Biografie
Geboren wurde Daniela Knor am 30.10.1972 in Mainz, wo sie auch aufgewachsen ist. Beim Studium hat sie zunächst mit Anglistik, Ethnologie und Vorund Frühgeschichte begonnen, dann aber auf ein Fernstudium in Geschichte, Neuerer deutscher Literaturwissenschaft und Psychologie umgesattelt, weil es sie kurzzeitig an die Mosel und anschließend nach Regensburg verschlagen hat.
In Regensburg lebt sie mit ihrem Mann, zwei Pferden und etlichen Hühnern immer noch. Sie haben dort einen kleinen Bauernhof mit Obstanbau gepachtet, der es ihnen auch ermöglicht die Pferde in Eigenregie zu halten.
Mit dem Schreiben von Fantasy-Romanen hat Daniela schon während der Schulzeit begonnen (manchmal auch in langweiligen Unterrichtsstunden). Außer den DSA-Romanen gab es bis jetzt keine Veröffentlichungen, aber mittlerweile ist die Schriftstellerei schon zu einer Hauptbeschäftigung geworden. Wenn ihr neben dem Schreiben, dem Obstbaubetrieb und den Pferden noch Zeit bleibt, liest sie viel und spielt gelegentlich in einer DSA-Spielrunde.
Daniela Knor
Sturm
Zweiter Teil der Hjaldinger-Saga
Ein Roman in der Welt von
Das Schwarze Auge©
Originalausgabe
Impressum
Ulisses Spiele
Band 11039EPUB
Titelbild: Arndt Drechsler
Karten: Torsten Bieder
Aventurien-Karte: Ralph Hlawatsch
Lektorat: Catherine Beck
Buchgestaltung: Ralf Berszuck
E-Book-Gestaltung: Michael Mingers
Copyright © 2014 by Ulisses Spiele GmbH, Waldems.DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN, DERE, MYRANOR, RIESLAND, THARUN und UTHURIA sind eingetragene Marken der Significant GbR.
Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt.
Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf photomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Ulisses Spiele GmbH, Waldems, gestattet.
Print-ISBN 9783890642451
E-Book-ISBN 9783868898910
Dankesworte
Ein herzliches Dankeschön für ihre Hilfe bei der
Entstehung dieses Romans möchte ich Catherine Beck
und Thomas Römer aussprechen.
Als hilfreiche Testleser haben sich außerdem Torsten Bieder, Christian Lange sowie André Wiesler um die Hjaldinger verdient gemacht.
Und ganz besonders danke ich an dieser Stelle wieder meinen Lesern!
Weitere Informationen zu diesem Roman und meiner Arbeit gibt es im Internet unter:
www.daniela-knor.de
Personen
Die Havar-Sippe
Vardur Arnarssun – Enkel der Hersirin Salbjerg
Salbjerg Jorunsduhter – Hersirin der Sippe, Großmutter Vardurs
Horm Ohnehand – Vardurs bester Freund
Arnthrud – eine Freundin Vardurs
Wulfaz Thurkellssun – genannt Grisnir, ein Freund Vardurs und Berserker
Ingjald Egillssun – Vardurs Pflegebruder, Sohn Egills
Firndis Gudridisduhter – Ingjalds Schwester, Tochter Egills
Swartaz Rurikssun – Seeräuber und Horms Onkel
Snevar Atlissun – einst Mitglied der Besatzung auf der Thurehs
Fridgerd – eine Kriegerin
Erla – erfahrene Schiffbauerin und Seefahrerin
Solwa – eine Skaldin
Mardal – Wulfaz’ Schwester, eine blinde Saithaz-Schülerin
Thurkell – Wulfaz’ Vater
Aswa – Wulfaz’ Mutter
Ingun – Horms jüngere Schwester
Arinbjern Bergazsun – Anführer der Fahrtgemeinschaft auf der Wegaridan
Yoldra Saunsduhter – Anführerin aus der Nähe des Angarfjords
Esa – eine Heilerin und Priesterin Satus
Eindridi – ein Krieger
Otur – Sohn von Salbjerg, Onkel von Vardur
Hjaldvaig Urdrunsduhter – verstorbene Tochter Urdruns
Urdrun – verstorbene alte Zauberpriesterin
Die Aasa-Sippe
Gautaz Dagurssun – Hersir der Sippe
Eilif Dagurssun – Gautaz’ Bruder, ein Skalde
Hrok – ein junger Krieger
Korja – eine hellsichtige Kriegerin
Godrun – eine Runenmagierin
Thura – eine Kriegerin
Stainar – ein Krieger und Schiffbauer
Haukur – ein Krieger
Skuld – verstorbene Berserkerin
Die Gunna-Sippe
Katla Oddasduhter – Hersirin der Sippe
Thidrik Hrodmarssun – ein Runenmagier
Skidi Gautazsun – Sohn Katlas und Gautaz’
Odda – Katlas Mutter
Die Groa-Sippe
Ullbjern Eirikssun – Hersir der Sippe, Sohn Eirik Godawarjas
Firnvild – eine Tochter Ullbjerns
Jotur – ein Runenmagier
Serkaz – Krieger und Freund Ullbjerns
Godrekker – Skalde und Onkel Ullbjerns
Faravid – Skalde, Schüler Godrekkers
Weitere Personen
Jurga Tjalfsduhter – eine Geächtete der Hagni-Sippe
Thursdur Gudmundurssun – erfahrener Seefahrer und Steuermann aus der Isleif-Sippe
Jofridis – Thursdurs Nichte, Isleif-Sippe
Sigvatur – Hjalberas Mann, Isleif-Sippe
Hjalbera – Sigvaturs Frau, Isleif-Sippe
Pythatheriope te Aldangara – Optimatin und Spionin
Xelias – genannt Barbariu, ein junger Mann aus Trivina
Antimelia te Aldangara – eine Magierin aus Serovia/Eyjattur
Hyracu – ein alter Bettler in Trivina
Dracomenes – Patron eines zwielichtigen Cirkels in Trivina
Flavieta – Herrin über die Arena in Trivina
Shinxagamea aya Kouramnion – Myriokratin des Horasiats Mayenios
Aegobarenes ul Charybalis – Befehlshaber der Myriade 5 Thalassia
Dioquoras an Charybalis – Offizier in der 5 Thalassia
Isodoras an Charybalis – Pythatheriopes Adjutant
Darene – Pythatheriopes Kammerdienerin
»In den Tagen der Ahnen lebte ein Mann, der Havar hieß.
