Für Wenzel. Garantiert mandalafrei.

DIE UNGLAUBLICHE GESCHICHTE VON WENZEL,

DEM RÄUBER KAWINSKI, STRUPP UND DEM SUSELDRUSEL

NIKOLA HUPPERTZ

ILLUSTRATIONEN VON REGINA KEHN

ERÖFFNUNG UND STARTSCHUSS

Achtung! In diesem Buch geht es manchmal ziemlich verrückt zu. Das liegt nun mal in der Natur der Dinge, wenn ein Schriftsteller und ein Kind unter einer Decke stecken.

Es bedeutet aber um Himmels willen nicht, dass die beiden verrückt sind, auch wenn das vielleicht gewisse Leute behaupten. Nein, sie sind höchstens ein klitzekleines bisschen – eigentümlich. Und wer kann von sich sagen, das wäre er nicht?

Das unverrückte Kind, von dem hier die Rede ist, ist ein Junge im besten Jungsalter und heißt Wenzel Könemann. Er wohnt mit seiner Mama Sabine Könemann und seinem Papa Lars Könemann in einer großen Stadt in Norddeutschland und macht dort von morgens bis abends seinen nur-ein-klitzekleines-bisschen-eigentümlichen Jungskram.

Für gewöhnlich.

Der unverrückte Schriftsteller ist ein Mann im besten Mannesalter und heißt Nikolai Ruthard. Er wohnt ganz allein (oder sagen wir mal, fast allein) in einem winzigen Dorf in Mitteldeutschland und macht dort von morgens bis abends seinen nur-ein-klitzekleines-bisschen-eigentümlichen Schriftstellerkram.

Auch: für gewöhnlich.

Aber weil Nikolai Ruthard Wenzels höchsteigener Onkel ist und Onkels gelegentlich zum Einsatz kommen, wenn sie dringend gebraucht werden, kam es zu jener speziellen Eigentümlichkeits-Vermischung, die zu all den wunderlichen Dingen führte, von denen jetzt erzählt werden soll: zur Jagd auf Kawinski, den elenden Finsterschurken, zu dem ganzen Schlamassel mit der halsstarrigen P. Melinda zwo und natürlich zur vollkommen

den

steh-

hen-

kopf-

Begegnung mit –

Nein, halt!

Eins nach dem anderen und vor dem Ende der Anfang.

Es begann damit, dass Wenzels Mama unbedingt ein siebenteiliges Schirm-Set gewinnen wollte, von Rot bis Violett, in allen Farben des Regenbogens …

ERSTE ETAPPE

»Du liebes Lottchen!«, schrillte es aus dem Flur, und aufgeregte Klackerschritte hasteten von der Wohnungstür in Richtung Bad. »Lars! Laaaaars!«

Wenzel spitzte die Ohren. Er war gerade zum siebten Mal an diesem Morgen auf seinen Schreibtisch geklettert, vom Schreibtisch aufs Spielzeugregal und vom Spielzeugregal auf den Kleiderschrank, um von dort einen kinomäßigen Stunt-Sprung auf sein Bett zu vollführen. Aber nun ließ er die ausgestreckten Arme sinken. So hektisch kam seine Mama normalerweise nicht vom Müll-runter-Post-hoch-Bringen zurück, so ein Gezwitscher musste etwas zu bedeuten haben.

»Is was passiert?«, rief er hoffnungsvoll.

Es war ein Samstag im Oktober, von dem leider nicht viel zu erwarten war. Und das lag nicht daran, dass es wieder mal schüttete, als wäre im Himmel ein Rohrbruch passiert. Im Gegenteil. Als Wenzel beim Aufwachen das heftige Geprassel an seinen Fensterscheiben gehört hatte, war ein ganz abenteuerliches Kribbeln in seine Beine geschossen. Sofort war er losgestürmt, um seinen eben aus dem Schlafzimmer gewankten Papa zu fragen, ob sie nicht ein bisschen Überlebenstraining machen wollten, irgendwo in der wildesten Wildnis, nur mit Kompass, Spirituskocher und Regenzelt.

