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MICHAEL LAITMAN

WIE EIN BÜNDEL SCHILF

WARUM EINHEIT UND GEGENSEITIGE VERANTWORTUNG DER RUF DER HEUTIGEN STUNDE IST

MICHAEL LAITMAN

WIE EIN
BÜNDEL SCHILF

WARUM EINHEIT UND
GEGENSEITIGE
VERANTWORTUNG
DER
RUF DER HEUTIGEN STUNDE IST

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Original erschienen unter:
Like a Bundle of Reeds

Cover Design: Morian & Bayer-Eynck
Innensatz: Sabine Schiche, ad department
Lektorat: Christiane Reinstrom

1. Auflage 2014

INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT: DAS SCHRECKGESPENST UND DER GEIST

EINFÜHRUNG

KAPITEL 1: EINE NATION ENTSTEHT

Israel – die tiefste Sehnsucht

Einheit – und damit auch Gleichheit

KAPITEL 2: ICH WILL, DAHER BIN ICH

Vier Stufen des Verlangens formen die Wirklichkeit

Die vier Stufen in uns

Wo wir die Freiheit der Wahl haben

Ein Punkt im Herzen

KAPITEL 3: KORREKTUREN IM LAUFE DER ZEIT

Der (nicht unbedingt) böse Trieb

Moses sagt: „Verbindet euch!“

Der große Fall und die Samen der Erlösung

Eine neue Ära, ein neuer Ansatz

Erlaubnis zum Studium

Und nun alle zusammen

KAPITEL 4: EIN VOLK MIT EINER MISSION

Mischmasch

Das Vermächtnis der Juden

Adam – Der Erste Mensch – Die Gemeinsame Seele

KAPITEL 5: DIE GEÄCHTETEN

Zeichen des inneren Konfliktes

Zwei Wege – einer glückselig, einer voll Schmerz

Die Mediziner der Welt

KAPITEL 6: DURCHAUS ENTBEHRLICH

Die Zeichen der Zeit

Was sie brauchen und was wir geben

In Ungnade

Versteckter Antisemitismus

KAPITEL 7: JÜDISCH ODER NICHTJÜDISCH – DAS IST DIE FRAGE

Spanien, eine tragische Liebesgeschichte

Nazi-Deutschland – ein unbeschreiblicher Schrecken

Juden in Europa nach dem zweiten Weltkrieg – auf der Suche nach Identität

Der neue Antisemitismus

Europa hadert mit der Einheit

Der europäische Gedanke: eine Mission der Einheit

Das Land der Unbegrenzten Möglichkeiten

KAPITEL 8: FÜR IMMER ZUSAMMEN

Einheit – das Herz und die Seele von Israel

Einheit – die Rettung Israels

Einheit bedeutet Erlösung

KAPITEL 9: MEHRFACH GESPROCHEN

Der Drang nach Überlegenheit

Von Mir zu Uns zu Eins

Erinnerung an den ersten „Ego-Krieger“

Das Vermächtnis des Kriegers an seine Nachfolger

Warum eine Gesellschaft bilden, die mit Verbindung wirbt?

Zusammenhalt auf globaler Ebene

Vier Einflussfaktoren

KAPITEL 10: LEBEN IN EINER INTEGRALEN WELT

Der „Punkt im Herzen“-Weg

Integrale, auf Einheit basierende Erziehung

Erwachsenenbildung – eine Anleitung für Ratlose

Prosoziale Medien

Die Schlüssel zur Einheit

1) Nahrungsmittel und andere Gebrauchsgüter:

2) Die Ausbildung:

3) Der Runde Tisch:

Integral erzogene Kinder

Unser Privileg, unsere Pflicht, unsere Zeit

NACHWORT

QUELLENVERZEICHNIS

VORWORT: DAS SCHRECKGESPENST UND DER GEIST

(Was mich dazu bewog, dieses Buch zu schreiben)

Ich wurde im August 1946 in der Stadt Vitebsk in Weißrussland geboren. Es war der zweite Sommer nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und das Leben gestaltete sich träge; langsam bewegte es sich zurück zu der freundlichen Monotonie der Normalität. Als erstgeborenes Kind eines Zahnarztes und einer Gynäkologin hatte ich eine sehr angenehme Kindheit. Ich wuchs in einer vorstädtischen Nachbarschaft auf, und wir hatten keinerlei materielle Sorgen wie die Familien der meisten meiner Kindheitsfreunde.

Und doch folgte mir ein Schatten durch meine ganze Kindheit und selbst durch meine Teenager-Jahre. Es war das Schreckgespenst des Holocausts, das Phantom, über das man zwar nicht sprach, das aber trotzdem immer zugegen war. Die Namen von Familienmitgliedern oder Freunden, die damals verschwanden, wurden nur leise und mit düsterem Unterton ausgesprochen, was ihnen eine seltsame Präsenz verschaffte – als wären sie noch immer unter uns, obwohl ich natürlich wusste, dass sie es nicht waren.