Vornehmer Abkunft war er,
aus einem Geschlecht, das der Gott Ullramnar selbst gezeugt hatte.
Groß war der Ruhm seiner Taten,
und es erfüllte die Herzen der Krieger mit Stolz, an seiner Seite zu kämpfen.
In den Tagen Havars lebte ein Kuninga, der Uskur hieß.
Ein Löwengestaltiger war er,
denn die Löwengestaltigen herrschten damals über die Menschen.
Der Gott Khorraz war sein Vater,
und sein Wüten im Kampf füllte die Herzen der Krieger mit Furcht.
Maßlos wie Khorraz vergoss Uskur das Blut der Menschen,
blind und taub in seinem Rausch.
Die Lehren der Rondris, Khorraz göttlicher Schwester,
die den Kriegern Ehre gebot,
verschwendet waren sie an den schwarzmähnigen Kuninga.
Maßlose Wut erwuchs darüber unter den Menschen.
Die Völker des Nordens begehrten auf.
Nur Spott und Hohn hatte Uskur für ihren Hass übrig.
Feige Memmen nannte er sie.
Zum Zweikampf forderte er, was er für ein Volk von Schwächlingen hielt.
Da richteten sich die Augen der Menschen auf den Tapfersten unter ihnen,
Havar aus der Sippe Ullramnars.
Groß war Havars Zorn über die Schmähungen aus dem blutigen Löwenmaul.
Mutig trat er vor den Kuninga,
und kühn waren die Worte, mit denen er Uskurs Ehre in Zweifel zog.
Da geriet auch der Khorrazsohn in heiligen Zorn und stellte sich Havar zum Kampf.
Freiheit vom Joch der Löwengestaltigen,
das war der Preis, um den sie stritten, einen Tag und eine Nacht hindurch,
bis die Sonne über dem Sieger aufging.
Tot lag der Kuninga auf verwüsteter Walstatt, zerbrochen war sein riesiges Reich.
Die Stämme des Nordens feierten Havar aus Ullramnars Sippe.
Freiheit machte er ihnen zum Geschenk.
Über dem löwengestaltigen Leib seines Gegners leistete der Held einen Schwur.
Nie wieder Knechtschaft zu dulden,
das erlegte er sich auf, und seinen Kindern und Kindeskindern
und allen, die nach ihnen kamen.«
—aus der Havar-Saga, aufgezeichnet von der gelehrten Völkerkundlerin Dariaxena te Illacrion
Was bisher geschah …
Im Sommer 2114 imperialer Zeitrechnung lebt Vardur Arnarssun bei seinen Pflegeeltern Gudridis und Egill am Angarfjord. Vardurs Mutter und Schwester erlagen einem Fieber, als er noch ein Kleinkind war, und sein Vater starb auf einer Seereise in den Süden Myranors. Salbjerg, seine Großmutter und die Anführerin seiner Sippe, schickte ihn zu entfernten Verwandten, was er ihr noch immer übel nimmt, obwohl er seine Pflegefamilie mittlerweile ins Herz geschlossen hat.
Eines Tages taucht ein feindliches Drachenboot im Angarfjord auf. Rasch werden Vardur und sein Pflegebruder Ingjald fortgeschickt, um die jüngeren Kinder der Familie in Sicherheit zu bringen, während sich die anderen Erwachsenen den Bluträchern zum Kampf stellen. Wieder verliert Vardur seine Eltern, und er ist nun endgültig davon überzeugt, dass ein Fluch auf ihm liegt, der alle das Leben kostet, die ihm nahestehen.
Im Frühling 2119 IZ fährt Vardur an Bord der Thurehs gen Norden. Er lebt nun wieder bei seiner Großmutter in Havarskog, dem Stammsitz seiner Sippe, und hat unter den Mitgliedern der Schiffsbesatzung gute Freunde wie Horm, Arnthrud und den Berserker Wulfaz, genannt Grisnir. Er ist zum ersten Mal bei der alljährlichen Reise ins Gletschermeer dabei, die dazu dient, bei den »Alfendiener« genannten Bewohnern der eisigen Küsten Tribut einzutreiben.
