Tödliche Injektion
Vorwort
Sandro Veronesi: Wenn der Noir-Roman Literatur wird
Jim Nisbet — Schriftsteller und Tischler
»Lieber Jim, heute schließt sich ein Kreis, der sich vor neunzehn Jahren aufgetan hatte. Es war im Frühling 1990, und durch eine jener Schicksalsfügungen, denen ich die meisten wichtigen Begegnungen verdanke, war ich nach San Francisco aufgebrochen, mit dem Roman Tödliche Injektion im Koffer und Deiner Telefonnummer in der Tasche. Ich meine, wir hätten uns leicht verpassen können. Ich hätte es verpassen können, Heidi vor dem Abflug um Rat zu fragen, oder ich hätte sie überhaupt verpassen können, so abgelegen, wie sie in Umbrien wohnte. Dann hätte ich diesen bemerkenswerten Roman nie gelesen und Dich mit ziemlicher Sicherheit nie kennengelernt. Aber es kam, wie es kam, und als ich zum ersten Mal kalifornischen Boden betrat, war Jim Nisbet nicht mehr der Exfreund einer Freundin von mir, den ich während meines Aufenthaltes in San Francisco um Unterstützung bat, sondern ein spannender Schriftsteller des Hard boiled, des kalifornischsten aller Genres, das ich damals noch mit Begeisterung las (ich sage ›damals noch‹, weil meine Begeisterung inzwischen abgeflaut ist, denn das Genre wurde von seinen eigenen postmodernen Varianten, vom Anwaltskrimi bis zum Horror unterschiedlichster Prägung, vereinnahmt und aufgezehrt). Was für ein Erlebnis, lieber Jim, war dieser Roman für mich damals gewesen! Was für eine Kraft, was für ein Vertrauen in das geschriebene Wort, was für ein großartiges Beispiel einer verzweifelten, aber unbezwingbaren Weltanschauung wäre mir entgangen, hätte ich ihn nicht gelesen ... Es gab seinerzeit noch keine italienische Übersetzung Deiner Romane. Dein erster Roman The Damned don'’t die von 1981 kam in Italien erst 1993 heraus, und zwar direkt als Taschenbuch, bei Bompiani. In Frankreich aber warst Du bereits übersetzt und wurdest als Kultautor der Reihe Rivages Noir verehrt. Auch in den Staaten warst Du Kult, besonders an der Westküste, wo Du einer der Hauptautoren der legendären Black Lizard Books warst, einem Ableger der Noir Creative Arts Book Company aus Berkeley, die Deine und Barry Giffords Romane (Wild at Heart) veröffentlichten sowie die vergessenen Meister der Kriminalliteratur der dreißiger bis sechziger Jahre neu auflegten, vor allem aber das Genie Jim Thompson, den Guru der sogenannten Pulp Fiction, post mortem bekannt und zu einem der meistadaptierten Autoren des amerikanischen und nichtamerikanischen Kinos machten. Ja genau, die legendären Black Lizard Books, die am Ende ihrer glänzenden und kohärenten Entwicklung praktisch ausgelöscht wurden durch die Übernahme von Random House, einer jener teuflischen Fusionen, die, wie Du nur zu gut weißt, das unabhängige Verlagswesen Deines Landes zum Verschwinden gebracht und alles in einen Mainstream-Einheitsbrei verwandelt haben, sodass dort, wo vorher Jim Thompson, Charles Willeford, David Goodis, Harry Whittington, Charles Williams, Barry Gifford und Du waren, jetzt nur noch das Trio Hammett, Chandler und Cain (Vintage Crime/Black Lizard) herrscht ... Und abgesehen davon, na los, sprechen wir es aus, wo wir schon dabei sind, sagen wir’s wie einer Deiner Protagonisten: Kultautor ’n Scheiß. Denn damit ist, zumindest was Dich betrifft, ein unremunerative author gemeint, mit dem Kultstatus wird schöngeredet, dass Dir nie ein Bruchteil dessen bezahlt wurde, was du wert bist ... Aber gerade das hat mich, nachdem wir uns kennenlernten, so verblüfft, und zwar mehr noch als Deine Bravour: dass Du — überall gelobt und von anspruchsvollen Lesern bewundert, aber nie angemessen entlohnt — Deine Erfolglosigkeit, beziehungsweise Deinen ›Erfolg zum Nulltarif‹ als strukturellen und unverzichtbaren Bestandteil Deiner Freiheit betrachtest, dich klaglos damit abgefunden hast, Teilzeit-Schriftsteller und Teilzeit-Tischler zu sein, und sogar den Eindruck machtest, diese Arbeitsteilung als ein Privileg zu empfinden.