Und noch seltsamer war das Ekelgefühl gegenüber Juden, das mich meine Kameraden damals in Russland spüren ließen. Die Kinder, mit denen ich gemeinsam aufwuchs, hassten Juden einfach deswegen, weil sie Juden waren. Sie wussten, was ihren jüdischen Nachbarn noch bis vor einem Jahr zugestoßen war, doch sie waren genauso boshaft und mitleidlos wie vor dem Krieg, so erzählten es mir zumindest die älteren. Das konnte ich nicht verstehen. Warum waren sie so hasserfüllt? Was hatten die Juden ihnen jemals getan, das so unverzeihlich falsch gewesen war? Und woher hatten sie diese Horrorgeschichten über die Dinge, die Juden ihnen antun könnten?

Wie es von einem Sohn eines Ärzte-Ehepaares erwartet wurde, „wählte“ auch ich eine medizinische Karriere. Ich studierte medizinische Biokybernetik, eine Wissenschaft, welche die Systeme des menschlichen Körpers erforscht. Ich wurde Wissenschaftler und arbeitete am St. Petersburger Blutforschungsinstitut. Und während ich mich selbst schon strahlend vor Stolz als Nobelpreisgewinner am Rednerpult in Stockholm sah, gelangte langsam eine tiefere Leidenschaft, mit der ich mich bereits seit einiger Zeit auseinandersetzte, an die Oberfläche meines Bewusstseins.

„Ich möchte das System begreifen“, dachte ich, „wissen, wie alles funktioniert.“ Doch hauptsächlich fragte ich mich, warum alles so war, wie es war.

Als Wissenschaftler aus Überzeugung suchte ich nach wissenschaftlichen Antworten, die alles erklären konnten, nicht nur, wie man die Masse eines Objekts oder die Geschwindigkeit seines Falls berechnet, sondern was überhaupt die Existenz dieses Objekts bewirkte.

Und da ich in der Wissenschaft keine Antwort fand, entschied ich mich, weiterzuziehen. Nachdem ich zwei Jahre lang ein Refusenik war (sowjetische Juden, welchen die Emigration verwehrt wurde), bekam ich schließlich im Jahr 1974 doch noch meine Ausreiseerlaubnis, und ich emigrierte nach Israel.

In Israel suchte ich weiter nach der Bedeutung und dem Zweck aller Dinge. Zwei Jahre nach meiner Ankunft in Israel begann ich, die Kabbala zu studieren. Doch erst im Februar 1979 fand ich meinen Lehrer, den Rabash, den erstgeborenen Sohn und Nachfolger von Rav Yehuda Leib HaLevi Ashlag, auch bekannt als Baal HaSulam (Besitzer der Leiter) für seinen Sulam (Leiter)-Kommentar zum Buch Sohar.

Endlich wurden meine Gebete erhört! Jeden Tag, jede Stunde enthüllten sich mir neue Dinge. Die Teile des Puzzles der Wirklichkeit passten plötzlich alle zusammen, und ein vollständiges Bild der Welt formte sich vor mir.

Mein Leben hatte sich geändert. Ich vertiefte mich ins Studium und diente dem Rabash, so gut ich konnte. Glücklicherweise war ich in der Lage, meine Familie mit nur ein paar Arbeitsstunden am Tag zu ernähren. Den Rest meiner Zeit verbrachte ich damit, diese Weisheit, so tief ich konnte, in mich aufzunehmen.

Ich lebte in einer traumartigen Wirklichkeit. Ich hatte eine wunderbare Familie und lebte in einem Land, in dem ich mich wirklich frei fühlte. Ich verdiente leicht meinen Lebensunterhalt und hatte die Antworten auf Fragen gefunden, die mich zeitlebens begleiteten.

Eine jener immer wieder auftauchenden Fragen befasste sich mit dem Judenhass. In der Kabbala entdeckte ich den Grund dafür, dass dieser Hass so zäh anhält, und – das war das Wichtigste – was man dagegen tun kann. Tatsächlich ist Antisemitismus ein Schmerz im Herzen der Menschheit, der Widerhall einer anhaltenden Qual, welche die Welt seit fast 4.000 Jahren erträgt – seitdem der Patriarch Abraham Babylon verließ.

Die Kabbala lehrte mich, dass Abraham seinen Mitmenschen vorschlug, sich zu verbinden und „mit einer Sprache und einer Zunge zu sprechen“ (Genesis 11,1), und dass König Nimrod, der damals in Babylon herrschte, Abraham verbot, diese Idee zu verbreiten. Langsam erkannte ich, dass die Welt heute genau diese Einheit benötigt – Kameradschaft und gegenseitige Fürsorge, welche Abraham einst mit seiner Gruppe und seinen Freunden entwickelt hatte und deren Verbreitung König Nimrod ihm verbot.

Eines Vormittags nahm mein Lehrer Baal HaSulams „Einführung in das Buch Sohar“ durch. Am Ende des Buches schrieb Baal HaSulam, dass, solange die Juden nicht ihr Wissen und ihre Botschaft über die notwendige Einheit an die Welt weitergäben, die Völker der Welt sie hassen würden. Sie würden sie erniedrigen, aus dem Land Israel vertreiben und sie quälen, wo auch immer sich Gelegenheit dazu biete. Ich hatte diesen Artikel bereits vorher einmal gelesen, doch an jenem Morgen hatte er eine tiefere Bedeutung für mich erlangt. Ich fühlte einen neuen Zustand in meiner Entwicklung, welcher seinen Ursprung in diesem Artikel nahm.