Doch stattdessen treffen sie zunächst auf die geheimnisvolle Jurga, die offenbar von ihrer Sippe verbannt und in der Wildnis ausgesetzt wurde. Obwohl Jurga abweisend ist und nichts über sich erzählen will, fühlt sich Vardur zu ihr hingezogen.
In der Zwischenzeit befährt auch Gautaz Dagurssun, der Hersir der Aasa-Sippe, das Gletschermeer und überfällt erfolgreich einen Stamm der Alfendiener, um Sklaven zu fangen. Als Vardur und seine Freunde am Übergabeort eintreffen, finden sie eine Schar aufgebrachter Krieger vor, die sich weigern, Tribut zu leisten, weil ihnen Frauen und Kinder genommen wurden. Hjaldvaig, die Anführerin der Fahrtgemeinschaft, entscheidet, auf den Tribut zu verzichten und Gautaz für seinen Übergriff zur Verantwortung zu ziehen. Der Rückweg verläuft jedoch nicht so reibungslos wie die Hinfahrt. Zuerst vereitelt Jurga eine Waljagd, indem sie fast das Schiff versenkt, das plötzlich von haushohen Wellen ergriffen wird. Hjaldvaig will sie deshalb zurücklassen, doch Vardur bürgt gegen ihren Willen für sie. Nachts werden sie von einem Nachtalben, einem Shakagra, angegriffen, der es auf Jurga abgesehen hat. Es gelingt ihnen, den gefährlichen Gegner in die Flucht zu schlagen, aber Horm verliert in dem Kampf seine rechte Hand und droht zu sterben.
Gautaz macht auf dem Weg nach Süden bei der Hersirin Katla Oddasduhter Station, mit der er einen Sohn hat. Katla hat Gerüchte über einen bevorstehenden Krieg mit dem Imperium gehört und macht sich Sorgen. Während Gautaz unbeeindruckt nach Eyjattur weitersegelt, wird im weit entfernten Balan Mayek die Optimatin Pythatheriope te Aldangara zu ihrer Vorgesetzten gerufen. Pythatheriope gibt sich als Mitglied des Hauses Charybalis aus, um ihrem eigenen Haus, den Aldangara, Informationen zu beschaffen, die sich im Senat gegen die Charybalis verwenden lassen. Schon lange ist der Kult der Daimonin Charypta und die wachsende Macht der Charybalis anderen Häusern ein Dorn im Auge, doch es ist nicht verboten, Daimonen zu verehren. Phythatheriope soll herausfinden, ob die Gerüchte wahr sind, dass die Charybalis noch dunklere Geheimnisse haben. Um ihnen auf die Schliche zu kommen, will sie Offizierin der Flotte werden, aber bis jetzt hat es nur zu einem Verwaltungsposten gereicht.
Als sie zur Myriokratin gebracht wird, fürchtet Pythatheriope, sie könnte enttarnt sein, aber es stellt sich heraus, dass ihre Vorgesetzte stattdessen einen Handel anzubieten hat: Pythatheriope erhält einen Posten als Offizierin, muss im Gegenzug aber für die Myriokratin den Oberbefehlshaber der Flotte bespitzeln.
Jurga hat Horm vor dem Tod gerettet, behauptet jedoch, dass keine Magie im Spiel war. Einige sind ihr gegenüber nun misstrauischer denn je. Da Gautaz nicht auffindbar ist, kehrt Vardurs Fahrtgemeinschaft unverrichteter Dinge nach Havarskog zurück, wo sich alle auf das große Opferfest, das Sumarblot, vorbereiten, das zur Sommersonnenwende stattfindet. Vardur wähnt sich zunächst glücklich, weil Jurga ihn zum Fest begleitet, doch die Zeremonie gerät zur Katastrophe: Die alte Orakelpriesterin prophezeit den Untergang Hjaldingards, bevor ein Blitz in die Eiche einschlägt, die als Wohnsitz der Fruchtbarkeit spendenden Fylla gilt, und die Priesterinnen niederstreckt.
Pythatheriope belauscht auf einer Feierlichkeit der Flotte, dass der Oberbefehlshaber der Myriade 5 Thalassia einer Gesandten des Oberhaupts der Charybalis etwas zeigen will, das ihre Aufmerksamkeit wert sei. Als sie die beiden verfolgt, gelangt sie in eine Höhle mit unterirdischen Verbindungen zum Meer. In Käfigen entdeckt sie dort entstellte Meeresbewohner und argwöhnt, dass man mit daimonischer Magie an ihnen herumexperimentiert. Doch bevor sie mehr herausfinden kann, wird sie bemerkt und muss fliehen.
Salbjerg nimmt die Prophezeiung der nun toten Priesterin ernst. Sie liest aus den kryptischen Worten eine Warnung vor einem Angriff des Imperiums. Vardur gerät zunächst in Streit mit ihr, weil er keinen Ehrgeiz hat, nach ihr Hersir zu werden, aber dann willigt er ein, zumindest mit ihr zu Ullbjern Eirikssun zu fahren, der dem Imperium schon lange unterstellt, dem Bösen zu dienen und es auf Hjaldingard abgesehen zu haben.
Bei Ullbjern trifft bald auch Katla ein, die Vardur verhasst ist, weil sie die Anführerin der Bluträcher war, die seine Pflegeeltern getötet haben. Seine Familie nahm allerdings ein Wergeld, also eine Entschädigung von ihr an, sodass er kein Recht auf Rache mehr hat.