Der Kreis, der sich vor neunzehn Jahren auftat, schließt sich heute mit der italienischen Übersetzung des Romans Lethal Injection, den Heidi mir als Lektüre auf den Flug mitgab und durch den ich Dich kennengelernt habe. Er schließt sich mit diesem Text für die italienische Ausgabe, von dem ich noch nicht weiß, ob er ein Vor- oder Nachwort wird. Wer sonst hätte ihn schreiben sollen? Ich wäre verdammt beleidigt gewesen, wenn jemand anderer damit beauftragt worden wäre. Obwohl Ihr, lieber Jim und lieber Sergio Fanucci (der couragierte Verleger Nisbets), nur zu gut wisst, dass Schicksal eben Schicksal ist und dass mein Text nicht viel helfen wird. Durch ihn wird sich der Roman nicht besser verkaufen, und er wird nichts verändern, was sich bisher nicht geändert hat. Ihr wisst es, weil ich bereits einmal ein Buch von Jim in Italien (durch ein Nachwort) unterstützt habe: Prelude to a Scream von 2001, ebenfalls ein großartiger Roman — der aber sang- und klanglos untergegangen ist. Was ganz logisch war, damit wir uns richtig verstehen, und auch folgerichtig: Du bist und bleibst offenbar für immer ein Phantomgenie, mein Freund, nur wenigen bekannt und von wenigen bewundert — aber die sind über die ganze Welt verstreut und insgesamt gar nicht mal so wenige. Über das Buch Tödliche Injektion will ich nicht viel sagen. Es ist ein Buch, das einen kaum Luft holen lässt, um einen Kommentar abzugeben. Ich sage nur so viel, dass es auf seine Art perfekt ist. Kein Wort über die Story und die Protagonisten, denn wir wissen ja, dass es nicht nur um eine Story und Protagonisten geht, sondern um eine Weltanschauung, um Struktur, Schreiben und vor allem um Dich. Das ist es, was Dich letzten Endes so einzigartig macht, selbst im Vergleich mit Deinen Kollegen innerhalb des Genres: Du bist immer in Deinen Geschichten drin, Deine Schreibe ist nicht mimetisch, nicht essentiell, trocken und distanziert. Deine Schreibe trägt Dich durch die Story, auch wenn Du nie in der ersten Person erzählst. Und das ist so unnachahmlich an Dir, Jim: Du bist immer da, selbst dann, wenn Du nicht da bist. Mit anderen Worten: Du bist immer da, aber Du bist niemandem im Weg.
Zum Beispiel am Anfang des 8. Kapitels:
›Anfänglich hätte Royce nicht zu sagen vermocht, wie lange er geschlafen hatte. Er hatte sich einer dieser Kurzschlafphasen hingegeben, wie es Menschen tun, wenn sie zu lange mit ein und derselben Sache beschäftigt sind und wenig Hoffnung hegen, es jemals zu schaffen, etwas anderes zu tun. Also warum sich nicht ein bisschen ausruhen? Dem Leben ringsum bliebe nicht genügend Zeit, sich zu verändern, während man eingenickt war; allerdings bliebe dem Leben ohnehin nie genug Zeit, sich zu verändern, soweit es das Leben dieser Anhänger des Kurzschlafes betraf. Nun, vielleicht hatte er ungefähr eine Stunde geschlafen.‹
Wer spricht hier, Jim? Wer stellt sich hier die Frage? Es ist nicht der Protagonist Royce — Royce wacht auf und fertig. Es ist niemand, der zur Story gehört, Jim. Du bist es. Du, der Schreibende, bekennst Dich als Autor in einem Genreroman, einem Hard boiled voller Action und Perversion. Wow. Gewisse Kollegen von Dir würden nicht mal verschämt zugeben, Schriftsteller zu sein, sie verstecken sich ständig und theoretisieren sogar ihr Versteckspiel, von Lektoren und fanatischen Kritikern bestärkt, als Stilmittel und Wert ...
Du dagegen machst den Tischler und hättest folglich ein Alibi, könntest sagen: ›Ich? Ich habe damit nichts zu tun, ich habe nur gehobelt.‹ Aber nein, Du stehst nicht nur zu Deinen Geschichten, sondern Du nimmst an ihnen teil: Du lässt zu, dass der Held ein bisschen weniger heldenhaft, clever, witzig und intelligent ist, dass er normaler ist, und übernimmst Deinerseits die Verantwortung dafür, heldenhaft, clever, witzig und intelligent zu sein. Weil Du — wie oft haben wir darüber gesprochen, an der North Beach, an die Du mich geführt hast, wo Dich jeder kannte und Dir auf den Rücken klopfte und wo man in eine verdammte Zeitmaschine einzusteigen schien, so sehr schien die untergegangene Sonne noch überall — die große Literatur, Beckett, Kenzaburo Oe, Škvorecký und Dostojewski liebst. Und deshalb sage ich hier über dieses Buch nur eines: Dass es wie von einem dieser vier Großen geschrieben scheint — und stattdessen hast Du es geschrieben.«
16. Juli 2009, La Repubblica
9
Eddie Lamark trank den Whiskey aus und betrachtete die Flasche. Dann warf er sie in den Fernseher.