Später an diesem Tag fuhren wir nach Kfar Saba, einer kleinen Stadt in der Nähe von Tel Aviv. Wir gingen in ein Kolel, ein jüdisches Lehrhaus, welches nach meinem geschätzten Mentor benannt war. Im Erdgeschoss zeigte mir der Rabash eine mittelgroße Schachtel, welche randvoll mit handschriftlichen Notizen war. Er bat mich, sie ins Auto zu tragen und mit zu seinem Haus zu nehmen.

Ich stellte die Schachtel in den Kofferraum, und auf dem Weg zurück fragte ich ihn, um welche Notizen es sich dabei handele. Ganz nebenbei erwähnte er, dass es alte Manuskripte von Baal HaSulam seien. Ich starrte ihn an, doch er schaute nur auf die Straße und schwieg den Rest des Heimweges.

In dieser Nacht brannte das Licht in Baruch Ashlags Küche die ganze Nacht lang. Ich blieb bei ihm und las mich akribisch durch alle Seiten, bis ich schließlich etwas fand, das meine Suche beendete. Es war das Stück des Puzzles, nach dem ich gesucht hatte, ohne mir dessen bewusst zu sein. Es war der der Auslöser für den ersten Schritt des Weges, den ich fortan auf mich nahm.

Der Artikel, den ich fand, welcher nun Teil von Baal Ha-Sulams „Schriften der letzten Generation“ ist, erzählte eine Geschichte über Qualen und Durst, Liebe und Freundschaft, Hingabe und Verpflichtung. Hier die Worte, die ich fand: „Es gibt eine Allegorie über Freunde, die sich in der Wüste verirrten. Sie waren hungrig und durstig. Einer von ihnen fand eine Siedlung, übervoll mit allen Genüssen. Er erinnerte sich an seine armen Brüder, doch er hatte sich schon zu weit von ihnen entfernt und wusste nicht mehr, wo sie waren. Er rief sie und blies das Horn. Vielleicht würden seine armen, hungrigen Freunde seine Stimme vernehmen, näherkommen und ebenfalls diese reiche Siedlung finden.“

Genauso ist, was vor uns steht: Wir haben uns in einer schrecklichen Wüste gemeinsam mit der ganzen Menschheit verirrt und jetzt einen großen, übervollen Schatz gefunden: die Bücher der Kabbala. Sie erfüllen unsere suchenden Seelen und erfreuen uns im Überfluss mit Üppigkeit und Einigkeit.

Wir sind satt, und es gibt mehr, aber die Erinnerung an unsere Freunde, welche hilflos in der schrecklichen Wüste umherirren, verbleibt tief in unseren Herzen. Die Distanz ist groß, und Worte können zwischen uns keine Brücken bilden. Aus diesem Grund halten wir dieses Horn bereit, um es laut zu blasen, damit unsere Brüder uns hören, sich nähern können und ebenso glücklich werden wie wir.

„Wisset, unsere Brüder, unser Fleisch, dass die Essenz der Weisheit der Kabbala aus dem Wissen besteht, wie die Welt von ihrem einst erhöhten, himmlischen Platz zu unserem schmachvollen Zustand kommt… Es ist daher sehr einfach, in der Weisheit der Kabbala alle zukünftigen Korrekturen zu finden, welche aus den vollkommenen Welten kommen, die uns vorangegangen waren. Dadurch werden wir wissen, wie wir unsere Wege korrigieren können. Stellt euch zum Beispiel vor, dass heute einige historische Bücher gefunden würden, welche uns die letzte Generation in 10.000 Jahren von jetzt an zeigen. Sie würden uns die Verhaltensweisen von Individuen und Gesellschaft beschreiben. Unsere Anführer würden jeglichen Ratschlag suchen, um das Leben hier entsprechend zu gestalten. Wir würden zu ‚keinem Klaggeschrei auf unseren Straßen‘ kommen. Korruption und schreckliches Leid würden enden, und alles würde sich friedlich ineinanderfügen.

Nun, geneigte Leser, liegt dieses Buch hier vor Ihnen in einem Schrank. Es beschreibt explizit die gesamte Weisheit der Staatskunst und die Gebarungen des privaten und öffentlichen Lebens, so wie es am Ende der Tage sein wird. Es sind die Kabbalabücher, in welchen die korrigierten Welten festgelegt werden. Öffnen Sie diese Bücher, und Sie werden all die guten Verhaltensweisen finden, welche am Ende der Tage gelten. Und darin werden Sie gute Ratschläge finden, die auch für die heutigen weltlichen Dinge gelten.

