Johannes Horn
Einblicke in das menschliche Leben
Die Erde, auf der wir leben, haben wir uns verfügbar gemacht. Die Kommunikationsmöglichkeiten sind unbegrenzt, jeder noch so entlegene Winkel ist uns zugänglich und wir sind dabei, uns diese Erde nach unserem Willen und nach unseren Vorstellungen einzurichten. Gleichzeitig setzen wir alles daran, ihre Regeln, Ordnungen und Gesetze zu enträtseln; der Blick in die kleinsten wie in die größten Dimensionen weitet sich.
Wir sprechen von Globalisierung und Vernetzung, wir rücken zusammen und wir befleißigen uns, alles, was dieser Erde eigen ist, für unser Dasein in Anspruch zu nehmen. So war es wohl gedacht und in der Tat könnte man meinen, dass alles gut und für die Menschen von Vorteil und Nutzen wäre.
Doch wir erleben anderes. Immer wieder zerbricht das Bewusstsein des Menschen an der Verschiedenartigkeit seiner Werte- und Gottesvorstellungen. Immer tiefer geraten die Menschen in die sozialen Konflikte. Immer verletzender gebärden sich die hegemonialen Ansprüche. Immer mehr vereinnahmt ein materielles Denken die Lebensinhalte und die Zielsetzungen des Menschen.
Mit der Globalisierung und der Materialisierung geht eine unwiderstehliche Kraft zur Uniformierung einher. Die weltlichen Güter verlieren ihren Wert in dem Bewusstsein des Selbstverständlichen. Die Fülle der auf den Menschen ruhelos einwirkenden Reize, Signale, Zeichen und banalen Informationen lassen ihn gesättigt sein und hindern ihn an jeder geistigen Erfahrung. Die Individualität verliert sich in der Masse. Die sich wandelnden Begriffe von Kunst und Kultur erschöpfen sich in dem Versuch, die Identität der menschlichen Existenz in den Tiefen ihrer Trostlosigkeit und Vereinsamung, ihrer Verletzbarkeit und Selbstzerstörung zu beschwören. Kunst und Kultur spiegeln die Dissonanz des im Diesseitigen verlorenen Menschen.
Dann aber, wenn der Mensch in existenzielle Nöte gerät, wenn er an seine Grenzen stößt und ihm seine Vergänglichkeit bewusst wird, wenn er mit Krankheit, Sterben und Tod konfrontiert wird, wenn er das Schicksal des Scheiterns und des Verlustes zu tragen hat, dann, stellen sich Fragen, die oft unbeantwortet bleiben, dann und eben dann wird ihm bewusst, wie weit sich seine Wirklichkeit von seinem Ursprung, seiner Wahrheit, seinem eigentlichen Lebenssinn entfernt hat.
Mit meiner beruflichen Tätigkeit als Arzt stellt sich immer wieder die Aufgabe, solchen Menschen ein beratender und helfender Partner zu sein. Es dauerte Jahre, bis ich erkannte, dass es dabei nicht der Kunst der Rede bedarf, vielmehr der Kunst des verstehenden Hörens; dass es nicht darum geht, mit vielen Worten etwas zu beschönigen sondern darum, eine Einstellung, eine Überzeugung, ein Bewusstsein glaubhaft zu vermitteln.
So mancher Vortrag und manche Publikation, so sehr sie auch mit Mühe und Hingabe erarbeitet waren, konnten schließlich dem eigentlich ärztlichen Anliegen nicht gerecht werden. Erst im persönlichen Gespräch, im unmittelbaren Gegenüber ließ sich etwas konkretisieren und glaubhaft vermitteln, was dem in Not geratenen Menschen Halt und Hilfe sein konnte. So wählte ich die literarische Form des fiktiven Briefes um das, was zu sagen ist, was gesagt werden kann, zum persönlichen Wort werden zu lassen.
Danken möchte ich Frau Hannelore Adam, Herrn Norbert Krämer und Herrn Christian Molter, die die Publikation dieser Briefe ermöglicht haben.
(Leben und Tod im Bewusstsein Gottes)
Was waren das für Tage! Eigentlich doch nur von kurzer Dauer und doch war dieser Aufenthalt in Rom wie eine Zeit des Erwachens, des Innehaltens und der unerwarteten Wahrnehmung, herausgenommen aus der bleiernen Stumpfheit des Alltäglichen, als hätten wir für wenige aber eben doch unverwechselbare Augenblicke das Abgetragene des Gewohnten verlassen, um uns im Brennpunkt des Zeitlosen aufzuhalten.
Und schon hat uns die Zeit wieder im Griff, was mir besonders deutlich wurde, als der Wecker, der mich heute zu früh aus den nachklingenden Träumen riss, an Normalität und Pflicht mahnte. Es war klug von Dir, noch einige Urlaubstage anzufügen und Dich nicht gleich wieder den Zwängen alltäglicher Verrichtungen auszusetzen und Dir damit die Möglichkeit zu geben, die eben gemachten Erfahrungen in der Ruhe des Häuslichen zu verinnerlichen.
Mich dagegen traf gleich am ersten Tag die
volle Wucht der beruflichen Probleme mit der Vielgestaltigkeit unseres menschlichen Lebens. Eigentlich war es ein ganz normaler Kliniktag. Am Morgen schon Operationen, mittags Sprechstunden mit den sich anschließenden Visiten und am späten Nachmittag die eher lästige Schreibtischbürokratie.