Die Röhre implodierte mit einem dumpfen Knall, als würde in einiger Entfernung eine Tür zugeschlagen. Der Ton der Übertragung lief weiter, vorbei an den Rauchschwaden, die aus dem gezackten Loch aufstiegen, hörte es sich an wie ein Bericht von einem geheimnisvollen Wettkampf zwischen toter Materie. Dann ein Brutzeln, und der Bericht verlor sich im Nichts. Einem Wetterleuchten gleich flackerte es blau über die zerborstene Mattscheibe. Als unglücklich verheirateter Gefängnisarzt hatte Royce im Laufe der Zeit ein gerüttelt Maß an Gewalt miterlebt — war er ihr zum Opfer gefallen, dann hatte es sich nie um Zufall gehandelt; hatte es sich um einen Zufall gehandelt, dann war er dem nie zum Opfer gefallen. Und so war Royce nicht sonderlich überrascht — nachdem er, beide Hände auf die Zwillingswunde an seinem Hals gepresst, wieder auf seinen Beinen stand und sich in dem kleinen Zimmer drehte und wand —, dass Eddie auf die Frage, womit zum Teufel er, Royce, das verdient habe, lediglich die Augenbrauen hob, kurz so verharrte, dann mit den Achseln zuckte und den Kopf schüttelte. Dennoch, Royce war wütend, und Eddie Lamarks ehrliches Schulterzucken machte ihn rasend. Eine Hand noch immer gegen den Hals gepresst, holte er mit der anderen aus, um Lamark einen Schwinger zu verpassen. Der Versuch ging ins Leere. Lamark revanchierte sich, indem er seine Faust in Royce’ Magengrube versenkte. Es war ein harter, gut platzierter Treffer, der den älteren Mann auf die Knie zwang. So überraschend schnell er agiert hatte, so überraschend schnell zog sich Lamark wieder zurück. Royce kniete auf dem zerschlissenen Teppich und hatte Mühe, die whiskeyangereicherte Galle mit ihren sechsundachtzig Umdrehungen unten zu halten, die ihn zu ersticken drohte, jedes Mal, wenn er nach Luft schnappte. Die Position war perfekt: Lamark hätte ihm ohne Weiteres einen tödlichen Schlag gegen die Schläfe versetzen können.
Stattdessen trat Lamark zurück und zündete sich eine Zigarette an. Ein Zug, dann ein zweiter. Er blies den Rauch gegen das brennende Streichholz, doch es erlosch nicht. Dann beugte er sich hinunter und packte Royce am Kinn, drehte es unsanft herum und betrachtete das Gesicht im Schein der Streichholzflamme.
»Verdammt, wer sind Sie, Mister?« Seine Stimme hatte jedwede Lässigkeit eingebüßt.
Royce war verletzt und hatte Probleme zu atmen, er wollte die Frage nicht beantworten, als ihn plötzlich die Ahnung beschlich, Lamark könne ihn anzünden wollen. Mit einem Aufschrei drehte er sich weg vom Streichholz, fiel gegen die Couch und flach auf den Boden.
Eddie Lamark grinste breit und ein Rauchring entschwebte seinem Mund. Lamark lenkte so lange Rauch in Richtung Streichholz, bis es erloschen war.
Royce blieb im Dunkeln am Boden liegen. Seine Gedanken wanderten zu der Arzttasche hinter dem Sofa. Drinnen fand sich neben einer Brandsalbe hinreichend Natriumpentothal, um Lamarks hämische Miene zu einer Totenmaske erstarren zu lassen. Niemals zuvor hatte Royce sich derart von Hass überwältigt gefühlt, nicht einmal in den schlimmsten Nächten mit Pamela. Binnen zehn Minuten war es Lamark gelungen, jahrelange Frustration und Verwirrung freizusetzen, und sich gleichzeitig als einzig verfügbares Objekt in den Mittelpunkt zu rücken, das Royce Erleichterung verschaffen könnte. Royce bediente sich dieses Hasses, um den Schmerzen zu begegnen und seine Gedanken zu ordnen. Er biss die Zähne aufeinander und sein Atem ging pfeifend.
Aufgrund der Gerichtsprotokolle und anderer Unterlagen, die er in Thurmans Akte gefunden hatte, konnte er davon ausgehen, dass Lamark und Colleen Valdez zum Zeitpunkt des Raubüberfalls und des Mordes in enger Beziehung zu Bobby Mencken gestanden hatten. Die Argumente der Staatsanwaltschaft hatten einleuchtend geklungen, basierten jedoch rein auf Indizien. Man hatte Mencken geschnappt, als er vom Tatort fliehen wollte. Man hatte die Tatwaffe in der Nähe gefunden, darauf Menckens Fingerabdrücke. Man hatte Valdez und Lamark etwa eine Woche später befragt, nur war nichts dabei herausgekommen. Einer war des anderen Alibi. Mencken hatte den Kopf hinhalten müssen.
Doch Royce konnte die Augen des Mannes nicht vergessen, in jener Nacht, als er ihm beigestanden hatte. Mencken war unschuldig gewesen. Wie auch immer, diese Theorie würde Royce’ Vorgehen bestimmen.
Ein dehnbarer Begriff, Vorgehen, dachte er.
Royce richtete sich auf, kauerte sich in die Ecke zwischen Wand und Couch. Er befeuchtete zwei Finger, legte sie mit leichtem Druck auf die beiden Brandwunden und wartete. Auf der anderen Seite des winzigen Zimmers sah er Lamarks glimmende Zigarette. Verdammt schwer zu glauben, dass Mencken sein Leben für diesen Eddie geopfert haben sollte. Nicht wenn das Lamarks normales Benehmen war, und Royce hatte keinerlei Veranlassung zu der Annahme, dass sich der Mann jemals anders benähme.
Das Mädchen jedoch ... Sie könnte es einmal wert gewesen sein, ihretwegen ein Risiko einzugehen. Aber sich opfern, ihretwegen?
Es war der Augenblick, als Royce die beiden kreisrunden Punkte glänzenden Narbengewebes auf Menckens Schulter einfielen. Jetzt hockte er auf dem Boden einer Wohnung in Dallas, seine Finger auf zwei schmerzhafte Wunden gelegt, die, wenn sie verheilt waren, genauso aussehen würden. Er würde Eddie Lamarks Brandzeichen tragen. Genau wie Bobby Mencken.