Ich kann mich nicht länger zurückhalten. Ich habe beschlossen, die Möglichkeiten der Korrektur unserer Zukunft zu enthüllen, welche ich durch meine Beobachtungen und das Lesen dieser Bücher gefunden habe. Ich habe mich entschieden, mit diesem Horn hinaus zu den Menschen der Welt zu gehen, und ich glaube und schätze, dass es reichen wird, all jene zu versammeln, die würdig sind, das Studium zu beginnen und sich in diese Bücher zu vertiefen. So werden sie sich selbst wie auf einer Waagschale der Schale des Verdienstes zuneigen.“1

Etwa ein Jahr, nachdem ich diese Notizen gefunden hatte, veröffentlichte ich mit der Unterstützung meines Lehrers meine ersten drei Bücher. Seitdem publiziere ich immer wieder Bücher und verbreite die Kabbala auch durch viele andere Kanäle.

Die heutige Wirklichkeit ist äußerst rau, und die Menschen haben keine Geduld und kein Verlangen mehr danach, sich in Bücher zu vertiefen, wie Baal HaSulam sich das vorstellte. Doch die Essenz der Weisheit, die Liebe und die Einheit, welche die Grundlagen der Wirklichkeit ausmachen und in die Kabbalabücher einfließen, sind eine unveränderliche Wahrheit.

Seit der Jahrtausendwende nimmt der Antisemitismus wieder vermehrt zu, und heute verbreitet er sich auf der ganzen Welt. Das Gespenst des Judenhasses geistert weltweit umher. Boshaft und heimlich verbreitet er sich und befällt ganze Nationen. Die Schrecken der Vergangenheit drohen sich zu wiederholen.

Doch nun kennen wir das Heilmittel. Wenn sich die Juden verbinden, zieht die Schlange ihren Kopf zurück. Der Geist der Kameradschaft und der gegenseitigen Verantwortung war uns immer Schwert und Schild gegen Anfeindungen. Nun müssen wir diesen Geist wiederaufleben lassen, uns damit wappnen und seine heilende Wärme in uns aufnehmen. Und sobald wir das getan haben, müssen wir diesen Geist mit dem Rest der Welt teilen. Denn dies ist unsere Bestimmung – die Essenz dessen, ein „Licht für die Völker“ zu sein.

Und da wir alle die Antworten auf unsere tiefsten Fragen suchen und alle Juden im Herzen das Heilmittel gegen Antisemitismus kennen wollen – und nicht zuletzt, weil es das Vermächtnis meines Lehrers und das des Vaters meines Lehrers ist –, entschloss ich mich dazu, das von ihnen Gelernte weiterzugeben. Sie lehrten mich, was es bedeutet, ein Jude zu sein; was es bedeutet, sich hinzugeben und mit anderen zu teilen. Doch hauptsächlich lehrten sie mich, was es bedeutet, wie der Schöpfer zu lieben.

EINFÜHRUNG

„Wenn ein Mensch ein Bündel Schilf nimmt, kann er die Schilfhalme nicht alle auf einmal zerbrechen. Doch einen nach dem anderen kann sogar ein Kind zerbrechen. Und gleichermaßen wird Israel nicht erlöst, solange sie nicht alle ein Bündel bilden.“

Midrash Tanhuma, Nitzavim, Kapitel 1

In seiner gesamten Geschichte waren Einheit und gegenseitige Fürsorge (auch bekannt als gegenseitige Verantwortung) die Kennzeichen des jüdischen Volkes. Zahllose Weise und geistliche Führer schrieben über die Wichtigkeit dieser beiden Merkmale und bejubelten sie als Herz und Seele unseres Volkes. Und weiter erklärten sie, dass Errettung und Erlösung nur möglich seien, wenn es Einheit in Israel gebe.

Tatsächlich sticht das Konzept der Einheit derartig hervor, dass es die Hingabe an den Schöpfer und die Einhaltung der Gebote weit überragt. Eine beträchtliche Anzahl geistlicher Führer und heiliger Texte aus allen Generationen setzen die Bedeutung der Einheit über alles andere. Masechet Derech Erez Suta – etwa zur selben Zeit verfasst wie der Talmud, ist einer der in diesem Geiste verfassten Texte: „Selbst wenn Israel Götzen anbetet und es Frieden unter ihnen gibt, sagt der Herr: ‚Ich habe kein Verlangen danach, ihnen zu schaden.‘ … Doch wenn sie sich streiten, was wird dann über sie gesagt? ‚Ihr Herz ist geteilt; jetzt werden sie ihre Schuld tragen‘.“2

Nach der Zerstörung des Zweiten Tempels waren Einheit und brüderliche Liebe so wichtig wie nie zuvor. Neben vielen anderen Quellen lehrt uns der babylonische Talmud, dass der Zweite Tempel wegen grundlosem Hass und Streitereien innerhalb Israels zerstört wurde. In den Quellen heißt es, der grundlose Hass sei das Schlimmste. Er überrage an Bedeutung sogar die drei großen Übel Götzendienst, Inzest und Blutvergießen. Masechet Yoma lehrt uns diese Lektion sehr klar: „Der Zweite Tempel … warum wurde er zerstört? Weil es unter ihnen grundlosen Hass gab, und das zeigt uns, dass der grundlose Haas den drei Sünden – Götzendienst, Inzest und Blutvergießen – gleichzusetzen ist.“3

Offensichtlich liegen Einheit, Brüderlichkeit und das Einstehen füreinander nicht nur in der DNA unseres Volkes, sie bilden sogar die Rettungsleine, die uns aus allen möglichen Bedrängnissen half, und Bedrängnisse hervorrief, als wir nicht in Einheit, Brüderlichkeit und im Einstehen für einander lebten. In diesen Zeiten, wo sich Selbstliebe und Narzissmus breitmachen, brauchen wir die Einheit mehr denn je – und doch scheint sie weiter in die Ferne gerückt als je zuvor.