Auch Katla wurde von einer Prophezeiung beim Sumarblot zu Ullbjern getrieben und will Genaueres wissen. So entscheiden die drei Hersire, einen Erkundungstrupp nach Trivina zu schicken, um herauszufinden, ob das Imperium einen Angriff auf Hjaldingard plant. Vardur und Jurga melden sich freiwillig für diese Aufgabe und stechen mit Hjaldvaig, ihrem Mann Thursdur, dem Zauberer Thidrik und einigen anderen in See. Thursdur ist überzeugt, dass Jurga eine Auserwählte Effars, des Meeresgottes, sein muss, aber Jurga behauptet, dass sie von einem anderen Wesen geleitet wird. Sie kann nicht sagen, ob es ein Gott oder ein mächtiger Geist ist.
In der Zwischenzeit erhält die Flotte in Balan Mayek den Befehl, gen Trivina auszulaufen, und in Trivina selbst merkt ein junger Halbhjaldinger namens Xelias am eigenen Leib, dass die Stimmung gegen die »Barbaren« immer feindseliger wird. Er soll in die Arena geschafft und einem Ungeheuer zum Fraß vorgeworfen werden, weshalb er Fluchtpläne schmiedet. Er hat gerade beschlossen, sich bei den Myriaden als Soldat zu verpflichten, als er Vardur und Jurga über den Weg läuft.
Vardur und seine Gefährten werden in Trivina ständig beschattet und ahnen nur, dass sie in Gefahr sind. Erst durch Xelias, der – wie sich bald herausstellt – ein Halbbruder Vardurs ist, erfahren sie, wie aufgeheizt die Stimmung ist und dass die Flotte bereits auf dem Weg sein soll.
Auch Gautaz muss feststellen, dass sich die Zeiten geändert haben. Als er den Sklavenhändler trifft, mit dem er seit Jahren Geschäfte macht, gerät er in einen Hinterhalt. Er und seine Leute können den Kampf zwar für sich entscheiden, doch die Zeit des friedlichen Handels ist vorbei. Das Imperium hat sich als Feind erwiesen.
Hjaldvaig entscheidet, dass sich Xelias ihnen anschließen darf, und will aus Trivina fliehen. Plötzlich wird in der Stadt Alarm gegeben. Soldaten eilen herbei, um auf die Hjaldinger zu schießen, während sich die Flotte der Stadt nähert. Nur mit Hilfe eines Windzaubers gelingt es Vardur und seinen Freunden, aus dem Hafen zu entkommen, aber draußen erwarten sie die Kriegsschiffe des Imperiums. Wieder ist es Thidrik, der sie durch einen Zauber zu einem so furchterregenden Anblick macht, dass die Angst unter den Gegnern Verwirrung stiftet. Trotzdem werden sie noch massiv mit Armbrüsten und großen Geschützen unter Beschuss genommen und von bewaffneten Fischmenschen angegriffen, die Hjaldvaig und den dicken Skorri verschleppen. Schließlich sind nur noch Xelias, Jurga, Thursdur, Thidrik und Vardur übrig. Es gelingt ihnen zwar, der Flotte zu entkommen, doch ihr Schiff sinkt. Alle außer Jurga geben die Hoffnung auf. Jurga beschwört sie, durchzuhalten, und tatsächlich tauchen nach einer Weile Delfine auf, die die Schiffbrüchigen zurück nach Eyjattur tragen, damit sie ihrem Volk die Warnung vor dem drohenden Krieg überbringen können.
In Trivina dagegen wird Pythatheriope Zeugin, wie Hjaldvaig und Skorri Charypta geopfert werden sollen und sich diesem Schicksal durch Selbstmord entziehen.
Prolog
Hjaldingard, Gyldara 2119 IZ
Der Mond schimmerte durch Wolkenschleier und tauchte den Grabhügel in fahles Licht. Wie schwarze Knochenfinger reckten sich kahle Zweige der blassen Scheibe entgegen, als gierten sie danach, die herabsinkende Blaita noch schneller in die Dunkelheit herabzuziehen. Ullbjerns Blick schweifte über den Waldrand, wo die Kronen der alten Eichen aus dichtem Unterholz aufragten. Nichts regte sich in der windstillen Nacht, und doch glaubte Ullbjern, Blicke aus dem Dickicht auf sich zu spüren. Seine Fingerspitzen suchten wie von selbst den kalten Stahl der Axt an seinem Gürtel, um die Geister zu bannen, die Zeugen seines Frevels wurden. Ein schiefes Lächeln huschte über seine Züge. Heute Nacht würde er ganz andere Mächte herausfordern.
Mit dem Ärmel seiner Tunika wischte er sich den Schweiß von der Stirn und wandte sich wieder dem gewaltigen Grabhügel zu, der sich aus dem Boden emporwölbte wie der grasbewachsene Buckel eines schlafenden Riesen.
»Es kann nicht mehr lange dauern«, versicherte er seinen beiden Begleitern, obwohl sie mit keiner Miene Ungeduld gezeigt hatten. Dampfend stieg sein Atem in der kalten Nachtluft auf. Es roch nach Schnee. Bald schon würde Frost das Erdreich in Stein verwandeln und die Toten bis zum Frühjahr einschließen. Er musste es jetzt wagen, bevor es zu spät war.