Gelbes Deckenlicht erhellte plötzlich das Zimmer.
»Was ist denn hier los?«
Colleen Valdez stand rechts von Royce in der Tür, in ihren Morgenmantel aus Taft gehüllt, wirkte sie sehr verschlafen. Sie kratzte sich am Kopf, sah Royce an, dann wanderte ihr Blick über das Desaster im Zimmer, bis er sich auf Eddie heftete, der an der gegenüberliegenden Wand lehnte. »Wie spät ist es?«, fragte sie und gähnte.
»Spät genug, um ’ne neue Flasche Whiskey und ’nen neuen Fernseher zu besorgen«, sagte Eddie. »Wo warst du?«
»Oh, Mann«, sagte sie unter Gähnen. »Ich hab mir ’nen Schuss gesetzt, der mich vor allem daran erinnert hat, warum aus mir dieser nutzlose Abschaum geworden ist.« Dabei bückte sie sich und richtete den Tisch auf, der die Tür blockierte. »Wie auch immer, ich denke, das hat’s gebracht«, fügte sie hinzu. »Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass der Typ da«, sie zeigte auf Royce, »mich aufgefangen hat, als ich im Flur weggetreten bin. Danke.«
Royce nickte, ohne Lamark aus den Augen zu lassen.
Schweigen.
»Tja«, sagte sie und nahm die letzte Zigarette aus der Packung, die oben auf dem zerstörten Fernseher lag. Sie betrachtete den zerbrochenen Hals der Whiskeyflasche, der aus dem Loch in der Bildröhre ragte, und bemerkte: »Sieht so aus, als hätten wir hier alle unsere Fehler.«
»Also, dann sollten wir jetzt ’ne Flasche und ’nen Fernseher organisieren«, sagte Eddie, Royce fest im Blick. »Wer ist dieser Kerl überhaupt?« Colleen Valdez wandte den Kopf zur Seite und hielt ein Streichholz an ihre Zigarette. »Sagt, er wär ein Freund von Bobby Mink«, erklärte sie und wedelte das Streichholz aus.
»Knast?«, fragte Lamark.
Royce schwieg, war jedoch angenehm überrascht zu hören, dass Colleen Valdez sich daran zu erinnern vermochte, wie sie zuvor, am späten Nachmittag, aufeinandergetroffen waren.
»Er schlägt aber nicht so zu, als würde er aus dem Knast kommen«, stellte Lamark fest.
»Ich bin ein Intellektueller«, sagte Royce wie zur Verteidigung.
Lamark bewegte die Finger seiner Schlaghand, streckte sie, schloss sie zur Faust, während er Royce durch den Rauch der Zigarette in seinem Mund hindurch fixierte.
»Ist das das Gleiche wie smart?«, fragte Colleen, abgelenkt durch die Suche nach einem Aschenbecher für ihr Streichholz. Obwohl ihre Bewegungen eher langsam ausfielen, war sie deutlich munterer als beim ersten Zusammentreffen mit Royce und entsprechend interessanter anzuschauen. Sie war ein gutes Stück größer, als er anfänglich gedacht hatte. Schließlich gab sie die Suche nach dem Aschenbecher auf und schnippte das Streichholz auf den Tisch. »Genau die Sorte, die Bobby gemocht hat.«
»Merkwürdiger Zeitpunkt, hier aufzutauchen«, sagte Lamark. »Erst vorgestern hat Bobby den Abgang gemacht und so. Warum bist du hier?«
»Ich wollte herausfinden, wie sich zivilisierte Leute benehmen«, sagte Royce. »Habe mir gedacht, Freunde von Bobby wüssten alles darüber.«
Lamark lachte.
»Ficken und streiten«, sagte Colleen, als sie Richtung Küche ging. »Alles beim Alten.« Royce und Eddie beobachteten einander. Royce hatte sich inzwischen erholt und war zuversichtlich, gewisse Klippen geschickt umschiffen zu können, harte Fakten, die ihn zu Fall bringen könnten. Gleichzeitig stand für ihn fest, dass es einer gewissen Sensibilität bedurfte, wenn es darum ginge, diese Leute mit dem Inhalt seiner Gladstone-Tasche bekannt zu machen. Zweifelsohne gab es ein paar Dinge darin, die sie auf der Stelle zu konsumieren wünschten. Das Morphium zum Beispiel würde ihresgleichen für einige Tage die Unbilden ersparen, sich auf der Straße herumdrücken zu müssen.
Das Gefühl, in dem alles dominierenden Chaos seiner neuen Umgebung eine Art Ufer gefunden zu haben, wirkte sich beruhigend auf die an Panik grenzende Hilflosigkeit aus, die Royce’ Geistesgegenwart zu beeinträchtigen drohte. Obwohl das Morphium fraglos eine bedeutende Karte darstellte, gab er sich keinerlei Illusionen hin, dass Lamark — wenn nicht sogar das Mädchen — ihn dafür verschonte, wenn er sie zum falschen Zeitpunkt ausspielte.
Er fühlte sich wie ein des Englischen nicht mächtiger Tourist in Manhattan, der sich plötzlich mit der Tatsache konfrontiert sieht, dass es dienstagmorgens drei Uhr ist, er in Lederhose plus Hosenträger und einem Miss-Liberty-T-Shirt den Times Square entlangmarschiert, mit einem Pass und zweitausend Dollar in Reiseschecks, die aus seiner Hosentasche heraushängen, und einer teuren Kamera, die an einem Lederriemen um seinen Hals baumelt: verwundbar.