Vor etwa 3400 Jahren standen wir am Fuße des Bergs Sinai wie ein Mann mit einem Herzen, und dadurch wurden wir zu einem Volk. Seit damals hat uns die Einheit bei Sonne und Regen aufrechterhalten, wie der bekannte Prediger und Schriftsteller Rabbi Kalonymus Kalman Halevi Epstein in seinem gefeierten Werk Maor ve Shemesh (Licht und Sonne) schreibt: „Obwohl in der Generation von Ahab Götzendiener waren, führten sie Kriege und gewannen sie, weil Einheit unter ihnen herrschte. Noch mehr gilt dies für Israel, wenn es sich in die Tora (im Sinne von) Lishma vertieft … Dadurch unterwirft es alle, die gegen es sind, und alles, was es mit seinem Mund ausspricht, erfüllt der Herr.“4

Als wir Moses folgten, kamen wir nach Kanaan, eroberten es, machten es zum Land Israels und wurden wieder ins Exil geschickt – dieses Mal nach Babylon. Und als Mordechai uns in Babylon vereinte, kehrten wir zurück und bauten den Zweiten Tempel, obwohl nur noch zwei Stämme von den ursprünglich zwölf Stämmen übrig waren. Solange wir in Einheit lebten, bewahrten wir unsere Souveränität und den Tempel. Doch sobald wir die brüderliche Liebe aufgaben, wurden wir vom Feind überwältigt und für die folgenden Jahrhunderte verbannt.

Dennoch haben die Trennung und der grundlose Hass, welche die Zerstörung des Zweiten Tempels und das Exil des Volkes bedingten, unsere Entwicklung im Exil nicht aufgehalten. Über mehr als zwei Jahrtausende standen wir zu uns selbst und hielten Abstand vom kulturellen Leben der Völker, unter denen wir lebten.

Doch ungefähr seit der Zeit der Aufklärung (18. Jahrhundert) übernahmen wir langsam Verhaltensweisen, welche persönliche Auszeichnung und individuelle Leistungen favorisierten und die Ausbeutung der Schwachen und Bedürftigen ignorierten. In den letzten Jahrzehnten haben wir auf diese Weise eine Kultur der Selbstliebe und Selbstgerechtigkeit erschaffen; wir wurden zum völligen Gegenteil jener humanen und sich sorgenden Gemeinschaft, die wir zu Beginn der Entstehung unseres Volkes waren.

Heutzutage geben Selbstliebe und Egoismus den Ton an. In ihrem aufschlussreichen Buch The Narcissism Epidemic: Living in the Age of Entitlement5 beschreiben die Psychologen Jean M. Twenge und Keith Campbell den unglaublichen Aufstieg des Narzissmus in unserer Kultur und die Probleme, die sich daraus ergeben: „Die USA erleben derzeit eine Narzissmus-Epidemie … Narzisstische Persönlichkeitsmerkmale nehmen im gleichen Maß zu wie Übergewicht.“ Und schlimmer noch: „Der Anstieg des Narzissmus beschleunigte sich im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts mehr als in allen vorangegangenen Jahrzehnten. Im Jahr 2006 wiesen 25 Prozent der Collegestudenten einem Persönlichkeitstest zufolge überwiegend narzisstische Züge auf.“6

Und die Mehrheit der Juden, Vorfahren der Lehre „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, sitzen nicht nur daneben und schauen dabei zu, wie egoistische Verhaltensweisen gefeiert werden, sondern sie machen auch noch bei der Party mit; ja, viele von uns führen sogar die Meute an und bedienen sich, wo immer sie können. Wir haben die Maxime angenommen: „Man soll sich den örtlichen Gepflogenheiten anpassen.“ Wir tun das mit spektakulärer Begeisterung, und dadurch wurden viele jüdische Namen zu einem Synonym für Reichtum und Macht. Es besteht kein Zweifel daran, dass wir keineswegs Wohlstand und Macht anstreben, um zu demonstrieren, dass wir von besserer Herkunft sind als die anderen: Doch wenn sich Juden durch die zwei eben genannten Dinge – Wohlstand und Macht – auszeichnen, werden sie nicht nur ob ihres Erfolges bekannt, sondern auch wegen ihrer Herkunft.

So unfair dies auch erscheinen mag, Juden und der jüdische Staat werden nicht auf die gleiche Weise beurteilt wie andere Länder und Völker. Sie werden als etwas Besonderes behandelt, sowohl im positiven als auch im negativen Sinn.

Und dafür gibt es einen guten Grund. Als Abraham die einzige Kraft entdeckte, die die Welt leitet, jene, die wir als „Schöpfer“, „Gott“, HaShem, HaWaYaH (Yud-Hej-Waw-Hej) bezeichnen, wollte er es der ganzen Welt berichten. Als Babylonier mit hohem sozialem und spirituellem Status und als Sohn eines Götzenbildherstellers war er jemand, dem man zuhörte. Erst als Nimrod versuchte, ihn zu töten, und ihn später aus Babylon vertrieb, zog er fort und erreichte schließlich das Land Kanaan.