»Ich bin echt gut im Überleben«, beteuerte er, als sich zwischen Lars’ Augenbrauen eine steile Falte bildete, die bedeutete, dass er von Wenzels Vorschlag noch nicht restlos überzeugt war. »Wenn da wer kommt, ein Monster oder Gangster oder so, dann nehm ich den einfach in den Judogriff, sooo, und du musst ihn nur …«

»Überlebenstraining hab ich in diesem Haushalt jeden Tag«, ächzte Lars, befreite sich mühsam aus Wenzels Umklammerung und überprüfte, ob noch alle Knöpfe an seinem Pyjama festsaßen. »Dafür muss ich weder meinen Laden leer räumen noch in dieses Sauwetter rausgehen.« Und mit einem schlecht gelaunten Bums ließ er sich an den Frühstückstisch fallen und brummelte irgendwas von Finanzbuchhaltung und Da-geht-sicher-wieder-das-ganze-Wochenende-drauf in seine Kaffeetasse.

Man muss nämlich wissen, dass Wenzels Papa im letzten Jahr einen eigenen kleinen Outdoorladen namens »Fluchtpunkt« eröffnet hatte, von oben bis unten vollgestopft mit Kompassen, Spirituskochern und Regenzelten. Das Problem war bloß, dass er zwar jetzt ein echter Boss war und Geschäftsführer dazu, mit dem ganzen Verkaufen und Bestellen und Kontrollieren und Berechnen und Was-man-als-Ladenbesitzer-sonst-noch-alles-machen-muss aber kaum hinterherkam. Und darum hatte er für judokämpfende Jungs an seinem Pyjamazipfel wenig Sinn. Von weiteren Überlebenstrainings mal ganz abgesehen.

»Wir machen es uns schon zu Hause nett«, sagte Wenzels Mama, die eben mit einer Tasse Kakao aus der Küche kam. »Was, Wenzel?«

Das klang natürlich sehr viel freundlicher, war aber leider nicht weniger vertrackt. Was Sabine sich unter zu-Hause-nett-machen vorstellte, war nämlich etwas völlig anderes als das, was Wenzel darunter verstand. Wenn er zum Beispiel einen neuen Weltrekord im Steilwandklettern aufstellen wollte, die Schlucht des Todes fünfhundert Meter tief unter ihm klaffend, rief sie gleich: »Lass den Türrahmen in Ruhe und hol mal deine Buntstifte, ich hab dir ein schönes Mandala ausgedruckt.« Und wenn er sich gerade in seiner unterirdischen Mine vorwärtssprengte, um die größte und kostbarste Silberader, die je ein Mensch entdeckt hatte, freizulegen, tauchte sie garantiert im Kellergang auf, kassierte die Knallpistole ein und schlug vor, das lustige Quizspiel mit dem Dreh-Elefanten zu spielen. Oder ihm den Stempelkasten aufzubauen. Oder irgendwas in der Art.

»Heute ist genau das richtige Wetter für einen gemütlichen Schmökertag«, sagte sie nun auch prompt. Und obwohl es gegen die könemannschen Tischregeln verstieß, stand sie mitten im Frühstück auf und begutachtete das Regalfach mit den Kinderbüchern.

»Glllk!« Wenzel gluckerte fluchtbereit seinen Kakao runter. Mit Büchern hatte er nicht viel am Hut, noch weniger als mit Mandalas, Dreh-Elefanten und Stempelkästen. Die Erwachsenen waren natürlich ganz heiß darauf, einem welche anzudrehen. Weil Lesen nämlich schlau macht und besonnen. Aber wenn schlau-und-besonnen bedeutete, die ganze Zeit still auf dem Sofa rumzusitzen, auf eine eng bedruckte Papierseite zu glotzen und sich zu langweilen, blieb Wenzel lieber normalklug und machte dafür was Spannendes.

»Nimm dir doch eins von Onkel Nikolais Büchern vor«, sagte Sabine. »Die kennst du alle noch gar nicht.«

Wenzel starrte entgeistert auf die ein, zwei, drei, vier, fünf ungelesenen Wälzer, über deren Buchrücken sie nun mit dem Fingernagel strich. Im nächsten Augenblick brach er seinerseits die Tischregeln und stopfte sich den Großteil seines original wenzeligen Käse-Ketchup-Krafttoasts (KKK) in den Mund. »Happ fom waff ambareff for«, nuschelte er und witschte ins Kinderzimmer rüber.

