Johannes Horn
Der
mündige
Patient
und andere Beiträge zur Medizin
Kaden Verlag
Vorwort
Mündigkeit gehört zu den Schlüsselworten unserer Epoche. Die Menschheit gehe auf die „mündig gewordene Welt“ zu, meinte der Theologe Dietrich Bonhoeffer, als er in Hitlers Gefängnis Bilanz zog. Der mündige Mensch war nach seiner Vorstellung einer, der sich aus Freiheit seiner Verantwortung stellt. Die Mündigkeit des Menschen proklamierte auf ihre Weise auch die Philosophie des 20. Jahrhunderts. Während freilich der Theologe Bonhoeffer die menschliche Verantwortung daraus begründete, daß der Mensch von Gott angesprochen ist und darauf zu antworten vermag, wurde in der Philosophie diese Verantwortung weithin zum Selbstgespräch des mit sich selbst beschäftigten, sich selbst bestimmenden Menschen.
Welches Menschenbild soll uns im 21. Jahrhundert leiten? Ist es das Bild eines Menschen, der den Sinn seines Lebens nur aus sich selbst hervorzubringen und nur in sich selbst zu finden meint? Oder ist es das Bild eines Menschen, der die Endlichkeit seines Lebens und seiner Fähigkeiten annimmt, weil er weiß, daß er auf Ergänzung angelegt ist? Damit kann die Ergänzung durch die Gaben anderer Menschen ebenso gemeint sein wie das Bezogensein auf eine göttliche Wirklichkeit, die allein das Fragment unseres Lebens zu einem Ganzen werden läßt.
In keinem Lebensbereich stellt sich die Frage nach dem leitenden Bild vom Menschen dringlicher und eindringlicher als in der Medizin und vor allem: im praktischen ärztlichen Handeln. Aber nur wenige Ärzte haben den Mut, ihre Auffassungen zu dieser Frage ausdrücklich zu formulieren und dadurch der Diskussion zugänglich zu machen. Johannes Horn ist eine der seltenen Ausnahmen.
Schon seit vielen Jahren ist er als Chefarzt der Chirurgischen Abteilung im Städtischen Krankenhaus München-Harlaching weithin geachtet. Doch er beschränkt sich nicht auf die Innensicht des chirurgischen Spezialisten. Der interdisziplinäre Dialog unter den Medizinern liegt ihm am Herzen. Aber auch die Zusammenarbeit mit dem Karikaturisten scheut er nicht; und auch die Kunst der Ironie setzt er ein, wenn das seinen Einsichten Resonanz verschafft. Wenn Johannes Horn über den Rahmen seiner fachlichen Aufgaben hinausblickt, dann geht es ihm stets um das Ethos des ärztlichen Handelns. Auch wenn dieser Band im Titel nur vom „mündigen Patienten“ spricht, so steht doch außer Zweifel, daß der Patient nur mündig werden kann, wenn er es mit einem „mündigen Arzt“ zu tun bekommt. Denn mündig wird der Patient, wenn er eine Einsicht in die Grenzen seiner eigenen Einsichten gewinnt. Das ist nur möglich, wenn er in die Fachlichkeit wie in die Menschlichkeit des Arztes Vertrauen haben kann. Vertrauen entsteht eben nicht aus fachlicher Kompetenz allein; für sie ist eine menschliche Qualifikation erforderlich, die Empathie und Wahrhaftigkeit miteinander verbindet. Fachlichkeit und Menschlichkeit kommen zusammen in einer „Vigilanz“, die sich ganz wach und aufmerksam auf die besondere Situation des Patienten einläßt.
Für einen Mediziner gehört Mut dazu, die gegenwärtige Situation der Medizin schlicht als „völlig verfahren“ zu bezeichnen. Aber aus der Perspektive, die Horn einnimmt, ist dieses Urteil einleuchtend: Mündigkeit wird auf der Seite der Patienten wie der Ärzte allzu oft mißdeutet; technischer Fortschritt und wirtschaftliche Effizienz werden zu oft als Zwecke an sich und nicht so sehr als Mittel zum Zweck gedeutet; die Ökonomisierung der Medizin zeigt sich exemplarisch daran, daß der „Patient“ zum „Kunden“ wird; die Parzellierung der medizinischen Tätigkeit schließlich zeigt sich exemplarisch darin, daß Dokumentation wichtiger wird als die medizinische Arbeit selbst. Für „völlig verfahren“ sieht der Verfasser die Situation aber vor allem auch deshalb an, weil das Diesseitige zum Endgültigen erklärt wird; die Hoffnung wird deshalb allein auf das Machbare gerichtet; Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit sind allzu oft die Folge.