Rabbi Moshe Ben Maimon (Maimonides) beschreibt weiter, wie Abraham auf seiner Reise nach Seelenverwandten suchte, mit denen er seine Entdeckungen teilen konnte: „Er begann damit, es in die ganze Welt hinauszurufen, sie warnend darauf hinzuweisen, dass es nur einen einzigen Gott in der ganzen Welt gebe … Er verkündete es, wanderte von Stadt zu Stadt und von Königreich zu Königreich, bis er im Land Kanaan ankam … Und nachdem sie sich (Menschen an den Orten, wo er hinkam) um ihn versammelten und ihn zu seinen Worten befragten, lehrte er sie alle … bis er sie zurück auf den Weg der Wahrheit gebracht hatte. Letztendlich versammelten sich Tausende und Zehntausende um ihn herum, und sie sind die Menschen des ‚Hauses Abraham‘. Er pflanzte diese Lehre in ihre Herzen, verfasste Bücher darüber und lehrte sie seinen Sohn Isaak. Und Isaak saß und lehrte, warnte und überlieferte alles an Jakob, und machte ihn zu einem Lehrer, um zu sitzen und zu lehren … Und Jakob der Patriarch lehrte es seine Söhne und wählte Levi aus, machte ihn zum Oberhaupt und lehrte ihn, zu sitzen und die Wege Gottes zu lernen …“7

Das berühmte Werk Der Kosari von Yehuda Halevi erzählt davon, dass seit Jakob „die Göttlichkeit in einer Versammlung offenbart wird, und von da an beginnt die Zählung, in der wir die Jahre der Vorväter zählen, gemäß dem, was uns in Moses' Gesetz gegeben wurde, und wir wissen, was seit Moses bis zum heutigen Tage geschehen ist.“8

So wurde die Einheit eine Voraussetzung für die Wahrnehmung des Schöpfers – wie die Kabbalisten ihn oft nennen (aus Gründen, die wir hier nicht detailliert ausführen, da es den Umfang dieses Buches sprengen würde). Ohne Einheit ist eine Erkenntnis einfach nicht möglich. Jene, die sich verbinden konnten, wurden zum Volk Israel und erfassten den Schöpfer, die einzige Kraft, welche erschafft, regiert und die gesamte Wirklichkeit lenkt. Jene, die dazu nicht in der Lage waren, verblieben ohne jegliche Erkenntnis und haben sogar das Gefühl, dass die Juden etwas wüssten oder hätten, das sie ihnen vorenthielten.

Das ist die Wurzel des Hasses auf Israel, welcher später zum Antisemitismus wurde. Es ist das Gefühl, dass die Juden etwas besitzen, das sie nicht mit der Welt teilen, aber eigentlich müssen.

Tatsächlich muss das jüdische Volk dieses Wissen mit der Welt teilen. Genauso wie Abraham in Babylon versucht hatte, seine Entdeckungen mit all seinen Mitmenschen zu teilen, sind die Juden, seine Nachfahren, verpflichtet, das Gleiche tun. Das ist die Bedeutung von „ein Licht für die Völker“. Das ist die Verpflichtung, auf welche der große Rav Kook, der erste Oberrabbiner Israels, in seinem eloquenten dichterischen Stil hinweist, wenn er schreibt: „Die wahre Bewegung der israelischen Seele in ihrem größten Ausdruck wird ausschließlich durch die ihren Geist durchfließende heilige ewige Kraft ausgedrückt. Genau diese Kraft hat sie geschaffen, erschafft sie immer wieder und wird sie weiter zu einem Volk machen, die den Völkern als Licht und der gesamten Welt zur Erlösung und Errettung für ihren eigenen speziellen Zweck dient und für den globalen Zweck, welcher beide verbindet.“9

Auf diese Verpflichtung bezieht sich auch Rav Yehuda Leib Arie Altar, wenn er sagt: „Die Kinder Israels sind Bürgen, indem sie die Tora erhalten, um die gesamte Welt zu korrigieren: die Völker ebenso.“10

Und was genau müssen wir an die Völker der Welt weitergeben? Es ist die Einheit, durch welche man die einzigartige schöpferische Kraft des Lebens entdeckt, den Schöpfer oder Gott. In den Worten von Rabbi Shmuel Bornstein, Autor von Shem MiShmuel [Ein Name von Samuel]: „Das Ziel der Schöpfung besteht für alle darin, eine einzige Gemeinschaft zu sein … Doch durch die Sünde wurde alles verdorben, sodass sogar die besten in diesen Generationen nicht dazu in der Lage waren, sich für immer zu verbinden und dem Schöpfer zu dienen, nur einige wenige allein.“11

