich an. »Wenn man einmal mit der Magie angefangen hat, dann ist es schwer, wieder damit aufzuhören«, zitierte April ehrfürchtig. »Das ist noch ein Rätsel, nicht wahr? Ein weiteres Abenteuer?«
Stuart schloss seine Hand um den Stern und fühlte, wie die sechs Zacken sich in seine Haut bohrten. Plötzlich fing sein Herz an zu pochen; er war gleichzeitig aufgeregt und ein wenig ängstlich und er sah an Aprils Gesichtsausdruck, dass es ihr genauso ging. Die Suche nach Großonkel Kennys Werkstatt war eine wilde und aufregende Verfolgungsjagd gewesen, gewürzt mit Gefahr und Magie, und nun lockte eine weitere Suche. Aber wonach? Was war dieses Mal der Preis?
Er fühlte, wie seine Hand zu kribbeln begann und er fühlte, dass das Objekt, das er in der Hand hielt, so voller Magie steckte, dass es im Laufe der fünfzig Jahre, während derer es eingewickelt war, das Papier ausgeblichen hatte. Er konnte seine magische Kraft spüren.
»Ich denke, wir sollten ...« begann er, hielt aber dann inne, als sich hinter ihnen die Tür öffnete.
»Ah, ich habe meinen Sprössling lokalisiert«, sagte Stuarts Vater mit zufriedenem Gesicht. »Ich wurde soeben von Mister Felton vor der imminenten Einstellung der Besuchszeit gewarnt.«
Stuart stöhnte auf. »Sie schließen gleich«, übersetzte er für April.
»Er hat mich informiert, dass du deine Aktivitäten in den frühen Morgenstunden wieder aufnehmen mögest. Die Türflügel werden präzise um neun Uhr aufgeschwungen.«
»Gut, dann machen wir eben morgen weiter«, flüsterte Stuart. »Treffen wir uns hier um Punkt neun?«
»Viertel nach neun. Ich muss erst noch die Wochenmitte-Ausgabe des Beech Road Guardian austragen. Du fasst ja nichts an, bevor ich hier bin, versprochen?«
Stuart zögerte. Er wollte am liebsten noch in dieser Sekunde anfangen, nach Hinweisen zu suchen, und der Gedanke, auch nur eine viertel Stunde zu verschwenden, schien ihm fast unmöglich.
»Bitte«, sagte April.
Stuart nickte widerstrebend. »Okay.«
An diesem Abend kam Stuarts Mutter noch später heim als üblich. Sie war forschende Ärztin in einem Krankenhaus in der Nähe von Beeton und verbrachte die meisten Tage damit, durch ein Mikroskop zu schauen. Die meisten Abende verbrachte sie allerdings damit, sich Sorgen um Stuart zu machen (jedenfalls hatte er das Gefühl, dass das so war). Im Gegensatz zu seinem Vater sprach sie normal und hauptsächlich in Fragesätzen.
»Hast du das Gefühl, dass du dich langsam in Beeton einlebst?«, fragte sie, als sie am Fußende seines Betts saß.