Den ganzen Tag über Patienten; in jedem vorgetragenen Anliegen, in jedem offenkundig werdenden Schmerz, in all den Leiden und Beschwernissen verbarg sich ein jeweils eigenes Bedürfnis, eine Unruhe im Hoffen und Zweifeln, ein Berührt-Sein in den Grundfesten des Selbstverständlichen. Jedem der Patienten stellten sich eigene Fragen und jeder von ihnen war auf der Suche nach einer ihn zufriedenstellenden Antwort.
Mitten in diesem bewegten Gleichmaß des Tages traf ich in einem der Krankenzimmer auf eine Frau, nicht älter als vierzig Jahre, die, von einer auffälligen Unruhe gezeichnet, in abweisender Zurückhaltung im Bett lag. In dem sich erst verhalten, dann lebhafter entwickelnden Gespräch über die Unheilbarkeit ihrer Krankheit tauchten immer wieder Gedanken auf, die uns auch in Rom so intensiv beschäftigten: Wie mag das sein, wenn mit dem Tod das offensichtliche oder scheinbare Ende des Lebens erreicht ist? Der Tod als das offensichtliche und damit endgültige Ende oder der Tod als ein Übergang, ein Anfang mit allen Möglichkeiten des Werdens?
Ich erinnerte mich dabei an den ersten Abend unseres fünftägigen Aufenthaltes in Rom. In der anfangs kaum wahrgenommenen Dämmerung zogen wir durch die Straßen und Gassen, das südliche Lebensgefühl in vollen Zügen aufnehmend. Wir überquerten Plätze, auf denen sich Kinder ausgelassen die Zeit vertrieben (ich bewunderte übrigens Deine Spontaneität und eben Dein Geschick bei der Rettungsaktion eines ins Abseits geratenen Fußballes; Du hast den Kindern sehr imponiert!).
Wir passierten Auslagen von angebotenen Früchten, von Kleidungsstücken, von Dessous und allerlei Antiquitäten. Zwischen den alten, zeitgeschundenen und verblassten Häuserfassaden wechselte ständig der Geruch von geröstetem Kaffee und aufdringlichen Auspuffgasen. Wir überquerten den Tiber, schlenderten durch die via della Lungaretta in Richtung Santa Maria Trastevere. Wie oft hattest Du mir vor unserer gemeinsamen Reise von Deinen früheren Romaufenthalten berichtet, mich mit Deinen Erfahrungen neugierig gemacht.
So war es die Neugier, die mich zu dieser Reise veranlasste. Erst dann, im Augenblick des eigenen Erlebens, wurden die mitgeteilten Erfahrungen konkret und nachvollziehbar. So wurde mir klar, dass eine Erfahrung stets etwas Persönliches ist. Und nur im Bereich dieser persönlichen Erfahrung wird angesichts der sich lebensfroh gebärdenden Vergänglichkeit dieser Stadt das Attribut, ewig zu sein, erlebbar.
Auf unserem Rundgang durch Trastevere erreichten wir schließlich den Platz, von dem Du schon immer geschwärmt hast: Piazza Santa Maria. Wie fast alle Plätze in Rom, ja in Italien, fügt auch er sich in die pulsierenden Abläufe des Alltäglichen ein. Während ich großes Verlangen verspürte, auf den Stufen des achteckigen Brunnens Rast zu machen, drängtest Du zum Besuch der Kirche. Selten, lieber Freund, selten habe ich einen so kunstvoll ausgestatteten, von Demut und Hingabe erfüllten sakralen Raum gesehen. Nein, Du hattest mir nicht zu viel versprochen.
An der Ausführlichkeit meiner Schilderung, mit der ich Dich hoffentlich nicht langweile, siehst Du, wie beeindruckt ich heute noch bin und wie sehr mich die zurückliegenden Erfahrungen auch nach Rückkehr in den beruflichen Alltag beschäftigen. Vor allem bei dem heutigen Gespräch mit der unheilbar kranken Frau wurde mir klar, dass die Annäherungen an das Sakrale, die Berührungen des Ewigen, die Augenblicke des tiefen Empfindens nicht herausgehobene, ephemere Dekorationen, nicht kurze Befriedigungen religiöser Bedürfnisse sein dürfen, sie müssen in unserer gedanklichen Welt zu Plätzen werden, auf denen sich das Alltägliche lebendig entfaltet.
Lange saßen wir ergriffen vor den leuchtenden Mosaiken mit der Darstellung christologischer Themen und Szenen aus dem Leben der Maria. Oben, im Scheitel des Triumphbogens, das Medaillon des Kreuzes, welches mit den Buchstaben Alpha und Omega Gott in seiner Endgültigkeit und Ewigkeit symbolisiert. Wenn ich dies besonders hervorhebe, so deshalb, weil ich Dir meine Ergriffenheit angesichts der so bewegenden und mein Innerstes berührenden Eindrücke während des Aufenthaltes in dieser Kirche vermitteln möchte. Nicht zuletzt aber auch deshalb, weil ich vorhabe, noch einige Gedanken an jenes Gespräch anzufügen, welches nach dem Besuch der Santa Maria in Trastevere den ganzen restlichen Abend in Anspruch nahm.