Aus diesem Grund, so fährt Rabbi Bornstein fort, vereinten sich nur jene, die dazu in der Lage waren, und der Rest trennte sich von ihnen, bis auch sie in der Lage sein würden, sich in die Einheit zu fügen. Mit seinen Worten: „Die Korrektur begann mit der Versammlung von Menschen, die dem Schöpfer dienen wollten. Es begann mit Abraham dem Patriarchen und setzte sich über seine Nachkommen fort, damit sie eine gestärkte Gemeinschaft für die Arbeit des Schöpfers wären. Sein (des Schöpfers) Gedanke in der Trennung der Menschen war, dass Er die Trennung in der menschlichen Rasse zuerst um die Zeit von Babylon hervorrief, und alle Bösewichte wurden zerstreut. … In der Folge begannen sie die Versammlungen, um dem Schöpfer zu dienen, so wie Abraham der Patriarch loszog und im Namen des Schöpfers rief, bis sich eine große Gemeinschaft um ihn versammelt hatte, die man das ‚Volk des Hauses Abraham‘ nannte. Sie wuchsen weiter, bis sie schließlich die Versammlung Israels wurden … und das Ende der Korrektur wird in der Zukunft sein, wenn alle zu einer einzigen Versammlung werden, um Deinen Willen aus vollem Herzen zu erfüllen.“12

Wenn man die momentanen globalen Umstände betrachtet, scheint es dringend notwendig, dass jeder über das Konzept der Einheit als Mittel zur Erkenntnis des Schöpfers Bescheid weiß. Sobald wir alle es kennen und die Lehre akzeptieren, werden Frieden und Brüderlichkeit auf natürliche Weise die Oberhand gewinnen.

Laut dem bekannten Kabbalisten Rav Yehuda Ashlag, auch bekannt als Baal HaSulam (Besitzer der Leiter) wegen seines Sulam-Kommentars zum Buch Sohar, wächst das Bedürfnis nach der Erkenntnis des Schöpfers seit nahezu einem Jahrhundert. In „Frieden in der Welt“, einem Essay aus den frühen 1930er Jahren, erklärt Baal HaSulam, dass wir die Gesetze der gegenseitigen Fürsorge in der ganzen Welt etablieren müssen, weil wir alle voneinander abhängen. Obwohl es damals den Begriff „Globalisierung“ noch nicht gab, illustrieren seine Worte klar sein dringendes Bedürfnis, die Menschheit zu vereinen.

Hier ist Baal HaSulams Beschreibung der Globalisierung und der gegenseitigen Abhängigkeit: „Sei nicht überrascht, wenn ich das Wohlergehen eines bestimmten Kollektivs mit dem Wohlergehen der ganzen Welt vermische, denn tatsächlich sind wir bereits bei einer solchen Stufe angelangt, dass die ganze Welt als ein einziges Kollektiv und als eine einzige Gesellschaft angesehen werden muss. Denn jeder Mensch auf der Welt zieht seine eigene Lebenskraft aus allen anderen Menschen auf der Welt, und daher ist er ebenfalls gezwungen, sich um das Wohlergehen der ganzen Welt zu kümmern und diesem zu dienen. … Daher ist es unvorstellbar, gute, glückliche und friedliche Handlungsweisen in einem Land herzustellen, wenn diese nicht gleichzeitig in allen Ländern der Welt eingeführt werden. In unserer Zeit sind alle Länder, was die Befriedigung ihrer Lebensansprüche betrifft, miteinander verbunden – genauso wie die Individuen seinerzeit in den Großfamilien verbunden waren. Daher können wir nicht länger nur über Pläne sprechen, welche das Wohlergehen eines Landes oder eines Volkes sichern; wir müssen es vielmehr immer mit dem Wohlergehen der ganzen Welt in Verbindung bringen, da der Vorteil oder Nachteil jedes einzelnen Menschen in der Welt vom Vorteil aller Menschen in der Welt abhängt und entsprechend gemessen wird.“13

Damit die Welt diese Einheit jedoch erreicht, die gegenseitige Fürsorge, braucht sie ein Modell, eine Gruppe oder ein Kollektiv, welche die Einheit durchführen, dem Schöpfer ähnlich werden und durch ein persönliches Beispiel den Weg für den Rest der Menschheit bahnen können. Da wir Juden einst diesen Punkt erreicht hatten und die Welt dies unbewusst wahrnimmt, ist es unsere Pflicht, die brüderliche Liebe zwischen uns wiederzubeleben; wir müssen die einzige Kraft erkennen und beide – die Methode der Einheit und die Erkenntnis des Schöpfers – an den Rest der Welt weitergeben. Das ist die Rolle der Juden: das Licht des Schöpfers in die Welt zu bringen; ein Licht für die Völker zu sein.