Entschlossen packte er den Spaten wieder mit beiden Händen und stieß ihn durch das knisternde Wurzelgeflecht, das die Erde unter der Grasdecke durchzog. Seite an Seite mit Jotur und Serkaz drang er tiefer in den Fuß des Hügels vor, stach Soden ab und schaufelte loses Erdreich aus dem Weg. Gruben sie wirklich an der richtigen Stelle? Es musste stimmen. Die letzten Strahlen der Sonne hatten das Grabmal aus dieser Richtung berührt.
Erneut fuhr der Spaten in die dunkle, fruchtbare Erde, die vom Leib der Urmutter Sumuz geblieben war, nachdem Hranga, die Herrin der Dämonen, sie am Anbeginn der Zeit getötet hatte. Die scharfe Kante prallte auf etwas Hartes und rutschte mit hässlichem Knirschen daran ab. Stein!, durchzuckte es Ullbjern.
»Sollte der Eingang nicht aus Holz sein?«, flüsterte Serkaz.
»Dies ist nicht irgendein Grabhügel«, gab Jotur zu bedenken. Sein kahl geschorener Schädel glänzte im Mondlicht, als trage er einen Helm. »Er wurde über Mauern aufgeschüttet, deren Erbauer bereits vergessen waren, als unsere Ahnen nach Hjaldingard kamen.«
»Das ist genau das, was ich befürchte.« Prüfend kratzte Ullbjern mehr Erde vom verborgenen Gestein. »Dass wir nur die Mauer vor uns haben – keinen Eingang.«
»Hast du erwartet, dass die Toten es dir leicht machen würden, ihre Ruhe zu stören?«
»Spar dir den Spott, Zauberer! Sag mir lieber, ob du magische Kräfte spürst, die uns aufhalten sollen!«
Ullbjern sah zu, wie der bärtige Hüne, in dem jeder Fremde eher einen Krieger als einen Magier vermutet hätte, die Schaufel zur Seite stellte und stattdessen nach seinem mannshohen, mit geschnitzten Runen und Knotenbändern überzogenen Stab aus Eibenholz griff. Der Zauberer schloss die Augen. Sein Gesicht, dessen obere Hälfte von einer ledernen Maske verdeckt wurde, verlor jeden Ausdruck. Fast sah es aus, als schliefe er ein, doch mit dem Daumen fuhr er beinahe unmerklich eine in den Stab geschnitzte Rune nach. Auf dem dunklen Leder der Maske prangte ein aus Perlmutt geschnitztes drittes Auge. Es schien Ullbjern von der Stirn des Magiers herab anzustarren, während sich die echten Augäpfel sichtbar unter den Lidern bewegten. Manchmal hegte Ullbjern den Verdacht, dass Jotur nur einen guten Auftritt zum Besten gab, anstatt wahre Magie zu wirken, aber er hätte keinen greifbaren Grund für diese Zweifel nennen können. Zu oft hatte er gesehen, wie der Runaman tatsächlich etwas Unmögliches bewirkt hatte.
Jotur stieß den Atem aus, der seine Miene in eine Dampfwolke hüllte, und öffnete die Augen. »Ich kann nichts entdecken.«
Ullbjern nickte. »Gut.« Er setzte den Spaten wieder an und fuhr fort, den glatten Stein aus der Erde zu schälen.
Immer öfter schabten auch die Werkzeuge seiner Begleiter über Gestein. Geschliffene Blöcke, die ein Mann allein nicht heben konnte, kamen zum Vorschein. Ohne Mörtel hatte man sie so kunstvoll zu einer Mauer gefügt, dass keine Ritzen geblieben waren. Serkaz zog das Messer aus der Scheide, die er an einem Lederriemen um den Hals trug, und versuchte, die Klinge zwischen zwei der Steinblöcke zu schieben. Nur die äußerste Spitze verschwand, bevor er aufgeben musste.
»Rondris’ Kralle!« Ullbjern ballte die Fäuste um den Stiel des Spatens. Sollte sein Vorhaben enden, bevor es richtig begonnen hatte? Waren die Ahnen seinem Plan so wenig gewogen? Ich tue es für Hjaldingard. Wollt ihr unsere Heimat – eure Gräber! – in den Händen der kriecherischen Imperja sehen?
»Hersir, was ist das?« Serkaz deutete auf eine kleine, noch halb unter Erde verborgene Spirale, die einen der Steine verzierte, wagte jedoch nicht, sie zu berühren.
Ullbjern wollte den Fund gerade genauer betrachten, da drängte sich Jotur energisch vor und ging vor dem Zeichen in die Knie. Mit fliegenden Fingern legte der Zauberer das Geflecht aus verschlungenen Linien frei. »Es sind Runen!«
»Das sehe ich«, meinte Ullbjern gereizt. »Hast du nicht gesagt, hier sei keine Magie am Werk?«
Jotur würdigte ihn keines Blickes. Nachdenklich studierte er die Zeichen, die sich dunkel vom hellen Gestein abhoben. »Kein Zauberer ist unfehlbar. Diese Runen stammen aus der Zeit des Alfenkriegs. Vielleicht ist ihre Macht längst verflogen.«
Ullbjerns Ungeduld wuchs. Er war der gewählte Hersir über vier Sippen. Skaldenlieder über ein sinnloses Loch in einem Grabhügel würden seinem Ansehen schaden und jene in ihren Zweifeln bestärken, die ohnehin zögerten, sich ihm anzuschließen. »Kannst du sie lesen, oder hätte ich doch besser einen Saithaman mitnehmen sollen? Der könnte wenigstens mit den Geistern sprechen und sie nach dem Eingang fragen.«
»Aber wenn diese Runen der Schlüssel sind, könnte er dir den Zugang nicht öffnen«, versetzte Jotur unbeeindruckt. Nacheinander tippte er mit dem Zeigefinger auf zwei Stellen in dem verflochtenen Gewirr. »Die Bergrune und die Schutzrune. Ich erkenne nicht alles wieder. In den dunklen Jahren der Drachenzeit ging viel Wissen verloren. Aber ich glaube, dass diese Runen den Eingang bewachen. Sie müssen tatsächlich noch wirksam sein.«
»Kannst du ihre Macht nun brechen oder nicht?« Ullbjern merkte, dass er mit dem Spaten herumfuchtelte, und warf ihn verärgert beiseite.