Dort angekommen dachte er genau drei Minuten und vierundzwanzig Sekunden darüber nach, wie trist und ereignislos es in seinem Leben zuging, und um ein Haar hätte er begonnen, sich selbst zu beweinen. Doch da fiel ihm zum Glück die Stunt-Nummer ein – Schreibtisch, Regal, Schrank, Sprung – und die entpuppte sich als höchst interessante Angelegenheit. Obwohl sie ihn natürlich nicht über den lieben langen Tag retten würde. Spätestens, wenn seine Mama reinkäme, um das Bett zu machen, würde es damit vorbei sein. Oder wenn sein Papa unter der Dusche hervortropfte, sich an den Schreibtisch setzte und wissen wollte, was denn da Herrgottnochmal! dauernd so rumste. Und dann würde es wieder von vorne losgehen mit Lies-mal-ein-Buch oder Mal-doch-ein-Mandala-aus oder etwas anderem, das sinnvoll war und ruhig. Es sei denn …Wenzel hockte zusammengekauert auf seinem Schrank und lauschte darauf, wie das Klackklackklack verstummte und die Badezimmertür aufgerissen wurde … es sei denn, jetzt käme irgendein KNÜLLER.

»Haben wir Ratten im Haus?«, rief er.

Keine Antwort. Nur Duschgerausche, dann Stille, dann ein wild-nervöses Tuscheln.

»Hat jemand unser Auto kaputt geparkt?«

Wieder keine Antwort. Entweder hatten seine Eltern (was ungewöhnlich war) ihren ersten und einzigen Sohn vorübergehend vergessen. Oder aber (und das war wahrscheinlicher) sie wollten irgendwas Ungeheuerliches vor ihm geheimhalten.

»Is in Papas Laden eingebrochen worden?«, rief Wenzel.

Keinerlei Auskünfte.

»Du hast – was?!«, hörte er Lars nur hervorstoßen. »Was denn für Regenschirme?«

»Eben keine Regenschirme«, wimmerte Sabine. »Versteh doch, Lars, ich …« Flüster, murmel, zischel.

»Wollte dich einer verkloppen?«, rief Wenzel ungeduldig.

Schweigen. Tiefes, dumpfes Schweigen. Dann Papiergeraschel.

Wenzel wartete nicht länger. Er würde das Ereignis des Tages verpassen, wenn er noch weiter auf seinem Schrank hockte wie ein aussortierter Schnuffelbär. Also setzte er zum Stunt-Sprung seines Lebens an. Und genau in dem Augenblick, als das Bett unter ihm krabuff machte, drang ein donnernder Jubelschrei an sein Ohr:

»Wuuuu! Wuwuwuuuu! Sabine, du hast ja gewoooon-nen!«

ZWEITE ETAPPE

Zur selben Zeit, als bei der Familie Könemann das Chaos losbrach, schlurfte Nikolai Ruthard (also Wenzels schriftstellernder Onkel) in s einer Ideenkammer auf und ab, wie immer, wenn er auf Gedankenfang ging. Manchmal blätterte er in einem der Bücher, die sich in und unter und vor und neben und zwischen den zimmerhohen Regalen stapelten, las ein paar Zeilen oder ließ die Buchstaben vor seinen Augen tanzen. Hin und wieder legte er sich auf den Boden, betrachtete das versteckte Gesicht in der Maserung des alten Deckenbalkens und horchte, ob es ihm irgendwas zuflüsterte. Und einmal stieg er auf einen Stuhl und schmetterte einige seiner Lieblingswörter in den Raum, sodass die alte Frau Fiedler von rechts nebenan, die gerade zu einer Kantoreiprobe in die Kreisstadt fahren wollte, mit gerunzelter Stirn unter seinem Fenster stehen blieb und um ein Haar den Bus verpasst hätte. Dann schlappte Nikolai weiter auf und ab, auf und ab, auf und ab. Aber die Gedanken wuselten genauso schnell davon, wie sie angeschwirrt kamen, und für eine neue Geschichte taugte kein einziger von ihnen.