Auf dem Platz, in dessen Mitte der Brunnen mit seinem Fließen und Strömen das Leben ständig in Bewegung hielt, fanden wir einen letzten noch freien Tisch. Er gehörte zu einer Trattoria, deren Ober mit emsiger Aufmerksamkeit ihre Gäste zufrieden stellten. Du wirst Dich erinnern, dass es eigentlich nur eine kleine Bemerkung von Dir war, die das abendfüllende Gespräch auslöste – ganz beiläufig, der Ober arrangierte gerade den lang ersehnten Rotwein mit Gläsern und Karaffe, neben Mineralwasser, Weißbrot und Oliven auf dem für ein italienisches Abendessen zu eng bemessenen Tisch, ganz beiläufig also sagtest Du: „Haben die Menschen früher das mit dem Alpha und dem Omega, dass also Gott den Anfang und das Ende bedeute, haben sie das wirklich geglaubt?“ „Was heißt früher“, erwiderte ich, worauf Du nach einigem Zögern nachdenklich feststelltest: „Du bist also gläubig?!“.
So begann das Gespräch über die Existenz Gottes, welches zwei so unterschiedliche Weltanschauungen, so verschiedene persönliche Erfahrungsinhalte deutlich machte, welches aber auch zeigte, dass die Frage nach der Existenz Gottes nicht in einem Gespräch geklärt werden kann.
Nach diesem anregenden und mitunter heftigen Gedankenaustausch und nach der inzwischen erreichten Distanz, die so vieles zu beruhigen und zu ordnen vermochte, will ich noch einmal mir wesentlich erscheinende Argumente und Denkpositionen aufgreifen, mit denen ich versuchen will, zu jener gedanklichen Klarheit beizutragen, ohne die nach meinem Dafürhalten Einsicht und Verstehen nicht möglich sind. Mehr noch: Ohne die man leicht der Gefahr erliegt, sich von Vorurteilen oder aber von Fiktionen und eigenwilligen Bewertungen der jeweils wahrgenommenen Wirklichkeit verführen und verwirren zu lassen.
Bei dem Gespräch mit der vom Tode gezeichneten Patientin fiel mir auf, dass sie ihre drängenden und unausweichlichen Probleme so ganz ohne die Erwähnung Gottes anzugehen versuchte. Sie erzählte von ihrer Welt, in der sie manch Schweres erlebt, vieles aber auch zu schätzen gelernt habe. Ihr Leben sei noch bis vor kurzem voller Energie und Zuversicht gewesen, vieles sei angedacht, manches begonnen worden, um dem Leben Inhalt und Sinn zu geben. Von den beiden Kindern sei die Kleine eben zur Schule gekommen. Zusammen mit ihrem Mann dachte sie daran, den lang gehegten Wunsch einer eigenen Wohnung zu verwirklichen. Sie habe immer gearbeitet, ihren Mann spät kennengelernt, und jetzt … alles so plötzlich, unerwartet und … endgültig. Gerade gestern hätte man ihr mitgeteilt, dass eine Therapie nicht mehr möglich sei. „Warum nur, ich verstehe es nicht!“ „Meine Kinder!“ „Warum nur?“ Nach jedem Gedanken dieses schmerzliche und sich auflehnende „Warum?“
Es gibt wohl niemanden, der dieses Schicksal nicht nachempfinden könnte, der nicht sein Inneres berührt sähe angesichts dieser scheinbaren Lebenswillkür und dieser so tief empfundenen Ungerechtigkeit.
Sie zeichnete ein Bild von ihrem Leben voll Farbigkeit und Sehensfreude. Es schien gar, als ob die verzagte Bitterkeit manche der Farben erst richtig zum Leuchten gebracht hätte. So erschien das Bild bunt doch auch so, als ob es haltlos geworden wäre, als ob es ohne Sinn und Orientierung in einem bloßen Farbenmeer unterzugehen drohte.
Lieber Theophil, hast Du die Leuchtkraft und die bezwingende Schönheit der Mosaiken noch vor Augen? Ist Dir erinnerlich, mit welcher Erhabenheit und Größe aber auch mit welcher Gelassenheit Jesus und die rechts von ihm thronende Maria das Zentrum dieser Lichtkomposition bilden, wie sich Figur für Figur, Symbol für Symbol, Zeichen für Zeichen zu einer Harmonie der Ordnung und der Ruhe fügen und zielstrebig auf das Gottes Symbol des Kreuzes hinweisen?
Rechts und links die großen Verkünder, die Propheten Jesaja und Jeremia, jeweils den Blick zum Betrachter gerichtet, ihre Verkündigung aber zu Gott gewandt. Am Ende ihrer auf Spruchbändern festgehaltenen Weissagung steht nicht ein Punkt, kein Doppelpunkt und kein Ausrufezeichen, nein, wir sehen jeweils einen Vogel im Käfig! Welch feinsinnige und treffsichere Symbolik für das ungehörte, das im Nicht-Verstehen gefangene Wort! Welch ein Unterschied zu der heute frivol vorgetragenen Feststellung: „Wir waren im Weltall und haben Gott nicht gefunden!“
Wir begnügen uns so oft mit der Aussage, dass Gottes Existenz nicht zu beweisen sei, so, als ob die Beweisbarkeit ein Kriterium für die Entscheidung für oder gegen seine Existenz sein könnte. Wir sind gewohnt, die sichtbare Welt mit Maßstab und Winkel zu vermessen, die wirksamen Kräfte zu tarieren und die feinsten und gröbsten Strukturen zu analysieren. Mit unserem Wissen und Verstehen vollziehen wir das nach, was vorgegeben und existent ist. Glauben wir wirklich, dass sich Gott in diesem Bereich des Wissens aufhält, dass er dort dingfest zu machen sei, dass er überhaupt messbar, ja ermessbar sei?
Können wir uns schon dadurch ein Bild vom Töpfer machen, wenn wir den Krug ausmessen, tarieren und analysieren?