Der Magier rieb mit dem Daumen über eine der schwarzen Linien, betrachtete seine Haut, wo sie die Farbe berührt hatte, und runzelte die Stirn. »Nicht auf die einfache Art.«
»Was soll das heißen?«, hakte Ullbjern nach. »Ist es gefährlich?«
»Das ist es immer, Hersir«, behauptete Jotur, während er sein Messer zog, um mit der Spitze über das bemalte Gestein zu kratzen. Eine winzige schwarze Flocke löste sich.
Ullbjern setzte gerade zu einer ungehaltenen Antwort an, als der Boden unter seinen Füßen erzitterte, als habe sich der schlafende Riese darin geregt. Hastig wich er einen Schritt zurück, doch die Erde lag bereits wieder still.
Serkaz, auf dessen kantigem Gesicht er auf all ihren gemeinsamen Heerfahrten niemals Furcht gesehen hatte, starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. Die Zöpfe, zu denen der Krieger seinen roten Bart geflochten hatte, bebten, als er sprach. »Der alte Hroaldur warnt uns, Hersir. Vielleicht sollten wir ihn doch besser in Frieden ruhen lassen.«
»Soll er mir drohen!«, knurrte Ullbjern, obwohl er einen Anflug von Furcht nicht leugnen konnte. »Er stellt mich auf die Probe, ob ich seines Erbes würdig bin. Mach weiter, Zauberer!«
Wortlos schabte Jotur ein weiteres, im Dämmerlicht kaum sichtbares Bröckchen schwarzer Farbe ab. Wieder durchlief ein Zittern Sumuz’ toten Leib, aus dessen Tiefen ein leises Grollen heraufdrang. Ullbjern überlief ein Schauer. Serkaz umklammerte mit kreidebleicher Miene das Heft seines Messers, dass die Knöchel weiß hervortraten.
Der Runaman erhob sich. »In diese Runen ist ein zweiter Schutzzauber eingewoben, um zu verhindern, dass sie – und damit ihre Wirkung – entfernt werden können. Wir werden sterben, bevor ich auch nur den äußersten Ring ...«
»Dir fällt nichts Besseres ein, als die Runen wegzuwischen?«, fuhr Ullbjern ihn an. »Darauf wäre selbst Halfdan Tumbschädel gekommen!«
Drohend schüttelte der Magier die Faust mit seinem Zauberstab. »Hüte deine Zunge, Hersir! Ohne mich wirst du niemals lebend dieses Grab betreten.«
Was ist nur in mich gefahren? Ullbjern hob begütigend eine Hand und rieb sich mit der anderen die Stirn, als könne er die Faltens des Grimms damit glätten. Er brauchte Jotur, und diese Angelegenheit war zu wichtig, um sie an einem Streit mit dem Zauberer scheitern zu lassen. »Du hast recht. Was schlägst du vor?«
Der Runaman blickte entschlossen. »Ich werde versuchen, die Macht der Runen durch Magie zu brechen. Zieht euch zum Waldrand zurück! Es könnte sein, dass der Schutzzauber seine Wirkung entfaltet, bevor es mir gelingt, ihn aufzuheben.«
»Geh, Serkaz!«, befahl Ullbjern. »Ich bleibe. Niemand soll sagen können, ich hätte einen anderen vorgeschickt, als es gefährlich wurde.«
Der Krieger entfernte sich nur zögernd. In seinen Zügen stritten Sorge und Furcht um die Vorherrschaft. »Möge Agiz dem Zauberer Geschick verleihen«, murmelte er.
Ullbjern nickte ihm noch einmal zu, dann wandte er sich ab, um dem Runaman über die Schulter zu sehen, der erneut vor dem freigelegten Abschnitt der Mauer kniete.
Der Magier lehnte seinen mit geschnitzten Runen übersäten Zauberstab gerade so lange gegen die Mauer, wie es dauerte, einen verschlossenen Tiegel aus seiner Gürteltasche hervorzuholen und zu öffnen. Eine weiße Paste kam darin zum Vorschein. Jotur tauchte den linken Zeigefinger in die Farbe und griff mit der rechten Hand wieder nach seinem Stab, als fließe ihm daraus eine Kraft zu, von der er keinen Augenblick zu lang getrennt sein durfte.