Fast kam es ihm so vor, als würden sich alle guten Buchgedanken derzeit weit außerhalb seiner Ideenkammer befinden.

»Vom Schrank gesprungen!«, rief Wenzels Mama außer sich. »Ist dir eigentlich klar, was bei solchen halsbrecherischen Aktionen alles passieren kann?« Sie hatte Wenzel kopfüber, aber weich gepolstert in einer Gegend vorgefunden, die man normalerweise als unter-dem-Bett bezeichnet hätte. Doch dieses Unter gab es nicht mehr. Offen gesagt gab es kaum noch ein Bett. Und so, wie es aussah, hatte diese Tatsache Sabines Aufregung den Rest gegeben.

»Jajaja«, sagte Wenzel. Er für sein Teil hatte wenig Sinn dafür, über Dinge nachzugrübeln, die hätten passieren können, aber nicht passiert waren. Und auch die geschrotteten Latten, die sein Papa (handtuchumwickelt und mit nassen Haaren) unter der Matratze freigelegt hatte, fand er im Augenblick nicht übermäßig wichtig. Viel interessanter war, dass Lars deswegen überhaupt nicht mit ihm geschimpft hatte. Nein, er hatte ihn nur ganz merkwürdig angeguckt, bevor er mit dem aufgerollten Lattenrost aus dem Kinderzimmer verschwunden war. Und das, kombinierte Wenzel, konnte nur mit dem KNÜLLER zusammenhängen.

»Wobei hast du gewonnen, Mama?«, forschte Wenzel nach.

Aber so hopplahopp konnte Sabine seinen filmreifen Stunt nicht vergessen. »Stell dir vor, das Regal wäre bei deiner Kletterei aus der Wand gekommen«, rief sie.

Wenzel überließ sich lieber seinen eigenen Gedanken. »Hast du etwa bei ner peinlichen Wette mitgemacht?«, fragte er und malte sich aus, wie seine Mama im Badeanzug durch den strömenden Regen tanzte.

»Und denk mal, was passiert wäre, wenn du neben das Bett gesprungen wärst!«

»Oder bei nem Kurzstreckenrennen?« Er zog der tanzenden Mama Laufschuhe an und ließ sie mitten durch die empörten Fußgänger zischen.

»Dann wären wir jetzt im Krankenhaus.«

»Wieso Krankenhaus?«, fragte Wenzel, und die rasende Mama legte eine Vollbremsung ein. »Hast du dich doch gekloppt?«

Sabine starrte ihn an. »Was redest du denn da eigentlich die ganze Zeit?«, rief sie ungewöhnlich heftig. »Wetten! Prügeleien! Was für ein Unfug.«

Im selben Moment ertönte von der Tür her ein spitzes Lachen und Lars kam in Pulli und Hose ins Zimmer zurück. »Nee, mein Lieber.« Er kniff Wenzel ins Ohr. Dann schwenkte er einen Brief durch die Luft und gab Sabine einen knallenden Kuss auf die Wange. »Deine phänomenale Mutter hat am Herbst-Gewinnspiel vom Einkaufszentrum teilgenommen und den Traumurlaub auf den Malediven abgesahnt«, sagte er. Und wie nebenbei fügte er hinzu: »Für zwei Personen.«

Inzwischen hatte Nikolai den Computer eingeschaltet und fragte seine E-Mails ab. Im Postfach fand er neben zwei Leserbriefen, drei Newslettern und einigen Dutzend Spams eine E-Mail von seinem Verlag. Sie musste schon gestern Abend eingetroffen sein, als er im Wohnzimmer den Kamin eingeheizt und dabei aufgeregt und auch ein wenig ängstlich an sein nächstes Buch gedacht hatte. Das letzte lag nun schon ein Weilchen zurück und am Vormittag hatte er sich aus heiterem Himmel das Telefon geschnappt und seiner Lektorin einen dicken neuen Schmöker versprochen. Und der wartete nun wie eine leere Schatztruhe darauf, mit seinen Ideen gefüllt zu werden.