Beweise sind doch nur möglich, wo es um Wissen geht, nicht dort, wo Überzeugungen notwendig sind. Denke doch daran, lieber Theophil, wie genau wir heute die Abfolge genetischer Informationen definieren können. Haben wir damit auch schon das Leben verstanden?
Ich gestehe, dass ich bei dem Gespräch mit der kranken Frau lange Zeit ratlos war und angesichts der Klage und der sich auflehnenden Zweifel nichts zu entgegnen wusste. Hinter der äußeren Ruhe des Zuhörens verbargen sich bei mir all die unfertigen Gedanken, die der Vorstellung, in dieser scheinbaren Ausweglosigkeit hilfreich zu sein, nicht standhalten konnten. So schwieg ich aufmerksam, merkte aber, dass sich manche Erregung und manch Aufgebrachtes in ihren Worten im Fluss des Zuhörens langsam beruhigte.
Mit der Ruhe trat Stille und eine gewisse Nachdenklichkeit ein. Während sie über all das sprach, was sie als bevorstehenden Verlust beunruhigen musste, fehlte mir jedes Argument. Schon gar nicht konnte ich ihre Befürchtungen zerstreuen bzw. das, was ihr aus weltlicher Sicht zur Realität geworden ist, ungeschehen machen. Erst, als sich der Schmerz über Vergänglichkeit und Verlust erschöpft hatte, wurde eine andere Wirklichkeit spürbar, den Schmerz nicht aufhebend, ihn aber haltend und lenkend. Nach längerem Stillhalten fragte ich sie, ob sie einmal in ihrer Kindheit an das Sterben oder den Tod gedacht hätte. „An den Tod? Ja!“; „An das Sterben? Nein!“
Haben die Darstellungen der so eindrucksvollen Mosaiken nicht etwas überaus kindliches und unbefangenes, lieber Theophil? Sind sie nicht ebenso anrührend wie überzeugend? Ja, überzeugend, das ist es! Die Attribute der Empfindungen, die beim Anblick dieser Wand-Malerei ins Bewusstsein rücken, sind vielgestaltig: einfach, wahrhaftig, echt, kindlich, symbolkräftig, unverfälscht… Ist es nicht so, dass aus all dem jene Überzeugung resultiert, die das Werk so wertvoll macht, ein Werk, dessen Aussage über die Zeit hinaus reicht. Ich sagte: „Über die Zeit hinaus …“ und ich meine damit, dass etwas über die an diese Welt gebundenen, in dieser Welt gefangenen Vorstellungen hinaus vermittelt wird: Eine Botschaft, ein Vermächtnis, ein Geheimnis!
So erscheint Gott als Symbol, nicht als Bild und alles ist auf dieses Symbol hin ausgerichtet gleichsam an diesem Symbol orientiert (Orient als das Zeichen des Lebens). Das Symbol besagt, dass es mehr ist als es irgendein Bild sein kann, denn jedes Bild ist ja nur eine Projektion menschlicher Vorstellungen, ein Versuch, das Große und Unbegreifliche in den Koordinaten der eigenen Wirklichkeit abzubilden. Da nun der Mensch über seine Vorstellungen hinaus nicht denken kann, wird ihm Gott immer ein Verborgener und damit ein Geheimnis bleiben.
Die Darstellung des Gottessymbols im Scheitel des Triumphbogens markiert mit dem Alpha und Omega nicht nur Ursprung und Ziel, sondern belegt auch die Präsenz Gottes in dieser Welt. Nur in der Unlösbarkeit dieses Geheimnisses, nur in der Distanz des nicht Erreichbaren ist Gott ein Gott, der allen ein Gott ist.
Wie in dem leuchtenden Mosaik dargestellt, ist Gott ein über allem Thronender, er ist die Ganzheit des Seins, er ist nicht denkbar und nicht vorstellbar. Gott ist also nicht dadurch ein Gott, dass er vom Menschen gedacht und für existent gehalten wird, sondern allein dadurch, dass er dem Einzelnen undenkbar und unerreichbar bleibt.
Immer wieder, lieber Theophil, ist der Mensch versucht, sich von Gott ein Bild zu machen, ja mehr noch, ihn für seine Sache zu vereinnahmen. So sagt er: „Ich stehe zu Gott, also stehe er auch zu mir! Ich bete zu Gott, also helfe er mir auch!“ Entscheidend ist dabei, dass die Hilfe in einer jeweils konkreten Weise erwartet wird, dass Gott quasi als „Polster“ dort gefordert wird, wo eigene Hilflosigkeit und Unzulänglichkeit festgestellt wird. Gott ist aber jedem und allen ein Gott, nicht ein Gott von jedem einzelnen. Er ist allein dadurch ein Gott, dass er sich der Vereinnahmung durch den Menschen entzieht und nicht in die Einzelteile bildhafter Vorstellungen zerfällt. Gott ist nicht aufteilbar in die Summe menschlicher Gottesvorstellungen.
Nur auf diese Weise kann eine Wirklichkeit konkret werden, die über unser begreifbares Dasein hinausreicht. Es wird für jeden einzelnen entscheidend sein, inwieweit er sich dieser Gotteswirklichkeit anvertrauen kann, inwieweit er sich selbst einordnen kann in eine Wirklichkeit, die von dem Willen und der Ganzheit Gottes geprägt ist.
Nun hat der Mensch das Problem, nur schwer mit einem Geheimnis umgehen zu können. Es entspricht seinem Grundbedürfnis, alles enträtseln zu wollen; er will wissen, will verstehen und will entscheiden.