Der Mond war hinter den Bäumen verschwunden. Nur noch die Sterne spendeten Ullbjern karges Licht, doch es genügte, um zu sehen, wie der Zauberer mit der Spitze des Stabs den Grabhügel berührte und den Finger mit der weißen Farbe dem dunklen Runengeflecht näherte. Ullbjern spannte sich in der Erwartung eines neuerlichen, heftigeren Bebens. Kleine Wolken stiegen von Joturs Lippen auf, während er magische Verse raunte. Sein Finger hinterließ eine schimmernde weiße Spur, die – dunkle Linien durchkreuzend – ein neues Muster wob.
Schauderte er, oder zitterte die Erde? Unwillkürlich nahm Ullbjern die breitbeinige Haltung der Seefahrer ein, um sein Gleichgewicht zu wahren. Lauter, beschwörender nun sprach Jotur die Runenverse. Der Boden wankte unter Ullbjerns Füßen wie das Deck eines Schiffes. Ein klagender Laut drang gedämpft aus dem Innern des Hügels, dann war alles still. Die Erde lag wieder unbewegt, nur noch ein leises Knistern war zu hören.
Bilde ich mir das nur ein? Ullbjern warf Jotur einen fragenden Blick zu, doch der starrte noch immer auf die weiße Rune, die er gezogen hatte. Rund um die verschlungenen Linien herum regte sich etwas. Hastig erhob er sich und trat von der Mauer zurück, auf der sich Bewegung ausbreitete, als woge die Oberfläche des Gesteins wie kabbelige See. Doch schon im nächsten Moment ähnelte sie eher rieselndem Sand, der zu Boden regnete.
»Die Steine lösen sich auf«, wisperte Ullbjern. Er rieb sich die Augen, aber er sah noch immer dasselbe. Der Umriss eines Eingangs zeichnete sich ab, wo zuvor eine durchgehende Mauer gewesen war.
»Ein Trugbild«, behauptete Jotur. »Diese Steine hat es nie gegeben.«
Ullbjern furchte die Stirn. »Aber der Spaten ist dagegen gestoßen! Das kann ich mir nicht eingebildet haben.«
Der Zauberer zuckte nur mit den Schultern. »Dies ist das Grab des letzten, von allen Sippen Hjaldingards anerkannten Kuningas. Nur dem fähigsten aller Runaleudi wird die Ehre zugekommen sein, es mit seiner Magie zu verschließen.«
»Sicher«, stimmte Ullbjern zu, doch seine Aufmerksamkeit galt der mannshohen Öffnung, die nun in der Mauer klaffte. Finsternis hockte darin wie ein lauerndes Ungeheuer. Zweifel befielen ihn. Würde er nur eine Grabkammer finden, in der Hroaldurs Überreste von reichen Gaben umringt zerfielen? Oder würde ihn der Gang nach Hraiwagard, ins Reich der Toten führen, aus dem nur Kundige den Weg zurück in die Welt der Lebenden fanden?
Leise Geräusche hinter seinem Rücken ließen ihn herumfahren, doch es war nur Serkaz, der eine Fackel entzündete und damit zu ihm zurückkam.
»Sollen wir dich wirklich nicht begleiten, Hersir?«, erkundigte sich der Krieger mit einem misstrauischen Blick auf den Eingang. »Wer weiß, wie viel zauberisches Blendwerk dich noch erwartet.«
Ullbjern schüttelte den Kopf. »Hroaldur ist mein Vorfahre. Wenn ich etwas von ihm will, muss ich allein vor ihn treten.« Es mag sein, dass er mir Laujakweldiz nicht freiwillig überlassen wird, aber wenn ich diese Prüfung nicht ohne fremde Hilfe bestehe, bin ich auch nicht wert, diesen Preis zu erringen.
Serkaz senkte den Blick. Ullbjern verstand, dass es dem treuen Gefährten nicht gefallen konnte, ihn allein diesen unheimlichen Schlund betreten zu lassen. Er klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. »Wir sehen uns wieder, mein Freund – in dieser Welt oder in der nächsten.«
»Viel Glück, Hersir!«, erwiderte der Krieger rau und reichte ihm die Fackel.
Ullbjern nahm sie und zog seine Axt aus der Halterung am Gürtel. Die polierte Schneide, die silbernen Runen und geflochtenen Bänder, die sie überzogen, glänzten im Sternenlicht auf. Es war eine prächtige Waffe, eines mächtigen Hersirs, ja eines Kuningas würdig, und doch würde er zehn ihrer Sorte gegen jene Waffe eintauschen, die mit Hroaldur in diesem Hügel ruhte: Laujakweldiz, die Axt, mit der Havar einst den Tyrannen Uskur erschlug, geschmiedet von Aasa, der ersten Schmiedin, die das Wissen darum von Agiz, dem listigen Gott selbst erworben hatte.
Er nickte Jotur zu, der sich auf seinen Stab stützte wie ein müder Wanderer.
»Es sind Geister in diesem Hügel am Werk«, warnte er mit undeutbarer Miene.
Ullbjern hob nur die Axt zum Abschiedsgruß. Er kannte die Hroaldur-Saga, wusste, was die Skalden über die Wächter dieses Grabmals sangen. Entschlossen straffte er die Schultern und betrat den Gang, den seit den fernen Tagen des Alfenkriegs kein Mensch mehr beschritten hatte. Wo er einen Stollen durch die aufgeschüttete Erde erwartet hatte, tanzte das flackernde Licht über Wände aus meisterhaft ineinandergefügten Steinen, wie er sie an keinem anderen Ort Hjaldingards je gesehen hatte. Prüfend blickte er zur niedrigen Decke empor. Haarfeines Wurzelgeflecht, von dem ein Geruch nach Moder und Verfall ausging, hing aus Ritzen zwischen Steinplatten herab.