Freitag, 6. Oktober, 17:43 Uhr

Lieber Herr Ruthard,

es war sehr schön, wieder einmal mit Ihnen zu telefonieren.

Ich habe direkt ein bisschen über unser neues Buchprojekt nachgedacht. Wie wäre es denn, einmal zwischen ganz unterschiedlichen Geschichten herumzuspringen? Räubergeschichten, Prinzessinnengeschichten, Quatschgeschichten, Traumgeschichten … querbeet und kunterbunt, sodass für jeden etwas dabei ist.

Wie ich Sie kenne, würde dabei sicher etwas Ungewöhnliches herauskommen.

Herzliche Grüße und ein sonniges Wochenende, Anna-Malena Koslitz-Kolb

»Räuber«, brummelte Nikolai und sah nach draußen in den Regen. »Prinzessinnen, Quatschköpfe, Träumer. Sonst noch was? Sprechende Hunde vielleicht? Oder gar Monster? Wieso sollte ein Kinderbuch auch von einem stinknormalen oder meinetwegen: nur-ein-klitzekleines-bisschen-eigentümlichen Kind handeln? Wo’s ja schließlich Räuber und Prinzessinnen gibt, mit denen ich mich rumschlagen kann!« Nikolai brummte und brummte. Aber da merkte er, wie sich beinahe gegen seinen Willen ein allererster Wuselgedanke in seinen Kopf einpflanzte. Und er eilte in die Küche, um sich einen starken Kaffee zu kochen.

DRITTE ETAPPE

Unterdessen war bei den Könemanns in vollem Gange, was hinterher als die Malediven-Konferenz in die Familiengeschichte einging. Nur Wenzel bezeichnet sie immer noch hartnäckig als seine »Abschiebung«. Aber er hat dabei so ein geheimnisvolles Glitzern in den Augen, dass man gar nicht weiß, was man nun glauben soll.

An jenem Samstag im Oktober war von dieser Art Glitzern allerdings nichts zu bemerken. Wenzel versprühte vielmehr ein gefährliches WUTGEBLITZE, weil er nämlich sofort begriffen hatte, was ein Traumurlaub-für-zwei-Personen in einer dreiköpfigen Familie bedeutete:

Er, Wenzel Könemann, war Person Nummer DREI!

»Ich fass es einfach nicht«, seufzte Sabine, nachdem sie mit Lars ins Wohnzimmer übergesiedelt und Wenzel wie ein Seismosaurus hinterhergetrampelt war. »Der zweite Preis wäre wirklich nett gewesen, also diese Regenschirme. Sieben Farben für sieben Tage, ist doch eine hübsche Idee. Aber ich hätte nie im Leben an der Verlosung teilgenommen, wenn ich geahnt hätte … Lars, wir können die Reise unmöglich annehmen.«

»Hier ist überhaupt nichts unmöglich«, sagte Lars und zog einen Stehordner mit Outdoor-Katalogen aus dem Regal. Aber das tat er nicht, um sich damit endlich an seinen Schreibtisch zu verkrümeln und zu finanzbuchhalten. Weit entfernt. Er schlug einen türkisglänzenden Prospekt auf und hielt ihn Sabine verführerisch unter die Nase. »Malediven, mach dir das doch mal klar! Unter Palmen liegen, in der Lagune baden, rifftauchen … Und alles völlig umsonst. So eine Gelegenheit bekommen wir im Leben nicht wieder.«

Wenzel spürte ein Kribbeln von den Haarspitzen bis in die Zehennägel. Und irgendwo zwischen Sofaecke und Esstisch sah er eine Welt aus einsamen Inseln, vergessenen Piratenschätzen und geheimen Unterwasserhöhlen aufflimmern wie eine Fata Morgana in der Wüste der Langeweile.

»Jetzt musst du nur noch sagen, da gibt’s echte Haie«, muffelte er.

»M-hm«, machte Lars träumerisch.

»Und dann auch noch Urwald, he? Und Riesenwasserfälle?«

»M-hm.«

Wenzel starrte seinen Papa wild an. Den Mann, der sich schon anstellte, wenn er mit ihm nur mal ein kleines bisschen überlebenszelten wollte.