Soweit, lieber Theophil, waren wir uns einig und während ich dieses schreibe, denke ich an den Abend zurück, denke an den mit Leben erfüllten Platz, das so anregend beruhigende Fließen des Brunnens und an den erlesenen Rotwein (weißt Du eigentlich noch, was für ein Wein das war?).
Hinsichtlich der Konsequenzen, die sich aus dem Wissensanspruch des Menschen ergeben, waren wir uns uneins. Du argumentiertest, dass sich die Grenzen des Wissens und des Erkennens im Laufe der Geschichte immer weiter verschoben hätten; während man früher noch annahm, dass die Erde als Scheibe im Mittelpunkt des Weltgeschehens stünde, sei man doch heute im Großen wie im Kleinen so weit vorangekommen, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis die Welt völlig enträtselt und ein Verstehen auch der letzten Dinge möglich sei. Allein die Frage, ob auch die Liebe, die Freiheit, die Demut oder die Toleranz auf diese Weise erklärbar sein würden, brachte Dich ein wenig in Verlegenheit. Zumindest warst Du Dir diesbezüglich nicht sicher.
Meinst Du nicht auch, lieber Theophil, dass die Bedeutung unseres menschlichen Daseins völlig unabhängig ist vom Potential des Wissens, dass es vielmehr von Kräften beeinflusst wird, die wir der geistigen Welt zuzuordnen haben? Ist es nicht der Geist, der uns bewegt, treibt und lenkt, der uns Einstellung und Orientierung gibt? Ist die Existenz dessen, was wir Geist und Seele nennen, allein deshalb schon in Frage zu stellen, weil wir sie nicht sehen oder gar messen können?
Ich will Dir ein Beispiel geben: Einst trafen sich ein Ingenieur und ein Gärtner. Sie waren alt geworden und beide plauderten über ihr zurückliegendes Leben. Der Gärtner fragte den Ingenieur, warum er so traurig sei. „Mein ganzes Leben habe ich damit verbracht, eine Maschine zu bauen.“ so der Ingenieur. „Sie hatte die Fähigkeit, die Bahnen von Gestirnen aufzuzeichnen und sie zu berechnen. So war es möglich, bislang unbekannte Eigenschaften der Himmelskörper zu studieren.“ Traurig, sagte der Ingenieur, sei er, weil seine Maschine inzwischen defekt und nicht mehr zu reparieren sei.
Was aber, fragte er den Gärtner, veranlasse ihn, so vergnügt zu sein? „Das ganze Leben war ich von einer Idee beseelt“, erwiderte der Gärtner, „von der Idee, die Schönheit und deren Gesetzmäßigkeit in Erfahrung zu bringen. Allerdings musste ich erkennen, dass mir dies bis heute nicht gelungen ist.“ „Warum nur bist Du dann so vergnügt?“ fragte der Ingenieur. Nachdenklich aber bestimmt antwortete der Gärtner: „Dadurch, dass ich auf der Suche nach der Schönheit war, habe ich stets nur Schönes gesehen und ich habe es schätzen gelernt.“ „Wie kannst Du das sagen angesichts der vielen schrecklichen und unschönen Dinge, die in der Welt geschehen?“ fragte völlig verdutzt der Ingenieur. „Ich weiß,“ sagte der Gärtner, „doch ich meine, dass wir zu sehr das Negative, das Schreckliche, das Unschöne in uns zulassen; nur wer das Schöne sucht, wer es denkt und wer ihm Aufmerksamkeit schenkt, wird anfangen es zu verstehen und in sich Wirklichkeit werden zu lassen.“
Verstehst Du, lieber Theophil, was ich sagen will? Alles, was wir in dieser Welt schaffen, ist schließlich vergänglich. Wir leben in den Dimensionen von Raum und Zeit, von Energie und Materie, die gleichsam als Trägersubstanz des Lebens fungieren. Das Leben selbst aber ist anders. Wir alle tragen die Idee des Ewigen in uns, denn das Leben hat seinen Ursprung, der weit vor unserer individuellen Existenz liegt und ein Ziel, welches weit über uns hinausreicht.
Die Kraft, die in diesem Leben verborgen ist, nennen wir Gott, weil wir gewohnt sind, alles mit einem Namen zu belegen. Dabei verfallen wir immer wieder der Versuchung, den Namen zu einem Bild, zu einer Vorstellung werden zu lassen. In dem Maße, wie wir Gott aus dem Auge verlieren, schaffen wir uns unsere eigenen Götter. Es sind Götzen, mit denen wir die Lücken unserer unvollkommenen Vorstellungswelt schließen und diese zu einem abgeschlossenen und fertigen System werden lassen, in dem wir uns sicher fühlen. Wir tendieren dazu, alles Denken auf die Dimensionen unserer Sterblichkeit zu reduzieren: Wir glauben, was wir sehen, wir verstehen, was wir messen, wir schätzen, was uns zum Vorteil gereicht.
Wir sind gefangen in den Deutungen des Diesseitigen, in der Wahrnehmung der jeweils eigenen Wirklichkeit, in der Vorstellung der Ich-bezogenen Ausschließlichkeit. Ist der Vogel im Käfig nicht ein treffendes Bild für das in die Welt eingebundene, im Sichtbaren gefangene Verstehen vom Sinn und Wert unseres Daseins? Wie sinnlos wird die Perspektive des Vogels, wenn er im Käfig sitzt, wie verloren das Dasein, wenn es sich aus der Idee des Lebens ausgrenzt. Wie leuchtend aber ist die Botschaft in den Mosaiken von Santa Maria in Trastevere, ausgerichtet auf das zentrale Symbol von Alpha und Omega.