Aber seiner Angst mischte sich Erregung bei. Seine Schmerzen wurden gemildert durch die Gewissheit, dass die erste Spur, auf die er in Menckens Akte gestoßen war, ihn direkt zu einer Person — mindestens einer Person — geführt hatte, die zu den Taten fähig war, deren der Staat Texas Bobby Mencken für schuldig befunden hatte.
Wenn er es beweisen konnte, war Menckens Tod so gut wie gerächt. Royce sah Lamark jetzt in einem neuen, in einem fremden Licht. Lamarks Tod könnte der Weg einer Rache für Mencken sein. Und eingedenk der Ungeheuerlichkeit, die sich Lamark ihm, Royce, gegenüber erlaubt hatte, wäre es jetzt sogar ein Vergnügen, ihn herbeizuführen. Mit Vergnügen würde er Eddie das Brandzeichen mit einem goldenen Schuss vergüten. War ein derart fairer Handel noch möglich in dieser verkorksten Welt?
Royce kam der Gedanke, dass, sollte Lamark so verrückt sein, wie er sich gab, er ihn nur zu fragen brauchte, wer Amanda Johnson getötet hatte, eine fünffache Mutter, die für $ 3.25 die Stunde spätabends in einem Laden arbeitete, um über die Runden zu kommen. Gut möglich, dass Eddie es ihm erzählte.
Royce kam zudem der Gedanke, dass ihm dieses Reptil Lamark, gerissen, wie der nun mal war, gerissen und vermutlich auch schlau, sehr wahrscheinlich nicht genügend Zeit ließe, viel herauszufinden. Ganz klar, schuldig hin oder her, ihm war es gelungen, schlauer als Mencken zu sein. Ihn hatte man nicht geschnappt.
»Nachdem er in den Todestrakt verlegt wurde, habe ich Bobby nicht mehr oft gesehen«, begann Royce. »Wir haben uns angefreundet, als er ... nun, als er auf Physiotherapie abgefahren ist. Ja, so war’s.« Royce verspürte einen stechenden Schmerz in der Magengegend. Er hielt sich den Bauch mit beiden Händen und zuckte zusammen.
»Physiotherapie.« Lamark schüttelte ganz langsam den Kopf. »Das sieht ’n Blinder, dass du nie Physiotherapie gemacht hast, Wichtigtuer.«
Royce schloss die Augen und biss vor Schmerzen die Zähne zusammen.
»Ich hatte mehr mit dem theoretischen Part zu tun«, sagte er lahm, konnte sich aber mit dieser Variante anfreunden. »Ich bin der Therapeut gewesen. Kalfaktor, verstehst du? Draußen war ich Arzt … «
Lamark runzelte leicht die Stirn. »Arzt?« Sein Mund verzog sich spöttisch. »Was für ’n Arzt?«
Royce schüttelte den Kopf. »Das spielt keine Rolle. Ich, äh … Am Ende habe ich Junkies aus der Oberschicht Rezepte ausgestellt.«
Lamark grinste, nicht ohne Zuversicht. »Hast du noch ’ne Zulassung?«
Royce lachte. »Du meinst zum Fahren?«
Lamark schüttelte den Kopf und lächelte gezwungen.
»Wie auch immer«, fuhr Royce fort. »Ich bin auf Bewährung entlassen worden, wegen guter Führung, und wie der Zufall es wollte, bin ich vor ein paar Tagen rausgekommen, bevor Bobby Mink … « Er ließ den Satz unvollendet. Kurz darauf spann er den Faden weiter, jedoch in leicht verändertem Tonfall, ein Anflug von Melancholie war einem Anflug von Verbitterung gewichen. »Meine Frau hat mich am Tor empfangen und mir meinen alten Arztkoffer mit ein paar Kleidungsstücken darin in die Hand gedrückt. Dann hat mir der Stellvertreter des Sheriffs, der sie begleitete, eine Vorladung fürs Scheidungsgericht übergeben, eine einstweilige Verfügung, die mir untersagt, die Schwelle meines Hauses jemals wieder zu betreten, dazu die Schlüssel und Papiere für meinen Pick-up. Dann haben sich unsere Wege getrennt. Für immer, vermute ich.«
Royce bemerkte den Saum des schimmernden Morgenrockes, gleich um die Ecke, draußen im Flur, wo Colleen Valdez, gegen den Türrahmen gelehnt, eine Zigarette rauchte und seiner Geschichte lauschte. Der nackte Fuß unterhalb des Saums, gebräunt und wohlgeformt, fesselte seine Aufmerksamkeit.
Eddie blickte auf das Ende seiner Zigarette. »Und wie geht’s dem guten alten Thurman?«, fragte er.
Royce riss sich vom Anblick des Fußes los und sah Eddie an. Der starrte weiter auf das Ende seiner Zigarette. Im Flur hob Colleen ihre an die Lippen, verharrte so, ohne zu rauchen.
Das dürfte einfach sein, dachte Royce. Er ließ die Spannung weiter wachsen, ein, zwei Momente lang, dann sagte er: »Wie immer. Wahrscheinlich würde er gern mal einen Abend mit dir in der Stadt verbringen, Eddie.«
Eddie zog eine Augenbraue hoch und nickte gedankenverloren.