»Mach das Kind nicht unnötig kirre, Lars«, zischte Sabine. »Wir können doch hier nicht einfach von der Bildfläche verschwinden. Wie stellst du dir das denn mit dem Laden vor? Du bist ja so schon von morgens bis abends am Rödeln.«

Aber nun kam Lars erst so richtig in Fahrt. »Ja, eben!«, rief er eifrig. »Und du genauso, Sabine. Nur … anders.« Er schielte zu Wenzel und räusperte sich. »Haben wir nicht auch mal ein Recht darauf, Urlaub zu machen? Ich regle das schon. Ich regle alles. Notfalls mach ich den Schuppen für ein paar Tage dicht.«

Wenzels Augen feuerten einen Hochspannungsblitz ab. So einfach war das also. Den Laden abschließen und tschüss!

»Und was is mit mir?«, rief er und stampfte mit dem Fuß auf, dass unten im »Fluchtpunkt« die Campingtassen gegeneinanderschepperten. »Ich will auch auf die Mediwen!«

»Ganz ruhig.« Sabine streichelte ihm besänftigend über die Schulter. »Wäre es denn wohl sehr teuer, Wenzel dazuzubuchen, Lars?«

»Dazubuchen? Mit Flug und Hotel und allem Pipapo? Bei unserem Kontostand?« Lars machte ein Gesicht, das bei Wenzel ein ganzes Blitzlichtgewitter entfachte. »Keine Chance. Und außerdem«, fügte er, mehr oder weniger dezent, hinzu, »reden wir hier von Ur-laub. Er-ho-lung. Nicht davon, dass du dich wieder pausenlos von Signor Wenzelino auf Trab halten lässt. Dieses ewige Geglucke macht uns sowieso noch alle wahnsinnig, wenn ich das mal so sagen darf.«

Sabine kniff die Lippen zusammen. »Und was schlägst du stattdessen vor?«, stieß sie dann mit gepresster Stimme hervor. »Er kann ja schlecht allein zu Hause bleiben.«

Einen Moment war es ganz still. Höchstens um Wenzel herum konnte man es gefährlich knistern hören.

»Nun …«, sagte Lars schließlich und betrachtete seinen Sohn, der eben noch mit seinem Pyjama gekämpft und kurz darauf ein Bett in Stücke gestuntet hatte, »da findet sich schon jemand.« Aber zum ersten Mal klang seine Stimme ein klein wenig zögerlich.

Nikolai hatte zwei Tassen pottschwarzen Kaffees getrunken und seinen Gedanken geprüft. Er hatte den Geschirrspüler eingeräumt, sein Bett gemacht, das angeschmuddelte Bad geschrubbt – und seinen Gedanken geprüft. Er war lange im Regen spazieren gegangen – die Wiese hinter dem Haus runter, an Schraders Rinderweide vorbei zum alten Güterbahndamm und dann in den nach Pilzen und nassem Holz duftenden Wald hinein – und hatte seinen Gedanken geprüft. Zurück im Dorf war er der rührigen Bibliothekarin Wibke Rühl (seiner Nachbarin zur Linken) und ihrer Tochter Ricarda über den Weg gestiefelt, während sie gerade ihre Wochenendeinkäufe vom Auto ins Haus schleppten, er war beinahe triefend und matschverklebt mit der heimkehrenden Frau Fiedler zusammengeprallt – und hatte seinen Gedanken geprüft.

Als er nun wieder in die Ideenkammer schlappte, war der Gedanke immer noch da. »Erstaunlich«, murmelte Nikolai und dachte noch ein bisschen weiter vor sich hin.

Dann schlug er s ein schwarzes Notizbuch auf und rief (»markerschütternd«, wie es die alte Frau Fiedler den Hinkelsener Bürgerinnen und Bürgern bei ihrem Nachmittagskaffee im Wirtshaus »Gütige Quelle« beschrieb): »Kawinski, du Räuber, mach dich auf was gefasst!«

Im selben Augenblick klingelte das Telefon.