Als ich die kranke Frau nach ihrer Kindheit fragte, begann sich ihr Körper zu entspannen. Aus ihrem Gesicht verschwanden die angestrengten Züge der Auflehnung und der Ungewissheit. Ihre Augen senkten sich zur Bettdecke, aus deren Falten sich die Hände lösten. Es schien, als hätte sie Halt gefunden, wo sie bisher Halt in der Nachgiebigkeit dieser Decke gesucht hatte, als würde sie sich an Dinge erinnern, die ihr in Vergessenheit geraten waren.
Aber war es nur das? Konnte es sein, dass die Erwähnung der Kindheit mit dem Rückblick auf die Zeit der noch unberührten Lebensfülle die beklemmenden Ängste aufzufangen vermochte? Trägt nicht die Kindheit mit ihrer ungeteilten Sicht der Dinge alle Elemente des Lebens so unbeschwert in sich? Und alles hat nebeneinander Platz! Wenn dann die Jugend heranreift und nach und nach Wille und Pflicht fordernd und formend die Tage füllen, dann verliert sich das Ursprüngliche und Unverfälschte, dann verliert sich die Unschuld und das Sichtbare wird konkret in seinem Angebot, in seinem Anspruch und in seiner Verführung.
Das unbestimmte Gefühl, dass etwas verloren gegangen ist, wird überspielt; es werden Mauern gebaut, Mauern der Sicherheit, der Macht und des Glanzes für eine nur kurze vergängliche Zeit. Unmerklich werden die Mauern zum Käfig, der uns gefangen hält, der uns einengt auf die Dimensionen menschlicher Vernunft. Das Leben reduziert sich auf die konkrete Wirklichkeit, auf eine säkulare Welt, auf die Ausschließlichkeit der verstehbaren Dinge.
Wenn Du, lieber Theophil, einen Fisch fragtest, was ihm das Symbol „O“ bedeute, würde er wohl antworten: „Ich kenne nur das Wasser, was sollte dieses „O“ mir schon bedeuten?!“ Die Erklärung, dass „O“ ein Symbol bzw. ein Zeichen für den Sauerstoff sei und dass ohne diesen Sauerstoff sein Leben nicht möglich sei, würde er wohl verständnislos von sich weisen.
Schau Dich um und sieh in die Natur mit ihren Herrlichkeiten und ihren Ordnungen, mit ihrer Schönheit und ihren Gesetzmäßigkeiten. Nimm das Beispiel der Zugvögel, die im Frühjahr den Norden aufsuchen und in den kurzen Monaten des Polarsommers ihre Jungen ausbrüten, um dann, in den Anfängen des Herbstes den großen Weg nach Süden anzutreten. Diese Vögel tragen ein Gesetz, ein Versprechen in sich, dass ihnen die Verlässlichkeit der Orientierung gibt und die Vögel leben in der Gewissheit dieser Verlässlichkeit. Das ist es, was sie frei macht, was sie leben und ihr Ziel erreichen lässt.
Der Mensch tendiert immer wieder dazu, diese Verlässlichkeit der Orientierung aufzugeben. Als das Größte, was die Schöpfung hervorgebracht hat, verfügt er über die Freiheit, seine Orientierung selbst zu wählen. Immer wieder entscheidet er sich für den Käfig der beanspruchten Zuständigkeit. Er braucht offenbar den Käfig, um sich sicher zu fühlen.
Hast Du einmal, lieber Theophil, einen Vogel beobachtet, dem nach langem Aufenthalt die Türe des Käfigs geöffnet wird? Es ist die offene Tür, die ihm die Möglichkeit zur Freiheit gibt. Der Vogel zögert, er wägt ab zwischen der gewohnten Sicherheit und der Freiheit, die ihm unbekannt ist. Die Freiheit, die er nicht kennt, ängstigt ihn, wie alles, was unbekannt ist, Ängste verursacht.
So, genau so könnte es sein, wenn die Tür am Ende unseres Lebens, am Ende unserer gewohnten Sicherheiten aufgeht und wenn wir Unruhe und Ängste spüren angesichts des Unbekannten. Obwohl dann die Freiheit vor uns liegt, blicken wir dennoch zurück auf den Käfig, der uns Sicherheit bot, der uns verlässlich erschien in den Dimensionen des Verstehbaren.
Es war eine gelöste Stille im Zimmer der kranken Frau, als sie begann, aus ihrer Kinderzeit zu erzählen. Zunächst war es, als tauchten einige Lichter aus der Vergangenheit auf, Begebenheiten aus einer Welt, die kaum mit der jetzigen Situation des dahingehenden Lebens in Verbindung zu bringen waren.
Nach und nach verflog die Spanne Zeit, die sich zwischen die frühen Jahre und die betäubte Unfassbarkeit des ausklingenden Lebens so unbeschwert geschoben hatte. Ihre Ausführungen, denen ich mit Aufmerksamkeit folgte, fanden zu jener Unbefangenheit und Ungebrochenheit, die Kindern eigen ist, weil alles eins ist in ihrem Denken und Handeln, nicht eingeengt von der Begrenztheit der Möglichkeiten, nicht gestückelt in den Koordinaten der Zeit von Zukunft und Vergangenheit, nicht verloren in der Unausweichlichkeit verpasster Augenblicke.