In seinem Aufsatz „Die Liebe Gottes und die Liebe der Geschöpfe“ beschreibt Baal HaSulam diese Arbeitsweise: „Das israelische Volk wurde als Überträger etabliert. Im selben Ausmaß, wie Israel sich selbst reinigt, indem es die Tora einhält (das Gesetz der Einheit, welches, wie wir in der Einführung sagten, eine Voraussetzung für die Erkenntnis des Schöpfers war), gibt es seine Macht an den Rest der Völker weiter. Und wenn der Rest der Völker sich ebenso wie auf einer Waagschale dem Verdienst zuneigt (sich verbindet und die Erkenntnis des Schöpfers erlangt), wird sich der Messias enthüllen (die Kraft, die uns aus unserem Egoismus zieht).“14

Rav Yehuda Altar beschreibt auf ähnliche Weise die Rolle der Juden in Bezug auf die übrigen Völker: „Es scheint, dass die Kinder Israels, die Empfänger der Tora, die Schuldner sind und nicht die Garanten, außer dass die Kinder Israels für die Korrektur der ganzen Welt durch die Kraft der Tora verantwortlich sind. Daher wurde ihnen gesagt: ‚Und ihr werdet für Mich ein Königreich von Priestern sein und ein heiliges Volk.‘ … Und das haben sie geantwortet: ‚Was der Herr sagt, werden wir tun‘ – die gesamte Schöpfung korrigieren. … In Wahrheit hängt alles von den Kindern Israels ab. In dem Ausmaß, wie sie sich selbst korrigieren, wird die ganze Schöpfung ihnen folgen. Wie die Studenten dem Rav (Lehrer) folgen, der sich selbst korrigiert, so folgt die ganze Schöpfung den Kindern Israels.“15

KAPITEL 1:
EINE NATION ENTSTEHT

(Die Geburt des Volkes Israel)

Bevor wir die Bedeutung und die Position des Volkes Israel in der Welt untersuchen, sollten wir uns fragen, warum das israelische Volk überhaupt entstanden ist und wie dies vor sich ging. Wir wollen für einen Moment 3.000 km Richtung Osten reisen und etwa 4.000 Jahre in der Zeit zurück ins alte Mesopotamien, das Herz des fruchtbaren Halbmondes, die Wiege der Zivilisation. In der Ebene zwischen Euphrat und Tigris im heutigen Irak spielte damals die Stadt Babylon eine wichtige Rolle; sie war Mittelpunkt einer blühenden Zivilisation und das Handelszentrum der alten Welt.

Babylon, das Herz dieser dynamischen Zivilisation, war ein Schmelztiegel aus verschiedenen Kulturen und die ideale Umgebung für verschiedene Glaubenssysteme und Lehren. Die Babylonier praktizierten viele Arten der Götzenanbetung. Sefer HaYashar (Das Buch Jashar) beschreibt das Leben der Babylonier und ihre Religionsausübung: „Jeder im Lande machte sich damals seinen eigenen Gott – Götter aus Holz und Stein. Sie beteten sie an, und sie wurden für sie zu Göttern. Zur damaligen Zeit waren der König und alle seine Diener und Terach (Abrahams Vater) und sein gesamter Haushalt die Ersten unter den Götzendienern, welche Holz und Stein anbeteten. … Terach betete sie an und verbeugte sich vor ihnen, und so machte das seine ganze Generation. Sie haben sich vom Herrn abgewandt, der sie erschaffen hatte und es gab im ganzen Land niemanden, der den Schöpfer kannte …“16

Und doch besaß Terachs Sohn Abraham, der damals noch Abram hieß, eine bestimmte Charaktereigenschaft, die ihn unter den anderen hervorhob: Er hatte eine außergewöhnliche Wahrnehmung mit einem wissenschaftlichen Zugang zur Wahrheit. Abraham war ebenfalls ein verantwortungsbewusster Mensch, dem die zunehmende Unzufriedenheit der Menschen in seiner Stadt auffiel. Als er darüber nachdachte, fand er den Grund für die Unzufriedenheit im wachsenden Egoismus und in der zunehmenden Entfremdung, die immer mehr unter ihnen Fuß fassten. Innerhalb relativ kurzer Zeit fielen sie aus dem Zustand der Einheit und gegenseitigen Sorge, was „von einer Sprache und einer Rede“ (Genesis 11:1) zeugte, in einen Zustand der Eitelkeit und Entfremdung, und sie sagten: „Kommt! Lasst uns eine Stadt bauen und einen Turm, der bis in den Himmel ragt, und lasst uns einen Namen machen“ (Genesis 11:4).

Tatsächlich waren sie so beschäftigt mit ihrem Turmbau, dass sie völlig die anderen Menschen vergaßen, welche einst zu ihrem Stamm gehörten. Das Werk Pirkey de Rabbi Eliezer (Die Kapitel von Rabbi Elieser), einer der Midrashim (Kommentare) zur Tora (Pentateuch), beschreibt anschaulich nicht nur die Eitelkeit der Babylonier, sondern auch, wie fremd sie einander geworden waren. Darin heißt es: „Nimrod sprach zu seinem Volk: ‚Lasst uns eine große Stadt bauen und darin wohnen, damit wir nicht zerstreut werden wie die Ersten, und lasst uns einen hohen Turm bauen, der sich bis zum Himmel erhebt … und lasst uns uns einen großen Namen in dem Land machen …‘

Sie bauten ihn hoch … jene, die die Mauersteine brachten, stiegen von der östlichen Seite hinauf und jene, die hinunterstiegen, taten dies auf der westlichen Seite. Wenn ein Mensch stürzte und starb, kümmerte sich keiner um ihn. Doch wenn ein Mauerstein herabfiel, saßen sie, weinten und sagten: ‚Wann wird ein anderer an seiner Stelle kommen‘.“17

Pirkey de Rabbi Elieser