Besonders nachdrücklich werden die Überlegungen des Verfassers dort, wo er Folgerungen für die Ausbildung junger Ärzte und für die Arbeitsorganisation im Krankenhaus zieht. Die Fraktionierung der an gewerkschaftlichen Vorgaben orientierten ärztlichen Arbeitszeit hält er für einen besonderen Krebsschaden; wer selbst miterlebt hat, mit wie vielen Ärzten – vom pflegerischen Personal ganz zu schweigen – ein Krankenhauspatient heute konfrontiert sein kann, der kann diese Kritik nur nachdrücklich bestätigen.
Horn erläutert nicht, wo sich anderswo innerhalb wie außerhalb der Medizin vergleichbare Überlegungen finden. Er stellt aus seiner eigenen Erfahrung und Reflexion dar, was notwendig ist, wenn der ärztlichen Tätigkeit ihr ursprünglicher Sinn zurückgegeben werden soll. Wenn wahr ist, daß Krankheit den Menschen mit der Wirklichkeit des eigenen Lebens konfrontieren kann, dann muß auch der Arzt ein Gespür für die Wirklichkeit dieses Lebens im Ganzen gewinnen. Ein isoliert naturwissenschaftlicher oder ein isoliert empirischer Zugang wird niemals zureichend sein. Es kommt darauf an, sich einer Lebenswirklichkeit zu stellen, die selbst nicht allein naturwissenschaftlich oder empirisch, sondern im wesentlichen biographisch verfaßt ist.
Die Medizin, im Rahmen der Wissenschaften vom menschlichen Leben insgesamt verstanden, ist heute einer der wichtigsten Orte für die Debatte über das Bild vom Menschen, das uns in unserem Handeln leitet. Man kann es auch anders sagen: Die Interaktion zwischen Ärzten und Patienten prägt das Bild vom Menschen, das in der Gesellschaft insgesamt bestimmend ist, weit stärker, als dies Ärzten zumeist bewußt ist. Ob Menschen nur als isolierte Fälle mit bestimmten Defekten angesehen werden, ob Krankheiten nur als Defizite betrachtet werden, die so schnell wie möglich mit den besten technischen Mitteln zu beseitigen sind, oder ob die unbedingte Würde des endlichen Menschen unser Handeln bestimmt und Krankheit im Zusammenhang einer Biographie verstanden und gedeutet wird – im einen wie im andern Fall wird das Bild vom Menschen mitgeprägt, an dem wir unser persönliches Handeln und unser gesellschaftliches Zusammenleben ausrichten.
Dieser Aspekt an der gesellschaftlichen Verantwortung der Medizin wird nur selten erörtert, wichtig ist er gleichwohl. Johannes Horn hat das Verdienst, darauf mit Nachdruck aufmerksam zu machen.
Prof. Dr. Wolfgang Huber Bischof von Berlin-Brandenburg
Zu diesem Buch
Das vorliegende Buch beinhaltet Vorträge und essayistische Betrachtungen über die Gesellschaft im Allgemeinen, die Medizin im Besonderen. In der Vorstellung, daß beide nicht unabhängig voneinander zu verstehen sind, wurde in einem ersten Kapitel („Zeitwandel und Bewußtsein“) versucht, einige Aspekte zu skizzieren, die mir für das Verständnis zeittypischer Einstellungs- und Verhaltensmerkmale wichtig erscheinen. Es war nicht beabsichtigt, mit diesen Vorbemerkungen ein vollständiges oder gar abschließendes Bild unserer heutigen Gesellschaft entstehen zu lassen. Wohl werde ich mir auch manchen Vorwurf einer einseitigen, mitunter gar ins Moralisieren abgleitenden Problemerörterung gefallen lassen müssen. Ich halte dagegen, daß es oftmals einfacher und wohl auch unverfänglicher ist, sich im Allgemeinen aufzuhalten, statt manches Verhalten, manche Gewohnheiten grundsätzlich zu hinterfragen bzw. sie in Frage zu stellen.