Am Anfang ist ja nicht die Enge des Käfigs sondern die Kostbarkeit einer Idee, die wie in einem großen Garten unbeschwert Hoffnungen, Träume und Illusionen gleichermaßen hervorbringt und bestehen lässt. Und so erzählte sie von frühen Ereignissen, die ihr Leben beeinflusst, von Eindrücken, die bleibende Spuren hinterlassen haben und sie erzählte von einem Traum, der immer wieder in langen Nächten auftauchte und sie wie ein ungelöstes Geheimnis, immer aber auch wie ein unwiderlegbarer Lebensimpuls, begleitet hat. Es war das Bild eines Baumes, welches sich immer tiefer in ihr Bewusstsein einprägte.
So deutlich und unvergleichlich sie ihn auch vor sich sah und so sehr sie auch die von ihm ausgehende Kraft spürte, behielt er doch stets etwas Unnahbares und Geheimnisvolles. Sie wusste nicht, in welcher Weise sie Anteil hatte an der Großartigkeit und der Lebensfülle dieses Baumes. Manchmal schien es ihr, sie sei wie ein Blatt gewesen irgendwo in luftigem Geäst und immer, wenn sie sich in diesem Bild verwirklicht sah, immer dann leuchtete eine Ahnung von der Bedeutung dieses Baumes in ihr auf.
Die Empfänglichkeit und Unvoreingenommenheit des Zuhörens ermunterte sie, immer weiter mit der Darstellung von Bildern und Eindrücken fortzufahren und ich weiß nicht, ob sie bemerkte, dass sich ihre Vorstellung von ihrem Leben immer mehr über die schmerzliche Erfahrung der Begrenztheit hinaus in die Bereiche eines wundersamen Versprechens weitete.
Es entstand eine Orientierung, die sich frei machte von der Bevormundung durch die Zeit, von der bezwingenden Unmittelbarkeit des Vergänglichen. Nur so wird die Ruhe und die Kraft der Überzeugung verständlich, mit der sie nach einer kurzen, nachdenklichen Zeit sagte: „ Wir denken immer nur an die Forderungen, die wir dem Leben gegenüber haben und wir vergessen dabei, dass das Leben etwas von uns erwartet. Ist es denn nicht nur eine Frage des Gehorsams, diesem letzten für uns erkennbaren Willen des Lebens zuzustimmen?“
So erlebte ich, lieber Theophil, wie die Ängste angesichts der Letztgültigkeit des Todes aufgefangen wurden von dem Glauben an das Leben, von der Gewissheit, Teil dieses Geheimnisses zu sein, welches mit seiner bleibenden Idee über unsere Vergänglichkeit hinausreicht und uns in jenem Augenblick Orientierung gibt, indem die Tür des Käfigs aufgeht.
So wird mir dieses Mosaik in der Santa Maria in Trastevere stets in Erinnerung bleiben, als Wahrnehmung, als ein Innehalten und als eine Orientierung. Das, lieber Theophil, musste ich Dir schreiben, weil ich erleben konnte, dass solche Erfahrungen auch in den Gewohnheiten des Alltäglichen durchaus Bestand haben, nicht als Traum sondern als Gewissheit!
Mit vielen, lieben Grüssen,
Dein Reisegefährte
(Wirklichkeit und Wahrheit)
ist es denn heute noch üblich, „Fräulein“ zu sagen? Wäre es ziemlicher gewesen, Sie mit „Frau“ anzureden, zumal ich Sie ja gar nicht kenne? Dem Umstand, dass Sie mir erzählen, vor wenigen Monaten mit dem Studium der Philosophie begonnen zu haben, entnahm ich, dass Sie vor nicht allzu langer Zeit Ihre Schulzeit mit der Reifeprüfung beendet haben. So vermute ich, dass sie etwa 20 Jahre alt sind, jung genug, um für so manche Veränderung in Ihrem Leben offen zu sein und doch wiederum alt genug, um mir, falls nötig, eine kleine Ungeschicklichkeit zu verzeihen.
Sie schreiben, Sie hätten einer Vorlesung beigewohnt, in der am Beispiel einiger menschlicher Schicksale über die Vorläufigkeit und Bedingtheit unseres Lebens gesprochen wurde, in der gleichermaßen versucht wurde, den Unterschied von Wirklichkeit und Wahrheit herauszuarbeiten. Sie schreiben, die Vorlesung sei sehr schlecht besucht gewesen und Sie erklären dies mit einer ungewöhnlichen Hitze an jenem Sommertag. Darüber hinaus äußern Sie Verwunderung darüber, dass diese Vortragsreihe über „Wissenschaft und Ethik“ im Unterschied zu anderen Vorlesungen offensichtlich auf nur geringes Interesse stößt, obwohl doch ethische Probleme allerorts lebhaft diskutiert werden.
Wenngleich sich Ihr Brief an mich im wesentlichen mit der Frage nach der Bedeutung von Wirklichkeit und Wahrheit beschäftigte, erlaube ich mir doch, Ihre eher beiläufige Feststellung der nur geringen Beteiligung an der erwähnten Vorlesung in aller Kürze zu kommentieren.
Die Gründe hierfür mögen, wie Sie sagen, von äußeren Bedingungen abhängig gewesen sein. Doch scheint Sie Ihre Beobachtung ebenso zu beschäftigen, wie sie mich nachdenklich macht. Zweifellos wird in unserer Zeit viel über Ethik gesprochen, es werden Postulate aufgestellt, Bekenntnisse formuliert und Zeitprobleme ethisch unterlegt. Im Laufe meines Lebens musste ich jedoch erfahren, dass häufig gerade über diejenigen Dinge geredet und geeifert wird, die in den Schatten des Bewusstseins geraten sind.