»Aber am liebsten hätte er sein Leben damit verbracht, Bobby jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Er hat Bobby Harcamone genannt, nach irgendeinem abgedrehten Roman, den er mal gelesen hat, und bekommt im Büro nicht alles auf die Reihe, wegen der Geschichten, die er sich zusammenreimt, Geschichten rund um Harcamone und sich selbst.«
Royce sah im Flur eine Rauchwolke aufsteigen. Eddie nickte noch immer nachdenklich; die Zigarette mittlerweile in der Hand, spitzte er die Lippen und verfolgte den Rauch, der zwischen seinen Fingern aufstieg.
»Allerdings hatte Bobby mit den Schwestern nicht viel am Hut. Ich denke, er stand mehr auf die harten Jungs.«
Eddie sah hoch.
»Hat man Doc zu dir gesagt? Bist du im Knast so genannt worden?« Colleen sah um die Ecke und nahm Royce ins Visier.
Royce nickte. Er hatte seinen Namen bereits genannt, doch Eddie wollte einen Spitznamen hören. Eine Reihe kreuzdummer Pseudonyme schoss ihm durch den Kopf. Lonnie Childs. Miles Torn. Elmer Shipault. Aber diese Nummer mit der verdeckten Ermittlung war Neuland für ihn. Außerdem waren da sein Führerschein und die Fahrzeugpapiere und zu viele andere Dinge, die versehentlich Lücken in seine Geschichte reißen könnten, als dass er mit falschen Namen hätte jonglieren können. Also rückte er mit der Wahrheit heraus. »Viele haben mich Doc genannt, ja. Aber mein richtiger Name ist Royce. Franklin Royce. Die meisten Leute sagen Royce oder Frank.« Er schüttelte den Kopf und errötete beinahe. »Bobby hat mich Rolls genannt. Rolls Royce.« Er lächelte seinen beiden Gastgebern zu. »Genau wie du, Eddie.«
Eddie sah hinunter zu ihm. Ein Rauchring kam aus der Richtung, wo Colleen stand.
Für einen Augenblick nahm Royce eine äußerst beredte Stille wahr. Dann fiel ihm auf, dass die Grillen in diesem Teil von Dallas nahezu genauso laut zirpten wie außerhalb der Haftanstalt von Huntsville oder vor seinem Haus in Giddings. Irgendwo auf der Straße, hinter der Einmündung zur Sackgasse, drückte jemand auf eine Hupe und schrie etwas Unverständliches. In beträchtlicher Entfernung war ein Pfeifton zu hören, ein zögerlicher. Es war immer noch heiß. Auf Eddies schmalem, muskulösem Oberkörper zeigten sich Rinnsale von Schweiß. Ein Tropfen hing an Royce’ Nasenspitze und die salzige Brühe, die über seine Stirn rann, brannte in seinen Augen. In dem kleinen Wohnzimmer hing der Gestank nach feuchter Zigarettenasche, abgestandenem Rauch, verschmorter Elektronik, Schimmel und Verfall. Das Pfeifen wurde lauter, und es stellte sich heraus, dass hartnäckig kochendes Wasser in einem Kessel in der Küche die Quelle war. Colleen Valdez’ schimmernder Morgenrock verschwand, und bald zog — dem Geruch von Erde aus einem frisch ausgehobenen Graben nicht unähnlich — der Duft von billigem Pulverkaffee den Flur entlang und hinein in das Chaos im Wohnzimmer.
Eddie schnippte seine Zigarette durch das Loch im Fernseher und hievte sich den Klotz auf die Schulter. Er trug das demolierte Gerät aus der Wohnung, hinaus auf den Laubengang und warf es über das Geländer der Hintertreppe. Zwei Stockwerke tiefer ging der Apparat mit einem lauten Knall auf dem Pflaster zu Bruch. Als er in die Wohnung zurückkam, hatte Colleen bereits drei Becher mit schlechtem, aber dampfendem Kaffee ins Wohnzimmer gebracht und Royce einen angeboten. Es gab weder Milch noch Zucker und das Gebräu war nicht nur heiß, sondern auch widerlich.
Als er so dasaß, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, ertappte sich Royce dabei, wie Colleens eigenartige Schönheit ihn neuerlich gefangen nahm. Sie saß auf der Couch, die Beine übereinandergeschlagen. Die beiden Vorderteile ihre Morgenmantels klafften auseinander, bis hinauf zu den Oberschenkeln — Partien ihres Körpers, die nach Royce’ Auffassung makellos waren, erst recht, wenn man sie mit Colleens verwüstetem Gesicht verglich, dem man sich nicht entziehen konnte. Die Schönheit dieses Gesichtes schimmerte durch seine grobe Oberfläche hindurch, genauso wie die feinen Stilelemente in der Architektur eines Hauses, das seit Langem dem allmählichen Verfall durch den Wechsel der Jahreszeiten ausgesetzt war. Womit jedoch keinesfalls ausgedrückt werden soll, sie habe alt ausgesehen. Im Gegenteil. Abgesehen von ihrem Gesicht und obwohl Colleen Valdez offensichtlich auf eine lange Karriere als selbstzerstörerischer Charakter zurückblicken konnte, besaß ihr Körper die Geschmeidigkeit und Elastizität des Körpers einer Siebzehnjährigen. Diese Vorzüge sprangen Royce ins Auge und er fühlte, dass sich ein Begehren in ihm regte, dem er sich lange, lange Zeit verweigert hatte. Gleichzeitig fühlte er sich alt und unförmig und unattraktiv.