Ohne sich umzusehen, ging Ullbjern weiter, trieb die Dunkelheit vor sich her, teilte sie wie Nebel, der hinter ihm wieder zusammenfloss. Der Gang endete vor einer Wand, um sich zu gabeln. Die Luft war mit jedem Schritt abgestandener, der Widerhall seiner Schritte dumpfer geworden. Ratlos sah Ullbjern in beide Richtungen. Die Gänge wölbten sich, bevor sie sich in Schwärze verloren. Weiter reichte der Schein der Fackel nicht. In der Stille hörte er den eigenen Atem unnatürlich laut. Seine Freunde mochten nur wenige Schritte entfernt sein, doch es kam ihm vor, als trenne ihn weit mehr von ihnen. Hatte er die jenseitige Welt bereits betreten? Welchem der Gänge sollte er folgen, welchem konnte er gefahrlos den Rücken zuwenden?
Er entschied sich für links, jene Seite, auf die die Urmutter Sumuz einst im Todeskampf gefallen war. Der Boden unter seinen Füßen war festgestampft, als empfinge Hroaldur noch immer Gäste in seiner Halle in Hraiwagard, Skalden und Krieger vergangener Tage, die im Kampf gegen die Alfen den Tod gefunden hatten. Langsam, den ganzen Körper angespannt, ging Ullbjern weiter. Bei jedem Schritt war er sich des anderen Gangs in seinem Rücken bewusst, aus dessen Finsternis Schemen hervorhuschen und ihm den Rückweg abschneiden mochten. Schaudernd warf er einen Blick über die Schulter, doch im unsteten Fackellicht narrten ihn die Schatten mit wildem Spiel.
Ullbjern knurrte unwillig. Zur Linken kam eine große, dunkle Öffnung in Sicht. Vorsichtig, die Axt zum Hieb bereit, leuchtete er hinein. Ein Durchgang, eine unverschlossene Tür, deren Sturz so niedrig war, dass er sich bücken musste, um die Schwelle zu überschreiten. Als er sich dahinter wieder aufrichtete, starrten ihm die leeren Augenhöhlen eines Totenschädels entgegen. Hastig schwenkte er die fauchende Fackel, nahm das Bild in sich auf. Schilde und Helme blinkten matt unter Staub hervor. Dunkle, ledrige Haut spannte über Knochen, wo sie nicht aufgeplatzt war und den Blick auf die Gebeine freigab. Vier Lager reihten sich an den Wänden auf, die Ruhestätten gefallener Kriegerinnen und Krieger, denen die Ehre zuteil geworden war, ihren Kuninga ins Totenreich zu begleiten.
Nichts rührte sich.
Ullbjern wagte wieder zu atmen. Ein letzter Hauch vergangener Verwesung lag in der Luft. Während er eine Entschuldigung murmelte, zog er sich auf den Gang zurück und ging weiter, nur um sogleich wieder innezuhalten. Hatte er hinter sich ein Geräusch gehört? Er lauschte, doch außer dem leisen Knistern der Fackel und dem eigenen Atem drang nichts an seine Ohren. Vorwärts!, trieb er sich selbst voran. Es kann nicht mehr weit sein. Siehst du?
Nur wenige Schritte vor ihm zeichnete sich zu seiner Rechten ein weiterer Eingang ab. War dort ...
Sein Herz schlug rascher, als er erkannte, dass eine Tür den Raum verschloss. Hroaldurs Grabkammer!
Er beschleunigte gerade seine Schritte, als ihn ein neuerliches Geräusch herumwirbeln ließ. Ein tiefes, kaum hörbares Grollen drang aus der Finsternis jenseits des Lichtscheins. Vergeblich versuchte er, mit den Augen die Dunkelheit zu durchdringen. Er zuckte zusammen, als direkt neben ihm ein überraschend lautes, hektisches Schnüffeln erklang. Die Tür zitterte unter dem Kratzen ungeduldiger Krallen.
Schweiß trat auf Ullbjerns Stirn. Eine Bewegung lenkte seinen Blick zurück auf den Gang. Etwas Dunkles schob sich durch die flammenden Schatten auf ihn zu. Unwillkürlich wich er einen Schritt zurück und hob die Axt zum Hieb. Der geduckte, gedrungene Schemen schlich näher wie ein Raubtier, das sich an Beute heranpirscht. Im Licht der Fackel leuchteten Augen auf wie fahle Monde. Die Ohren flach an den schwarzen Schädel gelegt, die gelblichen Zähne gefletscht, kroch sprungbereit auf ihn zu, was einst ein großer Hund gewesen sein mochte. Doch die Knochen, die an mehreren Stellen bleich durch das schwarze Fell hervorstachen, wiesen das Untier als Wächter aus, durch den ein mächtigerer Gegner wirkte.
Das Grollen aus der toten Kehle wurde lauter. Die Tür der Grabkammer bog sich unter einem dumpfen Aufprall. Wieder scharrten Krallen über das Holz. Wie lange würde es einer solchen Bestie standhalten? Greif an, bevor sie zu zweit sind!, brüllte eine Stimme in seinem Kopf.
Das Untier sprang im gleichen Augenblick, da sich Ullbjern ihm entgegenwarf.