Es ist wie bei Statuen und Denkmälern, auf die Scheinwerfer gerichtet sind: sie sind hell, aber sie leben nicht. Es ist, als ob versucht würde, durch Reden, Gespräche und Diskussionen eine Sache zum Leben zu erwecken, eine Sache, die schon längst aus den Bedürfnissen des Alltäglichen ausgegrenzt wurde. So werden die Reden lang, die Diskussionen schal, die Sprache eintönig und einfältig, so werden Begriffe allzu schnell zum Argument gemacht, noch bevor ihre Bedeutung erkannt, ihre Inhalte definiert sind.
Wir sagen „Fortschritt“ und schon sind wir der Meinung, wir hätten von ihm einen Gewinn zu erwarten. Wir sagen „Glaube“ und schon scheint sich das Verstehen von unserer Wirklichkeit ins Unwiderlegbare zu weiten; wir sagen „emanzipiert“ und schon empfinden wir Souveränität und Größe, weil wir im Vergleich mit anderen keine Defizite an uns wahrzunehmen glauben. Wir sprechen von „Spiritualität“ und schon meinen wir, die Suche nach der Wahrheit befriedet zu haben und, um dieses Beispiel noch zu nennen, wir sagen von uns, dass wir „frei“ wären und schon meinen wir, die Legitimation zu haben, uns jeder Bindung zu entledigen.
Was ist es denn, was uns dazu verleitet, Begriffe zu gebrauchen, die uns jeder Mühe des Nachdenkens und des überlegten Handelns entheben, die ganz offensichtlich – aber eben doch nur scheinbar – hinsichtlich ihrer Aussage über die Kraft des Eindeutigen und des Unbestreitbaren verfügen? Was bedeutet denn Fortschritt, was Glaube oder Spiritualität und was bedeutet es, frei zu sein? Könnte es nicht sein, dass wir uns gerade dort in die Scheinwelt inhaltstrunkener Begrifflichkeiten flüchten, wo wir entweder unsicher, oder aber nicht bereit sind, Fragen an unsere eigene Person zu stellen? Schnell sind wir dabei, uns auf die scheinbare Allgemeingültigkeit solcher Begriffe einzulassen, Begriffe, die nicht mehr erklärt, nicht mehr in Frage gestellt zu werden brauchen. Wir scheinen auf gesicherten und allgemein anerkannten Wegen zu gehen und brauchen nicht zu fürchten, hinterfragt oder gar bloßgestellt zu werden, denn wir bewegen uns ja im Strom, im Sog der allgemeinen Akzeptanz.
Nehmen wir den Begriff des Fortschritts, der doch recht eindeutig das Vorankommen in einer Sache oder auf einem Gebiet und damit eine Weiterentwicklung in diesen Bereichen zu signalisieren scheint. Keineswegs ist aber mit diesem Begriff eine Richtung des „Schreitens“, des Gehens, des sich Entwickelns definiert. Im Gegenteil, es heißt ja „fort“-schreiten und die Frage scheint berechtigt: „wohin?“ Dieses „fort“ bedeutet doch, dass eine Position verlassen wird, dies aber verlangt gleichermaßen das Einnehmen einer neuen Position, was wiederum fragen lässt: „welcher?“ Keine dieser Fragen beantwortet der Begriff „Fortschritt“ gleichsam von selbst. Demzufolge ist er nichts mehr und nichts anderes als wertneutral, bestenfalls; er kann sowohl eine Weiterentwicklung des Erkenntnisprozesses, eine Verbesserung der technischen Anwendungsmöglichkeiten als auch ein Fortschreiten, ein sich Entfernen von der Sinnhaftigkeit des menschlichen Lebens bedeuten, womit völlig diskordante Richtungen aufgezeigt sind.
Nehmen wir den Begriff des Glaubens, so soll damit wohl eine Aussage hinsichtlich einer im Religiösen verankerten Lebenseinstellung getroffen bzw. eine Lebensauffassung skizziert werden, die jenseits einer rein materiellen Diesseitigkeit Orientierungs- und Haltepunkte erkennen lässt. So oder ähnlich wird der Glaubensbegriff gehandhabt, was aber beinhaltet er konkret? Zunächst einmal nicht mehr als das, was sich jeder einzelne von uns über das Sichtbare hinaus vorstellt, was er für möglich oder für wahr hält. Demzufolge wird das Eigene, das Individuelle über die jeweilige Wirklichkeit hinaus in das Undefinierbare verlängert und ins Jenseitige projiziert. Der Einzelne scheint damit über die Inhalte des Glaubens verfügen und gleichermaßen selbst entscheiden zu können, ob er zu glauben gewillt ist. So glaubt der eine an Gott, der andere an den Fortschritt, manch einer an die Natur, manch anderer an sich selbst. Auf diese Weise hat schließlich jeder seinen eigenen Gott und das, was ihn an diesen Gott bindet, nennt er Glaube.
Gleichsam als Spiegel einer Zeitepoche tauchen Begriffe auf, die ohne hinterfragt zu werden, den Anspruch auf eine unwiderlegbare Positivität in sich bergen. Mit dem zunehmenden Glauben des Menschen an sich selbst strebt er nach Unabhängigkeit und Souveränität. Die Mündigkeit wird für ihn zum Beleg seiner Selbstachtung, so wie das Emanzipiert-Sein für die Frau zum Attest ihrer Selbständigkeit und ihres Selbstwertes wird.