Die aufgegriffenen Themen resultierten aus Beobachtungen und Erfahrungen im Umfeld einer sich kontinuierlich verändernden Medizinpraxis. Es lag nahe, nach möglichen Ursachen zu suchen, die für diese oft stürmisch vonstatten gehenden Veränderungen verantwortlich zu machen sind. Es steht zu befürchten, daß bei mangelnder Einsicht in die Zusammenhänge Korrektur- und Adaptationsvorgänge in Gang gesetzt werden, die lediglich geeignet sind, wahrgenommene Probleme und aufgetretene Mißstände – etwa im Bereich des Gesundheitswesens – noch weiter zu verschärfen, statt sie zu lösen bzw. ihnen in geeigneter Weise entgegenzutreten. Es steht auch zu befürchten, daß mit dem Versuch, Probleme nach Maßgabe zeittypischer Dringlichkeit und Opportunität lösen zu wollen, wesentliche Inhalte verlorengehen, daß die Aufgabe zur Bewahrung durch regulierende Kontrollmechanismen entlastet wird, daß sich Ideen und inhaltliche Vorgaben im Diktat kollektiver Zwänge aufarbeiten und ihre maßgebliche Bedeutung verlieren.
So war es mir daran gelegen, auf einige Verhaltens- und Einstellungsveränderungen aufmerksam zu machen, die sich oftmals dem Bewußtsein entziehen, die aber gleichwohl an Entwicklungen und Veränderungen beteiligt sind, die wir nicht gut heißen können.
Das zweite Kapitel („Der mündige Patient“) ist dem Verständnis von Mündigkeit gewidmet; wie mir scheinen will, einer der heute am meisten fehlgedeuteten und mißverstandenen Begriffe. Bedeutet nicht Mündigkeit die Einsicht in jene Grenzbereiche, jenseits derer, eigene Entscheidungen aufgrund mangelnder Kenntnisse und Befähigungen nicht mehr möglich sind, wo es nottut, sich auf das Urteil anderer zu verlassen, wo Vertrauen notwendig ist, um zu sachdienlichen Entscheidungen zu kommen? Der falsche Umgang mit dem Begriff der Mündigkeit führt zu weitreichenden Konsequenzen im menschlichen Verhalten und verkehrt sich letztlich in ihr Gegenteil einer nicht gewollten Form der Abhängigkeit und des persönlichen Nachteils.
Die in den weiteren Kapiteln aufgegriffenen Themen entstammen der unmittelbaren Erfahrungs- und Erlebnissphäre der heutigen Medizinpraxis. Zum Teil handelt es sich dabei um überarbeitete Vorträge bzw. in Zeitschriften publizierte Arbeiten. Übergeordnete Probleme werden erörtert, wie die Humanität der Medizin, Fragen der medizinischen Ausbildung, das Problem der Technisierung, das Bild des Arztes in der Funktion des Vorbildes. Desweiteren wird zu konkreten Detailfragen Stellung bezogen: Das Aufklärungsgespräch, von den Grenzen des Machbaren, das Tarifrecht, von der Bedeutung der Erfahrung u. a.
Keine der Ausführungen beansprucht Vollständigkeit oder gar fertige, abgeschlossene Lösungsangebote für die gleichwohl als drückend empfundenen Probleme im Umfeld von Gesellschaft und Medizin. Es sind nicht mehr als Anregungen und Denkansätze, die einen Einstieg ermöglichen sollen in die Verstehbarkeit dieser Probleme. Es geht nicht darum, nur Oberflächen zu tangieren, sondern ein auf die Inhalte hin ausgerichtetes Bewußtsein zu vermitteln und die der Medizin und dem Arztberuf zugrunde liegende Idee wachsam zu erhalten.
So ist dieses Buch in erster Linie an die Ärzte gerichtet, nicht weniger aber an alle anderen Berufsgruppen, die in der Medizin, in der medizinischen Versorgung von Patienten ihre Aufgabe gefunden haben. Angesprochen aber ist auch die andere Seite, der Patient und all jene, die sich in irgendeiner Weise mit der Medizin auseinandersetzen. Beide Seiten tragen schließlich dazu bei, daß Vertrauen entstehen und erhalten bleiben kann.
Johannes Horn