Eddie und Colleen sprachen über eine Adresse im Dunstkreis der Oberen Zehntausend. Royce schenkte den beiden wenig Beachtung, ließ er sich doch lieber auf einer Welle der Sinnlichkeit treiben, die seine Beschwerden, erst kürzlich verursacht durch Mr. Lamark, abflauen ließ, sich auf sonderbare Weise mit ihnen vermischte und seine Schmerzen linderte. Er schlürfte seinen Kaffee, keinen Meter von Colleens Waden und Oberschenkeln entfernt, und malte sich aus, wie sich ihre Haut unter seinen Fingerspitzen wohl anfühlen mochte, wenn sie behutsam ihren Weg über ihre Waden fänden, die gerundeten Knie mit den Grübchen erreichten, diese sanft auseinanderbögen, um ihren Weg entlang der samtenen, unrasierten Innenseite ihrer Schenkel fortzusetzen.
»Hey, Rolls Royce!« Eddie hatte ihn angesprochen. Royce riss seine Augen von diesem Fleisch gewordenen Mantra los und wurde gewahr, dass beide, Colleen und Eddie, ihn vom Sofa aus ansahen.
»Yo.« Royce lächelte verlegen.
»Hast du noch diesen Pick-up?«
»Steht zu Diensten«, sagte er galant. »Was dagegen, wenn ich hier übernachte?«
»Absolut nicht«, sagte Eddie. »Bobby Minks Freunde sind auch unsere Freunde. Aber erst müssen wir noch ’ne Kleinigkeit erledigen.«
»Ach?«
Royce sah von einem zum anderen und wieder zurück. »Was?«
»Tja«, sagte Eddie, »wir müssen noch ’ne Flasche Whiskey und ’nen Fernseher besorgen.«
»Oh.«
»Deshalb würden wir uns gerne deinen Wagen ausleihen.«
Ein unbehagliches Gefühl beschlich Royce, doch er unterdrückte es, bevor es sich als Gedanke manifestieren konnte, und sagte nur: »Kein Problem. Nehmt euch den Pick-up.«
»Gut«, sagte Eddie, »und du kommst doch mit? Ich meine«, er vollführte Lenkbewegungen mit beiden Händen, »du willst sicher hinterm Steuer deines Pick-ups sitzen, nicht wahr?«
Vorsicht, dachte Royce, das ist ein Test. »Klar doch. Denke schon. Soll ich?« Colleen lachte. Sie hatte schöne Zähne, nur etwas gelb vom Nikotin. Ich könnte sie ihr reinigen, dachte Royce.
»Natürlich sollst du«, sagte Eddie. »Außerdem könntest du drin bleiben, falls wir, ähm, in zweiter Reihe parken müssen oder so.«
»Natürlich«, Royce lächelte matt, »zweite Reihe.«
»Gut«, sagte Eddie. Er öffnete eine Schublade im Couchtisch und nahm eine Pistole heraus.
Royce verspürte plötzlich eine Leere, dort, wo normalerweise sein Magen saß. »Was ist — «, begann er, doch die Frage blieb ihm im Halse stecken. In seinem Kopf saß nur ein einziger Gedanke: Dass Lamark und Valdez sein Spiel durchschaut hatten und ihn nur benutzten, um herauszufinden, wo er seinen Wagen abgestellt hatte, und dann nach dem Motto »Dürften wir jetzt bitte die Schlüssel haben«, ihm diese abknöpften, bevor sie in die Pampa fuhren, um ihn abzuknallen.
Eddie stand auf und grinste. Allem Anschein nach war die Waffe eine .25er oder .32er Automatik. Nicht zu groß, nicht zu klein, überwiegend in Schwarz gehalten und allemal effizient. Eddie zog den Verschluss zurück, eine Patrone fand ihren Platz im Hohlraum, dann ließ er den Verschluss zurückschnappen. Obwohl er Royce damit zweifellos etwas zu verstehen geben wollte, vermied es Lamark bewusst, die Waffe auf im Raum Anwesende zu richten. Er sicherte sie sogar, steckte sie mit dem Lauf voran in den Hosenbund und ging ins Schlafzimmer. »Konsumierst du viel, Doc?«, rief er hinüber ins Wohnzimmer.
Royce räusperte sich und fand seine Stimme wieder. »Ich konsumiere viel«, sagte er tonlos.
»Aha.« Eddie kam zurück, streifte ein Hemd über und baute sich vor Royce auf. Es war ein Hemd im Westernstil mit großen Blüten in Violett und Gelb vor einem cremefarbenen Hintergrund. Eine doppelte Passe lief in Brusttaschen aus, deren Klappen mit Perlmuttdruckknöpfen geschlossen wurden. Die Manschetten der langen Ärmel konnten ebenfalls mit solchen Knöpfen geschlossen werden, doch Lamark ließ sie offen und rollte die Ärmel etwas hoch. Indem er auch die ersten beiden Knöpfe am Hals offen ließ, präsentierte er den oberen Teil der Fackel der auf seine Brust tätowierten Freiheitsstatue. Er schloss die restlichen Knöpfe, stopfte das Hemd jedoch nicht in die Hose. Als er fertig war, sah er auf billige Weise übertrieben salopp aus. Das Blumenmuster allerdings kaschierte die Waffe völlig.
»Und«, fragte er, »brauchst du viel Stoff?«
Royce sah von Colleen zu Eddie und schwieg.
»Klar brauchst du das«, sagte Lamark und gab sich sozusagen selbst die Antwort. »So ein gebildeter Arzt muss ’nen guten Grund haben, um Süchtigen Rezepte auszustellen, ob reich oder nicht, eine Art Einfühlungsvermögen, das von einem beiderseitigen Verständnis für ein beiderseits geteiltes Bedürfnis herrührt.«
Royce schüttelte den Kopf. »Im Knast kommt man kaum an gute Medikamente«, sagte er. »Ich bin clean.« Colleen stand vom Sofa auf, um ins Schlafzimmer zu gehen. Als sie sich zwischen Eddie und Royce zur Tür hinauszwängen wollte, packte Eddie sie am Hintern und zog an dem dünnen Stoff, der ihn bedeckte. Während sie weiterging, glitt der Stoff von ihren Schultern und ermöglichte einen kurzen Blick auf ihren nackten Körper. Royce fielen bei diesem Anblick fast die Augen aus dem Kopf. Eddie stand grinsend am Türpfosten, warf Royce einen vielsagenden Blick zu und ließ den Morgenrock an zwei Fingern hin- und herschwingen. Royce fragte sich, ob es Eddie wohl gelänge, Verständnis für das Verlangen zu entwickeln, dass Eddies Mädchen in ihm, Royce, allmählich erweckte. Vielleicht würde Eddie ihm ein bisschen Zeit mit ihr verordnen.
Als könne er Royce’ Gedanken lesen, warf Eddie den Morgenrock in das dunkle Schlafzimmer und sagte: »Hast du lange gesessen?«
Royce mühte sich auf die Füße und klopfte sich die Hose ab.
»Gut zwei Jahre.«
»Ist es dir bekommen?«
»Wie das?«, Royce starrte ihn an. In Eddies Augen lag ein Ausdruck spöttischer Belustigung.
»Das Leben, ob es dir bekommen ist. Keine Frauen und so.«
Royce schüttelte den Kopf. »Ich denke, das ist das Schlimmste überhaupt.«
Eddie spitzte die Lippen. »Vermute mal, Bobby hat sich angepasst.«
Darüber musste Royce einen Moment lang nachdenken. Er erinnerte sich, wie Mencken sein Becken gehoben hatte, als das Morphium eingeschossen war. Ein Scherz. Es hatte keine Bedeutung gehabt. Oder doch?
Statt Mutmaßungen anzustellen, ging er darüber hinweg. »Ich nicht.«
Eddie wandte den Kopf zur Seite und kratzte sich an einer seiner Koteletten. »Scheint nur logisch zu sein, wenn man so lange einsitzt«, sagte er. »Man fühlt sich dann irgendwie zu Hause.«
Royce sah ihn erstaunt an. »Du bist nie im Knast gewesen?«
Eddie erwiderte den Blick und grinste.
»Alle Achtung«, musste Royce einräumen. »Wie zum Teufel hast du das geschafft?«
Eddie behielt sein Grinsen bei. Ja, zum Teufel, das hatte er geschafft.
Colleen erschien in der Wohnzimmertür. Sie hatte ihr Haar zum Zopf geflochten, trug Tennisschuhe, Jeans, ein kariertes Westernhemd und Kreolen. Nur der unterste Knopf des Hemdes war geschlossen und das V, das sich zu ihren Schultern hin öffnete, gewährte Royce den Anblick von viel Oberweite, mehr als er seit Langem gesehen hatte.
Sie tätschelte ihm den Bauch. Royce nahm den Duft ihres Haares wahr, eine Mischung aus Zigarettenrauch und Babyshampoo. Mit dem Kopf reichte sie ihm gerade mal bis unter die Nase. »Wie geht’s dem Bauch, Doc?« Sie hatte strahlend grüne Augen.
Royce biss sich auf die Lippe und versuchte es mit einem Scherz. »Könnte nicht sagen, ob es sich um ein post-reptilisches Trauma handelt oder um die gespannte Erwartung im Vorfeld einer Missetat. Ich meine«, er blickte von Lamark zu Valdez und zurück, »wollen wir etwa einen Fernseher und eine Flasche Whiskey kaufen?«
Eddie zog den Kopf ein und kratzte sich. »Kommt drauf an«, sagte er.
Colleen Valdez schlug sich mit beiden Händen auf den Hintern und schob ihr von hautengen Jeans umspanntes Becken nach vorn. »Lasst uns vom Hof reiten«, sagte sie.
10
Der Pick-up stand noch an Ort und Stelle. Es war ein ungefähr fünf Jahre alter Chevy Silverado, konstruiert, einen Pferdeanhänger zu ziehen. Bis auf den Blechschaden, den Pamela kürzlich verursacht hatte, und den Staub von Texas, war der Wagen nahezu einwandfrei. Zwei Tage zuvor hatte eine Werkstatt in der Nähe von Huntsville die Scheinwerfer ausgetauscht, während Royce in einem Café gesessen und Menckens Akte studiert hatte.
Eddie begutachtete die Vorderfront des Wagens und wollte wissen, ob die Scheinwerfer intakt seien.